Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden
für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser,
was wir gegenwärtig zu vollbringen haben,
ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden,
rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich
nicht vor ihren Resultaten fürchtet und
ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.
Karl Marx, Brief an Arnold Ruge, 1843
1. Eine "Klassikerin" des Sozialismus
Nachdem Rosa Luxemburg lange Zeit eine der umstrittensten Gestalten der damaligen sozialistischen Bewegung gewesen war, gehört sie heute zu jener Kategorie von sozialistischen "Klassikern", die einerseits verehrt und idealisiert, deren Aussagen und Positionen andererseits aber vernächlässigt und vergessen werden. Vielleicht wiederfuhr ihr dies aufgrund der Schwierigkeiten, die sich ergeben würden, wenn man ihrem Beispiel folgte, was nämlich heißen würde, mit Leidenschaft, Geduld und Konsequenz die grundlegenden Ideen des Sozialismus zu verteidigen, etwa die Revolution "von unten". All dies angetrieben von einem unbestechlichen ethischen Bewußtsein und mit wissenschaftlicher Strenge, wohl wissend, daß unsere Zeit immer stärker auf die Alternative Sozialismus verstanden als uneingeschränkte Demokratie - oder Barbarei hinsteuert. Auf dem Gründungsparteitag der KPD 1918/1919 sagte sie zu diesem Thema:
- "70 Jahre der großkapitalistischen Entwicklung haben genügt, um uns so weit zu bringen, daß wir heute Ernst damit machen können, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen. Wir sind heutzutage nicht nur in der Lage, diese Aufgabe zu lösen, sie ist nicht nur unsere Pflicht gegenüber dem Proletariat, sondern ihre Lösung ist heute überhaupt die einzige Rettung für den Bestand der menschlichen Gesellschaft."[1]
Ihr theoretisches Werk stellt einen der kraftvollsten Versuche des "Marxismus der zweiten Generation" dar, das Vermächtnis von Marx und Engels im imperialistischen Zeitalter zu aktualisieren.[2] Es beinhaltet einen breitgefächerten Themenbereich (Entwicklung des Kapitalismus in Polen, Kritik am Revisionismus und Reformismus, Grundzüge des neuen Aufschwungs des Kapitalismus, die Rolle der Massen, der Gewerkschaften und der Parteien in der Revolution, die Frage der Nation, Erziehungsfragen usw.); es deckt geographisch ein weites Gebiet ab (Polen, Rußland, Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich usw.) und es wird geprägt von einem kraftvollen kämpferischen Atem, der sich schon in der frühen Jugend ausbildete und durch ihren Tod von Mörderhand abrupt verstummt. Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts war sie gemeinsam mit Leo Jogiches die Schlüsselfigur des polnischen Sozialismus. Seit 1898 war sie gleichermaßen in der deutschen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale eine einzigartig herausragende Persönlichkeit. Ihr Leben war voller ungewöhnlicher Leidenschaft und Intensität. Es war das Leben einer Frau, die ihre politische Tätigkeit als Dienst an der Arbeiterklasse und allen Unterdrückten betrachtete; Grundlage ihres Schaffens waren ein außergewöhnlich hohes Bildungsniveau und Allgemeinwissen.
Man kann nicht von Rosa Luxemburg sprechen, ohne dabei die beiden dominanten Flügel in der Arbeiterbewegung der letzten fünfzig Jahre zu betrachten, die sich in äußerst widersprüchlicher Weise auf sie bezogen haben: die Sozialdemokratie und den Stalinismus. Weder die einen noch die anderen wollten das glühende Eisen, das Rosas Vermächtnis darstellt, in ihre Hände nehmen und deswegen versuchten sie immer wieder eine sehr selektive Lektüre in der Absicht, ihr ihren Ehrenplatz unter den großen Sozialisten und Sozialistinnen streitig zu machen oder, wie im Falle der Sozialdemokratie, ihre Argumente zur antikommunistischen Agitation zu benutzen.
Der rechte Flügel der Sozialdemokratie trägt durchaus Mitverantwortung an ihrem Tod. In ihren Schriften findet sich eine der schärfsten Kritiken an der Politik und Entwicklung des Mehrheitsflügels der Sozialdemokratie. Diese Partei benutzte sie als Kronzeugin in ihrem Kampf gegen die Bolschewiki und die russische Revolution, der sie sicherlich kritisch, aber immer bewundernd und enthusiastisch gegenüberstand und zu deren Unterstützung sie das deutsche und internationale Proletariat aufrief.[3] Nach 1925 wurde diese unbeugsame Internationalistin vom Stalinismus exkommuniziert, als sei sie eine ansteckende Kranke (Ruth Fischer, Mitte der zwanziger Jahre eine der wichtigsten Führerinnen der KPD und spätere Antikommunistin, sprach von ihr als "syphilitischem Bazillus"). Abwechselnd beschuldigte man sie des Trotzkismus oder des Menschewismus.[4] Später wurde sie zu einer Heiligenfigur des offiziellen Kommunismus stilisiert, aber ihre "Rehabilitierung" vollzog sich so vorsichtig, daß die von Lenin 1920 aufgestellte Forderung, ihr Gesamtwerk zu veröffentlichen, nach wie vor nicht eingelöst ist. [5]
Mehr als siebzig Jahre nach ihrem Tod ist Rosa Luxemburg immer noch ein sehr unbequemer "Klassiker" des Sozialismus, wie die Gedenkfeiern zu ihrem Todestag in der DDR im Januar 1988 wieder schlagend gezeigt haben, als zahlreiche unter ihrer Parole "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" demonstrierende Kritiker des SED-Regimes verhaftet und verurteilt bzw. in den Westen abgeschoben wurden. Sie könnte nicht diese Rolle spielen, hätte ihr Gedankengut nicht eine solche immense Tragweite.
