Das Leben in der Philosophie

An diesen Attributen des Vaters zu partizipieren, markiert also einen Endpunkt in der Progression, die Überführung in die andere Welt und in die Sicht der anderen Welt, in der das Fortschreiten der Progression, der Annäherungsweg des Denkens sich erschöpfen. Die Methode selbst, die gerade noch die Stelle eines Durchgangs, der zu bewerkstelligen war, eingenommen hatte, erlischt in ihrem Gipfelpunkt. Es gibt keinen Übergang mehr -keinen Tunnel, keine Engführung, keinen Kanal, keinen Aufstieg - zwischen dem Drinnen und dem Draußen, dem Draußen und dem Drinnen, zwischen dem Unteren und dem Oberen, zwischen der arché und dem telos. Die eidetische Anschauung löst das Bindeglied, das Zwischenstück, die Vermittlung irgendeines Weges oder einer Bahn auf und ebenso die Notwendigkeit der spaltweiten Öffnung in einem Diaphragma, sie negiert und leugnet die Durchbohrung eines Paraphragmas. Sie vollzieht sich gänzlich in der Unmittelbarkeit der noesis. Ohne Verzögerung, ohne Justierung und auch ohne ein »Organ«, das die Ökonomie des Lusterlebens unterscheidet und mißt, ein Lusterleben, das sich durch seine allmächtige Illumination selbst unterhält. Begeisterung über die Spiegelung der spiegelnden Introjektion und der Introjektion des Spiegelnden. Taumel durch die unmerkliche Umdrehung in der universalen Kreisbahn, deren Konstellation sich immer aus absolut denselben Gesichtspunkten ergibt, aus dem Blickfeld des Vaters, dessen ideale Morphologie jeden Wechsel, jedes Anderswerden oder jede Modifikation - der Optik oder des Sinns zum Beispiel - ausschließt. Und die also die vollkommene Angleichung an seinen Logos möglich macht, die Anpassung durch und an sein Wort.

Wenn man sich überhaupt jetzt schon der Existenz entziehen kann, sich an die Vollkommenheit des absoluten Wissens gewöhnen und sich mit ihr abfinden kann. Das absolute Wissen verwischt jede Einzelheit in der extrapolierten Operation des Spiegeins und der Spekulation. Es mißachtet daher die Besonderheit der Reflexe und, was schlimmer ist, auch die des spiegelnden Dispositivs, der spekulativen Maschinerie, die so »zum Beispiel« den historischen Bestimmungen, Konflikten, den Gefahren der Veränderung und des Umschmelzens entzogen sind. Die Übereinstimmung mit dem »Diskurs« des Vaters wird also für den Sohn darauf hinauslaufen, daß er auf das Werden »seines« Bildes, »seiner« Reflexion, »seiner« Biographie verzichtet. Er assimiliert sich (an) die Spiegel, deren Wirksamkeit der Demiurg im voraus berechnet hatte: die Wirksamkeit eines jeden Spiegels - Archetyp der (fixen) Idee -, aber auch die ihrer archetektonik, der zum Guten (des Vaters) aufsteigenden Hierarchie. Die Terme und die Syntax der Ideologie werden so ein für alle Mal in ihrer Richtigkeit definiert, vorausgesetzt, daß die Seele, der Blick der Seele, in die richtige Richtung gewendet worden ist - was eine Konversion des ganzen »Körpers« erheischt: seine entschiedene und vorbehaltlose Unterwerfung unter göttliche Visionen. Das telos ist endlich wieder in die psyche eingetragen, die in einer neuen Umkehrung die »Materie« wieder umhüllen wird und so noch einmal  die  Gegensätze  Äußeres/Inneres   durcheinanderbringt. »Das Innere« wird »das Äußere« mit einem unsichtbaren, aber undurchdringlichen Paraphragma umgeben. Platons hystéra, Einschluß-Hülle (der) Meta-Physik: Sie dreht sich in der Richtung des Selben ständig im Kreis. Die Ekliptik des »Anderen« verläuft dem entgegengesetzt und beschwört damit Verschiedenheiten herauf, verweist auf zeitliche Verschiebungen.[21] »Schatten«, die zwar gebraucht werden, um die photologische Ökonomie des Universums zu skandieren, um dessen »Zeit« zu messen, die aber immer auch seine harmonischen Umdrehungen zu stören drohen. Die Bewegungen dieses »Anderen« finden glücklicherweise - und gemäß der unfehlbaren göttlichen Voraussicht - »nur im Innern« der Sphäre des Selben statt, sie werden von seiner Umlaufbahn umschrieben.[22] Zusammenstöße treten nur gelegentlich auf und stets in schiefer Bahn; sie dienen (nur) dazu, die Einkreisung der Identität des Selben oder durch die Identität des Selben mit sich zu manifestieren und zu festigen - ein Wesen, das sich nicht leicht aus dem Gleichgewicht bringen läßt, vor allem nicht, wenn man an der philosophischen Optik festhält.
