Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen
mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe,
und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechtes durch das männliche.
Die Einzelehe war ein großer geschichtlicher Fortschritt,
aber zugleich eröffnet sie neben der Sklaverei und dem Privatreichtum
jene bis heute dauernde Epoche, in der jeder Fortschritt
zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung
der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern.
Sie ist die Zellenform der zivilisierten Gesellschaft,
an der wir schon die Natur der in dieser sich voll entfaltenden
Gegensätze und Widersprüche studieren können.
Friedrich Engels
1. Unter den Großen des Sozialismus
Clara Zetkin war Organisatorin der deutschen und internationalen sozialistischen Frauenbewegung und nach Engels und Bebel deren wichtigste Theoretikerin, eine der Führerinnen im Kampf gegen den Reformismus, Internationalistin auch während des Ersten Weltkriegs, Führerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, herausragendes und von Lenin hochgeschätztes [1] Mitglied der Kommunistischen Internationale, Reichstagsabgeordnete, Rednerin und Propagandistin. In den meisten Abhandlungen zur Geschichte des Sozialismus erscheint sie gewöhnlich als eine charakteristische, jedoch eher zweitrangige Persönlichkeit, obwohl sie über alle Attribute verfügt, unter die Großen der internationalen Arbeiterbewegung gerechnet zu werden
Es ist daher dem Führer der spanischen POUM, Andres Nin, voll zuzustimmen, wenn er schreibt:
- "Clara Zetkin gab ein großartiges Beispiel für eine revolutionäre Führerin ab; sie gehörte zu den wirklich Führenden, nicht zu denen, die im Laboratorium der stalinistischen Bürokratie fabriziert wurden und den Himmel wie ein Komet durchqueren, während sie von den Massen getrennt sind, deren Interessen und Bestrebungen sie angeblich vertreten. Die Führungsqualitäten von Clara Zetkin gründeten auf mehr als einem halben Jahrhundert Einsatz in der Arbeiterbewegung, auf dem Ansehen, das sie sich durch ein Leben voller Selbstlosigkeit und Opfer für die proletarische Sache erworben hatte. Die Arbeiter in Deutschland, die diese großartige Kämpferin gesehen haben, zählen nach Millionen; es wäre schwer, ja beinahe unmöglich, einen einzigen zu finden, der nicht ihren Namen kennt, welcher untrennbar mit der Arbeiterbewegung verbunden ist, von den ersten Schritten des Proletariats auf dem Weg zu seiner politischen Reorganisation bis hin in die jüngste Zeit."[2]
Auch wenn Clara keine so große und originelle Theoretikerin war wie etwa Rosa Luxemburg, so ist ihre Leistung als Verbreiterin der Ideen der hervorragenden Denker des Sozialismus, etwa den Analysen von Bebel und Engels zur Frauenfrage oder denen von Luxemburg und Liebknecht über den politischen Kampf innerhalb der SPD und der Sozialistischen Internationale nicht zu unterschätzen. Später, nach Gründung der Komintern, propagierte sie die politischen Konzepte von Lenin, Trotzki und Paul Levi und in deren Niedergangsphase ab und zu auch jene von Stalin. Es war in erster Linie ihr Haß auf die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen, der sie der Sozialdemokratie beitreten und eine große Propagandistin werden ließ. Im Sozialismus erkannte sie nicht nur ein großes historisches Ziel, sondern vor allem eine unmittelbare Notwendigkeit, um der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter und Frauen ein Ende zu bereiten.
Der Zeitraum ihrer politischen Aktivitäten reicht von den Anfängen der vereinigten Sozialdemokratie, also den späten siebziger Jahren, bis 1932, ein Jahr vor ihrem Tod. Während dieser Zeit machten der Kapitalismus und die Arbeiterbewegung eine ungeheure Entwicklung durch:
- "Vom vorwiegend von der Konkurrenz bestimmten Kapitalismus zum Monopolkapitalismus und Imperialismus, der Schaffung nationaler Monopole und der Zuspitzung der innerimperialistischen Widersprüche, die im Verhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie und auch in den Reihen des Proletariates und seiner Organisationen äußerst heftige Spannungen hervorriefen; von der Gründung der Zweiten Internationale hundert Jahre nach der französischen Revolution (1889), dem Auftreten des Revisionismus bis zur Gründung der Dritten Internationale (1919), der Revolution in Rußland und der Niederlage der proletarischen Revolution in Westeuropa: Die Erfahrungen von Clara Zetkin waren sehr vielschichtig und komplex und können kaum in einer einzigen Bewertung zusammengefasst werden." [3]
Aus all diesen Gründen und vor allem wegen ihres Engagements an der Front des frauenrechtlichen Sozialismus - der mit ihr ein Niveau der Organisierung und intellektuellen Entwicklung erreichte, das später nie mehr überschritten werden sollte kann man ihre späte Anpassung an den Stalinismus entschuldigen, der eine schwer zu verstehende Erscheinung war für jemanden, dem die Niederlage des deutschen Proletariates 1918 und 1923 so nahegegangen war wie ihr und der sich im Alter am Rande des Geschehens befand. Noch Ende der zwanziger Jahre war sie nahe dabei, sich von der KPD zu trennen und sich der KP-Opposition um Thalheimer und Brandler anzuschließen.[4] Sie brachte wohl die physische und moralische Kraft nicht mehr auf, einen solchen weitreichenden Schritt zu wagen, zumal sie in der Sowjetunion eine zweite Heimat gefunden hatte. Ähnlich wie die Witwe Lenins war sie bereits zu einer Symbolfigur geworden - und man mißbrauchte sie für Ziele, die in diametralem Gegensatz zu jenen standen, für die sie sich ein ganzes Leben lang eingesetzt hatte. Außerdem dürfte sie die Stalinisierung der Komintern recht illusionslos gesehen haben, wie ein an den Kominternsekretär Jules Humbert-Droz gerichteter Brief vom 25. März 1929 deutlich macht:
- "Ich werde mich völlig einsam und deplaciert fühlen in dieser Körperschaft (dem Exekutivkomitee der Komintern, pbk), die sich aus einem lebendigen, politischen Organismus in einen toten Mechanismus verwandelt hat, der an der einen Seite Befehle in russischer Sprache einschluckt und auf der anderen Seite Befehle in verschiedenen Sprachen ausspuckt, ein Mechanismus, der den gewaltigen welthistorischen Sinn und Gehalt der russischen Revolution zu Spielvorschriften für Pickwickier-Clubs ummünzt. Es würde zum Wahnsinnig werden sein, wenn meine Ueberzeugung von dem Gang der Geschichte, von der Kraft der Revolution nicht so unerschütterlich wäre, dass ich auch aus dieser Stunde mitternächtigen Dunkels vertrauend, ja optimistisch in die Zukunft schaue."[5]
2. Eine Schülerin von Engels und Bebel
Clara Zetkin wurde am 5. Juli 1857 als ältestes von drei Kindern des Dorfschullehrers und Kantors Gottfried Eißner und seiner Ehefrau Josephine geborene Vitale geboren und wuchs in Wiederau in der Nähe von Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) auf. Ihr Vater stammte aus ärmlichen Verhältnissen, die Mutter aber war die Tochter des französischen Offiziers Jean Dominique Vitale, der unter Napoleon gedient und diesen auf der Höhe seines Ruhmes verlassen hatte, um sich in Leipzig als Professor für französische Sprache niederzulassen. Schon Josephine Vitale vertrat als Anhängerin der Werte der französischen Revolution die Ideen der rechtlichen Gleichstellung und materiellen Unabhängigkeit der Frauen.