Obwohl Rosa Luxemburg sich in ihren Schriften niemals direkt mit der Frauenfrage auseinandersetzte, hat sie von allen "Klassikerinnen" für die neue Frauenbewegung und deren theoretische Arbeiten vielleicht die größte Bedeutung bekommen. Denn Luxemburg ging in ihrer ökonomischen Theorie davon aus, der Kapitalismus bedürfe zur Akkumulation von Kapital einer nichtkapitalistischen Umgebung, die er ausplündere. Darin lag für sie die Bedeutung des Kolonialismus und Imperialismus. In Anlehnung an diese These formulierten feministische Forscherinnen eine Analyse der Hausarbeit als der eigentlichen Grundlage kapitalistischer Ökonomie. Einige gingen sogar so weit, nicht die Proletarisierung immer größerer Menschenmassen, sondern die "Hausfrauisierung" als allgemeines Merkmal und Entwicklungstendenz kapitalistischer Ausbeutung zu behaupten.[6]
2. Eine "frühreife" Sozialistin
Rosa Luxemburg wurde am 5. März 1871 - einige Tage vor Gründung der Pariser Kommune in Zamosc geboren, wo eine der stärksten und kultiviertesten polnisch-jüdischen Gemeinden Südpolens existierte. Sie war die jüngste von fünf Geschwistern (drei Jungen und zwei Mädchen) in einer recht begüterten jüdischen Familie, in der die Mutter durch ihre Bildung und Sensibilität hervorstach. Als Rosa etwas über zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Warschau. Ein falsch behandeltes Hüftleiden fesselte Rosa über ein Jahr ans Bett und ließ einen bleibenden Schaden zurück; sie hinkte zeit ihres Lebens. Dieser körperliche Defekt war später ein gefundenes Fressen für Witze und Karikaturen der reaktionären und bürgerlichen Presse. Mit fünf Jahren brachte sie sich selbst Lesen und Schreiben bei und schrieb Eltern und Verwandten Briefe, auf deren Beantwortung sie bestand.
Mit dreizehn Jahren besuchte sie das Mädchengymnasium der polnischen Hauptstadt, was damals insbesondere für ein Mädchen jüdischer Herkunft als Sensation galt, da der Schulbesuch ein Privileg für die Kinder der Beamten und Offiziere war und nur russifizierte polnische Familien ihre Kinder dorthin schicken konnten. 1887 verließ sie die Schule, aber trotz exzellenter Noten verweigerte man ihr die ihr zustehende goldene Medaille "wegen ihrer oppositionellen Haltung gegenüber den Behörden." In jener Zeit, als die revolutionäre Bewegung in Polen und Rußland eine schwere Krise durchmachte und nur über einen geringen Anhang verfügte, stand sie bereits mit der "Revolutionär-Sozialistischen Partei Proletariat" in Verbindung. Auch in Polizeikreisen war sie schon bekannt.
Zwei Jahre später sollte sie aufgrund ihrer politischen Tätigkeit festgenommen werden. Es drohte ihr die Deportation nach Sibirien. Ihre Genossen überzeugten sie, ins Ausland zu fliehen, um dort ein Studium zu beginnen und der Sache vom Ausland aus zu dienen. In einem Heuwagen versteckt überquerte sie die Grenze. Ein katholischer Geistlicher hatte den Wagen organisiert, weil sie ihm erklärt hatte, sie wolle zum Christentum übertreten, könne dies jedoch angesichts der möglichen Reaktion ihrer Verwandschaft nur im Ausland tun. Ende jenen Jahres kam sie nach Zürich, wo sie die folgenden Jahre studierte und arbeitete. Die Universität dieser Stadt war einige der wenigen, die überhaupt Frauen den Zugang ermöglichten. Rosa studierte hier Mathematik und Naturwissenschaften (eine jener großen Leidenschaften, die sie nicht im gewünschten Maße pflegen konnte). Dann wechselte sie an die Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaften, wo sie 1897 mit einer Arbeit über die wirtschaftliche Entwicklung Polens promovierte.[8] Diese Arbeit kann in ihrem Wert mit Lenins Werk über die "Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" verglichen werden. Beide Werke stellen in jener Zeit recht seltene Versuche dar, die Besonderheiten der kapitalistischen Entwicklung in zurückgebliebenen Ländern zu untersuchen.
Während ihrer ganzen Studienzeit engagierte sich Rosa in der Politik. Sie hielt enge Kontakte mit der Gruppe um Plechanow, die in jener Stadt ihr Zentrum hatte. Sie begann mit einem intensiven Studium der marxistischen Theorie und entpuppte sich schon 1898 als eine der bedeutensten marxistischen "Autoritäten".
