Emma Goldman, eine Frau im Kampf mit dem Staat

Die Geschichte zeigt uns, daß jede unterdrückte
Klasse die wirkliche Befreiung von ihren Herren
nur mit ihren eigenen Kräften erreicht hat. Es ist
notwendig, daß die Frau diese Lektion lernt und daß
sie sich darüber klar wird, daß ihre Freiheit kommt,
sobald sie die Kraft hat, sie zu erobern.
Emma Goldman

1. Die gefährlichste Frau der Welt

Als Emma Goldman, die die amerikanische Presse "die gefährlichste Frau der Welt" genannt hatte, an einem verborgenen Ort in Kanada starb, schrieb ein Journalist namens William Marion Reedy, diese kleine, aber großartige Jüdin sei ihrer Zeit um achttausend Jahre voraus gewesen. Natürlich darf man dies als eine ziemlich übertriebene Meinungsäußerung ansehen, aber trotzdem muß man anerkennen, daß sie unter vielen Gesichtspunkten ihrer Zeit weit voraus war. Diese glänzende Schülerin von Bakunin und Nietzsche hatte nicht zu jeder Zeit eine herausragende Bedeutung, aber während einiger Jahre wurde sie zu einem echten Alptraum für die etablierte nordamerikanische Ordnung. Und auf dem Gebiete der Frauenbefreiung erweist sich ihre Stimme als ganz und gar aktuell.
Im Verlaufe ihres langen Lebens durchlebte Emma Goldman verschiedene Phasen der modernen Geschichte. Wir können diese Phasen in zwei Abschnitte unterteilen, die durch den Ersten Weltkrieg voneinander getrennt sind. In der Vorkriegszeit war Emma Goldman eine der sichtbarsten Führerinnen des nordamerikanischen Radikalismus, Sprecherin und Symbol zahlloser Kämpfe, die sich vor allem gegen die Willkür- und Unterdrückungsmaßnahmen des liberalen Staates richteten, und ihre anarcho-individualistischen Positionen vermischten sich gelegentlich mit denen der radikalliberalen oder sozialistischen Linken. Im Weltkrieg ging ihre Agitation an der Spitze der Antikriegsliga über die Freiheitsräume hinaus, die ein aggressiver Staat zuzugestehen bereit war, der die durch den Großen Krieg eröffnete Chance nutzen wollte, sich zum Vormund des britischen Imperialismus und der Welt aufzuspielen. Nach diesem Krieg war nichts mehr wie bisher. Keine Regierung und kein anderer Staat wollten je wieder jene Freiräume zugestehen, die Emma vor dem Krieg hatte nutzen können; die Welt hatte sich von Grund auf verändert und der Kapitalismus der freien Konkurrenz gehörte nunmehr der Geschichte an. Ihr Leben und ihre Zeit endeten abrupt mit der Niederlage der spanischen Republik, die zwischen Faschismus, Stalinismus und niedergehendem Liberalismus in die Zange genommen worden war. Die Bedeutung dieser gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen überstieg ihre analytischen Fähigkeiten. Nicht einmal die anarcho-syndikalistischen Führer Spaniens konnten auf ihr Verständnis rechnen.
Die "Anarchistin zweier Welten", wie sie José Peirats[1] genannt hat, war zu keiner Zeit eine organisierte Aktivistin, obwohl ihr zum Teil das Verdienst zukam, den amerikanischen Anarchismus aus dem individualistischen und terroristischen Sumpf herausgeholt zu haben, in den ihn so übermächtige Persönlichkeiten wie Johann Most geführt hatten. Sicherlich war sie auch keine originelle Denkerin; ihr Denken besteht vielmehr aus einer zeittypischen Mischung von Ansätzen verschiedener anarchistischer Schulen mit einer guten Dosis Nietzsche. In ihren Überlegungen versuchte sie nicht, den steinigen Weg der Erkenntnis der Widersprüche des Kapitalismus als Voraussetzung für die revolutionäre Aktion zu gehen. Dennoch war sie eine Aktivistin im umfassenden Wortsinne, und in ihren Schriften findet man außer der kämpferischen Perspektive auch die kühnsten und fortschrittlichsten Ideen ihrer Zeit. Trotz ihres Individualismus organisierte sie bedeutsame Kampagnen gegen die bürgerliche Justiz, die teilweise sogar bei ihren Genossen Entsetzen hervorriefen, und scheute sich nicht, gegen die ihr entgegenschlagenden Haßtiraden anzukämpfen. Obgleich sie aus Rußland stammte, bildeten die USA den Hintergrund ihrer Erfahrungen, so daß sie, als sie dieses Land 35 Jahre nach der Einwanderung wieder verlassen mußte, ihren Kompaß verloren hatte.

