Eine Mutter aus spiegelndem Eis*

  • (* Die folgenden Zitate stammen aus Plotin, Die Affektionsfreiheit
    des Unkörperlichen, in: Schriften, Bd. 11, Hamburg 1962, S. 102 ff. (Anm. d.Ü.)

»Doch zurück zur Materie, der Unterlage der Körper, und zu dem, was, wie man sagt, auf der Materie aufsitzt; aus dieser Betrachtung wird das Nichtsein der Materie und ihre Unaffizierbarkeit hervorgehen. Die Materie ist unkörperlich, weil ja der Körper etwas Späteres, Zusammengesetztes ist und sie erst mit einem andern zusammen den Körper hervorbringt; in diesem Sinne ist ihr dieselbe Bezeichnung zugefallen wie dem Seienden, in bezug auf die Unkörperlichkeit, sofern beide, Seiendes und Materie, vom Körper verschieden sind. Sie ist aber weder Seele, noch Geist, noch Leben, noch Gestalt, noch Vernunft, noch Grenze (denn sie ist Unbegrenztheit), noch Kraft (denn was kann sie denn schatten.), sie liegt von alledem weit ab und kann noch nicht einmal mit Recht als seiend bezeichnet werden, vielmehr nennte man sie füglich nichtseiend; und nichtseiend nicht wie Bewegung und wie Ruhe, sondern wirklich und eigentlich nicht seiend, ein Schatten und Trugbild der Masse, ein Trachten nach Substanz, ein Ruhendes, das nicht stillesteht, ein an sich selber Unsichtbares, das dem, der es sehen möchte, entrinnt und da ist, wenn man es nicht sieht (sieht man aber scharf hin, so ist es nicht zu sehen), das immer die Gegensätze an sich in Erscheinung treten läßt, groß und klein, mehr und weniger, Mangel und Überfluß, ein Schattenbild, das nicht standhält und doch auch nicht zu entrinnen vermag (denn nicht einmal dazu hat es die Kraft, da es keine Kraft vom Geiste bekommt), sondern es ermangelt alles dessen, was Sein heißt. Daher sie lügt in jeglichem, was sie verspricht; erscheint sie groll, so ist sie klein, erscheint sie mehr, so ist sie weniger, und was an ihr als seiend erscheint, ist kein Seiendes, sie ist ein Possen, der sich verflüchtigt. Daher auch die Dinge, die an ihr zu sein scheinen, Possen sind, geradezu Schattenbilder am Schattenbilde, so wie in einem Spiegel der Gegenstand ganz woanders erscheint, als er ist. Und wenn sie voll scheint, hat sie nichts in sich und scheint doch alles zu haben. >Was aber in sie eingeht und austritt, sind Nachbilder des Seienden<, Schatten, die auf einen gestaltlosen Schatten fallen und die an ihr sichtbar werden infolge ihrer Gestaltlosigkeit; sie scheinen auf sie zu wirken, in Wahrheit wirken sie nichts, denn sie sind ohne Saft und Kraft und bieten keinen Widerstand; da aber auch die Materie keinen Widerstand bietet, gehen sie durch sie hindurch, ohne sie zu teilen, wie durch Wasser oder wie wenn man in dem sogenannten leeren Raum Gestalten gleichsam absenden wollte. Wären die Dinge, die an der Materie gesehen werden, von gleicher Beschaffenheit wie das, von dem sie ausgingen, dann könnte man ihnen vielleicht ein Stück der Kraft, die dem gehörte, das sie in die Materie entsandte, zugestehen und annehmen, daß die Materie von ihnen affiziert würde. In Wirklichkeit aber ist das die Vorstellung Hervorrufende ganz verschieden von dem, das man an der Materie sieht, und so kann man auch hieraus entnehmen, daß diese Affektion Trug ist, weil trügerisch ist, was an ihr gesehen wird, und keinerlei Ähnlichkeit hat mit dem, das es hervorbrachte. Da es nun kraftlos ist und Trug und auf etwas trifft, das selber Trug ist, so wie beim Traumgesicht, der Wasserspiegelung oder dem Spiegelbild, so läßt es notwendig die Materie unaffiziert (nur daß bei den eben genannten Beispielen allerdings eine Ähnlichkeit besteht zwischen den Bildern und den hervorrufenden Gegenständen).«