Obwohl bis zum heutigen Tage noch keine zufriedenstellende Biographie [6] über Clara Zetkin erschienen ist - erstaunlich bei einer Frau, die in der DDR als eine Art "sozialistische Heilige" behandelt und deren Grab in Moskau an der Kremlmauer in höchsten Ehren gehalten wird - so kann als unumstritten gelten, daß sie im Alter von etwa siebzehn Jahren nach der Übersiedlung ihrer Eltern ins Leipzig der Gründerzeit in das private Lehrerinnenseminar der Auguste Schmidt [7] aufgenommen worden ist. Trotz der hohen Anforderungen war Clara Zetkin sehr erfreut, diese Ausbildung absolvieren zu können, denn damals wurden kaum Frauen zum Schuldienst zugelassen. In Leipzig lernte sie über ihre Freundin Warwara eine Gruppe russischer Exilanten kennen, die als Anhänger der Volkstümler ihr Land hatten verlassen müssen. Unter ihnen befand sich auch Ossip Zetkin, der in der sich rasch entwickelnden deutschen Arbeiterbewegung aktiv war und über den sie Schriften von Marx und Engels kennengelernt haben dürfte. Er nahm sie zu Versammlungen der Sozialdemokraten mit. Kurz nachdem sie ihr Abschlußexamen erfolgreich bestanden hatte, wurde das Sozialistengesetz erlassen und die Aktivitäten der Sozialdemokratie illegalisiert. Ossip Zetkin wurde 1880 wegen politischer Betätigung aus Deutschland ausgewiesen. Clara Eißner arbeitete vorübergehend als Hauslehrerin in Österreich und Italien und zog im Sommer 1882 nach Zürich, auch um ihren in Paris lebenden Freund leichter besuchen zu können. In der Schweiz lernte sie Georgi Plechanow und Vera Sassulitsch kennen und begann ihr Leben als sozialdemokratische Aktivistin in Zusammenarbeit mit dem roten Feldpostmeister Julius Motteler, der den Sozialdemokrat, das Zentralorgan der SPD, nach Deutschland einschmuggelte. Der enge Vertraute von Engels, Eduard Bernstein, unterwies sie damals kurzzeitig in marxistischer Theorie und Politik.
Im November 1882 siedelte sie nach Paris über und begann eine Lebensgemeinschaft mit Ossip.[8] Sie nahm seinen Namen an. Ihre beiden Kinder Maxim und Konstantin wurden 1883 und 1885 geboren. Zuerst mußte die Familie in außerordentlich ärmlichen Verhältnissen leben. Während der folgenden Jahre in Paris arbeiteten beide sehr aktiv am Aufbau der französischen und internationalen Arbeiterbewegung mit. Clara lernte einige der wichtigsten Führer und Führerinnen der sozialistischen Arbeiterbewegung kennen und schloß Freundschaft mit ihnen: Eugène Pottier, der die Internationale geschrieben hat, Louise Michel,[9] die Marx-Töchter Jenny und Laura, die Führer des französischen Sozialismus Paul Lafargue und Jules Guesde usw. Ende des Jahrzehnts wurde sie zur Delegierten der Berliner Frauen ernannt und nahm an den Vorbereitungen des Gründungskongresses der Sozialistischen Internationale in Paris teil. Für die deutsche Parteipresse schrieb sie einige Artikel, in denen sie sich besonders mit der Situation der gespaltenen französischen Arbeiterbewegung und der Tätigkeit der reformistischen "Possibilisten" auseinandersetzte, die in Paris einen Gegenkongreß abhalten wollten. Auf dem Gründungskongreß der Sozialistischen Internationale hielt sie das Hauptreferat zur Frauenfrage, in dem sie gegen die auch in der sozialistischen Bewegung vertretenen Auffassungen, die Frauenerwerbsarbeit müsse abgeschafft werden, auftrat und darüberhinaus die rechtliche und politische Gleichstellung der Frauen verlangte:
- "Diejenigen, die auf ihr Banner die Befreiung des Menschengeschlechts geschrieben haben, dürfen nicht eine ganze Hälfte des Menschengeschlechts durch wirtschaftliche Abhängigkeit zur Sklaverei verurteilen."[10]
Es dürfe das erste Mal gewesen sein, daß diese Forderung auf einem internationalen Kongreß der Arbeiterbewegung erhoben wurde.
Nach dem Tode ihres Lebensgefährten und der Nichtverlängerung der Sozialistengesetze kehrte sie 1890 nach Deutschland zurück und ließ sich in Stuttgart nieder. Sie mußte zuerst um ihre deutsche Staatsbürgerschaft kämpfen, weil sie den deutschen Behörden als russische Staatsangehörige galt.[11]
Im Dezember 1891 übernahm sie von Emma Ihrer die Redaktion der Gleichheit, das Organ der sozialdemokratischen Frauen, das sie fünfundzwanzig Jahre leiten sollte. Es dürfte die auflagenstärkste (zeitweise über 120 000 Abonnenten) und einflußreichste frauenrechtliche Zeitschrift aller Zeiten gewesen sein. Die Frauengruppen der Sozialdemokratie entstanden hauptsächlich auf der Grundlage demokratischer Forderungen. Es ging ihnen nicht nur darum, zu den Wahlen zugelassen zu werden, sie mußten sich vielmehr auch das Recht erkämpfen, sich gewerkschaftlich oder politisch organisieren zu dürfen, was im Kaiserreich bis 1908 ausdrücklich verboten war. Dank der Stärke der Partei konnten sich die Frauen teilweise über das Verbot hinwegsetzen; andererseits ermöglichte ihnen die Tatsache, daß sie nicht formal Parteimitglieder waren, größere Freiräume.
Clara Zetkins theoretische Konzeptionen leiteten sich besonders von den beiden klassischen Werken des Sozialismus zur Frauenfrage her, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884) von Engels und Die Frau und der Sozialismus (1879) von August Bebel. Darüberhinaus entwickelte sie zahlreiche neue Ideen zur Frauenarbeit am Arbeitsplatz und in den Gewerkschaften, die teilweise auf harte Gegnerschaft der Gewerkschaftsbürokraten, aber auch der Parteiprominenz stießen. Die wichtigsten Forderungen der proletarischen Frauenbewegung faßte sie in einem programmatischen Artikel in der Gleichheit wie folgt zusammen:
- Für Ausdehnung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes, namentlich für Einführung des gesetzlichen Achtstundentages zunächst wenigstens für die weiblichen Arbeiter.
- Für Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren.
- Für aktives und passives Wahlrecht der Arbeiterinnen zu den Gewerbegerichten.
- Für gleichen Lohn für gleiche Leistung ohne Unterschied des Geschlechts.
- Für volle politische Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern, speziell für uneingeschränktes Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsrecht.
- Für gleiche Bildung und freie Berufstätigkeit der beiden Geschlechter.
- Für die privatrechtliche Gleichstellung der Geschlechter.
- .......