2. Von Rußland nach Nordamerika

Die Rebellin Emma Goldman wuchs im zaristischen Rußland heran, wo sie am 27. Juni 1869 in Kowno geboren wurde. In ihren Memoiren  erinnert sie sich an ihren Vater, einen im jüdischen Ghetto lebenden Arbeiter, als "den Alptraum meiner Kindheit". Ihre Mutter wurde von diesem Mann ständig mißhandelt - was im zaristischen Rußland völlig legal war - und hatte die Rolle der unterwürfigen und traditionsgebundenen Hausfrau und Mutter verinnerlicht. Als bei Emma im Alter von elf Jahren die Menstruation einsetzte, erhielt sie eine schallende Ohrfeige und den guten Rat: "Solches braucht ein junges Mädchen als Schutz gegen das Unglück, wenn es zur Frau wird." Der Vater beklagte sich ständig, daß Emma nicht der Junge geworden war, den er sich so sehnlichst erhofft hatte. Er sah für sie ein Leben vor, weiches demjenigen der Mutter entsprechen sollte. Sie sollte möglichst wenig lernen: "Die kleinen Mädchen sollten nicht zuviel wissen", schrie er sie einmal an, "sie sollen lernen, wie man einen guten Fisch zubereitet, die Suppennudeln richtig schneidet und später dem Mann viele Kinder schenken.
Natürlich war es nicht gerade das, was sich Emma erträumte, die ein sehr phantasievolles Mädchen war. Schon in ganz jungen Jahren hatte sie im Sinn, einmal Medizin zu studieren, doch mußte sie bald erkennen, daß solche Pläne Utopie bleiben mußten. Auf der Grundschule galt sie wegen ihrer natürlichen Intelligenz als sehr gescheites Mädchen, doch hatte sie so viele Auseinandersetzungen, daß man sie sich nicht auf eine Höhere Schule einschreiben ließ.
Als sie dreizehn war, zog ihre Familie in die Hauptstadt St. Petersburg um, welches damals das industrielle und intellektuelle Zentrum des Landes war. Sie begann, ihren Lebensunterhalt als Arbeiterin zu verdienen und stand bald mit verschiedenen Mitgliedern der nihilistischen Bewegung in Kontakt, die in dieser Zeit ihren Höhepunkt hatte. In ihr ragten zahlreiche Frauen heraus, etwa Vera Figner, Vera Sassulitsch, Praskovia Iwanowskaja, Olga Ljubatowitsch und Elisabeth Nowalskaja.[3] Aufgrund ihrer Jugend spielte Emma Goldman natürlich nur eine untergeordnete Rolle in dieser antizaristischen Bewegung, doch es war ihre erste Begegnung mit der Politik.
1884 wollte ihr Vater sie "zu einem sehr guten Preis" verheiraten, auch weil er so seine unbändige Tochter zu zähmen gedachte. Emma jedoch verweigerte die Einwilligung in die Liaison und drohte, sich ins Wasser stürzen zu wollen, sollte er an seinem Vorhaben festhalten. Die Spannungen in der Familie wurden immer schlimmer. Emma emigrierte mit ihrer Schwester Helene nach den USA, dem "gelobten Land" so vieler Russen, zumal jüdischer Herkunft. Sie ließ sich bei Verwandten in Rochester nieder. Gewissermaßen war sie vom Regen in die Traufe gekommen, lebte unter furchtbaren Bedingungen, fühlte sich einsam in der Fremde. Schon bald nachdem sie Arbeit gefunden hatte, heiratete sie den Arbeitskollegen Jakob Kerschner, der zwar liebenswert und zärtlich, doch ein sehr konventioneller Ehemann war und dessen sie bald überdrüssig wurde.
Schon kurze Zeit nach der Hochzeit begann sie, in anarchistischen und marxistischen Kreisen zu verkehren. Nach dem Scheitern ihrer Ehe zog sie nach New York. Die Geschichte der Haymarket-Märtyrer [4] rüttelte sie auf und ließ sie sich dem Anarchismus anschließen. Den Prozeß verfolgte sie in allen Einzelheiten, sie beteiligte sich an der Kampagne für die Freilassung der unschuldig Verurteilten und las die sozialistische und anarchistische Literatur, besonders die von Johann Most herausgegebene Freiheit. Als sieben der acht Angeklagten zum Tode verurteilt und vier von ihnen hingerichtet [5] wurden, sagte sie, sie fühle sich wie in ein neues Leben eingetaucht: Nun müsse alles anders werden. Sie verpflichtete sich von diesem Tag an zur revolutionären Tätigkeit. Sie war damals kaum einundzwanzig Jahre alt, doch das Leben hatte sie bereits gestählt.
In New York lernte sie Johann Most kennen, der wegen seiner radikalen Positionen aus der deutschen Sozialdemokratie ausgeschlossen und ein führender Anarchist geworden war. Er vertrat die Theorie der "Propaganda der Tat", also die terroristische Aktion gegen das Unrecht und seine Repräsentanten. Er schrieb auch ein Handbuch über die Möglichkeiten von terroristischen Aktionen gegen die Herrschenden und über das Basteln von Bomben und anderen Materialien. Emma fühlte sich von seiner Persönlichkeit stark angezogen, sie wurde seine Schülerin und eine Zeit lang auch seine Geliebte. Allerdings brauchte es nicht lange, bis Emma beide Rollen in Frage stellte. Es empörte sie Mosts anmaßende Art und Sektierertum; denn sein Handlungsrahmen beschränkte sich auf die deutschen Immigranten und er verfügte über keinerlei politische Strategie für die Zukunft, da er die Erfordernisse der Massenkämpfe nicht erkennen wollte. Auch Emma war nicht von der Berechtigung einer organisierten Bewegung überzeugt (obwohl sie voller Eifer mit den revolutionären Syndikalisten zusammenarbeitete), doch sie dachte, Mosts Anschläge würden von den Arbeitern als willkürliche Gewalt und nicht als berechtigte Gegengewalt im Dienste der Arbeitenden verstanden. Der Bruch zwischen beiden fiel mit einer bedeutsamen Krise im nordamerikanischen Anarchismus zusammen, und jene Teile, die ihrem Beispiel folgten, öffneten sich der realen Bewegung der Arbeitenden und überwanden das Ghetto der verschiedenen Immigrantengruppen.