»Nun, man muß festlegen, daß das Beiwohnen eines Dinges bei einem anderen, das Sein eines Dinges in einem andern erstens nicht nur auf eine einzige Art möglich ist. Vielmehr ist eine Art die, daß das Beiwohnende im Beiwohnen das Substrat schlechter oder besser macht und es dabei verändert, wie man es bei den Körpern, wenigstens der lebenden Wesen, beobachtet; die zweite Art ist die, daß es besser oder schlechter macht ohne Affektion des Substrates; so wie wir es bei der Seele darlegten; die dritte Art gleicht dem Abdruck einer Form in Wachs, wobei weder eine Affektion stattfindet, solange die Form zugegen ist, als machte die Form das Wachs in seinem Sein zu etwas anderm, noch das Wachs irgendwie mangelhaft wird, wenn die Form wieder fort ist. Das Licht gar bewirkt nicht einmal eine Veränderung der Gestalt an dem Erleuchteten. Und ein Stein gar, der kalt wird, welche Wirkung wird ihm von der Kälte, da er ein Stein bleibt? Und worin sollte eine Linie von einer Farbe affiziert werden? Auch eine Oberfläche, denke ich, nicht. Aber vielleicht der darunter liegende Körper? Aber worin kann er von einer Farbe denn affiziert werden? Denn als affiziert werden darf man nicht das bloße Zugegensein eines anderen bezeichnen oder das bloße Herumlegen einer Gestalt. Und wenn einer noch darauf hinwiese, daß auch die Spiegel und überhaupt die durchsichtigen Körper von den in ihnen erscheinenden Abbildern keinerlei Affektion erfahren, so würde er eine besonders treffende Parallele beibringen; denn Abbilder sind auch die Erscheinungen an der Materie, und sie bleibt in noch höherem Grade unaffiziert als die Spiegel. So tritt denn also Wärme und Kälte in sie ein, aber sie machen sie nicht warm. Denn Erwärmung und Abkühlung kommt vor, wenn die Qualität das Substrat aus dem einen in den andern Zustand führt. (Bei der Kälte wäre übrigens noch zu prüfen, ob sie nicht bloße Abwesenheit der Wärme, Privation ist.)[...] Mithin kann, wenn irgend etwas affiziert wird, dies unmöglich die Materie sein, sondern dann muß immer ein aus Zweien Zusammengesetztes oder überhaupt ein zugleich aus Vielem Bestehendes dasein. Was aber allein ist und abgesondert von allem andern und schlechthin einfach, das ist also wirklich frei von aller Affektion und bleibt ausgenommen mitten unter all den Dingen, die aufeinander wirken; so bleibt, wenn die Bewohner desselben Hauses einander schlagen, das Haus selber ohne Affektion und so auch die Luft in ihm. Mögen also die Qualitäten, die an der Materie sind, in ihrem Zusammentreffen einander antun, was in ihrer Natur liegt, sie selbst aber bleibe affektionsfrei, weit eher noch als die vielen Qualitäten in ihr, die, weil sie nicht entgegengesetzt sind, keiner Affektion voneinander unterliegen.«

»Ferner, wird die Materie affiziert, so muß sie infolge der Affektion etwas an sich tragen, entweder die Affektion selber oder sie muß in einem veränderten Zustand sein gegenüber dem Zeitpunkt, ehe die Affektion in sie kam. Naht dann nun eine Qualität nach jener ersten heran, dann kann, was sie aufnimmt, nicht mehr Materie sein, sondern qualifizierte Materie. Und wenn auch diese Qualität nach ihrem Entweichen etwas von sich zurückließe durch ihre Einwirkung, so würde das Substrat noch stärker verändert. Und ginge es auf diese Weise weiter mit ihr, so würde das Substrat schließlich etwas ganz anderes sein als Materie, vielmehr ein Vielartiges, Vielgestaltiges. Dann aber könnte es nicht mehr der Aufnahmeort für alles sein, es würde vielen Qualitäten, die hinterdrein hineinwollen, zum Hemmnis werden, und so würde die Materie keinen Bestand haben, wäre also nicht mehr unvergänglich. Daher muß, wenn es denn eine Materie geben soll, diese, so wie sie zu Anbeginn war, immer sein als eine und dieselbe. Wer also von ihrer Veränderung spricht, der hält damit nicht am Wesen der Materie fest.«

»So hat denn auch Plato von dieser Auffassung ausgehend richtig gesprochen, wie ich meine, und daß >die Nachbilder der seienden Dinge< ein- und ausgehen, das hat er nicht umsonst gesagt, sondern im Wunsche, daß wir es verstehen, indem wir die Aufmerksamkeit richten auf die Art der Teilnahme. In der Tat besteht, scheint es, jene Schwierigkeit, aufweiche Weise die Materie an den Formen teilhabe, nicht darin, worin sie die meisten unserer Vorgänger gefunden haben, auf welche Weise sie nämlich in sie hineinkommen, sondern vielmehr darin, aufweiche Weise sie in ihr sind. Tatsächlich scheint es ein wunderliches Ding