Er wußte, daß wir nicht wollten, daß man unsere Strafen bezahlt
und er empfand ziemlich viel Sympathie für die kämpferische Kampagne,
aber die Männer sind nicht so entschlossen wie die Frauen.
Sie neigen dazu, zuviel über ihre Ideen zu reden, ehe sie dafür arbeiten.
Selbst als Sozialisten setzen sie ihre Überzeugung nur selten in Taten um,
denn im Grunde bleiben sie konservativ,
besonders im Hinblick auf die Frauen.
Die meisten von uns verheirateten Frauen merkten,
daß das Stimmrecht für die Frauen unsere Ehemänner
weniger interessierte als ihr Abendessen.
Sie konnten einfach nicht begreifen, warum uns das Thema so sehr beschäftigte.
Hannah Mitchell
1. Ein langjähriger Kampf
Der lange Marsch der britischen Suffragetten entwickelte sich während der Regierungszeit dreier Monarchen, nämlich von Victoria I., Edward VII. und George V. In dieser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg trafen sie auf die radikale Feindseligkeit der herrschenden Kreise, die in Frauenrechtsfragen eine Meinung vertraten, die derjenigen sehr ähnlich war, die in den Worten eines Sprechers der Krone die erste Dame des Landes hatte, welche einer ganzen Epoche den Namen gab:
- "Die Königin wünscht, daß sich alle, die reden oder schreiben können, mit ihr zusammenschließen, um dieser verrückten und perversen Dummheit der 'Rechte der Frauen' mit all ihren schlimmen Folgen, denen sich das schwache Geschlecht überläßt und dabei jeden Sinn für Anstand und Weiblichkeit vergißt, Einhalt zu gebieten. Dieses Thema macht die Königin so wütend, daß sie sich nicht mehr beherrschen kann."
Konservative und Liberale teilten mehr oder weniger entschieden diese Überzeugungen. In derselben Weise, in der sie sich bei früheren Anlässen dagegen gewehrt hatten, daß das Stimmrecht Sklaven oder Arbeitern zugesprochen wurde, meinten sie nun behaupten zu können, dieses Recht sei für Frauen völlig unnötig: Schließlich seien sie durch die abstimmenden Ehemänner bereits repräsentiert. Ist es nicht überaus merkwürdig, daß trotz der unnachgiebigen und unterdrückerischen Haltungen der konservativen und liberalen Regierungen, die ohne Bedenken "das Gesetz" gegen die Frauenrechtlerinnen zur Anwendung brachten, die sie grundlos verurteilten, in düstere Gefängniszellen steckten, die sie demütigten, verleumdeten und schikanierten und für deren Tod sie in einigen Fällen die Verantwortung trugen, sich niemand über den Zivilisationsgrad dieser Regierungen erregte, während die Suffragetten wegen ihrer direkten Aktionen, die keiner Person physischen Schaden zufügten, noch heute als "Terroristinnen" betrachtet und in Romanen und Filmen herabgesetzt und ironisiert werden?[1]
Die konstitutionelle Monarchie Englands beruhte auf einem Wahlsystem, an dem nur die zu den Besitzenden gehörenden Familienvorstände teilnehmen durften, aber bis 1832 konnten dies in Ausnahmefällen auch Frauen sein. In jenem Jahr wurde der Reform Act unterzeichnet, der die Frauen vom Wahlrecht ausschloß, auch wenn sie hohe Steuern zu bezahlen hatten. Den ersten Antrag zur Wiedereinführung des Frauenwahlrechtes brachte der Linksliberale John Stuart Mill [2] 1866 ins Parlament ein. Damit machte er sich eine Forderung zu eigen, welche vom Komitee für das Frauenstimmrecht formuliert und von etwa 1500 Frauen unterschrieben worden war. Die meisten Abgeordneten nahmen den Antrag voller Spott auf, doch Mill beharrte auch im folgenden Jahr auf seinem Anliegen und versuchte, eine Änderung des Reform Act durchzusetzen. An die Stelle des Begriffes "Mann" sollte nun "Person" treten. Mit ihm stimmte nur Fawcet, dessen Frau im gleichen Jahr die National Society for Women Suffrage gründete, die einige Erfolge verbuchen konnte: 1869 wurde das Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene eingeführt und ein Jahr später bei den Wahlen zu den Schulaufsichtsräten.
Mit der Zeit wurde diese Organisation immer gemäßigter und konzentrierte sich in ihrer Tätigkeit auf die verheirateten und bürgerlichen Frauen. Im Jahre 1889 kam es zu einer Spaltung, aus der eine neue Gruppe hervorging, die Women's Franchise League. Unter ihren Initiatoren befanden sich auch Emmeline Pankhurst und ihr Ehemann Richard. Die neue Vereinigung versuchte Ledige genauso wie Verheiratete zu organisieren und forderte gleiche Rechte für die Frauen bei den Wahlen, bei der Ehescheidung, dem Erb- und Sorgerecht für die Kinder. Nun begann die frauenrechtliche Saga der Familie Pankhurst...