Der freie Platz, den Johann hinterlassen hatte, wurde bald wieder besetzt. Und diesmal von zwei Männern gleichzeitig. Es handelte sich dabei um einen Maler russischer Abstammung, und um Alexander (Sacha) Berkman, der hinfort ihr beinahe unzertrennlicher Gefährte und Genosse werden sollte. Mit beiden begann sie einen menage à trois, der ohne innere Zwischenfälle verlief, der aber von den puritanischen Nordamerikanern als Gipfel menschlicher Perversion angesehen wurde.
Alles änderte sich jedoch mit dem Streik bei Homestead Steel in der Nähe von Pittsburgh, wo die Arbeiter sich gegen die gefürchteten Pinkertons bewaffnet hatten und es schließlich aufgrund des Eingreifens des Staates zu einem fürchterlichen Blutbad gekommen war. Wie viele Arbeiter machte auch Berkman Henry Clay Frick, einen "Industriehai", für das Verhalten der Pinkertons verantwortlich. Alexander hegte nach dem Vorbild der russischen Nihilisten den Plan, Frick auf eigene Faust zu exekutieren, doch es fehlte ihm und Emma an Geld, sich eine geeignete Waffe zu besorgen und nach Pennsylvanien zu reisen. Emma versuchte sogar, sich zu prostituieren, um an das Geld heranzukommen. Als die Vorbereitungen schließlich abgeschlossen waren, reiste Alexander am 12. Juli 1892 nach Pittsburg und schoß auf den Industriemagnaten, der jedoch nur leicht verletzt wurde und bald wieder genas. Im anschließenden Prozeß zeigte die nordamerikanische Justiz ihren Klassencharakter in aller Deutlichkeit, dann normalerweise hätte Berkman höchstens sieben Jahre wegen "Totschlagsversuchs" bekommen können, tatsächlich verurteilte man ihn aber zu zweiundzwanzig Jahren Zuchthaus, von denen er vierzehn abzusitzen hatte. Henry Clay Frick, der für die Ermordung von zehn Arbeitern die Verantwortung trug, brauchte noch nicht einmal auf dem Polizeirevier zu erscheinen.
Durch diese Ereignisse radikalisierte sich Emma weiter. Sie baute eine große Verteidigungkampagne für ihren Genossen und Geliebten auf und wurde deswegen als "rote Emma" und "Aufwieglerin" landesweit bekannt. Als großartige Rednerin gelang es ihr, viele Menschen von der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus zu überzeugen. Sie konnte allerdings nicht verhindern, daß Berkman in die Hölle der Yankee-Strafanstalten absteigen mußte. Der "Fall" Berkman brachte Emma dazu, auch bei anderen Prozessen Hintergrundmaterial zu sammeln und Kampagnen zur Freilassung politischer Gefangener der Arbeiterbewegung zu starten. Ihr offenes und radikales Auftreten schockierte zum Teil sogar Gleichgesinnte. Dies war besonders der Fall, als sie auch Leo Czolgosz zu verteidigen begann, einen Arbeiter polnischer Abstammung, der 1901 den Präsidenten McKinley durch ein Bombenattentat getötet hatte. Obwohl sie in Wirklichkeit mit der Tat nichts zu tun gehabt hatte, wurde sie verhaftet, und die Presse begann eine Hetzkampagne gegen sie, in der sie als Urheberin dargestellt wurde.[6] Sicherlich war Emma weit davon entfernt, Czolgosz Handlung zu billigen, doch für sie war entscheidend, daß er in gerechter Empörung gegen Ausbeutung und Unterdrückung gehandelt hatte. Und was bedeutete schon der Tod eines Menschen angesichts von Hunderten toten Gewerkschaftern und Arbeitern? Wenn also Czolgosz schuldig war, wie sollte es dann der erste Vertreter eines kapitalistischen Staates nicht sein? Bei einer anderen Gelegenheit, als der Erste Weltkrieg bereits im vollen Gange war, antwortete sie auf den Vorwurf des Terrors von seiten eines Polizisten: Verglichen mit dem Terrorismus, der sich in Europa ausgebreitet hat, sei das Attentat doch "eine reine Bagatelle gewesen"! Insgesamt läßt sich sagen, daß Emma keine einheitliche Haltung zur Frage der individuellen Gewalt von unten entwickelt hat.
Es fällt nicht schwer, zu begreifen, daß Emmas unkonventionelle Ansichten sie besonders bei den Behörden äußerst unbeliebt machten. Die Polizei überwachte sie ständig und behinderte ihre Aktivitäten wo es nur ging. Sie wurde so oft verhaftet, daß sie immer ein Buch bei sich trug, um im Gefängnis nicht zu viel Zeit unnütz zubringen zu müssen. Die Sensationspresse goß Kübel voller Schmutz über sie aus. Immer wieder wurde sie beschuldigt, Arbeiterkämpfe angestiftet zu haben, die häufig spontan aufgetreten oder auch von den Wobblies (den Mitgliedern der Industrial Workers of the World) organisiert worden waren, Verschwörungen zum Sturze der verfassungsmäßigen Regierung angezettelt zu haben, Informationen über Geburtenkontrolle öffentlich verbreitet zu haben usw., also nichts anderes zu sein als eine vaterlandslose Gesellin und Hure.
Von einer Reihe kurzzeitiger Haftstrafen abgesehen mußte sie zwei Jahre in einem Bundesgefängnis verbüßen, wo sie ihre Mithäftlinge zum Kampf um bessere Bedingungen bewegen konnte. Unbeugsam trotzte sie Gefängnisaufseherinnen, Polizistinnen, den Behörden und auch der menschenunwürdigen Situation in den Strafzellen selbst. Ihr Engagement für bessere Haftbedingungen brachte ihr viele Sympathien ein. Sie gewann auch das Vertrauen einer Mitgefangenen, Kate O'Hara, die später als Vorkämpferin für humanere Gefängnisse bekannt werden sollte und als Gefängnisdirektorin bemerkenswerte Reformen im System des Strafvollzuges bei Frauen entwickelte.

