Mother Jones - Die Mutter der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

The workers asked only for bread and a shortening
of long hours of toil. The agitators gave them visions.
The police gave them clubs.
Die Arbeiter wollten nur Brot und eine Verkürzung
des langen Arbeitstags. Die Agitatoren gaben ihnen Visionen.
Die Polizei Prügel.
Mother Jones

1. Hundert Jahre Kampf

  • "Habe die Selbstbiographie der Mother Jones durchgelesen. Schon lange habe ich nichts gelesen, was mich so stark gefesselt und bewegt hat. Ein episches Buch! Welch' unerschütterliche Treue zu den Werktätigen, was für eine organische Verachtung der Verräter und Karrieremacher unter den Führern' der Arbeiter! Mit einundneunzig Jahren auf dem Buckel wies diese Frau den Pan-amerikanischen Arbeiterkongreß auf die Sowjetunion als Beispiel hin. Mit dreiundneunzig Jahren schloß sie sich der Arbeiter- und Farmerpartei an. Doch der Hauptinhalt ihres Lebens war ihre Beteiligung an den Arbeiterstreiks, die in Amerika, häufiger als irgendwo anders, in Bürgerkrieg umschlugen." (Leo D. Trotzki, 4. Juli 1935.)
  • "In ihrer gedrängten und jeder literarischen Prätension baren Darstellungen der Streikkämpfe legt die Jones, mehr am Rande, das erschreckende Bild der Kehrseite des amerikanischen Kapitalismus und seiner Demokratie bloß. Es ist unmöglich, ihren Bericht von der Ausbeutung und Verstümmelung der Kinder in den Fabriken ohne inneres Miterleben und Fluchen zu lesen!"[1]

Auch heute noch beeindruckt die Lebenserzählung dieser großen Frau, die sie 1924/25 im Alter von fünfundneunzig Jahren - etwas widerwillig, denn Versammlungen und Streiks lagen ihr mehr - zu Papier gebracht hat.[2] Überhaupt eignete ihr mehr die Aktion als die Reflexion, und streckenweise liest sich ihr Buch wie ein Action-Roman.
Die legendäre "Mother Jones", eigentlich Mary Jones, geborene Harris, wurde am 1. Mal 1830 in einem Dörfchen in der Nähe von Cork auf Irland in eine alte, aber arme Bauernfamilie hineingeboren. Ihr Großvater väterlicherseits war wegen seines Kampfes gegen die britische Kolonialmacht gehenkt worden. Ihr Vater mußte aus den gleichen Gründen fliehen, als die Briten ihn verfolgten und in Anwesenheit der kleinen Mary den ganzen Hausrat kurz und klein schlugen. Richard Harris floh in die Vereinigten Staaten und verdingte sich bei Kanalarbeiten und im Eisenbahnbau. 1838 holte er seine Frau und die drei Kinder nach Toronto, wo er damals beschäftigt war, nach; sie wurden bald darauf amerikanische Staatsbürger. In Toronto ging Mary zur Schule und lernte nach dem Schulabschluß den Beruf einer Schneiderin. Außerdem war sie Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Volksschullehrerin in Neu-England und Michigan tätig. Sie soll die Robe geschneidert haben, mit der Präsident Lincoln - Zeit ihres Lebens eines ihrer Idole in sein Amt eingeführt wurde. In Memphis, Tennessee, heiratete sie 1861 George Jones, einen Eisengießer.
Zwei harte Schicksalsschläge standen im Hintergrund eines langen Lebens (sie starb im Alter von über hundert Jahren am 30.11.1930), das seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ganz im Dienste der sich parallel zum US-amerikanischen Kapitalismus und seinen Krisen entwickelnden Gewerkschaftsbewegung stand. 1867 brach in Memphis eine Gelbfieberepidemie aus, bei der Mother Jones ihren Mann und ihre vier Kinder verlor. Sie zog nach Chicago, um dort ein Schneidereigeschäft zu eröffnen und für die "Aristokraten Chicagos" zu arbeiten. Ihr Geschäft wurde im großen Feuer des Oktober 1871, das weite Teile der Stadt in Schutt und Asche legte, verwüstet. Damals brannten etwa 18 000 Häuser ab; etwa 90 000 Menschen, besonders aus den armen Bevölkerungsschichten, wurden obdachlos. Doch diese Frau verzweifelte nicht ob der erlittenen Schicksalsschläge, sondern wurde gewissermaßen zur Mutter aller, die unter den Umtrieben des US-amerikanischen Kapitalismus zu leiden hatten. Die heim- und kinderlose Witwe antwortete später dem Kongreßabgeordneten Wilson auf seine Frage nach ihrem Wohnsitz:

  • "Ich lebe in den Vereinigten Staaten", sagte ich, "aber ich weiß nicht genau in welcher speziellen Stadt. Mein Wohnsitz ist immer dort, wo der Kampf gegen die Unterdrückung geführt wird. Mal bin ich in Washington, dann wieder in Pennsylvania, in Arizona, Texas, Minnesota, Colorado. Mit meiner Adresse ist das wie mit den Schuhen: sie reist mit mir." "Kein fester Wohnsitz?", fragte der Vorsitzende. "Jeden Ort, wo ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit geführt wird, mache ich zu meinem festen Wohnsitz"[3]

Vor allem tat sie sich bei den Organisierungsbemühungen der Bergarbeiter in West Virginia und Colorado hervor; sie unterstützte außerdem die oft bürgerkriegsähnlichen Kämpfe der Stahlarbeiter und der Eisenbahner.
Nach dem Ende des Bürgerkrieges bildeten sich die amerikanischen Monopole und Trusts heraus, deren Namen mit zahlreichen Arbeitskämpfen verknüpft sind: Pullman (Eisenbahnen), Westinghouse (Elektroindustrie), McCormick (Landmaschinen), Hearst (Presse) Carnegie (Stahlindustrie), Morgan (Eisenverhüttung) usw. Ihre Macht hatte bereits ein solches Ausmaß angenommen, daß sich selbst die staatlichen Institutionen vor ihnen verbeugten.

  • "Der Staat Colorado war keine Republik, sondern gehörte der Colorado Fuel and Oil Company und deren Tochtergesellschaften. Der Gouverneur war ihr Agent. Die Miliz unter Bell folgte ihren Befehlen. Immer wenn die Herren des Staates dem Gouverneur zu bellen befahlen, kläffte er wie ein tollwütiger Hund. Immer wenn sie dem Militär den Befehl gaben, um sich zu beißen, biß es. Die Bevölkerung Colorados hatte mit überwältigender Mehrheit für den Acht-Stundentag gestimmt. Der Gesetzgeber verabschiedete ein Gesetz für den Acht-Stundentag, doch die Gerichtshöfe erklärten es für verfassungswidrig. Als es daraufhin zur Volksabstimmung kam, stimmten die Leute mit einer Mehrheit von 40.000 Stimmen für das Gesetz. Aber die nächste gesetzgebende Versammlung wurde von den Interessen der Kohleindustrie diktiert und der Gesetzentwurf abgelehnt."[4]

Jeder, der sich der Willkür der Kapitalisten widersetzte, hatte mit bewaffneten Banden, Privatpolizei und -agenten (Pinkertons), einstweiligen Verfügungen und schießlich der Staatsmacht zu rechnen. Die "Pressefreiheit" wurde massiv zur Indoktrinierung der öffentlichen Meinung eingesetzt, wenn etwa gegen die Forderung nach dem Acht-Stundentag gehetzt wurde oder wenn politisch mißliebige Personen fertiggemacht werden sollten.

2. Eine Religion des Klassenkampfs

Die kämpferische Haltung der Mother Jones erwächst wesentlich auf dem Hintergrund des irischen Katholizismus. Gerade die sozial gegenüber den WASPS, den weißen protestantischen Angelsachsen, diskriminierten Iren (und später Polen und Italiener) organisierten ihren Zusammenhalt und ihre Solidarität gegen eine anscheinend gefühllose kapitalistische Umwelt auf religiöser Grundlage. "Vielleicht hat niemand in der ganzen Arbeiterbewegung mehr Verbrechen und Greueltaten an der Arbeiterklasse gesehen als ich", bemerkte Mother Jones einmal. Doch ihr Christentum vertröstet niemanden auf's Jenseits, sondern tritt in den Dienst der sozialen Kämpfe; sie tröstet ihre "Kinder" nicht mit Worten, sondern mit Taten.