1892 kam es zur Vereinigung der polnischen Sozialisten in der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), die allerdings nur kurze Zeit währen sollte. Die unterschiedlichen Positionen vor allem hinsichtlich der nationalen Frage konnten nicht lange unter einem Hut gehalten werden.
Angefangen mit Marx und Engels glaubten fast alle bedeutenden Sozialisten der damaligen Zeit, daß der Kampf um die polnische Unabhängigkeit einer der Schlüssel im Forderungsprogramm nach Demokratie in Europa wäre, da er sich unmittelbar gegen den zaristischen Imperialismus richtete. Der von Pilsudski geführte Flügel der polnischen Sozialdemokratie ging noch weiter und behauptete, die Frage der nationalen Unabhängigkeit habe vor der sozialen Frage Priorität. Rosa vertrat genau die gegenteilige Ansicht und verteidigte die Internationalität der Arbeiterbewegung und die Revolution als die Grundlagen für die freie Vereinigung der Nationen.[9]
3. Eine Führerin im Kampf gegen den Revisionismus in der Sozialdemokratie
Ein weiterer Gründer und Führer der polnischen Sozialdemokratie war Leo Jogiches, der ihr "alter ego" werden sollte; er liebte sie und bewunderte ihre politischen Fähigkeiten. Jogiches war 1867 in Wilna geboren und stammte wie Rosa aus einer reichen jüdischen Familie. Kurze Zeit nach ihr kam auch er in die Schweizer Metropole. Sie lernten sich kennen und begannen eine Liebesbeziehung, die bis 1906 währte; aber auch danach blieben sie eng miteinander verbunden.
Beide waren aus gleichem Holz geschnitzt, aber Jogiches übernahm eher die praktischen Aufgaben. Schon in Polen hatte er im Untergrund als Agitator und Organisator gewirkt und verschiedene Berufe gelernt, um seine Aufgaben besser erfüllen und vor allem mit Arbeitern in Kontakt kommen zu können. Aufgrund seiner Tätigkeiten war er eingesperrt und zum Militär eingezogen worden, von wo er ins Ausland floh. Auch er besaß beachtliche analytische und schriftstellerische Fähigkeiten.
Beide begannen nun einen fortwährenden Kampf mit den opportunistischen Tendenzen und Führern der Sozialdemokratie, die beiden häufige Verleumdungen, Gefängnisaufenthalte und schließlich einen gewaltsamen Tod brachten.
Nach Abschluß ihres Hochschulstudiums ging Rosa 1898 nach Deutschland, schloß sich der SPD an und begann die Wahlagitation für die Reichtagswählen jenes Jahres unter den Polen in Oberschlesien. Nach dem Ausscheiden von Parvus übernahm sie die Redaktion der Sächsischen Arbeiterzeitung. Mit ihrer ersten großen Schrift Reform oder Revolution greift sie in die beginnende Revisionismus-Debatte ein, die Bernstein mit seiner Artikelserie über "Probleme des Sozialismus" in der von Kautsky herausgegebenen theoretischen Zeitschrift Die Neue Zeit zwischen 1896 und 1898 ausgelöst hatte.
In diesem Werk rechnet sie scharf mit den Thesen Bernsteins ab, die Entwicklung des Kapitalismus laufe nicht auf eine Zuspitzung der Widersprüche, sondern auf ihre friedliche Aufhebung hinaus und die Politik der Sozialdemokratie müsse daher das sein, was sie in der Praxis schon immer gewesen, nämlich friedliche Reformpolitik. In ihrer Erwiderung beginnt Rosa mit einer Kritik der Bernsteinschen Methode, die von der Dialektik nichts wissen möchte. Für sie stützt sich "die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus nämlich bekanntermaßen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet."[10]
Bernstein sei auf dem Holzweg, wenn er behaupte, die Kartelle, die Ausweitung des Kreditwesens, die Vervollkommnung des Verkehrswesens, die Unternehmerverbände, die Hebung des Lebensniveaus der Arbeiterklasse usw. führten zu einem Abbau der Widersprüche im Kapitalismus, seien also "kapitalistische Anpassungsmittel". Gleiches gelte von der Behauptung der Zunahme der mittelständischen Betriebe und des Anwachsens der Mittelklassen - Faktoren, die für Rosa nur den zunehmenden Widerspruch zwischen dem "gesellschaftlichen Charakter der Produktion" und seiner "kapitalistischen Form" aufzeigen. Bernstein falle daher mit seinem naiven Fortschrittsglauben in die bürgerlich-idealistische Ideologie zurück.
- "Die Annahme, die kapitalistische Produktion könnte sich dem Austausch "anpassen", setzt eins von beiden voraus: entweder, daß der Weltmarkt unumschränkt und ins unendliche wächst oder, umgekehrt, daß die Produktivkräfte in ihrem Wachstum gehemmt werden, damit sie nicht über die Marktschranken hinauseilen. Ersteres ist ,eine physische Unmöglichkeit, letzterem steht die Tatsache entgegen, daß auf Schritt und Tritt technische Umwälzungen auf allen Gebieten der Produktion vor sich gehen und jeden Tag neue Produktivkräfte wachrufen."