3. Eine libertäre Feministin

Was ihren Feminismus betrifft, so läßt sich von ihr ohne weiteres in Nietzsches Worten behaupten, sie sei eine "Frau gegen ihre Zeit" gewesen: der avantgardistische Charakter ihrer Vorstellungen zur Frauenbefreiung regte sogar den "anarchistischen Fürsten" Kropotkin auf, der sie schlicht für überspannt hielt. Nicht ohne Grund nannte man sie die "Königin der Anarchisten". In ihrer Zeit stand sie als Symbol für weibliche Autonomie, freie Liebe, Leben ohne jedes Vorurteil... Sie ging sogar soweit, die Verteidigung von Homosexuellen zu übernehmen - eine für die damalige Zeit unglaublich mutige Haltung. Uns ist aus dieser Zeit kein Revolutionär bekannt, der gewagt hätte, es ihr gleichzutun.
In ihrer Entwicklung zur Revolutionärin war Emma zuerst radikale Feministin, bevor sie Anarchistin wurde. So schrieb Alix Shulman sehr treffend über sie:

  • "sie benutzte die anarchistische Lehre, um die Unterdrückung zu erklären, die die Frauen erleiden mußten, den sie begriff sehr gut, daß die Wurzel dieser Unterdrückung tiefer liegt als bei den Institutionen. Wenn ihr Anarchismus mit ihrem Feminismus in Konflikt geriet, reagierte sie immer als Feministin. Wie viele Frauen der heutigen Linken empörte es sie, wenn die radikalen Männer sie unterschätzten, nur weil sie eine Frau war."[7]

Die persönlichen Konzeptionen Emma Goldmans waren ziemlich verschieden von den üblichen feministischen Ideen, die damals vorherrschten und unter denen der Anarchismus keine Rolle spielte. Keinesfalls konnte sie mit den Sufragetten übereinstimmen, weder hinsichtlich der Kampfesmittel noch der Ziele. Im Wahlrecht sah Emma keinen bedeutenden Schritt zur Emanzipation, schon gar nicht, wenn es im Rahmen der bürgerlichen Demokratie erkämpft werden sollte. Mit den Sozialisten, die das Hauptaugenmerk auf die ökonomische Emanzipation der Frau legten, stimmte sie schon eher überein, doch hielt sie die Parteien für Fesseln und mißtraute jedem politischen Programm. Für sie war der ideologische Faktor der entscheidende, das zentrale Problem lag für sie im Chauvinismus, bei der Tatsache, daß Männer "unbewußte Tyrannen" sind und daß die Unterwürfigkeit der Frauen die Wirkung eines "inneren Tyrannen" hat.
Die Frau wird von klein an erzogen, sich gemäß den Werten der männerbestimmten Gesellschaft zu verhalten. ("Beinahe von Kind an", schrieb sie, "lernen die jungen Mädchen, daß das höchste Ziel im Leben die Ehe ist.") Sie wird unfähig zu sexuellem Genuß und ihr "Leben wird durch Frustration zerstört". Sobald die Frau in der Sexualität ihre Gleichrangigkeit mit dem Mann erkennt, wird sie systematisch als unfraulich und krankhaft hingestellt. Selbst die fortschrittlichsten Männer fühlen sich bei solchen Frauen unbehaglich und handeln ausnahmslos nach dem vorgegebenen Schema. Daher weiß Emma, daß die Emanzipation der Frau das Werk der Frauen selbst sein muß:

  • "Die Entwicklung (der Frau), ihre Freiheit und Unabhängigkeit müssen von ihr selbst herrühren, denn sie Ist es, die sie verwirklichen muß. Erstens, sich als Persönlichkeit und nicht als sexuelle Ware zu bestätigen. Zweitens, das Recht jedwedes, der Anspruch auf ihren Körper erhebt, zurückzuweisen; sich zu weigern, Kinder in die Welt zu setzen, außer wenn sie sie selbst wünscht; sich zu weigern, die Dienerin Gottes, des Staates, der Gesellschaft, der Familie usw. zu sein, womit sie sich ihr Leben nicht einfacher, aber viel tiefer und reicher macht. Dies bedeutet, den Sinn und das Wesen des Lebens in all seinen verschiedenen Aspekten kennenzulernen und sich von der Furcht vor der öffentlichen Meinung und Verurteilung zu befreien. Nur das, und nicht das Stimmrecht, wird die Frau befreien."[8]