2. Sozialistische Anfänge
Das erste Glied in einer Reihe von Familienmitgliedern, die zur Veränderung der Welt beitragen sollten, war der aus einer radikalen Familie stammende Richard Pankhurst. Er war ein ziemlich angesehener Mann und Freund vieler bedeutsamer Persönlichkeiten, darunter Walt Whitman und David Carpenter, und über ihn wurde Emmeline mit entsprechenden Kreisen bekannt. Seinen Charakter als eigenwilliger Pionier stellte die Fernsehserie Schulter an Schulter der BBC, die auf der Grundlage der Memoiren seiner Tochter Sylvia gedreht wurde, ganz gut dar. In einer Szene wird er als einsam im Regen Stehender gezeigt, wie er die Gleichstellung der Frauen proklamiert, ohne daß ihm irgendjemand Aufmerksamkeit schenkte.[3]
Beide gehörten zur liberalen Mittelklasse und hatten sich in den achtziger Jahren zu sozialistischen Positionen hinentwickelt, wobei Fragen der Emanzipation der Frau dabei eine Rolle spielten. Ihr langes politisches Leben begann mit ihrer Mitarbeit beim School Board und ihrer aktiven Demonstration zusammen mit Arbeitslosen, die das Recht auf Arbeit forderten. Mitten der achtziger Jahre zogen sie von Manchester nach London. In ihrer Wohnung trafen sich viele Freunde aus verschiedenen Ländern, darunter auch Louise Michel und Wilhelm Liebknecht.[4] 1894 traten die beiden der Independent Labour Party bei. Sie gehörten auch zu jener Generation, die mit den Gewerkschaften gegen das Talf Vale kämpfte ein 1901 gefälltes Gerichtsurteil, das diese Organisationen für Streikschäden haftbar machte und ihnen die Kosten aufbürdete. In der Arbeiterschaft gab es damals starke Bestrebungen, aus den Gewerkschaften heraus eine große Arbeiterpartei aufzubauen.
1899 hatte der Trades Union Congress (TUC) den Beschluß gefaßt, eine Konferenz über die Entsendung von Arbeitervertretern ins Parlament einzuberufen. Ein Jahr später wurde das Labour Representation Committee geschaffen, in dem neben den Gewerkschaften auch die ILP, die Social Democratic Federation und die Fabian Society vertreten waren. Es tat sich eine Möglichkeit auf, daß die Gewerkschaften und besonders die ILP, die zwar eine konfuse Ideologie entwickelte, aber einen klaren radikaldemokratischen und revolutionären Willen besaß, sich für die Forderung nach dem Frauenstimmrecht engagieren würden.
Die Gründung und der Aufschwung der ILP schienen zu garantieren, daß es in Britannien schließlich eine Partei geben würde, die für soziale Demokratie und Gleichberechtigung kämpfte und die sich auch für das Frauenstimmrecht einsetzte. Allein die Mehrheit der Labour-Partei - wie sich der oben erwähnte Zusammenschluß nach den Parlamentswahlen von 1906 nannte - die insgesamt gerade in diesen Fragen einem starken gesellschaftlichen Druck ausgesetzt war, konnte sich kaum für solche Ideen begeistern und widersetzte sich offen einer Aufnahme ins Parteiprogramm. Dies geschah unter dem Vorwand, die Arbeiter könnten eine solche Forderung nicht verstehen und schließlich müsse man sich ihrer Gefolgschaft zuerst sicher sein, bevor man sie dann erziehen könne.[5] Die Frauenrechtler in der Partei blieben auf den linken Flügel beschränkt, der besonders von dem christlichen Revolutionär Keir Hardie repräsentiert wurde, einer der wichtigsten Gestalten in der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung und ihr erster Parlamentsabgeordneter. Er gab der Suffragetten-Bewegung im Parlament und auf der Straße seine volle Unterstützung.
Die Haltung der Labour-Partei im Parlament zu Frauenfragen führte dazu, daß Emmeline Pankhurst (1858-1928) und ihre beiden Töchter Christabel (1880-1958) und Sylvia (1882-1960) sich mehr und mehr von ihr abwandten; eine Entwicklung, die die beiden erstgenannten später zum Konservativismus und letztere in die Kommunistische Partei führen sollte.
Am 10. Oktober 1903 kam eine Gruppe weiblicher Mitglieder der Independent Labour-Partei im Haus der Pankhursts in Manchester zusammen und gründete die Women's Social and Political Union (WSPU). In der Partei gab es Traditionen innerer Demokratie, die es den Frauen erlaubten, sich als Presure Group für ihre Ideen einzusetzen. Die ILP-Konferenz von 1904 unterstützte formal die Vorschläge von Emmeline, doch die Realität zeigte den Labour-Frauen in aller Deutlichkeit, daß sie von der Mehrheit der Partei-Führung nichts erwarten durften. 1907 warnte Hardie die vereinigte Partei, sie würde ihre "wertvollsten weiblichen Mitglieder verlieren", wenn sie die Suffragetten zwingen sollte, zwischen der Partei und ihren Überzeugungen zu wählen. Emmeline wiederum betonte, sie werde "dem Sozialismus in jeder Hinsicht treu" bleiben, die Lösung des Dilemmas hinge aber von der Partei ab. Als aber die Partei nicht von ihrem Konservativismus lassen wollte, spaltete sich eine Gruppe um Emmeline Pankhurst ab und begann ihren eigenen unabhängigen Weg.