zu sein, wieso die Materie, während diese Formen ihr beiwohnen, doch dieselbe bleibt und nicht von ihnen affiziert wird, wo noch dazu die eingehenden Dinge von einander Affektionen erfahren. Indessen, ebenso verwunderlich, daß die eingehenden Dinge jeweils die zuvor anwesenden hinausstoßen und die Affektion nur an dem zusammengesetzten Wesen statthat, aber auch nicht an jedem zusammengesetzten Wesen, sondern nur an dem, das des Zutretens von etwas bedarf und das mangelhaft ist in seinem Bestände, wenn etwas anderes abwesend ist, und vollkommen erst, wenn es zugegen ist. Die Materie aber gewinnt nichts an ihrem Bestände, wenn etwas hinzutritt (denn das, was sie ist, wird sie nicht erst in dem Augenblick, wo etwas hinzutritt), noch verliert sie, wenn etwas entweicht (denn sie beharrt als das, was sie von Anbeginn war). Was nun die schöne Gestaltung betrifft, so ist sie für die Dinge, die des Schmuckes und der Ordnung bedürfen, gewiß eine Notwendigkeit. Eine solche Schmückung kann stattfinden ohne eine Veränderung, so wie wir einen Schmuck nur äußerlich jemandem anlegen; wird dagegen etwas derart geschmückt, daß der Schmuck mit seinem Sein verwachsen ist, so muß das, was zuvor häßlich war, sich ändern, das Geschmückte muß ein anderes werden und kann erst so aus einem Häßlichen ein Schönes werden. Wenn also die Materie häßlich ist und dann schön wird, so ist sie das, was sie zuvor vermöge ihrer Häßlichkeit war, nicht mehr, somit müßte sie bei einer Schmückung dieser Art ihr Materiesein
verlieren, und das besonders dann, wenn sie nicht bloß akzidentiell häßlich ist; ist sie aber in dem Sinne häßlich, daß sie die Häßlichkeit ist, dann kann sie gar nicht an einem Schmucke Teil erhalten, desgleichen kann sie, wenn sie in dem Sinne böse ist, daß sie das Böse ist, gar nicht am Guten Teil erhalten. Somit ist die Teilhabe nicht so, wie man glaubt, als ob sie dabei affiziert würde, sondern der Vorgang ist ein anderer, nämlich so, daß nur der Anschein einer Affektion entsteht. Vielleicht löst sich auf diese Weise auch das Problem, wie die Materie als eine böse nach dem Guten trachten kann, indem sie nämlich durch die Teilhabe nicht ihr früheres Sein verliert. Denn wenn die sogenannte Teilhabe in der Weise statthat, daß sie, wie wir es behaupten, dieselbe bleibt und sich nicht ändert, sondern immer ist, was sie ist, so birgt nicht mehr Unbegreifliches die Frage, wieso sie als Böse am Guten teilnimmt. Denn sie tritt dabei nicht aus ihrem Wesen heraus, sondern, weil die Teilhabe unumgänglich ist, nimmt sie auf irgend eine Weise teil, solange es bei ihr ist; da aber diese Art der Teilhabe sie in ihrem Sein festhält, wird sie nicht gestört in ihrem Sein von dem, was dergestalt durch sie hindurchgeht; sie ist, scheint es, deswegen nicht weniger böse, denn sie bleibt immer, was sie ist. Denn nähme sie wahrhaft Teil und würde wahrhaft verändert von dem Guten, so wäre sie nicht in ihrem Wesen böse. Wenn man somit die Materie böse nennt, so ist das nur in dem Sinne wahr, daß sie als vom Guten unaffiziert bleibt; das aber bedeutet nichts anderes, als daß sie überhaupt unaffizierbar ist.«

»Eben das denkt nun Plato von der Materie; er nimmt die Teilhabe nicht in dem Sinne, daß eine Idee in ein Substrat eintritt und ihm Gestalt verleiht, so daß dann ein einziges, zusammengesetztes Ding entstünde, dessen beide Bestandteile gleichsam zusammengemengt miteinander sich wandelten und miteinander affiziert würden; und weil er zeigen will, daß er es nicht so meint, und wieso die Materie die Ideen hat und doch selber unaffiziert bleibt, sucht er nach einem Muster einer Teilhabe ohne Affektion; denn es war auf andere Weise nicht leicht klarzumachen, welche Dinge etwa trotz ihrer Gegenwart das Substrat unverändert lassen. So hat er denn viele Schwierigkeiten in Kauf genommen, da er zu seinem Ziele hindrängte und zudem noch anschaulich machen wollte, daß in der Sinnenwelt völlige Leere an substantiellem Sein herrscht und die Rolle des bloß Wahrscheinlichen groß ist. Wenn er dann annimmt, daß die Materie durch ihre Gestalten den materiegebundenen Körpern ihre Affektionen verursacht, ohne selber irgendwelche dieser Affektionen zu haben, so deutet er damit auf ihr unverändertes Verharren, indem er uns den Schluß nahelegt, daß sie ihrerseits auch von den Gestalten keine Affektion der Änderung erleidet.«