Sie zeigt auch den illusionären Charakter von Bernsteins Perspektive auf, die Gewerkschaften könnten mit entsprechender Lohnpolitik den industriellen und die Konsumgenossenschaften den aus dem Handel resultierenden Profit den Unternehmern abjagen, denn die Gewerkschaften sind nichts anderes als die organisierte Verteidigung der Ware Arbeitskraft gegen die Angriffe des Kapitals und diese Verteidigung werde sogar immer schwieriger, je besser sich die Unternehmer organisierten. Produktionskooperativen könnten nur in einem abgesicherten und isolierten Markt überleben, d.h. auf der Grundlage von Konsumvereinen; der Aufbau solcher Vereine sei aber nur beschränkt möglich. Die Vorstellung, Aktiengesellschaften bedeuteten eine Umverteilung des Eigentums mit der Möglichkeit einer Beteiligung aller am Produktivkapital sei nicht nur empirisch falsch, sondern verschiebe auf unmarxistische Weise die Problematik von den Produktions- auf die Eigentumsverhältnisse. Bernstein verlagere so den Kampf aus dem Bereich der Produktion dem ausschlaggebendem Bereich des kapitalistischen Systems - auf den der Verteilung.
Rosa verneint weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit von Reformen, sie stellt sie aber auch nicht der Revolution gegenüber. Sie weigert sich, den reformistischen Weg als eine sich auf längere Zeit erstreckende, gewaltlose Revolution und die Revolution als eine Reihe von konzentrierten Reformen zu betrachten.
- "Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß quantitative Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten Bernsteins zu demselben Schluß wie von seinen ökonomischen Theorien: daß sie im Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte, auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen." [12]
Die Revisionisten waren für sie keine Revolutionäre, sondern Evolutionisten, die in viel unvernünftigerer Weise als die Frühsozialisten in der Vergangenheit das Meerwasser des Kapitalismus mit einem Löffel ausschöpfen wollten, um es mit dem sozialistischen Süßwasser zu füllen.
4. Gegen den Strom
Obwohl sie die Hälfte ihres Lebens in Deutschland verbrachte, konnte sie in diesem Land nie richtig heimisch werden. Im Laufe der Zeit verzweifelte Rosa an der Starrköpfigkeit und Unbeweglichkeit der Gewerkschaftsbürokratie, der angesehenen sozialdemokratischen Abgeordneten und der Kader, die im Parteiapparat Karriere machen wollten. Als sie das erste Mal nach Berlin kam, fand sie einen "abstoßenden, kalten, häßlichen, überfüllten Ort, eine richtige Barracke - und arrogante Preußen, die sich So gaben, als müßten sie den Stock, mit dem man sie täglich prügelte, auch noch schlucken." Sie empfindet eine große Kälte in ihrer Partei. Als ein Sozialdemokrat einmal eine despektierliche Haltung Tolstoi gegenüber einnahm, schrieb sie: "In irgendeinem sibirischen Dorf spürt man mehr Menschentum als in der deutschen Sozialdemokratie."
Dieses Urteil ist vielleicht nicht ganz zutreffend. Rosa war der herausragende Kopf einer sehr wichtigen Fraktion in der Partei, unter der sich Persönlichkeiten vom Range eine Clara Zetkin, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Paul Levi usw. befanden. Mit der Kautsky-Familie, vor allem mit Louise, war sie gut befreundet." Sie unterhielt auch freundschaftliche Beziehungen zu den Vertretern der "alten Garde", etwa August Bebel oder Paul Singer. Man muß bedenken, daß die SPD damals für die Partei der Sozialistischen Internationale gehalten wurde und Vorbildcharakter hatte; sie erreichte einen Prozentsatz an Wählerstimmen, der die Gewinnung einer parlamentarischen Mehrheit als nicht ausgeschlossen erscheinen ließ. Sie bildete eine Art Gegengesellschaft. Ihr standen zahlreiche Tages- und Wochenzeitungen, Schulungsstätten, Volkshäuser, Konsumvereine, Wirtschaften, Kulturgruppen usw. zur Verfügung. Verglichen mit der SPD waren die russische und die polnische Sozialdemokratie kleine Grüppchen.
Trotz der Feindseligkeit, die Rosa vom rechten Flügel der Partei entgegenschlug, gelang ihr in der Partei eine steile Karriere. Anfangs versuchten einige, sie in die Frauenorganisation abzudrängen, weil sie dachten, sie würde dann nicht genügend Zeit finden, die Fahne der Linken hochzuhalten. Sie verweigerte sich aber diesen Bestrebungen, obwohl sie häufig recht eng mit der Führerin der sozialdemokratischen Frauen, Clara Zetkin, zusammenarbeitete. Tatsächlich überließ sie die Frauenthemen Zetkin; sie selber schrieb Artikel zu allgemeinen politischen Themen, die auch in der Gleichheit gedruckt wurden oder schrieb unter Pseudonym.