Natürlich handelte es sich dabei nicht um einen Bruch zwischen "Sozialistinnen" und "kleinbürgerlichen Frauen", wie in den Polemiken oft behauptet worden ist. Die Hauptverantwortung lastet allein auf den Männern in der Labour-Partei, die in dieser so entscheidenden Frage zeigten, daß sie "proletarische Antifeministen" waren, also keine wirklichen Sozialisten. Sicherlich stimmt es, daß die Suffragettenbewegung eine deutlich kleinbürgerliche Zusammensetzung hatte, obgleich sie auch unter Arbeiterinnen über einen nicht unbeträchtlichen Einfluß verfügte.[6] Das ändert jedoch nichts an unserer Behauptung, daß ein konsequent demokratisches Handeln der Labour Partei die Frauenbewegung insgesamt, die sich jahrzehntelang scharf mit den beiden bürgerlichen Parteien auseinanderzusetzen hatte, mit der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus näher in Verbindung gebracht hätte.
Die Spaltung schuf für viele Frauen in der Labour-Partei einen fortwährenden Konflikt, da sie versuchten, ihre Loyalität zur Partei mit ihrem frauenrechtlichen Engagement zu verbinden. Es fehlte allerdings auch nicht an solchen Frauen, die mit arbeitertümelnden Argumenten der Frauenbewegung gegenüber eine sektiererische Haltung an den Tag legten, was insofern erleichtert wurde, als auch jene mit der Zeit gegenüber den Sozialisten immer sektiererischer wurde.
3. Das Wahlrecht und die Liberalen
Die Union (WPSU) ging bald zur Aktion über, ohne auf die Unterstützung durch die Labour Frauen zu warten. Am 12. Mai 1904 organisierte sie ihre erste bedeutsame Kundgebung vor dem House of Commons. Zusammen mit einer Gruppe von Textilarbeiterinnen und vierhundert Frauen der Women's Co-Operative Guild erschienen sie vor dem Parlament, wo Keir Hardie mit dieselben Argumenten seinen Gesetzentwurf verteidigte, wie sie schon Mill gut drei Jahrzehnte vorher entwickelt hatte. Auch in den Reaktionen gab es kaum Veränderungen: die große Mehrheit der Abgeordneten war gegen die Forderungen der Frauen und die Konservativen machten sich über sie lustig. Die Frauen forderten nun die Regierung auf, selbst eine Stimmrechtsbill einzubringen, was diese natürlich nicht tat.
Trotz des parlamentarischen Mißerfolgs wuchs die Gruppe nun ständig und unternahm immer häufiger kämpferische Aktionen. Bald kehrte sie dem Parlamentarismus und der legalen Aktion den Rücken und begann mit einfachen Formen direkter Aktion, etwa Störung von politischen Versammlungen. Den Anfang machten Christabel Pankhurst und die Textilarbeiterin Annie Kenney aus Oldham. Am 13. Oktober 1905 traten sie auf einer Wahlveranstaltung der Liberalen in der Free Trade Hall in Manchester auf und stellten dem Redner Sir Edward Grey immer wieder die Frage, die später beinahe bis zum Überdruß wiederholt werden sollte: "Wird die liberale Regierung den Frauen das Stimmrecht geben?" Die Antwort fiel ausweichend aus, denn Grey erklärte, die Frauenstimmrechtsfrage sei "keine Parteifrage." Es kam zu Tumulten im Saal, als die Frauen nicht locker ließen. Sie wurden hinausgeworfen und veranstalteten eine Protestversammlung auf der Straße. Dort verhaftete man sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung und verurteilte sie zu Geldstrafen, die zu bezahlen sie sich weigerten. Daher steckte man sie ins Gefängnis.
Diese Methode des "Hechelns" (beckling) von Politikern wurde in der Folge häufig angewandt. Sofern die Antwort eines Politikers auf die Frage nach dem Frauenstimmrecht ausweichend oder negativ ausfiel, verursachte die Frauengruppe einen Skandal. Wenn die Frauen daraufhin zu Geldstrafen verurteilt wurden, verweigerten sie die Bezahlung und wurden unweigerlich ins Gefängnis gebracht.[7]
Mit der Zeit radikalisierten sich ihre Aktionen, besonders nach dem "schwarzen Freitag", dem 18. November 1910. An diesem Tag wurde eine Kommission von Suffragetten, die im Unterhaus eine Petition überreichen wollten, von der Polizei brutal mißhandelt. Daraufhin beschloß die Union eine neue Taktik: Sie wollte die Herrschenden nun dort angreifen, wo sie am meisten getroffen werden konnten, nämlich bei ihrem Eigentum. Emmeline erklärte die neue Taktik so:
- "Wir werden den Feind über das Eigentum angreifen. Seid alle kämpferisch, aber jede auf ihre eigene Art. Diejenigen, die ihre Teilnahme am Kampf offen zeigen können, indem sie ins Oberhaus gehen und sich weigern, es zu verlassen, wie wir es im vorigen Jahr getan haben, sollen dieser Taktik folgen. Diejenigen, die ihre Beteiligung zeigen können, indem sie sich unserem "Anti-Regierungs-Plebiszit" anschließen, sollen dieser Taktik folgen. Und diejenigen, die weiterhin den heimlichen Götzen, das Eigentum, angreifen können, damit die Regierung merkt, daß die Bewegung für das Frauenstimmrecht das Eigentum gefährdet, wie es früher die Chartisten taten, sollen es angreifen."