- Für die Beseitigung der Gesindeverordnung [12]
Stuttgart wurde das hauptsächliche Zentrum ihrer Aktivitäten, da diese Stadt eine der Hochburgen der revolutionären Arbeiterbewegung und der sozialdemokratischen Frauenbewegung war und außerdem die württembergischen Gesetze weniger repressiv gehandhabt wurden als die preußischen. Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland nahm sie an praktisch allen internationalen Kongressen der Sozialisten teil, und ebenso an den Frauenkonferenzen. 1896 stellte Clara auf dem Parteitag der SPD in Gotha den ersten Frauenbericht in der Geschichte der Sozialdemokratie vor, in dem die Aufgaben der Sozialdemokratie aufgelistet und die Forderung nach dem Frauenwahlrecht erhoben wurde. Dies war in den sozialistischen Parteien der damaligen Zeit alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Zehn Jahre nach dem frühen Tode ihres Lebensgefährten heiratete Clara den um achtzehn Jahre jüngeren Maler Georg Friedrich Zundel, von dem sie sich aber wenige Jahre später wieder trennte. Danach lebte sie allein mit den beiden Kindern Maxim und Kostja, die sie von Ossip Zetkin gehabt hatte.[13]
Jahrelang galt ihre mächtige Stimme als Ausdruck der kämpferischen Haltung der revolutionären Linken in den Diskussionen in der Partei und der Internationale gegen die verschiedenen Strömungen des Revisionismus und Opportunismus. "Claras Reden", schrieb Andres Nin, "elektrisieren die Menge. In ihrer Redekunst, die man als feuerwerksartig beschreiben kann, bringt sie glänzende und kraftvolle Bilder, die eingehen und begeistern. Wir, die wir Clara Zetkin am Ende ihres Lebens auf der Tribüne gesehen haben, können uns leicht vorstellen, wie sie in ihrer Jugend gewirkt haben muß. Welcher Enthusiasmus, welche Energie, welche Leidenschaft beseelte diese siebzigjährige Frau! Wie sie sich verwandelte, erleuchtet von dem inneren Feuer, das in diesem von den Jahren und der Krankheit ausgemergelten Körper glühte!"
Auf dem berühmten Stuttgarter Kongreß der Internationale vom 18. bis 24. August 1907, auf dem das Trio Lenin-Rosa Luxemburg-Martow einen harten Kampf um die Haltung der Sozialistischen Internationale zur Kriegsfrage führte, trug Clara Zetkin, die kurz zuvor auf der ersten Internationalen Frauenkonferenz ebenfalls in Stuttgart zur internationalen Sekretärin gewählt worden war, in aller Deutlichkeit ihr Anliegen vor, an der Agitation für das Frauenwahlrecht festzuhalten. Sie beschuldigte schon damals die von Viktor Adler geführten österreichischen Genossen, die gerade einen bedeutsamen Wahlsieg errungen hatten, die Propaganda zu diesem Thema abgebrochen zu haben. In ihrer Schrift "Richtlinien für die Kommunistische Frauenbewegung" faßte sie ihre Kritik an den Reformisten zusammen:
- "Die Kluft zwischen Theorie und Praxis, zwischen Beschluß und Tat trat besonders scharf im Verhalten zu der Forderung des Frauenrechts zutage. Die II. Internationale duldete es, daß ihr angegliederte Organisationen in England jahrelang für ein beschränktes Damenwahlrecht eintraten, dessen Einführung die politische Macht der Besitzenden und damit den Widerstand gegen das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen gestärkt haben würde. Sie ließ es geschehen, daß die sozialdemokratische Partei in Belgien und später in Österreich beim großen Wahlrechtskampf darauf verzichtete, auch das allgemeine Frauenwahlrecht zu fordern. (...) Die Partei der geeinigten Sozialisten Frankreichs (begnügte) sich mit platonischen parlamentarischen Anträgen für die Einführung des Frauenwahlrechts."[14]
Auf der Internationalen Kopenhagener Frauenkonferenz 1910 brachte Clara Zetkin den Vorschlag ein, "einen ersten Mai der Frauen" zu begehen, der jährlich am 8. März zum Gedenken an die 129 Märtyrerinnen der Baumwollfabrik Cotton of New York, die von ihrem Unternehmer während eines Streiks bei lebendigem Leib verbrannt worden waren, stattfinden sollte. In den Jahren vor Ausbruch des Großen Krieges widmete Clara den größten Teil ihrer Kraft dem antimilitaristischen Kampf. So präsentierte sie auf dem internationalen Kongress von Basel (1912) einen ausführlichen und leidenschaftlichen Bericht über den drohenden Krieg und die sich daraus ergebende Möglichkeit, international mit Generalstreik und wenn möglich einer Revolution darauf zu antworten.
3. Feminismus und Sozialismus
In der langen und leidenschaftlichen Lebensgeschichte Clara Zetkins nimmt die Frage nach den Lebensverhältnissen der arbeitenden Frau beständig den wichtigsten Platz ein. Dieses Thema begleitete sie seit Beginn ihres Engagements "unter Führung von Friedrich Engels" (den sie 1893 auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Zürich noch persönlich kennengelernt hatte) auf diesem Gebiet. Von ihm lernte sie die Prinzipien des Klassenkampfes und nicht nur die Verwaltung von bedeutenden Organisationen. Selbst am Ende ihres Lebens betonte sie in ihren Aufrufen zum Kampf gegen den Faschismus die Bedeutung der Frauenfrage in dieser Auseinandersetzung. Zwar schrieb sie keine herausragende Studie, aber am unbestreitbaren Beispiel der Praxis zeigte Zetkin, daß sich die arbeitenden Frauen zu tausenden organisieren konnten, dadurch die proletarischen Reihen vermehrten und ihnen eine größere Breite gaben. Die Frauenorganisation der deutschen Sozialisten diente der internationalen sozialistischen Bewegung als Vorbild.
Claras Horizont war nicht bloß auf Europa beschränkt, sie interessierte sich auch für die unterentwickelte Welt. In einem ihrer Berichte für die Komintern schrieb sie:
- "Und was eine besondere Beachtung verdient: In den in den Ländern des Nahen und Fernen Ostens sind die Frauen in Bewegung geraten, die Frauen, die durch Traditionen, Sitten und religiöse Satzungen von Jahrtausenden gebunden sind. Ich denke dabei nicht an die kleine Schicht besitzender Frauen des Orients, Bahnbrecherinnen ihres Geschlechts, die sich an den Universitäten Europas und der Vereinigten Staaten Wissen, ja Gelehrsamkeit und moderne Kultur holen. Mir sind vielmehr gegenwärtig die vielen Tausende und aber Tausende von Kleinbäuerinnen und Arbeiterinnen auf den Reisfeldern und Baumwollplantagen, in der Tabak- und Textilindustrie, bei der Petroleumgewinnung etc., die sich in der Türkei, in Turkestan, in Korea, Japan, in der Mongolei, in Indien gegen das Doppeljoch der Mannes und der Kapitalherrschaft zu empören beginnen."[15]
Diese Idee des "doppelten Jochs", die die Frage nach der spezifischen Unterdrückung der Frau durch den Mann aufwirft, ist in ihrem Denken angelegt, aber sie kommt nicht soweit, daraus alle notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Manchmal macht sie, ausgehend von einem Satz von Engels, nach dem in der monogamen Ehe der Mann der Bourgeois ist und die Frau die Proletarierin repräsentiert,[16] von dieser Idee Gebrauch. Aber ihre praktische Folgerung ist anders, sie sieht keinen Widerspruch im Arbeiterpaar, so wie dies Flora Tristan getan hat. Für sie ist die Frauenunterdrückung durch das Patriarchat nur ein "Nebenwiderspruch", der hinter den Kampf für den Sturz des Kapitalismus zurücktreten muß:
- "Deshalb kann der Befreiungskampf der proletarischen Frau nicht ein Kampf sein wie der der bürgerlichen Frau gegen den Mann ihrer Klasse; umgekehrt, es ist der Kampf mit dem Mann ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse. Sie braucht nicht darum zu kämpfen, gegen die Männer ihrer Klasse die Schranken niederzureißen, die ihr bezüglich der freien Konkurrenz gezogen sind. Das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals und die Entwicklung der modernen Produktionsweise nahmen ihr diesen Kampf vollkommen ab. Umgekehrt - es gilt, neue Schranken zu errichten gegen die Ausbeutung der proletarischen Frau; es gilt, ihr ihre Rechte als Gattin, als Mutter wiederzugeben und zu sichern. Das Endziel ihres Kampfes ist nicht die freie Konkurrenz mit dem Manne, sondern die Herbeiführung der politischen Herrschaft des Proletariats. Hand in Hand mit dem Manne ihrer Klasse kämpft die proletarische Frau gegen die kapitalistische Gesellschaft. Allerdings stimmt sie auch den Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zu. Aber sie betrachtet die Erfüllung dieser Forderungen nur als Mittel zum Zweck, damit sie gleich ausgestattet an Waffen mit dem Proletarier in den Kampf ziehen kann."[17]
Sie glaubte, daß wenn der Proletarier sagt: "Meine Frau", damit ausgedrückt sei: "Die Genossin meiner Ideale, meiner Kämpfe, die Erzieherin meiner Kinder für die Schlacht der Zukunft." Die Frauenfrage bilde nur einen untrennbaren Teil des Klassenkampfes und daher gebe es keinen Grund für eine autonome Frauenorganisation. Auch ein Vierteljahrhundert später vertrat sie in der Komintern dieselbe Position:
- "Es gibt keine besondere kommunistische Frauenorganisation. Es gibt nur eine Bewegung, es gibt nur eine Organisation der Kommunistinnen innerhalb der Kommunistischen Partei zusammen mit den Kommunisten. Die Aufgaben und Ziele der Kommunisten sind unsere Aufgaben, unsere Ziele. Keine Sonderbündelei, keine Eigenbrödelei, die irgendwie geeignet wäre, die revolutionären Kräfte zu zersplittern und abzulenken von ihren großen Zielen der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und dem Aufbau der kommunistischen Gesellschaft."[18]
Clara sah auch nicht die Notwendigkeit des Kampfes um spezifische Forderungen bei Themen wie Sexualität und Ehe, und obgleich ihr immer wieder Zweifel kamen, teilte sie offenbar Lenins Meinung, die er in einer Unterredung mit ihr im Herbst 1920 entwickelt und die sie selbst folgendermaßen zusammengefaßt hat:
- "Jetzt müssen alle Gedanken der Genossinnen, der Frauen des arbeitenden Volkes auf die proletarische Revolution gerichtet sein. Sie schafft auch für die notwendige Erneuerung der Ehe- und Sexualverhältnisse die Grundlage. Die Beschäftigung der kommunistischen Frauen, der Arbeiterfrauen sollte sich um die proletarische Revolution drehen, die unter anderem die Grundlagen für die Veränderung der ehelichen und sexuellen Beziehungen legen wird."[19]
Für sie gibt es auch keine Möglichkeit, die Frauen aus den ausbeutenden Klassen in die Reihen der sozialistischen Frauen zu ziehen, denn ihrer Meinung nach handelt es sich bei der Frauenfrage um eine moralische und geistige Frage, um die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit, wohingegen es für die Arbeiterinnen um etwas Elementares geht, das sich aus der Tatsache der Ausbeutung durch das Kapital ergibt. "Der Proletarierin bleiben nur die Krümel, die die kapitalistische Produktion zu Boden fallen läßt."
Durch diese einschränkende Brille gesehen war es das vorrangige Ziel Clara Zetkins, die Arbeiterbewegung durch die Organisierung der proletarischen Frauen zu erweitern und zu stärken. Ihr Augenmerk galt daher besonders den konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen der Proletarierinnen. Sie trat auch vorbehaltlos für das Frauenstimmrecht ein, da es sich dabei "nicht nur um ein natürliches Recht, sondern auch um ein soziales Recht" handle.
Als Clara Zetkin sich zum Übertritt in die Kommunistische Partei entschloß, gingen nur relativ wenige Frauen mit ihr. In der Kommunistischen Internationale trafen sie auf eine Betriebsamkeit, die so unmittelbar mit der Revolution beschäftigt war, daß nur relativ wenig Kräfte in den Aufbau einer der sozialistischen vergleichbare Frauenorganisation investiert werden konnten. Trotzdem wurde auf die Gewinnung weiblicher Mitglieder großer Wert gelegt. In ihren "Richtlinien für die Frauenagitation", die Clara Zetkin für den Vereinigungsparteitag der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) und der KPD 1920 schrieb, schlug sie vor:
- "Die Agitation unter den proletarischen Frauen muß ihrer besonderen Lebens- und Denkweise sorgfältig angepaßt sein. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit besonderer Formen der Frauenagitation und die Zweckmäßigkeit der Schaffung besonderer Organe zur Erfassung und Erziehung der Frauen."[20]
Außerdem sollte ein bei jeder örtlichen Parteiorganisation bestehender Frauenagitationsausschuß, dem auch Männer angehören konnten, sich zur Aufgabe machen, "die Agitation unter den der Partei noch fernstehenden Frauen planmäßig und dauernd zu betreiben durch öffentliche Versammlungen, Betriebsbesprechungen und Betriebsversammlungen, Hausfrauenversammlungen, parteilose Delegiertenkonferenzen, Hausagitation" usw.[21]
Diese Ideen, die schon ausgezeichnet zum Konzept der Einheitsfront paßten, wie es vom dritten Kongreß der Komintern entwickelt worden ist, bestanden auch auf der Notwendigkeit eines internationalen Frauenkongreßes aller sozialistischen Strömungen ohne Anspruch auf die Hegemonie einer Partei, auf dem die Kommunistinnen ihren eigenständigen Beitrag zu leisten hätten. Der Kongreß sollte ihrer Ansicht nach an erster Stelle das Recht der Frau auf Berufsarbeit behandeln. Dabei müßten die Fragen der Arbeitslosigkeit, des gleichen Lohnes und Gehaltes für gleiche Leistung, des gesetzlichen Achtstundentages und Arbeiterinnenschutzes, der Gewerkschafts- und Berufsorganisation, der sozialen Fürsorge für Mutter und Kind, der sozialen Einrichtungen zur Entlastung der Hausfrau und Mutter usw. aufgerollt werden. Ferner sei die Stellung der Frau im Familien- und Eherecht und im öffentlich- politischen Recht auf die Tagesordnung zu setzen.[22]
Diese Vorschläge, die von verschiedenen Delegierten als "opportunistisch" kritisiert wurden, zeigen die Reifung von Clara Zetkin, die den größten Teil ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der Frauenorganisation hatte aufgeben müssen, um sich, soweit es ihr Gesundheitszustand überhaupt zuließ, auf die Leitung der Partei und der Kommunistischen Internationale zu konzentrieren. Später, nach den Niederlagen des europäischen und vor allem des deutschen Proletariats, dem Aufstieg des Stalinismus und der Bürokratie, ging das Thema der Frauenorganisation allmählich verloren, um erst in der Volksfront-Periode wieder aufzutauchen, allerdings mit einem ganz anderen, um nicht zu sagen entgegengesetzten Sinn als dem ursprünglich von Zetkin intendierten.