Um die Integrität des Bildes des Vaters zu schützen, entzieht die philosophische Optik dem, was im gesamten Universum diesem Bild am meisten ähnelt, den Gebrauch aller Sinne, die Veränderung bewirken. Sie gibt ihm eine kugelförmige Gestalt, die vollkommenste und sich selbst ähnlichste aller Gestalten, deren Außenseite völlig glatt ist.[23] Ein Spiegel, der nach innen gekehrt ist und auf diese Weise nichts verlieren, aber auch nichts von außerhalb empfangen kann, da außerhalb von ihm nichts ist, weil alles, was er tut und erleidet, sich in seinem Inneren vollendet, und zwar durch ihn selbst. Diese Autarkie wird ihm voller Güte und ohne »Neid« von dem gewährt, der in alle Ewigkeit ist - Gott-der-Vater. Doch sie wird nur dem gewährt, der nach dem Sein strebt, das heißt einzig und allein dem, der »vermögend [ist], durch eigene Kraft sich selbst zu befruchten und keines andern bedürftig, sondern sich selbst zur Genüge bekannt und befreundet«.[24] Der blind ist, wenn es nicht um die Kontemplation seiner Ideen geht. Der taub ist, wo er nicht die Harmonie der Umdrehungen seiner Seele vernehmen will, die nur noch mit sich selbst ein Gespräch führt, ohne Unterstützung oder Mithilfe irgendeiner Stimme.[25] Dessen Denken jetzt den »Diskurs«, den »Dialog« entbehren kann. Es ist eine auto-logische Stummheit, in der die Seele »sich selbst fragt und antwortet«.[26] Darüber hinaus »gewährt ihr ein Sichselbstverzehren ihre Nahrung«.[27] Sie ist ohne Hände und Füße, Organe, die für die Bewegungen des Verstandes ungeeignet sind; diese Bewegungen erfordern vielmehr ein ständiges Sich-um-sich-selbst-Drehen, bei dem sie an derselben Stelle bleiben und unendlich (endlos) durch dieselben Punkte hindurchlaufen.[28] Sie bewahrt sich so davor, irgendein ihr »fremdes Ding« zu berühren, und sie hat keine Beine, damit sie nicht zu dem gehen kann, was sie an diesem »fremden Ding« anziehen würde. Das ist die Vollkommenheit desjenigen, der sich selbst genügt; das Schicksal, zu dem die Seelen berufen sind, die die Natur des Lebewesens angenommen haben, das am meisten fähig ist, die Götter zu verehren.