Emmeline beendete ihre Rede, indem sie an die Regierung gewandt sagte, diese könne sie ruhig verhaften lassen. Tatsächlich wanderten sämtliche Führerinnen der Union auch nach und nach in den Knast. Wenn Emmeline im Gefängnis saß, übernahm Christabel, die einen ungestümeren Charakter hatte, die Führung der Gruppe. Sie war es auch, die die erste Kampagne anregte, auf die hin die Presse mit ihrem Terrorismusvorwurf reagierte; damals wurden die Scheiben von Luxusläden eingeworfen und auch vor dem Sitz der britischen Regierung in der Downing Street machte man nicht Halt. In jedem Augenblick dieses Kampfes konnten die Pankhursts auf die bedingungslose Rückendeckung ihrer kämpferischen Basis zählen. In ihrem posthum veröffentlichten Buch Unshackled, or How We Won the Vote (1959) schrieb sie:
- "Es ist angebracht, unseren Organisatoren Dank zu sagen. Sie waren bereit, alles für die Sache zu opfern und alles zu versuchen. Wenn sie an irgendeinen geheimen Ort im Norden, Osten oder Westen des Landes geschickt wurden, hißten sie als erstes das Banner, mieteten ein Versammlungslokal, ließen sich von der Presse interviewen, verabredeten sich mit den herausragendsten Frauen des Ortes, besuchten die verschiedenen Organisationen - politische, soziale und philantropische - teilten der Polizei mit, daß sie angekommen waren, beriefen Versammlungen ein und sprachen, nachdem sie die Straßen beklebt, die Zeitung Votes for Women verkauft und Flugblätter verteilt hatten, auf ihren Versammlungen, schrieben an den örtlichen Abgeordneten oder trafen sich mit ihm, planten Proteste gegen den Besuch eines Ministers der Regierung, organisierten Kampagnen für die lokalen Wahlen und über all dies hinaus brachten sie auch noch das Geld zusammen, welches für ihre Kampagnen erforderlich war und schickten die Überschüsse an die Zentrale. Dank ihrer politischen Kenntnisse und Fähigkeiten waren sie immer auf der Höhe der Umstände. Es gelang ihnen sogar, in Diskussionen die Oberhand zu behalten, wenn ihre Kontrahenten Henry Aquith (liberaler Premierminister) oder Winston Churchill hießen.[8]
In jener Zeit standen die britischen Suffragetten an der Spitze der internationalen feministischen Bewegung und waren in ihren Aktionen und Organisationsformen (allerdings nicht unbedingt in ihrem Programm) viel radikaler als die Organisationen der sozialdemokratischen Frauen. Sie setzten die direkte Aktion mit gleichem Nachdruck ein wie die revolutionären Syndikalisten und ihr Konzept der aktiven Mitgliedschaft verwies bereits auf die Organisationen von "Berufsrevolutionären". Immer konnten sie auf Hunderte unbekannter Frauen zählen - zumeist aus der Arbeiterklasse -, die Polizeiprügel, Zeitungshetze und Gefängnis auf sich nahmen. Manchmal hatten die "Entfesselten" schlimme Perioden materieller Not durchzustehen; ihre ganze Zeit widmeten sie dem Kampf, reisten im Lande umher und gingen dorthin, wo sie gebraucht wurden.
4. Rechte und Linke
Die Radikalisierung der Union schuf ein ziemliches Unbehagen in ihrem rechten Flügel, der in der Gewaltfrage und in Organisationsfragen einen anderen Standpunkt vertrat; vor allem wurde die Leitung kritisiert, die an der Satzung vorbei von einem Familientrio monopolisiert wurde. Allerdings wurde die Autorität von Emmeline Pankhurst nicht in Frage gestellt, denn sie war zu einer Art Personifizierung der Organisation geworden und die Mitglieder brachten ihr eine regelrechte Verehrung entgegen. Eine ihrer Getreuen bezeichnete sie einmal sogar als "den großartigsten Charakter in unserer modernen Geschichte". Die Macht war ein anderer Faktor, der Emmeline immer weiter von den Idealen entfernte, die sie mit ihrem Mann geteilt hatte, während ihre ältere Tochter Christabel, die den Sozialisten schon immer mißtrauisch begegnet war, keinerlei Loyalitätsprobleme hatte.
Die Gegensätze in der Organisation wurden immer größer und 1907 führte Emmeline eine Art "Putsch" durch, durch den sie sich die absolute Kontrolle verschaffte. Sie zwang der Union eine neue Satzung auf, die die eher vertikale Führungsstruktur absegnen sollte. Die Machenschaften Emmelines führten zu einer ersten Abspaltung, der Liga für die Freiheit der Frauen, die sich auf die Konzepte der vorangegangenen Periode berief und vor allem die Zusammenarbeit mit der Arbeiterbewegung suchte. Fünf Jahre später provozierte eine neue, stürmische Wende der Gruppe die Opposition des Ehepaars Pathick-Lawrence, das zu den wichtigsten Initiatoren der Bewegung gezählt hatte und politisch eher den Sozialisten zuzurechnen war. Sie wurden auf bürokratische Weise ausgeschlossen. Da ihnen der Titel der Zeitung Votes for Women gehörte, übernahm Christabel die Gründung und Leitung einer neuen Zeitung, die mehr auf ihrer Linie lag: The Suffragette.