»Doch zuvor haben wir noch von der Affektionslosigkeit selber zu sprechen und zu zeigen, daß man sich durch den üblichen Gebrauch der Wörter nicht zu der Annahme einer Affektion verleiten lassen darf, z. B. wenn er sagt, ein und dieselbe Materie werde >in Brand gesetzt< und >durchfeuchtet<; man muß nämlich auch die folgenden Worte bedenken: >und die Gestalten der Luft und des Wassers aufnehmend<;denn durch das >die Gestalten der Luft und des Wassers aufnehmend< nimmt er in weitem Maße dem Ausdruck >in Brand gesetzt und durchfeuchte« das Anstößige und macht zugleich mit den Worten >Gestalten aufnehmend< deutlich, daß sie nicht selber Gestalt hat, sondern daß die Gestalten so in ihr sind, wie sie eintraten, und daß >in Brand gesetzt< nicht im eigentlichen Sinne gemeint ist, sondern vielmehr besagt: Feuer werdend; denn Feuer werden und in Brand gesetzt werden ist nicht dasselbe; in Brand gesetzt werden geschieht durch ein anderes als Ursache, weshalb in ihm auch ein Affiziertwerden enthalten ist; was aber selber Teil des Feuers ist, wie könnte das in Brand gesetzt werden? Es wäre gerade so, wie wenn man sagen wollte, das Standbild habe das Erz durchdrungen, wenn einer sagte, daß das Feuer die Materie durchdrungen habe und sie zudem noch in Brand stecke. Wenn ferner das, was der Materie sich naht, Form ist, wie kann es dann in Brand stecken? Und wenn es Gestalt ist. Aber damit hat das In-Brand-Stecken zur Ursache schon Beide (Form und Materie vereint). Wie aber können diese beiden die Ursache sein, wenn nicht aus ihnen beiden eine Einheit geworden ist? Nun, wenn denn diese Einheit eingetreten ist, so ist sie doch eine solche, bei der die beiden nicht die Affektionen in einander haben, sondern nur gemeinsam auf andere wirken. Wirken sie dabei nun beide? Vielleicht macht das eine es nur möglich, daß das andere nicht entrinnen kann.«

»Es ist noch ein weiterer Punkt ihrer Aufmerksamkeit zu empfehlen: Was meinen sie damit, daß die Materie der Idee entfliehe? Steinen und Felsen - Dinge, die Materie einschließen - vermag sie ja nicht zu entfliehen, nun werden sie aber doch nicht behaupten wollen, daß sie das einemal fliehe, das anderemal nicht fliehe; wenn sie nämlich durch ihren Willen zu entfliehen vermag, warum tut sie es dann nicht immer? Hält sie aber nur aus Zwang stand, dann kann es keinen Augenblick geben, wo sie nicht im Bereich einer Idee ist. Dann aber wäre der Grund dafür zu suchen, daß nicht jede Materie immer dieselbe Idee erhält, und zwar am ehesten bei den in sie eintretenden Ideen. Und auf welchem Wege soll sie >fliehen<? Vielleicht durch die Selbigkeit ihres Seins und immer. Das aber hieße nichts anderes, als daß sie niemals aus ihrem Wesen heraustritt und die Idee dergestalt hat, daß sie sie niemals hat. Dann aber werden sie nichts anfangen können mit dem Platowort, das sie im Munde führen: >sondern der Aufnahmeort und Amme alles Werdens<. Denn wenn sie sein Aufnahmeort und seine Amme ist, das Werden aber von ihr verschieden ist, das sich Verwandelnde aber im Werden ist, so ist sie, als vor dem Werden, auch wohl vor der Veränderung; auch die Bezeichnung >Aufnahmeort<, und ebenso >Amme<, läßt sie beharren in ihrem Seinszustand als affektionsfreie; dasselbe gilt von dem Ausdruck: dasjenige, worein eintretend jegliches erscheint, um dann wieder aus ihm auszutreten und von ihrer Bezeichnung als >Platz< und >Sitz<. Auch jener Ausspruch, der von uns richtiggestellt wurde als Bezeichnung des Ortes der Ideen, behauptet nicht eine Affektion des Substrates, sondern erfordert eine andere Weise der Teilhabe. Und welche ist diese? Da die Wesenheit, von der wir sprechen, nichts Seiendes sein darf, sondern ganz jeder Wesenheit entrückt und völlig anders sein muß - denn das Seiende