4. Kommunistische Führerin
Als die deutsche und internationale Mehrheit der Sozialdemokratie 1914 ihre außerordentliche Wende zum Sozialpatriotismus vollzogen, war Clara Zetkin bereits 57 Jahre alt, aber sie hatte Kraft genug, sich vom ersten Augenblick an der Minderheit um die "Gruppe Internationale" anzuschließen, die die internationalistischen und revolutionären Werte des Sozialismus verteidigen wollte.[23] Schon im Frühjahr 1915 publizierte die radikale Linke in der Partei Die Internationale, an der neben Rosa Luxemburg und Clara Zetkin auch Franz Mehring, August Thalheimer, Käte Duncker, Paul Lange, Julian Karski-Marchlewski und Heinrich Ströbel beteiligt waren. Die Zeitschrift stand ganz im Zeichen des Kampfes gegen die Burgfrieden-Politik der Mehrheit der SPD-Führung und forderte die bedingungslose Beendigung des Krieges.
Im März des folgenden Jahres leitete Clara Zetkin die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz in Bern, eine der wichtigsten Anti-Kriegs-Aktionen in der Kriegszeit. Auf dieser Konferenz wurde das Ende der Feindseligkeiten und ein Friedensschluß ohne Annexionen und Eroberungen gefordert, der das Recht der Völker auf freie Selbstbestimmung anerkennen sollte. Im Manifest des Kongresses heißt es unter anderem:
- "Der Weltkrieg steht... in einem unversöhnlichen Gegensatz zu den Interessen der Arbeiterklasse in den kriegführenden wie in den neutralen Ländern Europas, in der ganzen Welt. Unter der irreführenden Losung, die Interessen des Vaterlandes durch patriotische Pflichterfüllung zu wahren, vergeudet er Gut und Blut des arbeitenden Volkes.. . Unter der nämlichen Losung vereinigt der Weltkrieg national in den kriegführenden Ländern die Arbeiter mit ihren Ausbeutern und Herren und trennt sie damit international von ihren Brüdern, den Proletariern jenseits der Grenzpfähle... Er scheidet die Völker nicht nur durch die Blutströme, die von den Schlachtfeldern herkommen, sondern ebenso durch die Schmutzströme des Hasses, der Selbstüberhebung, Verleumdung und Beschimpfung. Eine chauvinistische Gesinnung hat sich breitgemacht, die das Vaterland schändet, statt es durch vorurteilslose Anerkennung der Kulturleistungen anderer Nationen zu ehren."[24]
Den elementaren demokratischen Prinzipien zufolge müßten sich daher die Proletarier vom Nationalismus befreien und die sozialistischen Parteien ihre volle Freiheit für den Klassenkampf wiederherstellen. Das Ende des Krieges könne nur noch durch den klaren und unerschütterlichen Willen der Volksmassen der kriegführenden Länder erreicht werden. Die Konferenz rief die sozialistischen Frauen und sozialistischen Parteien aller Länder zur Aktion auf: Krieg dem Kriege!
Für diese Handlung büßte sie mit der Verhaftung und Einlieferung ins Gefängnis nach Karlsruhe, aus dem man sie nach vier Monaten wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes wieder entließ. Offensichtlich war sie von einem "Mehrheitssozialisten" denunziert worden. Sie sah in der Haft eine natürliche Episode des Kampfes, eine vorrübergehende Gefangenschaft, an "deren Ende man erneut zu den Waffen greifen und wieder in den Kampf ziehen muß." Trotz der ständigen Verleumdungen und Diffamierungen, die die Behörden und teilweise sogar ihre ehemaligen Genossen gegen sie und die "Spartakisten" vom Zaum brachen, blieb Clara Zetkin an der Spitze der internationalistischen Strömung.
Die Leitung der Gleichheit mußte sie 1917 wegen Abweichung von "der politischen Linie der Partei" abgeben. Zu ihrem sechzigsten Geburtstag schrieb Franz Mehring in einem Glückwunschartikel: "Sie übernahm aus schwächlichen und verkümmerten Anfängen die 'Gleichheit' und schuf aus ihr das mächtige Organ, das der internationalen Frauenbewegung des Sozialismus Halt und Richtung gab. Nicht als ob sie in der Leitung dieser Zeitschrift oder auch nur in der Frauenbewegung ihre unermüdliche Tätigkeit erschöpft hätte. Sie war immer da, wo sie nützen konnte, und keine Wahlkampagne, in der sie nicht eifrig mitgetan hätte..."[25]
Die Oktoberrevolution unter der Führung der Bolschewiki rief ihre Begeisterung auf den Plan:
- "In der Gegenwart Not und Kleinmut steht der Bolschewiki Erhebung und Kampf (als) ein Riesenwegweiser der Zukunft. Millionen empfinden es, die den Glauben an die sozialistische Führung und das Vertrauen in die eigene Kraft verloren hatten. Sie grüßen dankbar der Bolschewiki Tat mit den Schlußversen des Empedokles', dem herrlichen Torso des Dramas, in dem Hölderlin sich mit der Notwendigkeit einer Welterneuerung auseinandersetzte:
So muß es geschehen.
So will es der Geist
Und die reifende Zeit.
Denn einmal bedurften
Wir Blinden des Wunders.
Das Wunder der Wunder aber ist und bleibt - die Wirklichkeit."[26]
In den darauffolgenden bewegten Zeiten nahm sie trotz ihres prekären Gesundheitszustandes an den Ereignissen vom November 1918 teil, als die Monarchie abgeschafft und die bürgerliche Republik ausgerufen wurde. Es wurde aber auch die Türe für eine andere Option geöffnet, die sie folgendermaßen sieht:
- "Bürgerliche Republik oder sozialistische Republik; mit anderen Worten: politisch-formal gemilderte Klassenherrschaft der Aneigner des gesellschaftlichen Reichtums oder die ganze politische Macht für die Erzeuger des gesellschaftlichen Reichtums? Grundsätzliche großzügige sozialistische Politik, um das alte, morsche Ding, den kapitalistischen Zwangsstaat und die kapitalistische Ausbeutungswirtschaft, umzuhämmern in die sozialistische Ordnung einer Gesellschaft von Gleichen und Freien, oder aber grundsatzlose bürgerlich-proletarische Harmonie- und Konzessionspolitik, um durch politisches und wirtschaftliches Flick- und Stückwerk die kapitalistische Gesellschaft zu halten?"[27]
Im November 1917 hatte sie die Redigierung der Frauenbeilage der den Unabhängigen nahestehenden Leipziger Volkszeitung übernommen. Auf dem Krankenbett erfuhr Clara Zetkin von den revolutionären Tagen des Januar 1919 und von der Ermordung ihrer besten Freunde Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Auch der Tod von Franz Mehring im selben Monat war durch diese Ereignisse beschleunigt worden. Nun war aus dem "Fähnlein der vier Aufrechten" allein sie übriggeblieben. Die Stimmung von Clara zeigt sich deutlich in ihrer Antwort auf dieses Drama: "Wir werden unsere Toten nicht beweinen, wir werden kämpfen."