Obwohl es heute schwierig sein dürfte, irgendeine Feministin zu finden, die nicht in der allgemeinen Linie mit dem einverstanden wäre, was Emma vertrat, blieb ihre Anschauung letztlich doch recht einflußlos am Rande des anarchistischen Spektrums, aus dem noch eine weitere bedeutende Feministin, Voltairine de Cleyre [9] herausragte. Die Mehrheit der aktiven Feministinnen unterschätzte hingegen nie die Bedeutung des Kampfes für ein Recht, das in den Worten Emmeline Pankhursts den Frauen ermöglichte, "die Freuden des Kampfes" kennenzulernen und die Grundlagen für spätere Bewegungen zu verbessern. Ohne die Arbeit der Sufragetten und der Sozialisten und Sozialistinnen in den Arbeiterparteien und Gewerkschaften hätten die Frauen die bereits gemachten Errungenschaften nicht durchsetzen können. Emmas Avantgardismus ging fast immer an den Massen vorbei und verband sich mit ihnen nur in scharfen Auseinandersetzungen, wenn die Kämpfe gleichsam Flügel bekamen.
Im Kampf gegen die puritanische Moral stand sie in ihrer Zeit beinahe allein. Emma war davon überzeugt, daß "Sexualität genauso lebenswichtig ist wie das Essen oder das Atmen". Sie prangerte den Widerspruch an, der darin besteht, daß Frauen auf ein Leben ohne sexuelle Genüsse verpflichtet wurden, andererseits aber ihren Körper durch Heirat oder öffentliche Prostitution verkaufen sollten. Zu diesen Erkenntnissen kam sie nicht aufgrund einer systematischen Theorie - wiewohl sie von Havelock Ellis und Margaret Sangers stark beeinflußt war - sondern durch die harte Schule ihrer Erfahrungen als Arbeiterin und später als Arzthelferin und Krankenschwester. Ihr unruhiges Leben brachte sie oft mit Prostituierten in Kontakt, unter denen sie eine Reihe von Freundinnen fand, die ihr in den schweren Augenblicken der Verfolgung oft halfen, wenn sie sich vor der Polizei oder den bewaffneten Banden der Unternehmer in Sicherheit bringen mußte. Emma sah schließlich in diesen Frauen eine paradoxe Synthese der Frauenproblematik:

  • "Es gibt nicht einen Ort, wo die Frau ihrer Arbeitskapazität entsprechend behandelt wird und nicht nach ihrem Geschlecht. Daher ist es beinahe unvermeidlich, daß Sie für ihr Existenzrecht mit sexueller Gunst bezahlen muß, um irgendeine Position zu haben. Folglich geht es nur um das Ausmaß, in dem sie sich innerhalb oder außerhalb der Ehe an einen einzelnen Mann oder an viele verkauft. Wenn es auch unsere Reformer nicht zugeben wollen, so ist doch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterlegenheit der Frau für die Prostitution verantwortlich.«[10]

Angesichts solcher Ansichten kann es nicht verwundern, daß Emma zahlreichen Puritanern und Heuchlern wie ein Untier vorkam. Nach einer Verurteilung schrieb ein Journalist über sie, man hätte sie ins Gefängnis geschickt, um "zur Geltung zu bringen, daß die Frauen nicht immer ihren Mund geschlossen und ihre Scheide geöffnet lassen" sollten. Tatsächlich waren die Behörden bei beinahe jeder Konferenz und jeder Veranstaltung, auf der sie auftrat, unschlüssig, ob man sie nicht gleich einsperren sollte, und wenn sie es nicht taten, dann vor allem deshalb, weil sie den Aufruhr fürchteten, der aus ihrer Verhaftung resultieren könnte. Solange sie sich darauf beschränkte, die Frauen dazu aufzurufen, andere Ziele anzustreben als die Ehe und in den Fabriken um ihre Rechte zu kämpfen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ließ man sie in der Regel nach einigen Tagen wieder frei. Der Skandal war aber da, als sie im März 1915 im Sunrise Club von New York öffentlich den Gebrauch von Verhütungsmittel zu erklären begann. Die Polizei verhaftete sie unverzüglich; das Gerichtsverfahren wurde zu einem spektakulären Fall, in dem sie - nicht ohne Widersprüche - die demokratischen und revolutionären Traditionen der US-amerikanischen "Väter des Vaterlandes" bemühte, um eine Justiz anzuprangern, die ihre eigenen demokratischen Götter verriet. Dank ihrer brillanten Selbstverteidigung stellte der Richter sie vor die Wahl, zwei Wochen in einer Strafwerkstatt zu arbeiten oder fünfzehn Dollar Buße zu bezahlen. Emma entschied sich für die zweite Alternative, Freunde brachten das Geld auf.