besteht aus rationalen Formen, welche wahrhaft seiend sind -, so muß sie also notwendig in eben dieser anderen Weise auf das, was für sie Erhaltung ist, bedacht sein und nicht nur unempfänglich bleiben für das Seiende, sondern auch, wenn ein Nachbild des Seienden ihr naht, seiner in Hinsicht auf Aneignung unteilhaft bleiben. Denn nur so ist sie völlig andersartig. Sonst, wenn sie irgendeiner Idee bei sich Heimatrecht gäbe, so würde sie in der Verbindung mit ihr sich ändern und ginge ihrer Andersartigkeit verlustig und ihrer Aufgabe, Platz für alle zu sein und Aufnahmeort, von der keine ausgeschlossen. Nein, sie muß bei deren Eintritt dieselbe bleiben und bei deren Austritt unaffiziert zurückbleiben, damit überhaupt immer etwas in sie eintreten und austreten kann. So tritt also, was eintritt, als Schatten ein in einen Schatten, in ein nicht Wahres als nicht Wahres. Findet denn nun überhaupt wirklich ein Eintreten statt? Wie sollte es wohl bei dem, welchem streng verwehrt ist, an der Wahrheit Teil zu haben, da es Trug ist? Das Eintreten in den Trug ist also selber nur Trug, und der Vorgang ist ähnlich wie beim Spiegel, wo ja auch nur die Nachbilder der Gegenstände im Bild erscheinen und auch nur so lange, wie die Gegenstände da sind. Denn auch in der Wirklichkeit, nähme man das Seiende fort, würde keinen Augenblick irgend etwas erscheinen von den Dingen, die wir jetzt in der Wahrnehmungswelt sehen. Der Spiegel nun in unserem Vergleich ist auch selber sichtbar, denn er ist auch selber eine Gestalt; die Materie hingegen, die ja keinerlei Gestalt ist, ist selber nicht sichtbar; sonst müßte sie ja auch vor dem Eintritt für sich allein sichtbar sein; sondern es geht ihr ähnlich wie der Luft, die auch dann, wenn sie belichtet wird, nicht sichtbar ist, weil sie eben, wenn sie nicht belichtet wird, auch nicht sichtbar war. Daher die Erscheinungen im Spiegel auch nicht den Glauben erwecken, daß sie seien, oder doch in geringerem Grade, weil man nämlich den Spiegel, in dem sie erscheinen, sieht, und er bleibt, sie aber entschwinden; bei der Materie dagegen wird sie selber nicht sichtbar, weder wenn sie Gestalten an sich trägt, noch ohne sie. Wäre es aber so, daß die Bilder, die den Spiegel füllen, beharrten und der Spiegel nicht gesehen würde, dann würde man den Spiegelbildern nicht den Glauben versagen, daß sie in Wirklichkeit seien. Wenn also das, was in den Spiegeln erscheint, etwas Wirkliches ist, so sollen meinetwegen auch die Wahrnehmungsdinge an der Materie etwas Wirkliches sein; wenn es aber nichts Wirkliches ist, vielmehr nur zu sein scheint, dann muß man auch zugeben, daß auch die Dinge an der Materie nur zu sein scheinen, und muß den Grund für ihr Erscheinen in dem substantiellen Existieren des Seienden suchen, an welchem das Seiende immer wahrhaft Teil hat, das nicht Seiende aber nicht wahrhaft. Denn das Nichtseiende darf ja nicht so sein, wie es wäre, wenn es das wahrhaft Seiende nicht gäbe, vorausgesetzt, es gäbe dann das Nichtseiende.«

»Wenn nun die Materie nicht wäre, würde dann kein Ding ins Dasein treten? Es wäre ja auch kein Spiegelbild da, wenn es keinen Spiegel oder dergleichen gäbe. Denn was seiner Natur nach an einem andern ins Dasein tritt, das kann, wenn jenes nicht da ist, nicht entstehen; eben darin besteht ja das Wesen eines Spiegelbildes, daß es an einem andern ist. Wenn von dem Wirkenden etwas sich ablöste, so würde es existieren, auch ohne an einem andern zu sein. Da aber das Seiende in sich beharrt, muß, wenn etwas an dem andern in Erscheinung treten soll, eben jenes andre vorhanden sein, welches eine Basis darbietet dem, das nicht herabkommt, das es vielmehr durch sein Vorhandensein mit Dreistigkeit gleichsam herabbetteln und in seiner Armut gleichsam mit Gewalt greifen muß, womit es aber doch nur betrogen ist (denn es ergreift es gar nicht), auf daß seine Armut bestehen bleibe und es immer betteln müsse. Denn da sie schon einmal entstanden ist, stellt der Mythos sie als Bettlerin dar und deutet damit an, daß ihr Wesen des Guten bar ist. Und der