Im Gegensatz zur DDR-offiziellen Geschichtsschreibung interpretierte Clara Zetkin (und mit ihr die meisten Linken in jener Zeit) die deutsche Novemberrevolution nicht als "bürgerliche Revolution", sondern als eine unter demokratischen Losungen beginnende Revolution, die schon ihren "sozialen Kern" zeige und dabei sei, in eine "sozialistische Revolution" hinüberzuwachsen." So schrieb sie in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Die Sozialistin Anfang April 1919, nachdem sie vor Illusionen in den Parlamentarismus und das allgemeine Wahlrecht gewarnt hatte:
- "Alle Macht den Räten, das ist die Losung, die unser Frauentag unter die Proletarierinnen tragen muß. Alle Macht den Räten, diese Losung begreift in sich, volle gleichberechtigte Macht auch allen Frauen, die mit Hand oder Hirn sich mühen, den Wohlstand, die Kultur der Gesellschaft zu mehren. Begreift in sich, Frauen zur tätigsten Mitarbeit in die Räte zu entsenden und das in einer Zahl, die der arbeitenden weiblichen Bevölkerung und der Bedeutung weiblicher Leistungen entspricht. Begreift in sich verständnisvolle energische Vertretung der Frauenforderungen durch die Räte. Alle Macht den Räten, um mittels der Diktatur des Proletariats den Sozialismus zum Siege zu führen! Dieses Gebot der Stunde wird Wahrheit und Tat werden, wenn es auch in der Erkenntnis und dem Willen der breitesten Proletarierinnenmassen lebendig, beherrschend geworden ist. Unser Frauentag trägt ihnen das Banner mit der Losung voran: Alle Macht den Räten! Alle Macht für den Sozialismus!"[29]
Formal war Clara Zetkin im Einverständnis mit ihrer Freundin Rosa Luxemburg bis zum März 1919 nicht der KPD beigetreten, sondern in der USPD geblieben und auf deren Liste in den württembergischen Landtag gewählt worden. Nach der Abspaltung der Ultralinken trat sie in die Zentrale der KPD ein und gehörte dieser bis zum 8. Parteitag der KPD 1923 (mit kurzer Unterbrechung) als gewähltes Mitglied an. Seit 1920 vertrat sie bis 1933 die KPD im Reichstag. Sie hatte maßgeblichen Anteil bei der Gewinnung des linken Flügels der USPD für die KPD und die Komintern.
Bald nach der Gründung der Kommunistischen Internationale übernahm sie eine leitende Funktion in ihr und verband ihre internationalen immer mit ihren deutschen Aktivitäten. Besonders in den ersten Jahren war ihre Tätigkeit sehr intensiv: sie schrieb für diverse Zeitungen, beteiligte sich an zahlreichen Agitationskampagnen, nahm an den Debatten verschiedener Kongresse und Konferenzen teil, sprach im Reichstag... Unter ihren zahlreichen Reisen ist besonders diejenige hervorzuheben, die sie zum Kongreß von Tours (25.30. Dezember 1920) führte, wo es um den Beitritt der französischen Sozialisten zur Kommunistischen Internationale ging. Ihre Intervention auf diesem Kongreß war nach der Meinung verschiedener Zeugen mitentscheidend dafür, daß die Kongreßmehrheit den Anschluß befürwortete. Sie war heimlich nach Frankreich gereist und ihre Beherrschung der Sprache und ihre Geschichtskenntnisse hinterließen bei den Delegierten des Kongresses einen tiefen Eindruck.
Anläßlich des Zweiten Kongresses der Komintern besuchte sie 1920 erstmals Sowjetrußland. Von da an wurden ihre Besuche immer häufiger. Ihre Liebe zu diesem Land obsiegte schließlich über ihre politischen Differenzen mit der sich stalinisierenden Führung der Komintern.
Durch die Vereinigung des linken Flügels der USPD mit der KPD wurde letztere zu einer Partei mit einer Arbeitermassenbasis. Zunächst begann man mit Versuchen der Einheitsfrontpolitik. In einem "offenen Brief" an alle Organisationen der Arbeiterbewegung wurde ein Minimalprogramm zur Überwindung des Massenelends vorgeschlagen. Nach Differenzen mit der Komintern-Führung (wegen der Spaltung der Sozialistischen Partei Italiens) verließen im Februar 1921 der Parteiführer Paul Levi und mit ihm Clara Zetkin, Ernst Däumig, Adolph Hoffmann und andere die Parteizentrale. Unter dem neuen Vorsitzenden Heinrich Brandler versuchte die KPD im März 1921, in der Annahme, die Stunde der Revolution sei bereits gekommen und die Vorhut müsse eine exemplarische Aktion starten, um die Arbeiter mitzureißen, in Mitteldeutschland einen Aufstand, der in einem Desaster endete.[30] Clara Zetkin hatte sich zusammen mit Paul Levi gegen das Abenteuer gestellt und dachte an Parteiaustritt, den sie auf Bitten Lenins unterließ. Auf dem dritten Kongreß der Komintern wurde ihre Fraktion, die schon wesentliche Elemente der späteren Einheitsfrontpolitik - Eroberung der Massen, Arbeit innerhalb der Gewerkschaften, Einheitstaktik und Kritik gegenüber der Sozialdemokatie - vorwegnahm, von Lenin und Trotzki gegen die "Offensiv-Theoretiker" unterstützt. Die internen Differenzen stürzten die Partei in eine schwere Krise, die mit dem Ausschluß von Levi, der im Gegensatz zu Zetkin für seine Positionen auch außerhalb der Partei gekämpft hatte, und dem Austritt zahlreicher weiterer Führer endete.
Die Einheitsfrontpolitik eröffnete eine neue Periode der Wiederherstellung und Stabilisierung der Kräfte der deutschen Kommunisten. In dieser Zeit stand Ernst Meyer an der Spitze der Partei und wurde von Zetkin unterstützt. Jedoch bestand zwischen der Einheitsfrontkonzeption von Lenin, Trotzki und Radek und der der deutschen Führung ein beträchtlicher Unterschied, der in den Ereignissen von 1923 klar zutage trat. Für die ersten konnte sich die Sammlung der Kräfte nicht ohne ein Dach vollziehen und im gegebenen Moment mußte die Frage des Aufstandes gestellt werden; für die letzteren lag die Stunde des Aufstandes noch in weiter Ferne. Als die Revolution auf der Tagesordnung stand, sahen sie sich von den Ereignissen überrollt. Ihr Scheitern sollte entscheidend sein und beendete eine ganze Epoche - die man als die leninistische bezeichnen könnte - des deutschen und internationalen Kommunismus und führte zu einem Rückzug, der bestimmend war für den Aufstieg des Stalinismus. Die "sinowjewistische" Leitung der Komintern, die die Politik der KPD in Wirklichkeit angeleitet hatte, machte Brandler zum Sündenbock für die Niederlage von 1923. Das brachte Clara dazu, kurzzeitig mit der linken Opposition innerhalb der Kommunistischen Partei zu sympathisieren.[31] Sie bekämpfte die neue Parteiführung unter Maslow und Ruth Fischer und wurde daher 1924 nicht mehr in die KPD-Zentrale gewählt. Trotz ihrer Bekanntheit und Beliebtheit wurde sie auch nicht, wie dies ursprünglich vorgesehen war, als Kandidatin zur Wahl des Reichspräsidenten 1925 aufgestellt. An ihrer Stelle kandidierte Teddy Thälmann.
In den späteren Jahren wurde Clara allmählich zu einer dekorativen Figur in einer Partei, die durch Tod und Spaltungen ihre qualifiziertesten Führer/Innen verloren hatte, und in einer Internationale, deren Kurs zu schwanken begann, bis sie eine Wende um 180 Grad vollzog. Die Weltrevolution wurde zu einem inhaltsleeren propagandistischen Schlagwort und das wirklich Wichtige wurde der Aufbau des Sozialismus (in seiner stalinistischen Version) in einem Lande. 1924 übernahm Zetkin den Vorsitz in der Internationalen Roten Hilfe, die einige bedeutsame Kampagnen organisieren sollte, etwa die Verteidigung von Sacco und Vanzetti gegen die drohenden Todesurteile. Ihre letzte Aktion, die noch einmal ein bißchen an ihre besten Zeiten erinnerte, fand am 30. August 1932 statt, am Tag der Eröffnung des Reichstages, als sie schon schwer krank und halb erblindet war. Als Alterspräsidentin des Reichstages hielt sie die Eröffnungsrede, bevor Hermann Göring das Präsidium übernahm. In ihrem Redebeitrag forderte sie die Schaffung einer proletarischen Einheitsfront aus Kommunisten und Sozialdemokraten gegen den Nationalsozialismus. Ihr ehemaliger Freund Trotzki wurde wegen genau dieser Idee als schlimmster Verräter am Kommunismus gebrandmarkt, da Stalin den Kommunisten eine andere Politik aufgezwungen hatte: für die deutschen Kommunisten hatten die kleinen Zörgiebels, also die Sozialdemokraten der Hauptfeind zu sein.