Diese überlegene Beschaffenheit ist dem Geschlecht zugefallen, das in der Folge den Namen >Mann< führen wird.[29] Dennoch ist es notwendig, daß er sich von seinem menschlichen Doppel, seiner weiblichen Kehrseite loslöst, sich zu einem philosophischen Höhenflug aufschwingt und den Kopf allein dem zuwendet, was wirkliche Existenz besitzt: den Ideen. Unbekümmert um die Dinge in der Tiefe, die irdischen Wirklichkeiten, deren Gier nach Empfindungen Unvernunft und Ungerechtigkeit zur Folge haben und deretwegen er Gefahr läuft, auf die Stufe eines anderen Geschlechts zurückzufallen, das sehr viel weiter von der göttlichen Liebe entfernt ist. So droht ihm, daß er sich bei einer neuen Geburt in einem Frauenkörper wiederfindet oder gar in einem Tierkörper. Was am meisten von der Erde angezogen wird, was am tiefsten ins Meer gesunken ist, unterliegt zur Buße für seine Unwissenheit und die »Beschränktheit« seiner tierischen Natur dem verächtlichsten Los. Es ist also gezwungen, seine Existenz in den niedrigsten Behausungen zu fristen.[30] Die Seele des Menschen, die ihr Gefieder verloren hat, fällt in die untersten, dunkelsten und erniedrigendsten Tiefen zurück.[31] Aus fehlender Neigung für die Weisheit oder aus mangelnder Unterrichtung durch die Philosophie, natürlich. Denn wahrhaft geflügelt ist allein das Denken des Philosophen, weshalb er von der  Menge als ein »Verwirrter« gescholten wird. Obgleich er außer sich ist, ohne Zweifel, im Wahnsinn und seiner selbst nicht mehr mächtig, ist es doch so, daß er »von einem GOTT besessen ist«.

Dieser »GOTT« nimmt für ihn oft das Gesicht eines jungen Knaben an, in dieser Existenz ist das der angemessenste Reflex der absoluten Schönheit, so wie sie philosophisch bestimmt wird, selbstverständlich. Man gelangt dabei niemals über die Suche nach dem Selben hinaus. So wird denn auch die Liebe sich bemühen, sich an das Ähnlichste zu binden. Sie wird sich an den binden, der dem Weisen am nächsten ist oder den der Weise am dichtesten bei sich haben möchte: seinen jüngeren, schöneren Anderen, seinen »Liebling«, der auf irgendeine Weise auch sein »Sohn« ist. Diese Neigung hat zum Ziel, den Geliebten so identisch wie möglich mit dem Liebenden zu machen, so daß die Liebenden »aufs beste und auf alle Weise zu jeder Ähnlichkeit mit ihnen selbst und dem Gott«,[32] den sie möglicherweise verehren, geführt werden. Die Liebe wird im Geliebten übrigens in unsinnlicher Weise entzündet werden. Denn seine Augen sind verführt worden, ohne es zu wissen, und sie ahnen nicht, »daß er wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut«.[33] So ist er also verliebt. Aber in was? In sein Bild? Das wäre eine Herabsetzung der Liebe, der Liebe, wie sie in Wahrheit ist. Die staunende Betrachtung der Nachbildung seiner selbst ist nicht das Vorrecht der menschlichen Lebewesen, und wären es gleich Männer. Wenn sie ihnen zugestanden wird, dann geschieht das allemal durch die Vermittlung des Guten, des Vaters. Und was den »Liebling« verliebt macht, ist der Blick des Älteren, in dem sich sein Bild formt, der von einem Vater erleuchtete Anblick, der ihm fehlte und durch den er in der Liebe zu sich selbst, sich und ihm einen Gleichen konstituieren will.