  • "In einer kleinen Stadt in den Bergen, nicht weit von Shamokin entfernt, machte der Priester gerade eine Versammlung, als ich in die Stadt kam. Er sprach in der Kirche. Ich sprach im Freien. Der Priester forderte die Männer auf, heimzukehren und ihren Herren zu gehorchen. Eine Belohnung im Himmel sei ihnen dann sicher. Er prangerte die streikenden Arbeiter als Werkzeuge des Bösen an. Die Bergarbeiter verließen die Kirche wie ein Mann und marschierten zu meiner Versammlung. 'Jungs', sagte ich, 'dieser Streik wurde ausgerufen, damit ihr mit euren Frauen und Kindern einen Zipfel des Himmelreiches erwischt, bevor ihr sterbt."[5]

Sie erklärte ihnen, der einzige Weg zur Befreiung sei die Organisierung in den Gewerkschaften und der Kampf um menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ihr politisches Programm war einfach: more pay and less bours (höhere Löhne und geringere Arbeitszeit).
Mother Jones gehörte den legendären Knights of Labor (Ritter der Arbeit) an, die 1869 als eine logenartige Geheimgesellschaft in Philadelphia gegründet worden waren. Sie nahmen als einzige Arbeiterorganisation auch Ungelernte und Frauen als gleichberechtigte Mitglieder auf. Ihr eigentliches Anliegen war die Solidarität aller Menschen, gleich welcher Hautfarbe oder welchen Geschlechts; daher hatten sie zum Klassenkampf ein zwiespältiges Verhältnis. In den großen Streiks von 1877 und vor allem 1886 wuchsen die Knights zur bedeutendsten US-amerikanischen Arbeiterorganisation mit über 700 000 Mitgliedern, damals etwa fünfzehn Prozent des Proletariats, heran. Mary Jones übernahm vieles von der Programmatik der Knights, selbst wenn sie den Bestrebungen einzelner Gruppen, in der Art der Frühsozialisten Reformkolonien zu gründen, äußerst skeptisch gegenüberstand. Mit dem "Großmeister" Terence V. Powderly, der den Knights von 1879 bis 1893 vorstand, verband sie trotz vieler Meinungsverschiedenheiten eine lebenslange Freundschaft. Damals beschrieb er Mother Jones als "gutaussehende Frau ... mit hellem Kopf und schneller Zunge". In ihrer Autobiographie spricht sie etwas wehmütig von diesen ersten Aufbrüchen der amerikanischen Arbeiterbewegung:

  • "Das waren Tage der Opfer für die Arbeiter. Es waren Tage, als wir keine Säle hatten, als es keine hochbezahlten Gewerkschaftsbeamten gab, keine Festmahle mit den Feinden der Arbeiter. Es waren Tage der Märtyrer und Heiligen."[6]

Mary Jones überzeugte durch ihre Reden, mit denen sie das Herz der Arbeitenden traf, durch ihre mutigen Taten, durch ihren Witz und ihre List. Immer wieder klagte sie die Werte der amerikanischen Demokratie und des Christentums ein. Für sie und ihre Zuhörerschaft waren Freiheit, Recht auf Glück und Nächstenliebe keine abstrakten Ideale, sondern konkrete Forderungen gegen alle Ausbeuter und Pharisäer.
Während des großen Pullman-Streiks der Eisenbahner 1894 kam Eugene V. Debs, der legendäre Arbeiterführer und oftmalige Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei,[7] trotz behördlicher Verbote in eine streikende Stadt. Mother Jones berichtet: "Die Kirchen waren leer in dieser Nacht. In dieser Nacht hörte die Menge eine richtige Predigt von einem Priester, der die Lehre der Menschlichkeit und der Brüderlichkeit verkündete." Die einzigen "Gegenargumente" der Kapitalisten und des Staates waren eine Abfolge von Gewalttaten, mit denen dem "Recht auf Eigentum" (der Besitzenden) Geltung verschafft wurde, eine nie endende Kette von einstweiligen Verfügungen, Verboten, Vertreibungen, Verhaftungen, Pinkertons und Morden.