4. Der Weltkrieg und die Revolution

In New York lebte Emma Goldman gewöhnlich im leichtlebigen Greenwich Village, so wie es auch der berühmte Film von Warren Beauty, Reds, zeigt.[11] In der Atmosphäre dieses Viertels schwamm sie wie ein Fisch im Wasser. Nach jeder politischen Kampagne kehrte sie dorthin zurück. Dort lebten in bunter Mischung die künstlerischen, moralischen und politischen Avantgarden und Emma repräsentierte zusammen mit Berkman und dem Italoamerikaner Carlo Tresca den anarchistischen Flügel. Gelegentlich wurde das Viertel auch zum Resonanzboden politischer Kampagnen der Radikalen, als zum Beispiel auf Anregung von John Reed und mit Unterstützung des IWW-Führers Bill Haywood ein beeindruckendes Theaterstück aufgeführt wurde, welches den blutigen Streik der Seidenarbeiter bei Paterson zum Thema hatte. Das Werk wurde ein finanzieller Mißerfolg, erregte aber heftige Diskussionen.
Im August 1914 war der Große Krieg ausgebrochen. Präsident Wilson hatte die Wahlen von 1916 mit dem Versprechen gewonnen, die USA aus dem Krieg heraushalten zu wollen. Doch kaum waren die Wahlen vorüber, nahm die Regierung Kurs auf eine Kriegsbeteiligung. Emma begann mit allen Kräften gegen eine US-amerikanische Kriegsteilnahme zu agitieren und gründete zusammen mit Berkman, Tresca, Reed und anderen die "Liga gegen die Aushebung", die sich zu einem Zentrum der pazifistischen und "antipatriotischen" Bewegung entwickelte. Bald wurde sie wieder verhaftet; die zusammen mit Berkman herausgegebene Zeitschrift Mother Earth wurde beschlagnahmt und die Druckerei geschlossen und zerstört. In ihrer Verteidigungsrede vor Gericht erklärte sie:

  • "Kein Krieg ist gerechtfertigt, es sei denn er wird mit dem Ziel geführt, das kapitalistische System zu stürzen und die Kontrolle der Arbeiterklasse über die Industrie herzustellen."[12]

Sie sei aus diesem Grunde immer konsequent gewesen und habe seit Beginn ihres politischen Lebens antimilitaristische Propaganda betrieben. Im Gegensatz zur Regierung habe die Liga niemals gegen das Gewissen der Menschen gehandelt. Desertieren würden nur diejenigen, denen ihr Gewissen eine Beteiligung an der durch finanzielle Interessen motivierten Schlächterei verbiete. Das Gericht fällte diesmal ein noch härteres Urteil als sonst: Emma und Alexander Berkman wurden zu zwei Jahren Gefängnis, eine hohe Geldstrafe und Aussicht auf lebenslängliche Verbannung verurteilt. Nachdem ihr Einspruch abgewiesen worden war, wurden sie Ende 1919 nach Rußland deportiert.
Emma begriff, daß man sie nicht nur der amerikanischen Staatsbürgerschaft beraubt hatte, sondern daß in den USA auch eine geschichtliche Periode beschränkter, doch realer bürgerlichen Freiheiten zu Ende gegangen war. Ein Staatsanwalt aus Washington kommentierte die Neuigkeit voller Ironie: "Mit der bevorstehenden Verbannung und Abschiebung von Emma Goldman wird dieses Land viel eintöniger werden."
Der neue Zufluchtsort war das Land ihrer Kindheit, welches nun im Zeichen der Revolution stand, in die sie durchaus viele Hoffnungen setzte. Fünf Tage vor Weihnachten brach sie mit vielen anderen Genossen an Bord des ziemlich abgetakelten Kriegsschiffes Buford zum neuen Ziel auf. Emma und Alexander teilten nicht das engstirnige Urteil vieler Anarchisten, die in der Oktoberrevolution nur einen Staatsstreich der Bolschewiki sehen wollten. Für sie war der Oktober der Höhepunkt der russischen Revolution, sie hatten unter den Bolschewiki viele gute Freunde und waren teilweise davon überzeugt, jene hätten sich einiges libertäre Gedankengut angeeignet, als sie die Parole "Alle Macht den Räten", also den Arbeiter- und Bauernsowjets, ausgaben.
In der ersten Zeit des verheerenden Bürgerkriegs, der die materiellen Grundlagen der Revolution zunehmend untergrub, arbeitete sie mit den Bolschewiki zusammen, die die äußerst disziplinierte Rote Armee aufgebaut hatten, um siegen zu können. In dieser Zeit polemisierte sie gegen die russischen Anarchisten, die eine Zusammenarbeit ablehnten. Sie und Alexander wurden ein wenig zu Verbindungsleuten zwischen ihnen und der revolutionären Macht. Diese im Grunde positive Einstellung änderte sich erst nach 1921, als der Krieg beinahe schon gewonnen war, die Bolschewiki aber allmählich die verschiedenen sozialistischen Strömungen ausbooteten, die mit ihrem Programm und ihren Methoden nicht einverstanden waren und sich zum Teil auch bewaffnet gegen sie wehrten. Zum endgültigen Bruch kam es im Gefolge der Ereignisse von Kronstadt im März 1921, als eine Gruppe von Aufständischen das Banner einer "dritten Revolution" gegen die Bolschewiki hißte, von der Roten Armee aber niedergeschlagen wurde.[13]
Zwischen Januar 1920 und März 1921 versuchten Emma Goldman und Alexander Berkman mehrmals, repressive Maßnahmen der Tscheka, die sich nach den Worten ihres Chefs Felix Dserschinski aus Heiligen und Schurken zusammensetzte, rückgängig zu machen. Es fanden Treffen mit Lenin und Trotzki statt, die die Überprüfung der Fälle zusagten. Sie kamen mit Gorki zusammen, den sie wegen seiner, früheren Haltung gegen die Revolution, besonders aber wegen der schrecklichen Unwissenheit des Volkes, das die Macht nicht in die eigenen Hände zu nehmen vermochte, ziemlich betrübt vorfanden. Sie begegneten Alexandra Kollontai, die ihnen entgegenhielt, daß es in jedem großen Werk kleinere Fehler gebe. Sie trafen auch die Delegierten des libertären Lagers auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, wie Viktor Serge, Alfred Rosmer, Joaquin Maurin und andere, aber die praktischen Konsequenzen waren gering. Zum Fall Kronstadt kam noch der Fall Machno in der Ukraine hinzu und damit wurde der Bruch zwischen Emma und Alexander auf der einen und den russischen Kommunisten auf der anderen Seite so tief, daß die beiden zu den Kronzeugen der anarchistischen Agitation gegen den Sowjetkommunismus avancierten.
Nach der russischen Enttäuschung wandte Emma ihren Blick wieder Kropotkin zu, der sie während des Ersten Weltkrieges so empört hatte. Er hatte während des Krieges nämlich die Entente unterstützt und der provisorischen Regierung sogar seine Hilfe angeboten angeblich wollte Kerensky ihn zum Minister machen - doch in seinen letzten Lebensjahren träumte er von einem Rußland der Gemeinden, die in einer Konföderation die kleine handwerkliche und bäuerliche Industrie organisieren würden. Aus Furcht, zum Werkzeug des Imperialismus zu werden, der das "Land der Sowjets" umklammert hielt, äußerten sich Emma und Alexander bis 1922 in der Öffentlichkeit nicht über die russische Entwicklung. Danach meinte Emma:

  • "Vielleicht war die Revolution Rußlands schon von Anfang an verurteilt. Schwer mitgenommen von den vier Kriegsjahren, die seine besten Güter vernichtet und die reichsten Gegenden verwüstet hatten, hatte die Revolution möglicherweise nicht genügend Kraft, den verrückten Erregungen der übrigen Welt zu widerstehen. Die Bolschewiken versichern, es sei die Schuld des russischen Volkes gewesen, das nicht ausdauernd genug war, den langsamen und schmerzhaften Prozeß des Wandels, den die Revolution bewirkte, zu ertragen. Ich glaube das nicht.
    Und selbst wenn man akzeptiert, daß es stimmt, bestehe ich darauf, daß es nicht sosehr die Angriffe von außen waren, sondern die unvernünftigen und grausamen Maßnahmen im Innern, die die Revolution erwürgten - und sie in ein verhaßtes Joch verwandelten, das dem russischen Volk auf den Hals gelegt wurde. Die marxistische Politik der Bolschewisten, als unverzichtbares Prinzip der Revolution hochgelobt und dann aufgegeben, als sie zu Unzufriedenheit, Auseinandersetzungen und Elend geführt hatte, war die wirkliche Ursache, die die großartige Bewegung zerstörte und das Volk seinen Glauben verlieren ließ."[14]

Ihr Groll gegen den Bolschewismus brachte Emma so weit, unterschiedslos alles zu verurteilen, was von dieser Seite kam. So zögerte sie während der Moskauer Prozesse nicht, gegen Trotzki ein Pamphlet zu verfassen, das den eindeutigen Titel trug: "Trotzki redet zuviel". In ihren Augen hatte er nur Stalin den Weg bereitet und gleich der spanischen CNT sah sie in diesen Prozessen nur eine Abrechnung unter den "Autoritäten". Während des spanischen Bürgerkriegs schließlich definierte sie die stalinistische Politik als "marxistische Konterrevolution". Erst als die Repression gegen die POUM zuschlug, bezeichnete sie Andrés Nin und seine Genossen (paradoxerweise) als die "wahren Bolschewisten".