Bettler bittet nicht um das, was der Geber besitzt, sondern ist zufrieden mit allem, was er bekommt; auch darin liegt also ein Hinweis darauf, daß das an ihr Erscheinende ein anderes ist. Auch liegt schon in ihrem Namen >Armut<, daß sie nicht gesättigt wird. Wenn sie sich aber im Mythos mit der Wohlhabenheit vermählt, so will Plato damit nicht andeuten, daß sie sich mit dem Seienden vermähle oder mit der Sattheit, sondern nur mit einem Dinge, das Mittel und Wege weiß, und das heißt: mit der List des Blendwerks. Denn da es nicht angeht, daß etwas, das, in welchem Sinne immer, außerhalb des Seienden existiert, überhaupt keinen Teil erhält am Seienden (denn das liegt ja dem Seienden in der Natur, auf das Seiende zu wirken), anderseits aber das schlechterdings Nichtseiende sich mit dem Seienden nicht mischen kann, so ergibt sich ein wunderlich Ding: Wie kann sie nicht teilhabend teilhaben, wie gleichsam durch die Nachbarschaft etwas von ihm empfangen, obgleich sie durch ihr eignes Wesen sich mit ihm gewissermaßen zu verquicken unvermögend ist? So gleitet denn, was sie etwa empfing, von ihr ab als von einem wesensfremden Ding, so wie das Echo von glatten, ebenen Flächen; weil das Empfangene dort nicht bleibt, erweckt es die Vorstellung, daß es dort sei und von dorther komme. Wenn sie dagegen in dem Sinne Anteil erhielte und es so in sich aufnähme, wie man es wahr haben will, so würde das, was sich ihr naht, von ihr verschlungen werden und in ihr versinken. In Wirklichkeit aber ist es sichtbar, weil es nicht verschlungen worden ist, sondern sie dieselbe geblieben ist und nichts aufgenommen hat, vielmehr hemmt sie, was auf sie zukommt, als ob sie ihre Bestimmung als Sitz und Aufnahmeplatz dessen, was an dieselbe Stelle hindrängt und sich dort mischt, von sich weise; vergleichbar den glatten Gegenständen, die man, um Feuer zu erhalten, gegen die Sonne aufstellt (manchmal nimmt man auch Gefäße mit Wasser), damit der Strahl, von dem darin befindlichen Widerstand gehemmt, nicht hindurchgeht, sondern sich außen sammelt. In diesem Sinne wird die Materie zur Ursache des Werdens und auf diese Weise bekommt Existenz, was an ihr in die Existenz tritt.«

»Bei der an der Materie erscheinenden Formkraft dagegen ist das Außen in anderer Weise aufzufassen. Denn die Andersheit ihres Wesens genügt, sie bedarf gar nicht der doppelten Grenze, sondern vielmehr jeder Begrenzung fremd, besitzt sie die Unvermischbarkeit schon durch die Andersheit ihres Wesens und das völlige Fehlen einer Verwandtschaft (und die Ursache ihres in sich Beharrens liegt darin), weil weder das Eintretende an ihr zehrt, noch auch sie an dem Eintretenden.[...] Hier nun ist die Vorstellung Schattenbild, während die Seele ihrem Wesen nach nicht Schattenbild ist; und obgleich scheinbar die Vorstellung vieles nach ihrem Belieben betreibt, macht sie nichtsdestoweniger von der Seele als Materie oder Entsprechendem Gebrauch; indessen kann die Vorstellung durch die von ihr kommenden Kräfte doch die Seele nicht verdecken, da sie oft wieder weggestoßen wird; niemals, und wenn sie mit allen ihren Kräften käme, kann sie verursachen, daß die Seele ganz überdeckt ist und als bestimmtes Vorstellungsbild erscheint; denn die Seele trägt in sich entgegenstehende Kräfte und Formen, durch welche das Herannahende zurückgestoßen wird. Die Materie dagegen - denn sie ist weit schwächer an Kraft als die Seele und hat nichts von den seienden Dingen, weder ein Wahres, noch auch nur einen Trug, der ihr wirklich zu eigen wäre - hat nichts, mittels dessen sie in Erscheinung treten könnte, da sie aller Dinge Ledigkeit ist; sondern sie wird wohl für die andern Dinge Ursache ihres Erscheinens, vermag aber ihrerseits nicht einmal von sich zu sagen: hier bin ich; sondern, wenn einmal eine tiefgreifende Untersuchung sie aus den andern Dingen herausfinden sollte, so sieht sie, daß sie ein Ding ist, das verlassen ist von allem Seienden, auch von dem späteren, nur scheinbar Seienden, und hineingezerrt in alle Dinge und dem Anschein nach sich ihnen fügend und wiederum doch nicht fügend.«