Das dritte und bedeutendste Schisma wurde von Sylvia provoziert, die schon seit längerem mit den Methoden ihrer Mutter und Schwester nicht mehr einverstanden war. Sie erinnerte daran, daß die Union als eine sozialistische Organisation gegründet worden war und sich immer mehr von ihren Ursprüngen entfernt hatte. Sie wollte auf andere Art und Weise Politik machen, nämlich von unten, ohne politische Intrigen und Führerkult. Jahrelang arbeitete sie im East End von London, einem ausgesprochen proletarischen Viertel. Als die Degeneration der Union schließlich zur Annäherung an die Konservativen führte - die eher bereit schienen, das Frauenwahlrecht zuzugestehen; denn ähnlich waren sie schon mit der Arbeiterbewegung gegen den liberalen Rivalen verfahren - akzeptierte Sylvia den Mehrheitsstandpunkt nicht, spaltete sich ab und gründet die Sozialistische Föderation des East End, die politisch weit links von der Labour Party einzustufen war. Ihre Mutter und Schwester riefen sie 1913 auf, wieder in die Union zurückzukehren, nachdem jene zu den Konservativen auf Distanz gegangen war, doch Sylvia verweigerte sich und damit wurde der Bruch endgültig.
Im gleichen Jahr wurde die Hoffnung auf eine parlamentarische Lösung erneut enttäuscht. Die Suffragetten unternahmen nun noch radikalere Aktionen; sie taten es nämlich den russischen Populisten gleich und warfen Bomben. Sie achteten aber streng darauf, daß keine Menschen zu Schaden kamen. Sie begannen eine Serie von Brandstiftungen-, nun ging es darum, die eigene Stärke zu zeigen und der Nation deutlich zu machen, daß man den Ausschluß der einen Hälfte der Menschheit aus dem Parlament nicht widerspruchslos hinnehmen wollte. Als die Polizei die Auflösung der UPSU und die Schließung ihrer Zeitung anordnete, verloren die Frauen nicht den Mut. Die in den Gefängnissen einsitzenden Frauen begannen mit Hungerstreiks und andere kämpften im Untergrund weiter. Nach einem Wort Emmelines hatte die Union von den Männern die Heiterkeit des Kampfes gelernt. Sie trotzte der Staatsmacht, agierte weiter und ihre Zeitung erschien im Untergrund. Sie schrieb:
- "Es gibt kein denkbares Zwangsmittel weder der Männer noch der Teufel, dem die Frauen der Union nicht widerstehen können, ob lebendig oder tot."
Im Gefängnis rebellierten sie gegen den Status von normalen Häftlingen und forderten die Anerkennung als politische Gefangene. Ihre Hungerstreiks zwangen die Regierung, neue gesetzliche Regelungen zu erlassen, damit bei schlechtem Gesundheitszustand eine Haftverschonung gewährt werden konnte; allerdings wurden die Frauen gleich wieder eingesperrt, wenn sie sich wieder erholt hatten. Emmeline Pankhurst nannte dieses Hin und Her "Katz- und Mausspiel". Als die Mehrzahl der Entlassenen aber in den Untergrund ging, änderte die Regierung ihre Haltung erneut und befahl die Zwangsernährung der Hungerstreikenden mit einer Sonde. Hier Christabels Schilderung dieser Zwangsmaßnahme:
- "Aus diesem Anlaß gab es furchtbare Szenen im Gefängnis. Wenn sie sich weigerten, Nahrung aufzunehmen, ernährten die Ärzte die gefangenen Frauen mit Hilfe eines Schlauchs, den sie ihnen durch die Nase oder den Mund einführten, wobei sie zusammen mit den Aufsehern mit brutaler Gewalt vorgingen, um ihren Widerstand zu brechen. Als die Regierung im Parlament auf diese Verhärtung ihrer Politik angesprochen wurde, antwortete sie, es handle sich um eine "ärztliche Maßnahme" bzw. um eine "Heilungsmaßnahme". Aber damit stieß die Regierung auf die Opposition der Ärzte."
Am 13. Juni 1913 ordnete die Leitung der Union von Paris aus an, vierzig Suffragetten sollten zum Derby in Epson gehen, um dort zu agitieren. Ohne daß jemand damit gerechnet hätte, stürzte sich Emily Davidson unter die Pferdehufe. Es war zufällig das Pferd von König George V., welches ihren Tod verursachte. Die Beerdigung vereinte die Suffragetten aller Tendenzen und markierte den Zenit des Einflußes der Bewegung. Im selben Jahr wurde Emmeline verhaftet und zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Schon nach wenigen Tagen gelang es ihren Genossinnen aber, sie zu befreien. Zwei Monate später reiste sie in die Vereinigten Staaten, wohin sie von Präsident Wilson eingeladen worden war, der auch die fünfzigtausend Dollar für ihre Kaution bezahlt hatte. Im Dezember kehrte sie wieder zurück und wurde umgehend verhaftet und in ein Gefängnis überführt. Sofort trat sie wieder in den Hungerstreik. Aus Protest gegen die Verhaftung zündeten ihre Anhängerinnen ein großes Gebäude in Schottland und einen Ausstellungspavillon in Liverpool an. Dies waren auch die letzten größeren Aktionen der Bewegung vor dem Krieg.