5. Die staatenlose Anarchistin

Emma Goldmans Exil war alles andere als ein El Dorado. Bis zu ihrem Lebensende konnte sie nicht wieder in die Vereinigten Staaten zurückkehren und die europäischen Staatskanzleien verweigerten ihr aus Angst vor ihrem Ruf als Agitatorin systematisch ein Visum. Immerhin konnte sie noch ein letztes Mal ihren Ruhm und die Sympathien der Massen genießen, als zu einer ihrer Versammlungen in Kanada zwanzigtausend Menschen zusammenströmten. Nach vielen Bemühungen erhielt sie in England Asyl, weil sich Teile der Labour-Linken, besonders Harold Laski, der Theoretiker der "geduldeten Revolution", mit dem sie freundschaftlich verbunden war, mit dessen Ideen sie aber ganz und gar nicht einverstanden war, für sie eingesetzt hatten.
1931 erschien ihre Autobiographie Living my Life, die ein großer internationaler Erfolg wurde und den Höhepunkt ihrer literarischen Arbeiten darstellt.
Aber trotz dieses persönlichen Erfolges waren die Zeiten schlecht für Emma. In England konnte sie nicht in die Politik eingreifen und fühlte sich zum ersten Mal entwurzelt, ohne Aktionsfeld, auf dem sie sich hätte entfalten können. Sie war bereits tief deprimiert, als sie aus Paris die Nachricht erreichte, ihr Lebensgefährte Alexander Berkman hätte Selbstmord begangen. Offenbar war er sehr krank gewesen und hatte Probleme mit seiner neuen Partnerin, vor allem aber waren das Klima und die Spannungen unter den anarchistischen Exilrussen unerträglich für ihn. Als die Nachrichten vom Bürgerkrieg und der Revolution in Spanien eintrafen, kommentierte Emma, Berkman wäre gleich ihr dadurch sicherlich neu geboren worden.
Trotz des Verbotes politischer Betätigung durch die britischen Behörden konnte sich Emma bei Ereignissen, die ihre Überzeugungen von der Möglichkeit einer anarchistischen Revolution zu stützen schienen, nicht abseits halten. Auch wenn ihr Wunsch nicht in Erfüllung ging, sich in Spanien niederzulassen, so gelang es ihr doch, drei lange Besuchsreisen zu unternehmen. Erstmalig traf sie am 17. September 1936 in Spanien ein und wurde von einer zehntausendköpfigen Versammlung begrüßt, auf der sie das "wunderbare Beispiel" rühmte, welches die Revolution unter Führung der Anarchisten, die sie als ihre "Kinder und Genossen" bezeichnete, dem "Rest der Welt" gab. Sie traf sich mit verschiedenen Führern des Anarchismus. Den größten Eindruck machte wohl Durruti auf sie. Sie besuchte auch so viele kollektivisierte landwirtschaftliche Betriebe wie sie nur konnte. Ihrer Meinung zufolge erwiesen sich die spanischen anarchistischen Bauern als besser vorbereitet als diejenigen, "die ihre Diktatur den Arbeitern und Bauern aufgezwungen hatten". In ihren Kommentaren vergleicht sie ständig die russischen Entwicklungen mit denen in Spanien und die spanische Erfahrung schneidet immer besser ab. So wundert sie sich darüber, daß die spanischen Arbeiter die Erträge ihrer Betriebe wesentlich gesteigert hätten, während die Russen nicht gearbeitet und ihre Betriebe angezündet hätten. Sie ist so begeistert von dem, was sie sieht, daß sie auf einer Versammlung die denkwürdigen Worte prägt: "Eure Revolution wird für immer die Vorstellung zerstören, daß Anarchismus Chaos bedeutet."
Wenn auch die fehlenden Sprachkenntnisse ein unüberwindliches Hindernis für ein direktes Eingreifen in Spanien waren, so versuchte sie trotz Behinderung durch die britischen Behörden, Solidarität mit den Kämpfenden aufzubauen. In London gründete sie ein Pressebüro der CNT-FAI und regte die Herausgabe eines Bulletins auf Englisch an. Wenn man ihr Gelegenheit dazu gab, schrieb sie in einigen Tageszeitungen, etwa dem Guardian in Manchester, dem Daily Telegraph, dem Evening Standard etc. Sie organisierte Konzerte und Ausstellungen, trat bei zahlreichen Versammlungen und Konferenzen auf, engagierte sich in Vereinigungen wie dem "Hilfskomitee für die Frauen und Kinder in Spanien" und schuf eine anarchistische Alternative zu der von den Stalinisten beherrschen Roten Hilfe, die Internationale Antifaschistische Solidarität, in der auch Persönlichkeiten wie Havelock Ellis, Fenner Brockway, Rebecca West, George Orwell, Herbert Read und andere mitarbeiteten; aber die Schwäche der britischen Anarchisten führte dazu, das es dem Projekt an Durchschlagskraft mangelte. Sie unternahm alles, um die "toten Engländer wiederzubeleben", aber es wollte ihr nicht gelingen.
Ihre Bewunderung für die Tapferkeit und den Enthusiasmus der spanischen Genossen verführte sie jedoch nicht dazu, sich gleich vielen anderen bekannten Anarchisten der politischen Ausrichtung der CNT anzuschließen. Sie verstand und akzeptierte nicht, daß die Anarchisten mit den Republikanern und den Kommunisten eine Zusammenarbeit auf Regierungsebene unterhielten, die gegen die revolutionären Errungenschaften der Basis gerichtet war. Sie fand sich bei diesem Problem ziemlich allein gelassen und fühlte sich innerlich gespalten zwischen ihren Überzeugungen und ihren Sympathien. Einerseits war sie der Meinung, daß es in einer zusammenbrechenden Welt keinen anderen Ausweg gab als die Anarchie, aber andererseits versuchte sie auch den Ablauf der Ereignisse zu verstehen und sah, daß die anarchistischen Führer "zu menschlich" waren. Sie unterließ es aber, öffentlich eine Politik anzuprangern, die "an Opportunismus grenzte" und brachte ohne Erfolg ihre abweichenden Ansichten in die libertäre Internationale ein, ohne allerdings eine systematische und rigorose Kritik zu entwickeln.
Die Niederlage der Revolution und der Republik trafen sie umso schlimmer. Bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs starb sie auf einer Vortragsreise, zu der sie Freunde nach Kanada eingeladen hatten, an einer Gehirnblutung. Man schrieb den 14. Mai 1940. Mit ihr starb gewissermaßen eine ganze Epoche, denn sie war der höchste Ausdruck des libertären Feminismus, der weit über das anarchistische Lager hinausgestrahlt und seinen Einfluß auf alle Zweige des radikalen Feminismus ausgedehnt hatte.