Schwindel und Taumel des Bewußtseins in bezug auf das, was es als solches begründet: die Identität mit sich. Ein Taumel, in dem sogar ein Gott es nötig hätte, (sich) ein Universum zu schaffen -das gewiß von einer kreisförmigen Bewegung beseelt ist —, um sein Wissen zu unterstützen. Das Wesen geht über sich selbst hinaus, wenn es in seiner Großzügigkeit (sich) äquivalente Abkömmlinge nachbildet, um sich in ihnen zu spiegeln. Sie sind gut vollendet, gut geglättet, gut abgerundet (und zum Kreisen gebracht), jedoch ohne Augen. Der Blick bleibt das Vorrecht des Vaters. In seinem Blick wird alles sein und gelangt alles zum Sein, so auch der »Sohn« und seine Liebe. Und wenn der Höhepunkt der Liebe darin besteht, daß der »Vater« und der »Sohn«, der »Weise« und sein »Liebling« sich in gleicher Art lieben, das heißt, wenn sie einander und einer dem anderen jenen Zielpunkt bieten, an dem ihr Bewußtsein (von sich) schwindet, so werden sie um dieser Begeisterung willen in die andere Welt versetzt. Sie werden auf ihren wieder gefiederten Flügeln über das Himmelsgewölbe hinausgetragen, um gemeinsam die Ideen zu schauen, deren Wirklichkeit - »das färb- und gestaltlose und untastbare Sein«[34] - einen Blick erfordert, der nicht mehr an das Blickfeld einer einzelnen Augenhöhle gebunden ist; sie ist die Quelle aller Erleuchtung. Das Ideal, auch das der Liebe, entgeht den Sterblichen. Denn wenn jeder der Liebenden sich wahrhaft im anderen sehen könnte, so würde das ewige Wesen der Ideen gefährdet, da es sich zu offensichtlich auf die Suche nach der Erscheinung reduzierte, auf die Aneignung des Erscheinens. Das kann der Vater nicht wollen, wenn er nicht die Notwendigkeit seiner eigenen Exisistenz dadurch antasten will. Ein lebendes Wesen kann über die Umgebung, in der sein Werden sich vollzieht, auch sein Werden als Liebender, einzig durch die Ekstase hinausgelangen. Durch die Ekstase in Gott. Ein jeder gelangt nur dann allmählich zur Reinheit des (eigenen) Seins, wenn er aus sich heraustritt und, vor allem, wenn er aus dem Grab herauskommt, wenn er »rein und unbelastet [ist] von diesem unserem Leibe, wie wir ihn nennen, den wir jetzt eingekerkert wie ein Schaltier mit uns herumtragen«.[35]

So ist der Geliebte nur Geliebter durch das göttliche Licht, das er reflektiert; für dies Licht ist der Mann ein treuerer Spiegel als die Frau oder irgendein Tier. Jene stellen im Verhältnis zu den Unsterblichen sehr weit abliegende Generationen dar und stehen strenggenommen noch nicht einmal in einer Verwandtschaftsbeziehung mit ihnen: Sie werden in einem zweiten oder dritten Leben geboren, einem Leben von Männern, die sich durch ihre Unwissenheit und ihre geringe Tugend eine solche Herabsetzung zugezogen haben. Daher sind sie der Absicht des Demiurgen fremd, von dem man in seiner Güte nicht annehmen kann, daß er selbst Lebewesen zur Existenz verholfen habe, die durch ihre Differenz zu Ihm benachteiligt sind, sterbliche Geschöpfe wie jene, deren Begehren infolge und gemäß ihrer »Natur« vor allem darin besteht, sich zu paaren, um zu zeugen. Das einzige Mittel, um in der Hierarchie der »Seienden« wieder aufzusteigen, ist für sie, insofern es in ihrer Macht steht, ihre Dummheit und die ungeordnete Heftigkeit ihrer Empfindungen in Verstand und Vernunft umzuwandeln; so können sie hoffen, wieder zu dem zu werden, was sie in ihrem früheren Zustand waren: Männer. Es ist also weder gut noch richtig, daß das männliche Lebewesen sich vom verliebten Streben nach seinem Bild entfernt, es sollte sich immer daran erinnern, daß dessen Prototyp der (im) Vater ist. Es wird seinen Tropismus von niederen Gattungen oder Arten abwenden, insbesondere sein Sehen, die kostbarste Gabe, die ihm mitgegeben wurde, das Organ, das dem der Seele am ähnlichsten ist, wenn man es nur ins Innere wendet, es auf das Innere richtet. Es ist so hoch wie möglich in seinem »Körper« angebracht, denn der Schutzgeist, den Gott jedem Menschen bei seiner ersten Geburt zugestanden hat, nimmt im »Körper« die oberste Stelle ein: eine himmlische Pflanze, »sofern wir ein Gewächs sind, das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt«. Dort, wo die Seele zuerst ihren Ursprung nahm, befestigt das Göttliche unser Haupt und unsere Wurzel und richtet so den ganzen Körper nach oben.