»Und kommt einmal ein formender Begriff und bringt sie auf die Ausdehnung, die er will, macht er sie groß, indem er ihr von sich aus das >groß< anlegt, welches sie selber nicht ist und auch hierdurch nicht wird (denn sonst wäre das an ihr befindliche Große die Größe selber). Nimmt nun jemand diese Form fort, so ist das Substrat nicht mehr groß und erscheint auch nicht mehr so;[...] So wurde denn auch, wo die Materie tatsächlich eine solche Größe angenommen hat, daß sie so groß erscheint wie dies Weltall, sicherlich, falls das Himmelsgewölbe und alles, was darinnen ist, zu sein aufhörte, zugleich mit dem allem auch jegliche Größe aus ihr verschwinden, und zugleich natürlich die andern Qualitäten, und sie würde zurückbleiben als das, was sie ursprünglich war, und keine der zuvor an ihr vorhandenen Bestimmtheiten bewahren können.[...] Wollte man sich aber verwundern, wie etwas keine Größe hat und doch groß sein soll - nun, wie kann dann etwas, das keine Wärme hat, warm sein? Ist doch das Sein der Materie nicht schon gleichbedeutend mit Größe-sein, wenn anders es auch eine immaterielle Größe gibt, so wie es eine immaterielle Gestalt gibt. Und wenn wir den Begriff der Materie streng festhalten wollen, so kann sie nur durch Teilhabe zu allem werden; eines von dem allen ist aber auch die Größe. In den Körpern also, die ja zusammen gesetzt sind, ist auch die Größe mit den andern Bestimmtheiten (jedoch nicht abgesondert von den übrigen), weil ja im Begriff des Körpers die Größe enthalten ist. An der Materie aber ist selbst nicht diese von den übrigen Bestimmtheiten nicht abgesonderte Größe; denn sie ist nicht Körper.«

»Aber die Materie kann auch nicht die Größe selber sein. Denn die Größe ist eine Idee, nicht aber etwas zur Aufnahme von Ideen Fähiges. Ferner ist die Größe an und für sich, und nicht Größe in bestimmtem Sinn. Sondern, weil das im Geist oder in der Seele Ruhende nach außen groß sein will, verlieh es denen, die es durch ein Trachten nach ihm oder eine Bewegung zu ihm hin gewissermaßen nachahmen wollen, die Fähigkeit, ihren Zustand einem andern Dinge kundzutun. Indem somit das Große im Fortgang seines in Erscheinungtretens dahinläuft, bringt es das Kleine der Materie zum Mitlaufen auf eben jenes Ziel, das Große, zu und bewirkt so, daß es infolge der Miterstreckung, ohne von der Größe angefüllt zu werden, den Anschein eines Großen erweckt. Denn es ist dies nur ein trügerisches Großsein, indem es, weil es das Großsein nicht besitzt, sich zu ihm ausstreckt und in diesem Ausstrecken sich nun neben ihm erstreckt.[...] So wird die Materie sowohl als ganze groß, erleuchtet von dem Großen selbst, wie auch jeder einzelne Teil ein besonderes Großsein erhält; und zwar tritt alles dies Große gleichzeitig in Erscheinung, sowohl von der Gesamtform her, der das Große zugehört, wie auch von der Einzelform; sie dehnt sich gewissermaßen aus, sowohl mit der ganzen wie mit allen einzelnen; so wird sie genötigt, sich in dieser Gesamtform darzustellen und in dieser Einzelmasse, soweit denn die Kraft der Formen bewirken kann, daß das, welches selber das Nichts ist, alles sei.[...] und zwar gelangen sie zur Erscheinung, weil sie aus jenem Bereich stammen, sind aber trügerisch, weil das, an dem sie erscheinen, nicht ist.[...] Und so stammt, was bewirkt, daß die Materie groß ist, wie es zu sein scheint, von dem in Erscheinung tretenden Großen, und das Große der Materie ist eben das in Erscheinung tretende Große, das Große bei uns. Die Materie aber, an welcher es ist, wird so genötigt, zugleich im Ganzen Schritt zu halten, und stellt sich überall zur Verfügung; denn sie ist eben Materie und gehört zu diesem Etwas, ist nicht selber dies Etwas. Was aber aus sich selber kein Etwas ist, kann vermöge eines andern auch zum Gegenteil werden, und wenn es zum Gegenteil geworden ist, ist es auch dieses nicht; sonst würde es ja stehenbleiben.«