3. Die Kinder in den Baumwollspinnereien

Nach dem Pullman-Streik wandte sich Mother Jones nach Alabama, um dort in den Baumwollspinnereien zu arbeiten. Sie wollte in Erfahrung bringen, ob die schlimmen Geschichten über Kinderarbeit in den Südstaaten zuträfen. Im Jahre 1900 war etwa ein Drittel der in diesen Spinnereien in den Südstaaten Arbeitenden weniger als sechzehn Jahre alt. Insgesamt schufteten etwa 80 000 Kinder, vor allem Mädchen, in den Textilindustrien des Landes. In keinem der Südstaaten gab es Gesetzesvorschriften gegen Kinderarbeit, die nicht einmal nachts verboten war, oder für eine entsprechende Schulpflicht. Erst nach dem Ersten Weltkrieg begannen sich die Verhältnisse langsam zu ändern. Ihre Eindrücke aus diesen Fabriken schildert sie wie folgt.

  • "Tolpatschige kleine Kerle von vier Jahren wurden in die Spinnereien gebracht, um der älteren Schwester oder dem älteren Bruder zu 'helfen', aber die Arbeit wurde nicht bezahlt. Die Maschinen, die im Norden gebaut werden, baute man extra niedrig für die kurzen Arme der Kinder. Um 5.30 morgens kam eine lange Reihe grauer Kinder aus der Morgendämmerung in die Fabrik, hinein in den wahnsinnigen Lärm, in die mit Leinenfetzen gefüllten Räume. Draußen sangen die Vögel und der blaue Himmel strahlte. In der halbstündigen Mittagspause schliefen die Kinder gewöhnlich über ihrem Essen ein. Es gab immer Maisbrot und fettes Schweinefleisch. Oft lagen sie auf dem nackten Fußboden und schliefen. Schlaf war ihre Erholung, ihre Erlösung, wie für freie Kinder das Spielen. Der Boß kam selbst vorbei und schüttelte sie wach. Nach der Mittagspause wieder dieselbe eintönige Schinderei, das unaufhörliche Hin- und Herrennen zwischen den surrenden Spindeln. Kleine, winzige Kinder! (...)
    Aber sie hatten freie Sonntage, denn die Besitzer der Spinnereien und die Arbeiter selbst waren religiös. (...) Sie sterben an Lungenentzündung, an Bronchitis und an der Schwindsucht. Aber die Geburtenrate ist hoch, so hoch wie die Dividende, und es findet sich immer eine neue kleine Hand, die gerissene Fäden verknotet.[8]
  • "Belastet mit den schrecklichen Dingen, die ich gesehen hatte, ging ich vom Süden nach New York und machte dort in mehreren Versammlungen die vorgefundenen Zustände bekannt. Ich traf auf Presse und Kapital als Gegner. Noch lange Zeit nach meinen Erfahrungen Im Süden konnte ich kaum essen. Nicht nur meine Kleidung, auch mein Essen schienen mir mit der Schufterei dieser Kinder zu teuer erkauft. Die Gelder für die innere und äußere Mission, für die Wohlfahrt und für die Sozialarbeiter, kommen wenigstens zum Teil aus den Profiten der Spinnereien. Doch das kleine Kind in der Spinnerei wird den Räubern seiner Kindheit geopfert: dem Kapital und der Unwissenheit. 'Denn ihrer ist das Himmelreich', sagte der große Lehrer. Nun, wenn der Himmel von unterentwickelten, krummgebeugten, hohlwangigen, teilnahmslosen, schläfrigen, kleinen Engelkindern bevölkert ist, dann möchte ich lieber an den Ort für die bösen Jungen und Mädchen."[9]