Eine Aufzählung ihrer Aktivitäten ergäbe eine lange Reihe: Sie nimmt an den nationalen und internationalen Kongressen teil, leitet diverse Zeitungen und Zeitschriften, besonders natürlich die Leipziger Volkszeitung oder liefert zumindest Artikel für sie. Sie organisiert das Schulungswesen der Partei, sie arbeitet mit Polen und Russen an politischen Aufgaben, sie beteiligt sich an den Polemiken, die die SPD, aber auch die Sozialistische Internationale beschäftigen...
Wegen ihrer Redebeiträge auf dem Dresdener Parteitag wurde sie im Juli 1904 wegen Beleidigung des Kaisers zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ihre Angriffe gegen die preußische Monarchie und den Militarismus lassen viele Führer und auch bedeutende Mitglieder der Sozialdemokratie erzittern. Sie saß ihre Gefängnisstrafe in Zwickau ab, als der sächsische König Albrecht starb und sie gegen ihren Willen, denn von einem König wollte sie sich nichts schenken lassen, begnadigt wurde. Im Dezember 1905 ging sie nach Polen, um während einiger Tage an den Barrikadenkämpfen in Warschau teilzunehmen, wo das gleiche revolutionäre Fieber wie in Rußland ausgebrochen war. Von März bis August saß sie wieder im Gefängnis, diesmal aber in ihrem Herkunftsland. Schon seit geraumer Zeit wurde sie von der bürgerlichen Presse als blutrünstig verschrien.[14]
In den Jahren 1903 und 1904 nimmt sie an einer Kontroverse teil, die unter russischen Marxisten ausgetragen wird. Rosa gehörte nie zu den Menschewisten - in ihrer Sicht der russischen Probleme stand sie immer Trotzki recht nahe - aber sie hatte eine total andere Meinung als Lenin, dessen "Ultrazentralistisches" Parteiverständnis sie einer herben Kritik unterzog:
- "In diesem ängstlichen Bestreben eines Teiles der russischen Sozialdemokratie, die so hoffnungsvoll und lebensfreudig aufstrebende russische Arbeiterbewegung durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren, scheint uns übrigens derselbe Subjektivismus mitzureden, der schon öfters dem sozialistischen Gedanken in Rußland einen Possen gespielt hat. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt die Rolle des Lenkers zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler zu machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen."[15]
In dieser Polemik betrachtete Rosa, ausgehend von ihren deutschen Erfahrungen - die organisatorischen Methoden von Jogiches in Polen waren denen Lenins nicht unähnlich - ein politisches Problem als organisatorisches. Sie vertraute mehr auf die naturwüchsige Spontaneität der Massen - besonders nach der russischen Revolution von 1905 - als auf Parteiapparate und glaubte - wie Marx - an eine Stärkung des Bewußtseins durch revolutionäre Praxis. Die Partei sollte keine von der Bewegung getrennte Fraktion sein, eine auf das revolutionäre Programm und den Kampf gegen den Opportunismus beschränkte Fraktion, sondern die Organisation sollte aus der revolutionären Bewegung des Proletariates selbst heraus geschaffen werden und dadurch in der Lage sein, "in die Entwicklung der Dinge einzugreifen und zu versuchen, sie zu beschleunigen."[16] Diese Konzeption von Spontaneität hat später einige Veränderungen erfahren. Sie besteht in ihren letzten Artikeln auf der Tatsache, daß "die Massen eine klare Führung und unerbittlich entschlossene Führer brauchen."[17]
Eine weitere wichtige Polemik, die seit 1906 ausgetragen wurde, hatte den Massenstreik zum Thema. Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten betrachteten den Generalstreik als den "Schlüssel" zur Revolution, die Reformisten im Parteiapparat hielten ihn für Humbug. Das orthodoxe "Parteizentrum",[18] angeführt von Bebel und Kautsky, betrachteten den Massenstreik als ein vielleicht einzusetzendes politisches Mittel, das im Falle einer Einschränkung oder Aufhebung des allgemeinen Wahlrechtes in Aktion treten sollte.
Rosa sieht in ihm eine spontane Explosion der Massen, "nicht etwa, weil das Proletariat eine unzulängliche Bildung hätte, sondern weil man die Revolution nicht in der Schule lernt." Daher gilt: "In dem Augenblick, in dem eine Reihe von Generalstreiks von großem Ausmaß beginnt, sind alle Vorhersagen und Berechnungen der Kosten ebenso vergeblich, wie die Absicht, den Ozean mit einem Wasserglas leeren zu wollen." Trotzdem hat die Sozialdemokratie die Pflicht, sich in den Lauf der Ereignisse einzuklinken und zu versuchen, sie zu beschleunigen." Den Streik betrachtet sie nicht als "theoretisches Gebilde", sondern:
- "Der Massenstreik, wie ihn die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, daß er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpaß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe - alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem Massenstreik selbst, nicht in seinen technischen Besonderheiten, sondern in dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution."[19]
Damit wollte Rosa den verschiedenen Strömungen sagen: Es macht keinen Sinn, wenn ihr versuchen wollt, den Massenstreik nach euren Entschlüssen oder Launen auszulösen oder abzusagen. Es ist die Aufgabe der revolutionären Arbeiterbewegung, diesen Prozeß rechtzeitig vorherzusehen, ihn anzufeuern, von ihm zu lernen und ihn zu führen.