[36] Dieser wird alle Formen von Umkehrungen durchlaufen, wird zum Beispiel auf alle viere zurückfallen, wenn er nicht der Bewegung jener stolzen Aufrichtung folgt. Der Typus der irdischen Fortbewegung bleibt den Frauen und Tieren vorbehalten, die je nach dem Grad ihrer Geistesbeschränktheit mit zwei oder vier Füßen ausgestattet sind. Dies »Unterteil« tritt an die Stelle anderer, edlerer Beförderungsweisen:[37] an die Stelle des vertikalen Aufstiegs und der kreisförmigen Umdrehung. Jener unterstützt die Progression von dieser, und zwar durch das Wiedererinnern dessen, was geschah, als die Wölbung des Himmels selbst durchstoßen wurde, als diese Hülle, die in gewisser Weise noch eine materielle, eine mütterliche Matrix ist, durchbrochen wurde - das erhabene Schicksal der Unsterblichen, die von der einen Seite zur anderen Seite dieser äußersten Wand kommen und gehen, ohne die geringste Ermüdung, ohne das geringste Leiden. Sie gehen in der unbegrenzten Ebene der Wahrheit, um dort das zu finden, was ihren Flügeln Kraft und ihrer »Seele« eine vollkommene Leichtigkeit verleiht.[38]
Was die anderen Lebewesen angeht - wenigstens für die männlichen trifft das zu -, so versuchen sie, ergriffen von glühender Begierde, die Höhen zu erreichen, mit ihrem »Kopf« die himmlische Scheidewand zu durchstoßen, sie versuchen, über sie hinauszugelangen, indem sie ihren »Kopf« nach oben strecken und dann wieder untertauchen. Aber die gewaltige Erregung durch das, was sie mit sich fortzieht, bewirkt, daß sie nur einige von den Wirklichkeiten erblicken, die man dort wahrnehmen kann. Da sie noch nicht in der Lage sind, ihren Aufstieg gelassen fortzusetzen, werden sie ohne jede Ordnung umhergetrieben, unter der Oberfläche. Sie treten und stoßen einander, jeder strengt sich an, dem anderen zuvorzukommen. So entsteht ein maßloses Getümmel: Streit und Angst. Das Resultat dieses Durchbruchs ist auch, daß einige verstümmelt werden, daß zahlreiche andere die Flügel verlieren oder sie jedenfalls hängen lassen und daß alle vor Müdigkeit erschöpft herabsteigen, ohne der Anschauung des wahrhaft Seienden teilhaftig geworden zu sein. Entmutigt geben sich fortan viele mit Trugbildern und Phantasien zufrieden, die Besten freilich werden sich, nachdem sie ihr Wissen vervollkommnet haben, aufs neue dem »äußersten Rand«[40] nähern. Sie werden ihr Wissen nicht mehr an den einzelnen sinnlichen Dingen erproben, denn ihre Wissenschaft ist dann dem Werden unterworfen, ihre Erkenntnisse sind dann vom Wechsel des Objekts abhängig. Und sie laufen dann Gefahr, das, was man jetzt seiend nennt, mit dem zu vermischen, was an all jenen Kopien an wahrhaft Seiendem ist,[41] also mit dem einzigen, das unwandelbar einer ungeteilten Aufmerksamkeit wert ist, da es dem Menschen ermöglicht, aufwärts voranzukommen,  ohne in die anarchischen Bewegungen der Empfindungen  zurückzufallen,  Empfindungen, wie die jener Tiere mit x Füßen, die unkontrolliert umherspringen. Deshalb bleiben sie fortwährend an die Oberfläche der Erde gebunden, ja, es kommt sogar dazu, daß sie in ihre Tiefen heruntersteigen oder in die Tiefen des Meeres. Schließlich verlieren sie gar den Boden als Grundlage und übrigens auch ihre Glieder. Sie bewegen sich hierhin und dorthin, da ihnen die Basis entzogen ist und sie kein sicheres Mittel haben, zu denselben Punkten zurückkehren zu können. Wenn es nicht überhaupt so ist, daß sie die letzten geometrischen Anhaltspunkte vergessen haben, die ihnen erlauben würden, sich zu orientieren und nicht unendlich umherzuirren.