Besonders empörend fand Mother Jones die Uninteressiertheit und Abgestumpftheit der (ver)öffentlich(t)en Meinung und der meisten Vertreter der Regierungen und der bürgerlichen Parteien. Weil es solche Verhältnisse in God's own country nicht geben durfte, behauptete man ebenso einfach wie eilfertig, es handle sich um Greuelmärchen gelenkter Agitatoren. Mother Jones kommentierte:

  • "In Georgia, wo Kinder Tag und Nacht in Baumwollspinnereien arbeiten, haben sie gerade ein Gesetz zum Schutz der Singvögel durchgebracht. Und was passiert mit den kleinen Kindern, denen jedes Lied auf den Lippen erstirbt? Ich werde den Präsidenten im Namen der blutenden Herzen dieser Kinder auffordern, sie von der Sklaverei zu befreien. Ich werde dem Präsidenten sagen, daß der blühende Wohlstand, den er so rühmt, nur der Wohlstand der Reichen ist, den sie aus den Armen und Hilflosen ausgepreßt haben. Der Ärger ist, daß all dies denen in Washington egal ist. Ich sah, wie unsere Gesetzgeber in einer Stunde drei Gesetzesvorschläge zur Begünstigung der Eisenbahngesellschaft passieren ließen, aber wenn die Arbeiter für ihre Kinder um Hilfe rufen, dann hört niemand hin."[10]

In einem Artikel für die International Socialist Review über die Kinderarbeit schrieb sie:

  • "Es gibt keine andere Rettung als den völligen Umsturz des kapitalistischen Systems, und für mich ist ein Vater, der diesem System seine Stimme gibt, genauso ein Mörder, als ob er seine Pistole genommen und seine eigenen Kinder erschossen hätte."[11]

Später beschloß Mother Jones, eine spektakuläre Aktion gegen die Kinderarbeit zu starten. Drei Wochen lang führte sie einen Demonstrationszug von Philadelphia nach New York, um dort Präsident Teddy Roosevelt in seinem Landsitz Oyster Bay aufzusuchen. Am 29. Mai 1903 verließen etwa hunderttausend Arbeitende, darunter sehr viele Kinder, ihre Arbeitsplätze und zogen in einem Demonstrationsmarsch gegen Norden. Sie forderten neben besseren gesetzlichen Bestimmungen vor allem eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 60 auf 55 Stunden. Als der Zug nur geringe Aufmerksamkeit der Presse fand, suchte sie ein paar hundert Kinder aus Betrieben zusammen, um überall auf das Problem der Kinderarbeit und die Verstümmelung von Kindern durch Arbeitsunfälle aufmerksam zu machen. In jeder Stadt, in die der Zug kam, hielt Mother Jones Reden an die Bevölkerung. Sie verlangte, zum Präsidenten vorgelassen zu werden, um zu sehen, ob er "der Präsident der Kapitalisten oder auch der Präsident der Arbeitenden ist". In New York wurde in einer der großen Avenuen eine Demonstration abgehalten, die von der Polizei zuerst verboten worden war, die der Bürgermeister aber aufgrund der Intervention der Mother schließlich erlaubt hatte. Der Präsident verweigerte ihr eine Audienz und teilte ihr brieflich mit, weder er noch der Kongreß seien für ihr Anliegen zuständig, denn es handle sich um eine Angelegenheit der Einzelstaaten.

4. Keine Feministin

Als gute Katholikin hielt Mother Jones am traditionellen Frauenbild und der klassischen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau fest. Den Bestrebungen der Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit stand sie sehr skeptisch gegenüber. Natürlich hatte sie gute Gründe, die bürgerlichen und kleinbürgerlichen "Damen" geringzuschätzen, die damals in der Bewegung für das Frauenstimmrecht bestimmend waren und sich im allgemeinen für die Lebensbedingungen der Arbeitenden und soziale Ungerechtigkeiten wenig interessierten oder Arbeitskämpfe sogar offen bekämpften.