5. Krieg dem Kriege
Während eines 1900 in Paris tagenden Kongresses der Sozialistischen Internationalen zeigte Rosa zum erstenmal ihren kämpferischen Internationalismus, als sie energisch eine Resolution unterstützte, die den Militarismus verurteilte. Diese Resolution wurde einstimmig angenommen, doch in der Praxis sollten wenige so konsequent handeln wie sie. Jahre später, auf dem Kongress in Stuttgart 1907, trat Rosa zusammen mit Martov und Lenin als Mitglied der polnisch-russischen Delegation auf und kämpfte für die Verabschiedung einer neuen Resolution, die den Vorschlag Bebels erweiterte und präzisierte, in den Parlamenten gegen Kriegstreiberei und Kriegsanleihen zu stimmen. Der Abänderungsantrag Rosas unterstrich, daß die Sozialdemokraten nicht nur alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel in Anwendung zu bringen hätten, einen Krieg zu verhindern, sondern im Kriegsfalle auch alles nur mögliche versuchen müßten, die "wirtschaftliche und politische Krise, wie sie durch den Krieg verursacht wird, zu nutzten" mit dem Ziel, den Untergang des kapitalistischen Systems zu beschleunigen, oder genauer, gegen den Krieg Krieg zu führen. Diese Position nimmt die Haltung der Bolschewiki und später der Spartakisten zum Ersten Weltkrieg vorweg.
Mit Ausbruch des Krieges 1914 löste sich die Sozialistische Internationale faktisch in ihre nationalen Bestandteile auf. Einige verbanden sich ganz ungeniert mit den bürgerlichen Klassen ihres jeweiligen Landes (jetzt waren die bürgerlichen Klassen des anderen Landes die Kriegstreiber), andere erklärten, sie wollten "Frankreich, das Heimatland der Großen Revolution" gegen den "preußischen Militarismus" oder aber "die Errungenschaften der deutschen Arbeiterbewegung" gegen die "zaristische Barbarei" verteidigen.
Kautsky schrieb" die Internationale habe ihre Nützlichkeit in Friedenszeiten gezeigt und sei als Friedensinstrument geschaffen, in Kriegszeiten aber sei sie machtlos. Rosa polemisierte gegen die verschiedenen Tendenzen des Nationalchauvinismus, der behaupte:
- "Es gibt für das Proletariat nicht eine Lebensregel, wie es der wissenschaftliche Sozialismus bisher verkündete, sondern es gibt deren zwei: eine für den Frieden und eine für den Krieg. Im Frieden gelte im innern jedes Landes der Klassenkampf, nach außen die internationale Solidarität, im Kriege gelte im Innern die Klassensolidarität, nach außen der Kampf zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder. Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifestes erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun nach Kautskys Korrektur: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege! Also heute jeder Schuß ein Ruß, jeder Stoß ein Franzos", und morgen, nach Friedensschluß "Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt". Denn die Internationale ist "im wesentlichen ein Friedensinstrument", aber "kein wirksames Werkzeug im Kriege".[20]
Ab 1915 beginnt Rosa zusammen mit einer Reihe von Freunden - unter ihnen Franz Mehring, Clara Zetkin, August Thalheimer und Käte Duncker ein theoretische Zeitung aufzubauen, die "Internationale". Doch schon die erste Nummer wurde umgehend verboten und gegen die wichtigsten Redakteure Anklage wegen Hochverrats erhoben. Am 18. Februar 1915 wird Rosa verhaftet und in das Berliner Frauengefängnis Barnimstraße verbracht. Dort sollte sie ein Jahr gefangen gehalten werden und danach nur kurze Zeit die Freiheit wiedersehen. Erst die Revolution sollte sie aus der Haft befreien. Die Nachrichten vom Kriege, die hinter ihre Gefängnismauern drangen, waren nicht dazu angetan, ihre Stimmung zu heben. Die Linke war völlig in der Defensive. Dies änderte sich erst mit der Zimmerwalder Konferenz vom September 1915, die einen ersten Akzent im beginnenden Kampf gegen die Kriegspolitik setzte. Karl Liebknecht, der erstmals Ende 1914 als einziger Abgeordneter gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, veröffentlichte Flugblätter, um die Massen aufzurütteln. "Der Hauptfeind steht im eigenen Land!" - so lautete seine und Rosas Devise. Ende des Jahres gelang es ihnen, miteinander in brieflichen Kontakt zu treten. Am 1. Januar 1916 tagte in Berlin eine Konferenz der Parteilinken, zu der Rosa "Leitsätze" geschrieben hatte, die der sich gründende "Spartakusbund" als programmatische Grundlage akzeptierte. Im April 1916 wurde ihre Schrift Die Krise der Sozialdemokratie veröffentlicht, die als Junius-Broschüre international bekannt geworden ist. Als sie und ihre Genossen versuchten, die Arbeiter gegen den Krieg zu mobilisieren und sie zu einer Demonstration am 1. Mai 1916 auf dem Potsdamer Platz in Berlin aufriefen, kamen auch Tausende Arbeiter dieser Aufforderung nach, doch bei den Rufen "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" stürzten sich die Polizisten auf die Arbeiterführer, besonders auf Karl Liebknecht. Auch Rosa wurde umgehend wieder verhaftet.