Das ist das traurige Los desjenigen, der es versäumt hat, an der Wiedererinnerung der Ideen zu arbeiten; einem Sterblichen droht dieser Ausgang wegen der Verschiedenartigkeit seiner Seele und des gleichbleibend unreinen Charakters der Lebewesen, die ihn umgeben. Auch ist es für sein Glück unerläßlich, daß er sich anstrengt, sich im höchsten Teil der Seele zu behaupten, jenem unsterblichen Teil, der im Kopf sitzt und der von dem leicht erregbaren, leidenschaftlichen Teil durch den Hals als Erdzunge und Grenzscheide getrennt ist, damit das göttliche Prinzip geschützt wird vor jeder Verunreinigung, jeder Vermischung, die nicht zu seinem Wesen gehört. Aber auch, was die sterbliche Gattung der Seele angeht - an der er teilhat, da seine Beschaffenheit es erfordert und damit er als Sterblicher vollkommen ist -, bleibt er in der erhabensten Hälfte seines Körpers, in derjenigen, die oberhalb des Zwerchfells liegt und von der tierischen, die im Unterleib sitzt, isoliert ist durch eine Scheidewand ähnlich der, die die Wohnung der Männer von der der Frauen trennt.[42]

Die vermittelnde Funktion der Seele ist unentbehrlich, da die Seele sowohl mit der Entstehung des Guten als auch mit der des Schlechten verbunden ist. Sie ist ein Ort, an dem sich das eine und das andere mischen, jedenfalls bei einem »Seienden«, das erschaffen wurde und deshalb dem Vorbild der absoluten Intelligibilität nicht entsprechen kann. Dennoch muß es versuchen, sich diesem Vorbild zu nähern, um nicht in die niedrigen Regionen herabzusinken. Vor allem muß es jenen Vorrat an Glut und Flammen durch das »Bindeglied« seiner Seele in den Dienst der Suche nach dem göttlichen Licht stellen. Es sind Flammen, ohne die kein daimon etwas vermag und ohne die er vor allem nichts von dem erreichen kann, was er begehrt: die Formen zu erkennen und sie nachzuahmen. Natürlich müssen sie sich in Visionen verwandeln, in Erleuchtungen, die erhellen, ohne zu brennen. Und um das zu erreichen — und auch um jenes »Instrument«, das der Körper ist,[43] mit Nutzen zu gebrauchen -, ist es in der ersten Zeit angebracht, die Augen auf die hübschen Knaben zu richten, die hier unten am besten die Schönheit spiegeln. Doch bald ist es allein ihr Verstand, in dem der Weise sein Heil suchen wird; er geht dabei sogar so weit, daß er ihre und seine äußere Hülle außer acht läßt, den Körper, »der jedem von uns als Erscheinung nachfolgt« und der nichts ist als ein Schattenbild seines Vorbildes.[44] Zweifellos ist es möglich, daß das Bild eine gewisse Vollkommenheit wirklich werden läßt, und wenn bei einem Mann »zusammentreffen schöne Gesinnungen, die der Seele einwohnen und in der Gestalt ihnen Gleichmäßiges und Übereinstimmendes, weil derselben Grundzüge teilhaftig«, wäre das nicht das schönste Schauspiel für den, der schauen kann?[45] Die Liebe kann sich dann freien Lauf lassen, ohne Gefahr, irregeleitet zu werden. Sie entzündet die Kontemplation des Ideals, des Selben. Doch dieses Zusammentreffen ist selten.  Um sich vor Enttäuschung und Desillusionierung zu schützen, ist es besser, sich direkt an das zu heften, was besser als alles ein richtiges Wissen verbürgt: die Erkenntnis von sich selbst (als Selbst), die Suche nach der Identität mit sich selbst.