  • "Fünfhundert Frauen veranstalteten ein Essen und baten mich, eine Rede zu halten. Die meisten Frauen ereiferten sich über die Frage des Frauenwahlrechts. Sie dachten, das Paradies auf Erden würde kommen, wenn man den Frauen das Wahlrecht gäbe. 'Ihr müßt für Redefreiheit auf den Straßen kämpfen', sagte ich ihnen. 'Wie können wir das', rief eine Frau mit schriller Stimme, 'wenn wir kein Stimmrecht haben?' 'Ich hatte noch nie ein Stimmrecht für irgendetwas und ich habe in diesem Land die Hölle in Bewegung gesetzt! Man braucht kein Wahlrecht, um die Hölle in Bewegung zu setzen! Was ihr braucht, sind die richtige Überzeugung und eine Stimme zum Schreien!' Irgendeine Frau rief:'Du bist eine von den Antis! ''Ich bin keine Anti, wenn es darum geht, meiner Klasse die Freiheit zu bringen', sagte ich. 'Aber ich will ehrlich mit euch aufrichtigen Frauen sein, die ihr für das Stimmrecht der Frauen kämpft. Die Frauen Colorados haben seit zwei Generationen das Stimmrecht, und die Arbeiter und Arbeiterinnen leben in der Sklaverei."[12]

Aber so einfach war die Sache nicht, denn die Forderung nach dem Frauenstimmrecht wurde auch von verschiedenen Arbeiterinnen-Vereinen bzw. Frauengewerkschaften erhoben.[13]
Wenn Mary Jones die Frauen der Bergarbeiter zum Kampf aufrief ("Noch nie konnte ein Streik ohne die Unterstützung der Frauen gewonnen werden!"), dann zur Unterstützung ihrer Männer, die ihrer Meinung nach genügend verdienen sollten, um ihre Familie ernähren zu können. In gewisser Weise schloß sie von der männergeprägten Arbeitsweise untertage auf die ganze Gesellschaft, ohne an die vielen Berufsparten zu denken, in denen überwiegend Frauen beschäftigt waren. Die wirkliche Bestimmung der Frau seien ihre hausfrauliche Tätigkeit und die Erziehung der Kinder. "Das ist ihre schönste Aufgabe. Wenn die Männer genug Geld verdienen würden, hätten die Frauen es nicht nötig, ihr Heim und ihre Kinder zu vernachlässigen, um zum Familieneinkommen beizutragen." Wenn sie gegen die Arbeitsbedingungen von Frauen in den Fabriken protestiert, wo diese zu Lasttieren gemacht wurden, spricht sie vom "natürlichen" Platz ihres Geschlechts. Sie stand damit im Einklang mit der großen Mehrheit der Arbeiterbewegung, die ja im wesentlichen von Immigranten zumeist bäuerlicher Herkunft gebildet wurde und sich in ihren Wünschen nach sozialem Aufstieg in der Regel am Mittelstand und seinen Werten orientierte.
Vielleicht war es aber auch ihr großes Mißtrauen gegenüber der (bürgerlichen) Politik, den Entscheidungen abgehobener Gremien, die ihre Ablehnung des Frauenwahlrechtes begründen. Als auf einem Gewerkschaftskongreß ein Delegierter die Frage stellte, ob sie denn als Frau auf der Gehaltsliste der Gewerkschaft stehen dürfe, gab sie zur Antwort: "Die wichtigste Person im Mitarbeiterkreis Präsident Lincolns war eine Frau ... und gäbe es zwanzig solcher Frauen in Europa, dann könnte man den Krieg beenden." Aber die Suffragetten waren für sie 'Damen', ein "parasitärer Auswuchs des kapitalistischen Systems. Wieviele arme Teufel haben in den Gruben Colorados ihr Leben lassen müssen, so fragte sie einmal, damit ein Mädchen der feinen Gesellschaft ihre Schulausbildung abschließen, ins Ausland, reisen und an den Mann gebracht werden kann, damit also eine 'Dame' aus ihr wird?
Sie hatte für Forderungen, die über die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeitenden hinausgingen, nur wenig Verständnis. Aus ihr sprach, wie aus der ganzen damaligen Arbeiterbewegung (nicht nur) in den USA, ein starker Ökonomismus.