6. Die russische Revolution und der Bolschewismus
Nach dem imperialistischen Krieg ist die Oktoberrevolution das entscheidende Ereignis, welches endgültig zum Bruch zwischen Reformisten und Revolutionäre in der Sozialistischen Internationale führt. Sie empfindet große Freude über dies Ereignis, obwohl man sagen muß, daß sie nicht sonderlich optimistisch ist. An Luise Kautsky schrieb sie:
- "Freust Du Dich über die Russen? Natürlich werden sie sich in diesem Hexensabbat nicht halten können - nicht, weil die Statistik eine zu rückständige ökonomische Entwicklung in Rußland aufweist, wie Dein gescheiter Gatte ausgerechnet hat, sondern weil die Sozialdemokratie in dem hochentwickelten Westen aus hundsjämmerlichen Feiglingen besteht, die, ruhig zusehend, die Russen sich verbluten lassen. Aber ein solcher Untergang ist besser als leben bleiben für das Vaterland', es ist eine weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Aeonen nicht untergehen wird."(24.11.1917)[21]
Trotz ihrer enthusiastischen Unterstützung der Oktoberrevolution wird sie gleichzeitig eine der härtesten Kritikerinnen der bolschewistischen Politik im revolutionären Lager. Sie kritisiert die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, die Verteilung des Bodens unter die Bauern und die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Bresk-Litowsk. Die Bolschewiki allerdings waren der Überzeugung, daß sie in keinem dieser Punkte recht hatte, denn sie habe nicht gesehen, daß die Konstituante - die ohnehin nicht sonderlich repräsentativ gewesen sei - nicht längerfristig mit der Rätemacht koexistieren konnte. Rosa kam aufgrund der eigenen Erfahrungen in der deutschen Revolution später zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Sie unterschätze auch die Bedeutung eines Bündnisses mit den Bauern in einem Land, in dem diese die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ausmachten und ihre Kritik, eine spätere Sozialisierung des Bodens würde durch die Verteilung erschwert, gehe daher an der Sache vorbei. Es zeigte sich auch, daß sie und Trotzki unterschiedlicher Auffassung waren, als beide die Formel "Diktatur des Proletariats, gestützt auf die Bauernschaft" (im Unterschied zu Lenins "demokratische Diktatur des Proletariates und der Bauernschaft", von dem er in den "Aprilthesen" abging) gebrauchten. Trotzki sprach von der Führung und sie von der Herrschaft. Letztlich wandte sie sich auch später gegen die Devise der Selbstbestimmung als Grundlage für die Sowjetmacht.[22]
Zweifellos hatte sie aber Recht, als sie sich gegen die Unterdrückung demokratischer Freiheiten wandte. ("Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden".) Sie kritisierte den Einsatz von Repressionsmitteln, der im Einzelfall wohl berechtigt war, aber nicht zur allgemeinen Regel werden durfte. Dies bedeutet aber nicht, daß sie keine Unterscheidung zwischen der Gewalt der Unterdrücker und der Gewalt der Unterdrückten gemacht hätte. Am 24. November 1918 schrieb sie in der Roten Fahne:
- "Die Reventlow, Friedberg, Erzberger, die ohne mit der Wimper zu zucken anderthalb Millionen deutscher Männer und Jünglinge zur Schlachtbank getrieben - um Longwy und Briey, um neuer Kolonien willen - die Scheidemann-Ebert, die vier Jahre lang für den größten Aderlaß, den die Menschheit erlebt, alle Mittel bewilligten, sie schreien jetzt im heiseren Chor über den "Terror", über die angebliche "Schreckensherrschaft", die von der Diktatur des Proletariats drohe!"[23]
Ihre Arbeit über die russische Revolution schrieb sie im Sommer 1918 im Gefängnis und schickte sie Paul Levi, der sie nach seinem Ausschluß 1922 aus der KPD veröffentlichte. Levis Absicht lag zweifellos in einer Herabsetzung des Bolschewismus, was sich schon darin zeigt, daß er nicht ins Konzept passende Stellen kürzte. Ihre wirkliche Haltung zeigt folgendes Zitat zu Ende der Broschüre:
- "In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt! Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben." Und: "Ihr Aufstand vom Oktober war nicht nur die Rettung der russischen Revolution, sondern auch die Rettung der Ehre des internationalen Sozialismus."[24]
7. Die deutsche Revolution
Die russische Revolution brachte für Rosa die Frage der Aktualität der internationalen sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung. Diese Aktualität führte sie bei der Abfassung des Programms der deutschen kommunistischen Partei dazu, zu sagen, das Maximalprogramm sei nun das Minimum geworden, was man verlangen müsse. Es läge nun insbesondere an Deutschland, die Perspektive der Weltrevolution zu festigen.