5. Der Krieg, das Stimmrecht und die russische Revolution
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befand sich die Suffragettenbewegung, obwohl schon deutlich von Spaltungen gezeichnet, auf ihrem Höhepunkt. Aber die nationalistische Welle ergriff auch die meisten Frauen und riß sie mit. Die größte Gruppe, die von Emmeline und Christabel Pankhurst geleitet wurde, hatte sich trotz ihrer radikalen Methoden längst von den sozialistischen Zielsetzungen der Vergangenheit verabschiedet und auf eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Strömungen eingerichtet. Als der König alle Suffragetten amnestierte, erboten sie sich, die Rekrutierung und Eingliederung von Frauen zu übernehmen, die die Männer an ihren Arbeitsplätzen ersetzen sollten. Dies war eine Gelegenheit, das Stimmrecht zu erlangen und die Suffragetten stellten die Staatsmacht vor die Wahl: Kollaboration oder Kampf.
Am 28. Mai 1917 gestanden die Konservativen den Frauen über dreißig das Wahlrecht zu; ein Jahr später wurde ihnen das passive Wahlrecht für die Kommunalparlamente eingeräumt und 1928 trat schließlich ein diesmal von den Liberalen verabschiedetes Gesetz in Kraft, das den Frauen das volle Wahlrecht gab.
Der Krieg riß einen tiefen Graben zwischen die verschiedenen Strömungen der Suffragetten und spaltete auch die Pankhurst-Familie. Emmeline und Christabel entwickelten sich immer deutlicher zu Sprachrohren des Konservativismus und des unerbittlichen Kampfes gegen den deutschen Feind. Während des Krieges wurden sie zu glühenden Chauvinistinnen. Sie denunzierten nun ihre früheren Freunde und Freundinnen, die die Wehrdienstverweigerung verteidigten und den Krieg verurteilten und sie widersetzten sich den Forderungen nach sozialer Gleichheit für die Frauen, da sie diese für eine Schwächung des an der Front kämpfenden Heeres hielten. Sylvia wiederum schlug eine ganz andere Richtung ein. Schon seit längerem hatte sie den Kampf für das Stimmrecht mit weitergehenden sozialen Forderungen verbunden und nach einer Synthese von Feminismus und klassenkämpferischen Sozialismus gesucht. Während des Krieges war sie eine scharfe Gegnerin des Hurrapatriotismus; sie denunzierte den Krieg als ein Gemetzel zur Durchsetzung imperialistischer Interessen. Sie organisierte Kampagnen für soziale Verbesserungen für Arbeitende und Frauen, ohne auf den Kampf um das Wahlrecht zu verzichten. Sie warnte die arbeitenden Frauen, daß man sie am Ende des Krieges wieder an den Herd zurückschicken werde und kämpfte für das Prinzip: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!
Sylvia und ihre Genossinnen nahmen die Nachricht von der russischen Revolution mit Begeisterung auf. Sie besetzten Räume, um darin Kinderhorte oder Treffpunkte für Frauen einzurichten. In ihrer Zeitung Dreadnought traten sie dafür ein, die Frauenfrage nicht auf die Wahlfrage zu beschränken, sondern sie in die revolutionäre Bewegung einzubringen. Mit dieser Überzeugung gehörten sie zu den Gruppen, die sich zur Kommunistischen Partei Britanniens zusammenschlossen; bald darauf begann Sylvia eine Polemik mit Lenin.
Sylvias Gruppe gehörte zu jenen Strömungen, mit denen sich Lenin in seiner Schrift über die ultralinken Kinderkrankheiten des Kommunismus beschäftigte. Sie hielt die revolutionäre Ausnutzung des Parlaments für opportunistisch und die Idee, in der Labour-Party und den Gewerkschaften zu arbeiten, für eine Häresie. Die erste größere Krise des britischen Kommunismus ließ sie ohne Perspektive; sie zog sich daraufhin aus dem aktiven politischen Leben zurück. Sie hatte eine enge Beziehung zu Äthiopien und Eritrea, wohin sie schließlich auch übersiedelte und wo sie 1960 starb.
6. Andere Sozialistinnen Britanniens
in der Zeit, als sich die Suffragettenbewegung in Britannien herausbildete und entwickelte, gab es dort eine recht große Gruppe herausragender Frauen, die ihre politischen Aktivitäten mit feministischen Ideen zu verbinden suchten oder sich - wie Beatrice Webb - entschieden dem politischen und gewerkschaftlichen Kampf zuwandten. Unter diesen Frauen sind besonders Annie Besant, Charlotte Wilson, Eleonor Marx und Dora Montefiore hervorzuheben. Auf Beatrice Webb und ihren Mann Sidney, den beiden wichtigsten Führern der Fabian Society, werden wir weiter unter eingehen.