In Wahrheit lieben allein die, die seit jeher und weiterhin begierig sind, das Selbe wiederzufinden. Um das zu tun, müssen sie sich keinem anderen Teil des Menschen oder irgendeinem Objekt zuwenden oder ihre Suche nach diesen richten, mit Ausnahme gerade dessen, worin sie sich selbst sehen: im Spiegel des Sehens, in dem sie sich betrachten können, in dem sie einen Anblick von sich haben können, im selben Blick also, im Blick des anderen, und dabei nehmen sie im gleichen Augenblick ihre Augen und sich selbst wahr.[46] Dieses (Selbst-)Bild in einer Pupille ist allerdings immer von etwas abhängig, von einer köre. Das heißt auch: von einem jungen Mädchen, einet Jungfrau, ja sogar von einem »Püppchen«. Es ist also ein reduziertes Bild, das jemanden, der das Ganze erkennen will, nicht zu befriedigen vermag. Und mit dem Double des Mannes, das diese köre (ihm) re-präsentiert, sollte man sich nicht zu lange aufhalten. Die Spekulation/Spiegelung ist überaus begrenzt, die nur ein Organ betrifft, das, so exemplarisch es auch sein mag, unter der Perspektive des Ganzen betrachtet noch zu innig mit einer Matrix verbunden ist. Die (Selbst-)Reflexion, die sich lediglich auf einen solchen Träger stützte, könnte leicht das Wichtigste vergessen: den Blick der  Seele, der in diesem und durch dieses Trugbild verschleiert wird, ein Trugbild, vor dem man die Augen schließen können muß, indem man das Paraphragma des Lides senkt, um dem ausschließlichen Reiz jener und seiner Erscheinungen nicht zu erliegen. Selbst dann, wenn es sich um den Anblick eines Knaben handelt... Wenn das, was euch in seinen Augen anzieht, mißbraucht wird, hat das bisweilen zur Folge, daß die klare Vernunft durch Spiegel verdunkelt wird, die noch nicht treu genug, nicht eisig genug geworden sind. Das Unterpfand der Selbsterkenntnis soll man vielmehr von einer bereits ausgebildeten und in der Vernunft gefestigten Seele verlangen, von der des Philosophen zum Beispiel; man kann es vor allem von dem Punkt dieser Seele fordern, der der Sitz des Denkens des Selben, der Sitz des Denkens überhaupt ist, der Sitz der allerhöchsten Weisheit. Ist die Pupille also für den Blick jener Blickpunkt, an dem man sich ausrichten muß, um das Selbe zu erblicken, um sich zu sehen? Wenn man das noch am Sinnlichen orientierte Unterscheidungsvermögen überschreitet, ist das also der Teil der Seele, der mit sich selbst am identischsten ist, von dem man sein Heil verlangen wird, der Teil, der (sich) am besten reflektiert, der, mit anderen Worten, der göttlichste ist. Denn die Seele findet die Identität mit sich selbst wieder, wenn sie ihrem göttlichen Prinzip entspricht, indem sie an den Attributen dessen teilhat, der seit ewigen Zeiten unbegrenzt und ohne Ende sich selbst erkennt in absoluter Transparenz für sich selbst und von sich selbst. Ein Spiegel, der heller und reiner ist, der durch sein Licht leuchtender ist als alle die, die bereits sein Bild geworden sind, die nach seinem Bild geworden sind.[47] Ein Spiegel, der unberührt ist von jedem Reflex, so wie eine Pupille - eine köre-, die das gesamte Sichtfeld erfaßt und sich selber spiegelt, nichts reflektierend, (als) ihre eigene Leere, das Loch, durch das man schaut. Es ist nicht einmal mehr ein Loch, denn es würde sonst bald größer, bald kleiner werden. Es würde dem Blick Gottes nicht genügen, denn er ist auf ewig der Allerhöchste und sieht alles und das Ganze zur selben Zeit, er überragt das Universum aufgrund seiner Erhabenheit. Das ist eine Perspektive, deren Fluchtpunkt man nicht wahrnehmen, nicht berechnen, ja, den man  sich nicht einmal vorstellen kann. Es ist der unendlich weit zurückweichende Scheitelpunkt, in dem alle Vertikalen konvergieren. Die allerhöchste Erhebung, die über jeden Horizont hinausgeht und deren Einfallswinkel auch der schärfste und durchdringendste Blick niemals wird ermessen können, da er in der Welt des Sichtbaren befangen ist und die Totalität der Blickpunkte und ihren harmonischen Zusammenhang nicht zu umfassen vermag.