Clara Zetkin starb am 20. Juni 1933 im Sanatorium von Archangelskoje bei Moskau. Ihre sterblichen Überreste wurden mit großen Ehren an der Kremlmauer beigesetzt.
Ein Brief Clara Zetkins an Rosa Luxemburg
Wilhelmshöhe, d. 17. XI. 1918
Post Degerloch bei Stuttgart
[32]Meine liebste Rosa, kannst Du Dir vorstellen, wie glücklich es mich machte, gestern endlich, endlich wieder Deine Stimme zu hören? Dann hast Du erst eine Ahnung, wie unglücklich und wütend ich war, Dich nicht besser verstehen, mich nicht besser mit Dir verständigen zu können. Ach Rosa, es ist eine Welt von Fragen, über die ich mich mit Dir aussprechen müßte. Du weißt, wie mißtrauisch ich gegen mein eigenes Urteil bin. Und hier habe ich liebe Menschen, deren Meinungen und Auffassungen mich anregen können, aber Niemand, dessen Urteil über die Situation mir maßgebend für Selbstorientierung und Selbstverständigung wäre. Ich bin ganz auf mich gestellt, und noch habe ich meine alte Kraft und Frische nicht wieder. So ist das Bedürfnis nach einem Wiedersehen mit Dir stärker als je, von allen rein persönlichen Empfindungen abgesehen. Ich begreife, daß Du jetzt nicht fort kannst. Deshalb bleibt es meine Absicht, So bald es nur möglich sein wird zu Dir zu kommen. Also wundere Dich nicht, wenn ich eines Tages einfach da bin. Noch eine andere Erwägung spielt dabei mit. Könnte ich nicht in Berlin nützlicher sein, mehr leisten als hier? Ich habe das Gefühl, als sei Stuttgart kein Boden für mein Wirken. Und ich möchte doch etwas mehr tun als das Leipziger Frauenblättle redigieren.
Ich sehe die Lage so: Der Ausgangspunkt der deutschen Revolution war eine Soldatenbewegung für soldatische Forderungen. Aber unter den gegebenen Bedingungen mußte sie ja ein revolutionärer politischer Kampf werden gegen den Militarismus, gegen das persönliche Regiment, für die politische Demokratie. Dieser Kampf mußte naturnotwendig von proletarischen Massen durchgefochten werden. Für die Bourgeoisie sind längst Militarismus und persönliches Regiment aus feindlichen Gewalten zu sorgsam gehüteten Stützen der bürgerlichen Ordnung geworden; die volle Demokratie erscheint dagegen als das homerische Danaergeschenk, dessen hohler Bauch die Troja zerstörenden Kriege trägt. So stand die Bourgeoisie bei der Aktion für die politische Demokratie tatenunlustig und argwöhnisch bei Seite. Das Proletariat errang die politische Macht fast ohne ernstlich gekämpft zu haben.
Oder richtiger: sein Kampf war negativ gewesen, waren die Prügel, die die Arbeiter als Gladiatoren des Imperialismus von dem Imperialismus der Entente bezogen haben. Das Proletariat siegte, weil die Bourgeoisie es geschehen ließ und weil sie zum Teil überrascht war. Nach der proletarischen Demut und Selbstbesudelung der Kriegsjahre fürchtete die Bourgeoisie das klassenbewußte Proletariat der Scheidemänner nicht mehr, sie erwartete alles von ihm, nur nicht den Kampf. Dazu die billige Gelegenheit, einer sozialdemokratischen Regierung die Liquidierung der Erbschaft des Weltkrieges an den Hals zu hängen. Indem aber proletarische Massen zu Trägern des Kampfes wurden, griff dieser über die Grenzen der politischen Demokratie, einer bürgerlichen Revolution hinüber. Er mußte diese Grenzen überspringen angesichts der Fragen, die durch den Weltkrieg, den Bankrott des internationalen Imperialismus, den katastrophalen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt aufgerollt wurden. Die Schale des politischen Umsturzes ließ den in ihrem Inneren ruhenden sozialen Kern sehen; die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Umsturzes trat zu Tage, das Ammenmärchen von der Klassenharmonie verstummte vor dem Waffenklirren des Klassenkampfes. Die Bourgeoisie kriecht überall aus ihren Löchern hervor, um sich zur Niederwerfung der Revolution zu sammeln. Sie beginnt schon wieder mit den Mächten der Vergangenheit zu paktieren, um die Zukunftsmacht des Proletariats zu brechen. Die Forderung der Republik verschwindet, der Sehnsuchtsschrei nach der Monarchie wird kaum noch übertönt durch das traditionelle Eiapopeia der Demokratie. Demokratie ist ja, aber nur soweit sie umgänglich ist, um Bourgeois- gegen Junkerinteressen durch Anteilnahme an der Macht zu wahren, um Bourgeoisinteressen gegen Proletarierinteressen durchzusetzen, indem man durch Konzessiönchen den Arbeitern den Mund stopft, derweil man ihnen die Fäuste knebelt. Die konstituierende Nationalversammlung ist der deckende Schild der bourgeoisen Gegenrevolution. Die völlige Liquidierung des Kriegs-Feigenblatt für das Streben, eine angebliche Volks- und Klassenharmonie zu konstruieren, in deren Schatten sich die Diktatur der Bourgeoisie einnisten und befestigen kann. Aber diese Liquidierung muß zugleich zur Säure werden, die die Klassen, die Geister scheidet. Sie stellt vor die Frage: Liquidierung im Zeichen des Sozialismus oder des Kapitalismus. Sie entfesselt den Klassenkampf mit der Schärfe und Riesenhaftigkeit des Weltkriegsgeschehens. International. Sie gibt dem Kampf um die Macht neuen Odem, läßt ihn in Deutschland erst im eigentlichen Sinne revolutionär werden. Die Frage steht dann, ob das Proletariat die Macht mit der Bourgeoisie teilen will, was letzten Endes darauf hinausläuft, auf die Macht zu verzichten, oder ob es kämpfen will. Schon heute zeigt es sich wie die Dinge stehen. Der größte Teil des Proletariats will sich unter der Führung der Abhängigen (SPD-Mehrheit, pbk) mit Almosen der Macht begnügen. Aber es fragt sich doch, ob dieser Teil objektiv geschichtlich kann, was er subjektiv will. Ich sage die Verhältnisse antworten darauf: Nein. Die Genügsamkeit müßte buchstäblich zur Selbstvernichtung des Proletariats führen. Die Verhältnisse werden Wasser auf die Mühle der Linkssozialisten treiben, wenn sie den Kampf um die ganze Macht mit sozialistischem Inhalt aufnimmt. Wird die USP diesen Kampf aufnehmen? Wie bisher, so streiten zwei Seelen in ihrer Brust. Die Neigung ist da, auf grundsätzliche Klarheit und revolutionäre Aktion zu verzichten. Aber auch die Kräfte sind da, die dieser Neigung entgegenwirken, meiner Ansicht nach sogar mit steigender Macht entgegenwirken. Siehe Leipzig. Die Aufgabe der Internationalen ist es, die Massen voranzutreiben zu grundsätzlicher Erkenntnis und revolutionärer Kühnheit. Mit der USP, soweit diese revolutionär auftritt, ohne sie und gegen sie, wenn sie darauf verzichtet. Die Frage ist, wie wir diese Aufgabe am wirksamsten erfüllen können. Dem Verband der USP eingegliedert oder als selbständige Partei. Meinem Empfinden würde die reinliche Scheidung entsprechen, aber meine Auffassung der Lage verwirft sie für den Augenblick. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß die Trennung unvermeidlich wird. Aber dann sollen wir sie vollziehen unter den Umständen, die unserer Einwirkung auf die Massen am günstigsten sind, Umstände, die die Trennung aus einer Frage mehr oder minder großer Organisationen zur Sache größerer proletarischer Massen machen würden. Solche Umstände fehlen jetzt. Die Trennung würde ein kaum bemerktes Ereignis sein, ohne Verständnis und Echo bei den Massen zu finden. Und wir würden uns bei unserer notorischen Schwäche an führenden Menschen und Mitteln den Zugang zu den Massen erheblich erschweren. So bin ich der Ansicht, daß wir mit unbeugsamer grundsätzlicher Kritik zunächst in der USP bleiben. Thalheimer und Rück waren für die sofortigen Trennung. Sie wollten heute schon eine selbständige Partei gründen. Sie erklärten, daß ihrer Überzeugung nach und soweit sie aus bestimmten Indizien schließen könnten, auch Du für sofortige Verselbständigung seiest. Ich sagte ihnen, daß ich das nicht zu glauben vermöchte. Ich hatte eine lange und leidenschaftliche Aussprache mit ihnen, die aber ihre Auffassung nicht zu ändern vermochte. Ich sagte ihnen, daß meine Überzeugung mir verwehre, jetzt die Scheidung mitzumachen, daß ich aber - um Mißdeutungen zu vermeiden und in keine schiefe Stellung zu geraten - die Redaktion des Frauenblatts (die Leipziger Volkszeitung pbk) niederlegen würde. Einige Tage später hatte ich das Gespräch mit Dir, und ich atmete befreit auf, daß Du und Leo (Jogiches, pbk) meine Auffassung teilt. Es hätte zu dem Schmerzlichsten in meinem schmerzenreichen Leben gehört, hätte ich mich in so entscheidender Sache und Stunde von Dir trennen müssen. Nun, da ich mit mir selber klarer und einiger geworden bin, werde ich nach Kräften hier zu wirken suchen. Soweit es mein physisches Vermögen irgend gestattet, will ich an dem politischen Leben der Stuttgarter Spartacusgruppe teilnehmen, ich will unserer grundsätzlichen Auffassung entsprechend in der Öffentlichkeit tätig sein. Zumal auch für die Frauen. Unser Kampf bedarf jetzt mehr als je der Frauen. Durch das Frauenblatt kann ich nur auf die führende Elite der Frauen wirken. Auch das ist wichtig, aber es ist von höchster Wichtigkeit, daß wir unmittelbar proletarische Frauenmassen erfassen. Dazu brauchen wir eine Tageszeitung, brauchen wir kurze Flugblätter. Die Tageszeitung ist zur Zeit unmöglich. Häufig erscheinende Flugblätter müßten sie ersetzen. Sie müßten positiv unsere Forderungen vertreten, wie sie einzeln durch die Ereignisse in den Vordergrund geschoben werden. Wir kommen kaum um die Nationalversammlung herum. Wir müssen versuchen, ihre konterrevolutionäre Gefahr unschädlich zu machen. Am breitesten treten vor die Frauen die Folgen der Demobilisation: Ernährungsfrage, Verdienst oder Arbeitslosigkeit etc. Hier müßten wir einsetzen, um unsere Forderungen unter die proletarischen Frauenmassen zu tragen. Die einzelne Forderung mit ihrem großen Gedankeninhalt müßte in die einzelnen Gedanken zergliedert werden. Mehr als einen Gedanken auf einmal verdauen die Massen nicht, die Frauen erst recht nicht. Es müßte bei der Darstellung möglichst an Lokalverhältnisse angeknüpft werden. Wenn Ihr mir Material gebt, will ich Euch gern helfen, solche Flugblätter zu schreiben. Ich erwarte einen Brief von Dir mit Weisungen.
Maxim ist mit seinem Lazarett auf dem Rückmarsch. Er litt fast ständig an Magen- und Darmkatarrh sowie an Rheumatismus. Chocä (gemeint Konstantin, pbk) ist noch in einem Genesungsheim bei Stuttgart. Seine Nerven sind noch ganz herunter. Wohin er demnächst als Feldhilfsarzt kommandiert werden wird, wissen die Götter. Diese Ungewißheit lastet schwer auf ihm. Er hat die Absicht, sich eventuell selbst zu entlassen und nach Tübingen zu gehen, um sein medizinisches Studium zu beenden. Er hungert nach einem Abschluß, nach einer festen Tätigkeit und Selbständigkeit. Morgen werden es fünf Wochen, daß Friedel (Zundel, der Ehemann, pbk) schwer krank liegt. Fast drei Wochen daheim, seit vierzehn Tagen im Krankenhaus, weil schroff bei Tag und Nacht nervöse Anfälle eintreten, die ihm Todeskampf- und Todesangstgefühle bringen, und die ärztlichen Beistand benötigen. Nicht daß der Arzt objektiv etwas helfen könnte, aber subjektiv ist seine Anwesenheit nötig, damit der Dichter den Zustand überwindet. Es ist ein Jammer. Du weißt auch ohne Worte, was diese Wochen mir auferlegt haben, und was ich leide. Die Revolution habe ich Samstag bei den Soldaten mitgemacht, dann Sonntag endlose Besprechungen und Sitzungen ohne Ergebnis und Wert. Montag war ich im Kriegsgefangenenlager Ulm, um die armen Teufel aufzuklären und zu beruhigen. Man fürchtete, sie würden ausbrechen, und die Militärgewalt war entschlossen, jede Auflehung mit Maschinengewehren niederzukartätschen. Ich hielt 5 Reden im Freien, vor: Franzosen, Italienern, Rumänen und Serben, Russen (und) den deutschen Wachmannschaften. Die Ausländer waren sehr beglückt und dankbar. Die Russen gaben mir einen herzlichen Gruß und Dank für das revolutionäre deutsche Volk mit. An diesem Tag noch zwei kurze Reden; in Ulm auf dem Münsterplatz und in Göppingen auf der Straße unter den Jahrmarktsbuden. Ich kam todmüde und heiser heim. Gestern große Frauenversammlung, leider einberufen von 17 Frauenorganisationen, darunter ganz reaktionäre. Das Publikum überwiegend bürgerlich. Trotz meiner Auffassung gab es viel Zustimmung, aber ich habe gelernt, solche Zustimmung des Augenblicks als nichts zu werten. Leider haben unsere Leute bis nun so gut wie nichts getan, um die Frauen zu wecken und aufzuklären, die dort mit für die Arbeiterräte zu wählen hatten. Ich fürchte, das Wahlresultat wird kläglich sein: eine kompakte Masse sozialdemokratisch-opportunistischer und bürgerlich gesinnter Delegierter, ein Teil Parteigänger der USP, darunter vereinzelte Spartacis.
Liebste Rosa, ich harre mit Ungeduld auf Deine Antwort. Von dem Unendlichen, was ich Dir noch sagen möchte, schweige ich. Ich drücke Dich fest, fest an mein Herz.
Deine Clara
Grüße alle, zumal Karl und Leo