Annie Besant (1847-1933) hatte bereits eine lange Laufbahn als demokratische Persönlichkeit hinter sich, als sie 1888 dem Sozialismus zuwandte. Sie und Charles Bradlaugh waren ein frei zusammenlebendes Paar von Freidenkern, Atheisten und Malthusianern, die mit den Kämpfen der Arbeiter sympathisierten. Wegen ihren unkonventionellen Aktivitäten wurden sie bei mehreren Gelegenheiten verhaftet, einmal 1877 nach der kommentierten Neuherausgabe eines Buches über Geburtenkontrolle, was nicht nur für die Machthaber und die Kirche, sondern selbst für die Linke ein Tabuthema war. Der Staatsanwalt ihrer Majestät nannte das Buch ein schmutziges und obszönes Machwerk, dessen Ziel es sei, den Geschlechtsverkehr zu ermöglichen und gleichzeitig zu verhindern, was nach der Ordnung der Vorsehung des natürliche Ergebnis dieses Verkehrs ist.[9] Annie wurde angeklagt, ein Werk zu verbreiten, das Jugendlichen und Ledigen empfahl, "ihren Leidenschaften zu befriedigen". Sie verteidigte sich, daß die Arbeiterfrauen auf billigere Weise zu dem kommen könnten, was die Reichen ohnehin hätten. Sie wurde verurteilt, doch noch im gleichen Jahr schrieb sie ein weiteres Buch, das sie den Armen der Großstädte und der ländlichen Bezirke widmete und in dem sie die Hoffnung ausdrückte, daß es ihnen auf dem Weg weiterhelfen möge, die Armut zu überwinden und das Leben der Arbeiter einfacher zu gestalten.
Annie Besant arbeitete mit Engels, William Morris und Eleonor Marx in den sozialen und politischen Kämpfen zusammen; später gehörte sie zum linken Flügel der Fabier. Für die fabianische Gesellschaft schrieb sie eine Arbeit über die Arbeiterkontrolle in der Industrie und organisierte die Arbeiterinnen von Zündholzfabriken in Gewerkschaften. Danach betätigte sie sich mehrere Jahre lang in der Labour-Party, mit der sie während des Weltkrieges Meinungsverschiedenheiten hatte, da sie sich zum Pazifismus und Internationalismus bekannte. In der Nachkriegszeit widmete sie sich vor allem antikolonialistischen Kampagnen um Indiens Unabhängigkeit. Da sie von der Sache Gandhis sehr eingenommen war, siedelte sie nach Indien über. Dort versuchte sie, den Sozialismus mit der Theosophie zu versöhnen.
Charlotte Wilson, die George Woodcock als "ein Mädchen aus Girton, das ästhetische Unterkleider trug und in einer Hütte bei Hampstead Heath lebte, um nicht von den Gewinnen ihres Mannes, eines Börsenmaklers, zu profitieren"[10] schildert, stellte einen kuriosen Versuch dar, Anarchismus und Fabianismus miteinander zu verbinden. Sie war jahrelang in der Fabian Society aktiv, in der sie ihre Konzeption eines "freien Sozialismus" verteidigte, bis sie sich 1883 dem Anarchismus zuwandte, ohne aber auf ihre Beteiligung an der Gesellschaft zu verzichten. Ein Jahrzehnt lang war sie die Leiterin und Hauptverantwortliche der Zeitung Freedom, die sich ideologisch an Kropotkin ausrichtete. Sie leitete die Zeitung auch während des Ersten Weltkriegs weiter, als sie sich von ihrem Meister bereits entfernt hatte, dessen Unterstützung für die Alliierten sie kritisierte.
Dora Montefiore (1851-1927), die nach dem Tod ihres Mannes aus Australien zurückkehrte, war eine marxistische Feministin, die eine Zeit lang in der Social Democratic Federation (SDF) und deren Frauengruppe Adult Suffrage Leage tätig war, aber bis zur ersten Spaltung 1907 auch in der Union der Suffragetten (WSPU). Sie war Delegierte auf dem Kongress der Sozialistischen Internationalen in Stuttgart 1907 und an der Kommission beteiligt, die die Resolution über die völlige Gleichstellung der Frau einbrachte. Wegen ihrer feministischen Tätigkeiten hatte sie eine Gefängnisstrafe zu verbüßen gehabt und als einer der Parteiführer, Belford Bax, behauptete, die Frauen würden in den Gefängnissen gut behandelt, begann sie auf den Seiten des The Social Democrat eine Polemik gegen ihn. Sie führte aus, daß die sozialistischen Frauen nicht nur das Wahlrecht, sondern zusammen mit den Männern vor allem die Vergesellschaftung der Industrie erkämpfen müßten. Allerdings erführen die Frauen auch eine besondere Unterdrückung als Frauen, und gegen diese müßten sie selbst angehen. Sie mußte jahrelang arbeiten, um ihrer Mutter zu unterstützen, half selbstlos vielen ihrer Genossinnen und versuchte, ihren revolutionären Willen mit dem Wunsch, Mutter zu sein, in Einklang zu bringen." Nach dem Krieg trat sie der KP bei und war Delegierte auf dem V. Kongreß der Komintern. Kurz vor ihrem Tod erschien ihre Autobiographie From a Victorian to a Modern.