»Denn natürlich hält, was Abbild des Großen ist, es nicht aus, an einer kleinen Masse noch gleich zu sein, sondern im Maße wie es nach der Hoffnung auf jenes trachtete, trat es hervor nach seiner Möglichkeit, im Bunde mit der schritthaltenden Materie, die nicht zurückbleiben kann, und macht so dasjenige groß, was weder groß ist noch so vorher erschien, wie auch das, was an der Masse als Großes sichtbar wird. Sie aber bewahrt trotzdem ihr eigentümliches Wesen und verwendet dies Große nur gleichsam als Gewand, das sie sich umlegte, als sie mit ihm, der ihr voranlief, Schritt hielt; wenn aber der, der ihr es umlegte, es wieder fortnähme, bliebe sie wieder die nämliche, wie sie von sich aus war, oder sie ist dann so groß, wie die dann etwa beiwohnende Gestalt sie macht. Die Seele jedenfalls, welche die Formen des Seienden besitzt und selber auch Form ist, sie hat die Formen bei sich alle zumal, wobei auch die einzelne Form in sich selber gesammelt ist; wenn sie nun sieht, wie die Formen der Sinnendinge sich gleichsam zurückwenden und ihr nahen, so erträgt sie es nicht, sie zusammen mit ihrer Körperfülle in sich einzulassen, sondern sie sieht sie erst, wenn sie die körperliche Masse abgelegt haben; denn sie vermag nicht zu etwas anderm zu werden, als sie ist. Die Materie dagegen, da sie nichts hat, was Widerstand leisten könnte, denn sie besitzt keine Wirkungskraft, sondern ist bloßer Schatten, wartet einfach ab, zu erleiden, was das Bewirkende will. Einerseits trägt nun das, was aus der jenseitigen Form heraustritt, bereits eine Spur von dem in sich, was in der Entstehung begriffen ist; wie nämlich z. B. an einer bildlichen Vorstellung der Begriff, der sich in Bewegung setzt, oder die Bewegung vom Begriffe her Teilung ist; oder, wenn er identisch und eins bliebe, so könnte er sich auch nicht bewegen, sondern müßte beharren. Anderseits kann die Materie nicht, wie die Seele, allem zusamt Heimat geben, sonst gehörte sie zu den jenseitigen Dingen; sie soll aber doch alle Dinge in sich aufnehmen, darf sie aber nicht ungeteilt aufnehmen. So muß sie also als aller Dinge Platz zu allen hingehen und allen entgegenkommen, und über jeden Abstand hinreichen; sie ist ja selber in keinen Abstand eingeschlossen, sondern steht jedem Abstand, der sich bilden will, zur Verfügung.«

»Die Dinge, die in die Materie als in ihre >Mutter< eintreten, sind ihr also nicht zu Schaden, noch zu Nutzen. Auch die Stöße, die sie aussenden, gehen nicht gegen die Materie, sondern gegeneinander; denn die Kräfte wirken auf ihr Gegenteil, nicht auf das Substrat (wenn man dieses nicht mit den eintretenden Dingen in der Betrachtung zusammenfaßt).[...] Die Materie aber verharrt; sie erleidet keine Affektion, wenn das Kalte entweicht und das Warme herankommt; denn keines von beiden war ihr verwandt und keines fremd. Somit ist die Bezeichnung >Aufnahmeort und Ammei ihrem Wesen gemäßer, und die Bezeichnung >Mutter< gilt wie oben gesagt; denn sie gebiert ja selber gar nichts.[...]
Aus diesem Grunde, glaube ich, stellen auch die alten Weisen, in der Rätselsprache der Mysterien geheimen Sinn bergend, den Hermes der Urzeit mit dem stets zur Betätigung bereiten Organ des Entstehens dar, um damit auszudrücken, daß es die geistige Form ist, welche die Sinnendinge erzeugt; auf die Unfruchtbarkeit der Materie aber, die immer dieselbe bleibt, weisen sie hin und durch die Eunuchen, welche die Mutter umgeben. So beschreiben sie in Versen die Allmutter, mit diesem Namen meinen sie das Prinzip als Substrat und haben dies Wort gewählt, um zu verdeutlichen, was sie wollen; es lag ihnen fern, die Beziehung auf die Mutter nun in jeder Hinsicht auszudrücken und auch für solche, die genauer wissen wollen, in welcher Weise sie nun Mutter ist, und tiefer forschen; so haben sie damit gewiß nur von fern, aber doch so gut sie vermochten, angedeutet, daß sie zeugungsunfähig ist und nicht in jedem Sinne weiblich, sondern soweit weiblich, als weiblich sein empfangen heißt; dies deuteten sie dadurch an, daß, wer sich ihr nahen darf, weder weiblich ist noch zu zeugen vermag, sondern verschnitten an aller Zeugungskraft, welche allein der besitzt, der seine Mannheit behält.«