1918 befand sich Deutschland in voller revolutionärer Gärung. Überall bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. In den Streiks des Winters und Frühjahrs 1918 hatten sich in den Berliner Großbetrieben der Metallindustrie die Revolutionären Obleute gegründet. Sie verfügten im Gegensatz zum Spartacus über eine gewisse Massenbasis. Es gelang ihnen im November 1918, den Reichstag zu besetzen. Ein Vollzugsausschuß der Arbeiter- und Soldatenräte, der die höchste Macht im Reich für sich in Anspruch nahm, wurde eingerichtet.
Wesentliche Teile der USPD entwickelten sich nach links. Aus ihrem Zusammenschluß mit dem Spartakusbund entstand die KPD und Rosa war zusammen mit Liebknecht die wichtigste und angesehendste Führerin. Gleich in ihrem ersten Artikel für Die Rote Fahne kritisiert sie die neue Regierung und formuliert das Programm der deutschen Revolution:
- "Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung: dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene, bewußte Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann. Aus dem Ziel der Revolution ergibt sich klar ihr Weg, aus der Aufgabe ergibt sich die Methode. Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte, Sicherung des Revolutionswerkes vor lauernden Feinden: das ist die Richtlinie für alle Maßnahmen der revolutionären Regierung. Jeder Schritt, jede Tat der Regierung müßte wie ein Kompaß nach dieser Richtung weisen: Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte, damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entstehung durch bewußten Prozeß der Selbstverständigung über Ziele, Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird; ( ... ) schleunigste Einberufung des Reichsparlaments der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revolution als ihre Schutzwehr und ihre Stoßkraft zu stellen; unverzügliche Organisierung nicht der,Bauern, sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch außerhalb der Revolution stehen; Bildung einer proletarischen Roten Garde zum ständigen Schutz der Revolution und Heranbildung der Arbeitermiliz, um das ganze Proletariat zur jederzeit bereiten Wacht zu gestalten; Verdrängung der übernommenen Organe des absolutistischen militärischen Polizeistaates von der Verwaltung, Justiz und Armee; sofortige Konfiskation der dynastischen Vermögen und Besitzungen sowie des Großgrundbesitzes als vorläufig erste Maßnahme zur Sicherung der Verpflegung des Volkes, da Hunger der gefährlichste Bundesgenosse der Gegenrevolution ist; sofortige Einberufung des Arbeiter-Weltkongresses nach Deutschland, um den sozialistischen und internationalen Charakter der Revolution scharf und klar hervorzuheben, denn in der Internationale, in der Weltrevolution des Proletariats allein ist die Zukunft der deutschen Revolution verankert."[25]
Die Kommunisten wollten dem russischen Beispiel nacheifern, doch die Schwierigkeiten waren insbesondere aufgrund des Konservativismus der Mittelschichten und der konterrevolutionären Haltung der sozialdemokratischen Führung ungleich größer als in Rußland.
Diese Sozialdemokratie bewies den herrschenden Klassen seit Ende 1918, daß sie ihre Interessen getreulich zu verteidigen bereit war, im Notfall sogar in Zusammenarbeit mit den rechtsradikalen "Freicorps". Historisch stellte sich die Alternative Nationalversammlung oder Rätemacht. Für die sozialdemokratischen Führer sollten die Räte nur eine untergeordnete Rolle spielen, ihnen ging es um den Aufbau und die Konsolidierung einer bürgerlichen Republik, wie sie von Scheidemann nach der Flucht Wilhelms II. vom Fenster des Reichstages aus ausgerufen worden war. Die Straßenkämpfe zwischen Rechten und Linken nahmen an Intensität zu und bürgerkriegsähnliche Zustände breiteten sich aus. Im Januar 1919 brach in Berlin spontan ein Straßenkampf los (der später auch Spartakusaufstand genannt wurde, obwohl die KPD nicht dazu aufgerufen hatte), der zu einer Niederlage der Arbeiterklasse führte und der Konterrevolution den Weg bereitete.
Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Wilmersdorf von einem Trupp Freicorpsoldaten unter Führung des Hauptmanns Pabst gestellt und ins Eden Hotel verbracht. Schon längere Zeit waren von diversen rechten Kreisen Kopfgelder auf sie ausgesetzt worden und hatten sich die bürgerliche und sozialdemokratische Presse in ihren Haßtiraden gegenseitig überboten. Der Jäger Runge schlug Rosa Luxemburg mit dem Gewehrkolben bewußtlos, der Leutnant Vogel brachte sie mit einem Kopfschuß um. Ähnlich verfuhr man mit Karl Liebknecht. Einen Tag später stand in den Zeitungen zu lesen: "Liebknecht auf der Flucht erschossen!", "Luxemburg von der Menge erschlagen!" In Wirklichkeit waren sie von Soldaten in höherem Auftrag brutal ermordet worden. Die Leiche Rosa Luxemburgs fand man im Mai im Berliner Landkanal. Ohne Übertreibung handelte es sich um die beiden bedeutendsten Menschen, die im modernen Deutschland einem politischen Mord zum Opfer fielen. Für die Arbeiterbewegung bedeutete ihr Tod einen unersetzlichen Verlust, die junge und noch ungefestigte KPD verlor ihre beiden besten und weitblickendsten Führer. Kautsky und Bernstein meinten, beide hätten durch ihre Art des Auftretens und des Kampfes für ihre Ideen den Tod gesucht.