7. Beatrice Webb
Der Name von Beatrice Webb, geborene Potter (1858-1943) ist untrennbar mit dem von Sydney Webb verbunden, den sie 1890 kennenlernte und mit dem sie seit 1892 verheiratet war. Die beiden wurden zu einem der bekanntesten Paare in der Geschichte des Sozialismus. Sie gehörten zu den führenden Mitgliedern der reformistischen fabianischen Gesellschaft und begründeten schon 1895 die renommierte London School of economics and Political Sience:
- "'Das Haus Webb', wie es Beatrice häufig nannte, das mehr als fünfzig Jahre hindurch eine Verbindung zweier erstaunlicher Köpfe, zweier unermüdlicher Energien und zweier ungeheurer Arbeitskräfte darstellte, widmete seine theoretischen und praktischen Bemühungen den sozialen Erhebungen, der Wirtschaftstheorie, den historischen Forschungen, unzähligen Komitees und Kommissionen (anstelle einer Hochzeitsreise nahmen sie an einem Gewerkschaftskongreß teil!). Zugleich unterhielten sie von 1892 bis zu der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einen glanzvollen sozialistischen Salon, in dem sich alle fortschrittlichen Geister und alle einflußreichen Persönlichkeiten der politischen Welt einfanden."[12]
Beatrice kam wie viele Frauen der Fabian Society aus dem Bürgertum, mit dem sie wegen des Unbehagens, das ihr der Gegensatz zwischen arm und reich verursachte, gebrochen hatte. Sidney hatte sie in der Fabian Society kennengelernt, die 1884 als kleiner Zirkel gegründet worden war und sich nach dem römischen Heerführer Fabius Cunctator, dem Zögerer benannt hatte. Damit wollte sie ihre Absicht bekunden, eine fortschrittliche und doch vorsichtige, eine gradualistische Politik zu verfolgen, die im Gegensatz zum Klassenkampf und zur revolutionären Aktion stand. Ihre intellektuelle Zusammenarbeit schlug sich in dieser Zeit in zwei Büchern nieder, The History of Trade Unionism (1894) und Industrial Democracy (1897). Außerdem veröffentlichten sie zahlreiche historische Arbeiten von erheblicher Bedeutung. Um die Jahrhundertwende stand auch Eduard Bernstein in engem Kontakt zu ihnen, übersetzte ihre Bücher ins Deutsche und dürfte durch sie maßgeblich beeinflußt worden sein.[13] Die Webbs waren 1906 die Hauptgegner einer von dem Schriftsteller H. G. Wells angeführten Fraktion, die die Überführung der Gruppe in die Labour-Partei und den Ausschluß des liberalen Flügels verlangte. Gegen die Webbs schrieb Wells zwei damals recht bekannte Bücher, Die neuen Machiavellis und Anna Veronica.
Die Webbs standen auch an der Spitze diverser politischer Kampagnen um Minimalforderungen. Ihr Programm zielte auf die Errichtung eines sozialdemokratischen Wohlfahrtstaates. Als Organ linker Intellektueller gründete Beatrice 1913 die Zeitschrift New Statesman. Sie arbeitete in verschiedenen Regierungskommissionen mit, die sich mit Problemen der Arbeiter und der Armen befassten. In ihrem Minderheitsbericht verlangte sie die Errichtung einer umfassenden Sozialversicherung.
Als Sozialchauvinisten des Ersten Weltkrieges - schon im Burenkrieg hatten sie für die britische Sache Partei ergriffen - und als radikale Gegner der Oktoberrevolution und der Kommunistischen Internationale waren beide gleichermaßen bei den Suffragetten und der revolutionären Linken verhaßt. Sidney wurde 1915 in den Parteivorstand der Labour Party gewählt und kandidierte 1922 erstmals bei den Wahlen zum Unterhaus. In seiner Kampagne wurde er von seiner Frau tatkräftig unterstützt; seinen Wahlkreis in Lancashire gewann er mit Rekordmehrheit. Den Kabinetten unter dem Labour Premierminister Macdonald gehörte er 1924 und 1929 als Minister an. Nach einer Reise ins stalinistische Rußland der dreißiger Jahre versöhnten sie sich allerdings mit dem Kommunismus und veröffentlichten ein Buch Soviet Communism. A New Civilisation? (1935), das im Kreml sehr wohlwollend aufgenommen wurde.
Obgleich die politische Rechte die Webbs immer als "Marxisten" bezeichnete, waren sie nie etwas anderes als Anhänger der sozialen Demokratie und des "Wohlfahrtsstaates". Ideologisch wurden sie stark von den utilitaristischen Ideen Benthams und John Stuart Mills geprägt - obwohl sie seine feministischen Positionen keineswegs teilten - und später auch vom Sozialdarwinismus (Herbert Spencer). Als überzeugte Pragmatiker verschmähten sie aber jede Theorie, die keine unmittelbar praktischen Konsequenzen für die politische Arbeit in Britannien hatte. Sie waren von der Überzeugung getragen, daß sich der Sozialismus aufgrund der inneren Logik der industriellen Entwicklung des Kapitalismus durchsetzen würde, ohne daß ein revolutionärer Bruch nötig sei. Eine Zeit lang traten sie für die Idee eines doppelten Parlamentes ein, wovon eines für die politische und das andere für die soziale Vertretung zuständig sein sollte; letzteres sollte sich aus Arbeitern und Unternehmern zusammensetzen; doch die wichtigste Funktion und Rolle war den Spezialisten zugedacht.
In der Geschichte der reformistischen Arbeiterbewegung Englands ist Beatrice Webb die einzige Frau von großer Berühmtheit und Einfluß gewesen. Während und nach der Zeit der Webbs fehlte es nicht an Frauen in der Parteiführung, im Parlament und in den Ministerien, doch war keine unter ihnen, die eine ähnlich überragende Bedeutung erlangt hätte.