Allein die göttliche Schau hat kein Passiv, denn sie umgreift das Ganze, ohne daß irgend etwas Undurchdringliches bestehen bleibt. Sie ist das Licht, dem nichts widersteht, das alle Grenzen überschreitet, durch jedes Paraphragma hindurchgeht, das überall eindringt ohne Brechung, Ablenkung. Es ist stets mit sich selbst identisch in seiner Geradheit. Es läßt sich durch keinen Spiegel brechen, da es sich seit jeher als dasjenige erkennt, das die meiste Macht hat, und den, der die meiste Macht hat. Es betrachtet (sich als) das, was unter dem Seienden das glänzendste ist.[48] Das Gute, das keine Schatten wirft, das die Sonne selbst noch übertrifft, dessen Leuchtkraft von keinem Gestirn überstrahlt wird, denn sie geht über die Sphäre der Umlaufbahn der Gestirne hinaus, überflutet sie und umschließt das Ganze, das sich in der Weite ihres Bereichs im Kreise dreht: Blick, den weder ein Organ beschränkt noch eine Substanz. Denn Gott ist in einem Moment alles, was (er) gewesen ist und sein wird. Die Zeiten des Werdens sind nicht geeignet, um seine Präsenz zu analysieren, die weder vorn noch hinten, weder früher noch später kennt. Es gibt für das Wesen nichts mehr, das noch weiter zurückginge als es selbst, und kein Gegenüber, an dem es sich auszurichten hätte. Er ist schon alles, und alles ist in Ihm. Arche und telos. Und wenn er (sich in) Samen des Lichts, der Wahrheit ausstreut, dann aus einem Übermaß an Güte. Denn dieses Versprühen von Licht ist für Ihn ohne Notwendigkeit. Es sei denn, vielleicht, es wäre die Notwendigkeit einer Ergänzung des Guten, das alles Ihm Ähnliche begehrt und das wünscht, daß das Ganze Ihm ähnlich werde. Er überflutet das Universum mit seinen überall ausgesäten Keimen, erleidet aber dadurch ebensowenig einen Verlust, wie er die Vermehrung von Reichtümern anstrebt. Immer ist Er sich selbst gleich. Der Allerhöchste und der Allmächtige. Das absolute Vorbild der Souveränität, das unbedingt nachgeahmt werden muß, wenn man nicht in niedere Zustände zurücksinken will.
So kann jedes »Seiende« in seinem »Sein« nur versuchen, Gott nachzuahmen, ihn mehr oder weniger gut nachzubilden, da eskeine andere Vollkommenheit hat, auf die es sich gründen könnte. Das ganze Universum in seiner Substanz ist seinen göttlichen Entwürfen angepaßt. Ohne daß irgend etwas, und wäre es dahinter, außerhalb bliebe, seinen Absichten entzogen wäre. Geschlossener Raum eines überhimmlischen Blicks, in dem alles sich im Kreise bewegt, wobei das Nachher mit dem Vorher sich vermischt, die Zukunft mit der Vergangenheit in harmonischen Umdrehungen. Die Autarkie dieser Bewegung ist ein Zeichen dafür, daß dort ein göttliches Prinzip am Werk ist. Autonomer, sich selbst bewegender Tropismus, Indiz für die Allmacht, die alles, was sich ihr als Gegenüber noch entziehen könnte, jede Ursache, die noch irgendwo außerhalb ihrer selbst fortbestehen würde und in der Lage wäre, die souveräne Ökonomie umzulenken oder sich von ihr abzuwenden, in das In-sich-Sein ihres Kreises resorbiert. Ohne Ende gravitiert sie um die eigene Achse und beschreibt einen Kreis, in dessen Innern von jeher alles nach vorn, ins Angesicht gestellt worden ist, Zukünftiges und Vergangenes. Das, was niemals betrachtet wurde, was niemals vorgestellt und vorstellbar wurde, wird in das Äußere dieser Sphäre zurückgeworfen. Hinter das Bühnenbild, die Kulisse für die einzigartigen göttlichen Strahlen, die in einer sozusagen rektalen Weise das Paraphragma, die Hülle (des Ganzen), das Ganze durchdringen. Das Paraphragma seinerseits weiß nicht, daß es eine Rückseite hat; und weil es noch sinnlich ist, ist es nicht fähig, den Anblick des Guten von Angesicht zu Angesicht zu ertragen.