10.2 Andrew Eliots Tagebuch 30. September 1956

Hatte einen wirklich fantastischen Tag. Das werde ich Ted Lambros nie vergessen.
Und Lorraine werde ich auch nie vergessen

Danny Rossi kam im September nach Cambridge zurück. Er sah die Welt — und sich — ganz neu. Arthur Rubinstein hatte sein
Klavierspiel gelobt. Er hatte ein richtiges Symphonieorchester dirigiert — wenn auch nur eine Minute lang. Auch wenn er nicht gerade ein Casanova geworden war, so hatten ihn seine wenigen kurzen Erlebnisse (zwei, genau gesagt) eine neue erogene Zone entdecken
lassen: die Klaviertasten. Selbst Brigitte Bardot hätte ihn nicht einschüchtern können, solange ein Steinway in der Nähe war. Um in dreifacher Hinsicht eine Bedrohung für die Musikwelt zu werden, brauchte er nur noch mit Komponieren anzufangen. Walter Piston
nahm ihn, wie er es zugesagt hatte, in sein Seminar auf, und Danny begann ernsthaft zu schreiben. Aber er wurde immer ungeduldiger,
sich endlich von dem ganzen lästigen Studentenkram zu befreien. Er hatte genug davon, immer nur als Schüler oder Protegè  berühmter Leute zu gelten. Er fühlte sich inzwischen dadurch nicht mehr ausgezeichnet, sondern beleidigt, denn jetzt wollte er selbst
einer der Großen werden.
Das Seminar enttäuschte ihn. Denn es schien nur aus Übungen im Stil verschiedener alter Meister zu bestehen. Als Dannv über seine Frustrationen mit den gestellten Auigaben klagte, versuchte Professor Piston ihm den Sinn der Methode klarzumachen. »Alle großen Schriftsteller und Komponisten beginnen mit Imitation. Das gibt dem Komponisten ein Gefühl dafür, was Stil ist. Erst dann kann er anfangen, seinen eigenen Stil zu prägen. Haben Sie Geduld. Danny. Sogar der junge Mozart komponierte erst wie ein falscher Haydn, und Beethoven imitierte anfangs Mozart. Seien Sie nicht so ungeduldig, Sie befinden sich in guter Gesellschaft.«
Danny vernahm zwar diese Botschaft, nahm aber die Mahnungen nicht wirklich an. Was da im Sommer in Tanglewood 
passiert war, hatte ihm den Kopf verdreht. Er tat zwar alles was in Pistons Kurs verlangt wurde, suchte aber gleichzeitig
nach Wegen, seine eigene musikalische Persönlichkeit auszudrücken.
Und dann bot sich eine Gelegenheit. Eines Nachmittags, als er am Tisch saß und eine schriftliche Arbeit fertigstellte, läutete das
Telefon.
»Spreche ich mit Danny Rossi?« fragte eine etwas nervöse weibliche Stimme. »Ja.« »Hier spricht Maria Pastore, ich bin Präsidentin des Clubs für klassischen Tanz in Radcliffe. Wir möchten im kommenden Frühjahr mit einem eigenen Ballett herauskommen. Ich hoffe, Sie finden das nicht allzu anmaßend. Natürlich dachten wir alle dabei zuerst an Sie. Ich hoffe, Sie empfinden das nicht als Belästigung. Wenn aber doch, dann spreche ich nicht weiter...« »Aber nein«, ermutigte sie Danny, »das interessiert mich sehr.« »Wirklich?« »Ja, sicher«, antwortete Danny, »und wer macht die Choreographie?« »Na ja, hmm«, erwiderte Maria verlegen, »eigentlich ich.
Ich bin kein Anfänger mehr, ich habe bei Martha Graham...« »Aber bitte«, sagte Danny mit übertriebenem Großmut, »wir sind schließlich alle noch Studenten. Kommen Sie doch am Mittwoch zum Essen, und wir besprechen dann alles.«
»Gerne, das wäre sehr schön. Können wir uns so um halb sechs in der Eingangshalle treffen?«
»Nein«, antwortete Danny, »kommen Sie doch um fünf. Dann gehen wir schon vor dem Essen zu mir und können alles besprechen«, und dachte dabei, wenn es mit dieser Maria zu machen ist, gehen wir gar nicht erst zum Essen. »In Ihr Zimmer?« Wieder klang ihre Stimme leicht nervös. »Ja, warum nicht?« antwortete er lässig, »da ist ein Klavier und alles. Wenn Sie nicht wollen, können wir uns auch in Paine Hall treffen. Jedenfalls sollte ein Klavier in der Nähe sein.«
»Aber nein, schon gut«, antwortete Maria Pastore schnell, wobei der Klang ihrer Stimme dem widersprach, »also dann, Mittwoch um fünf in Ihrem Zimmer. Ich freue mich sehr.
Vielen Dank.«
Sie legte auf. Und Danny dachte, ich bin ja gespannt, wie erfreut ich sein werde.
Am Mittwoch, den 14. November, klopfte es genau um fünf Uhr an Danny Rossis Tür. »Herein«, rief er, brachte seine Krawatte in Ordnung und atmete tief durch. Er hatte etwas zuviel Rasierwasser benutzt. Das Zimmer roch penetrant nach >0ld Spice<. Er
stürzte zum Fenster und schob es etwas hoch. Dann öffnete er die Tür. »Hallo«, sagte Maria Pastore. Sie war so groß, daß Danny
zuerst ihr Gesicht gar nicht sah. Aber was er sah, war schon interessant genug, um da zu verweilen, bevor er den Blick nach oben richtete.
Sie war sehr schön. Langes schwarzes Haar umrahmte ihre großen, gefühlvollen mediterranen Augen. Keine Frage — sie würden an diesem Abend doch zusammen im Eliot-Haus essen. Und da würden viele Mäuler vor Staunen offenstehen.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß ich mit Ihnen sprechen kann«, sagte Maria enthusiastisch.
»Ganz meinerseits«, antwortete Danny Rossi galant, »ich finde Ihren Plan sehr interessant.« »Aber ich habe Ihnen eigentlich noch gar nichts darüber erzählt«, antwortete sie scheu.
»Ich meine, der Gedanke, ein Ballett komponieren zu können, reizt mich sehr. Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?« »Nein, danke«, antwortete Maria schüchtern, »es ist etwas kühl hier.« »Ach ja«, sagte Danny und schloß rasch das Fenster, »ich bin sehr für frische Luft. Auch damit der Kopf klar bleibt, wissen Sie?« Er forderte sie auf, sich zu setzen. Sie tat es und blieb während des ganzen Gesprächs in den Mantel gewickelt, und das offensichtlich nicht nur wegen der winterlichen Temperaturen. Sie ist scheu, dachte er. Aber wenn wir erst zum Essen gehen, werde ich schon sehen, was sie da versteckt. »Etwas zu trinken?« fragte er. »Nein, danke. Das ist nicht gut fürs Tanzen.«
»Auch nicht ein bißchen Sherry?« »Wirklich nicht. Ich mag keinen Alkohol«, sagte Maria in fast entschuldigendem Ton. »Eine Coke?« fragte Danny. »Ja, gerne.«
Während er sich ihre Idee für ein kurzes Ballett anhörte, fragte sich Danny, ob Maria merkte, daß er sie mit seinen Blicken auszog. Aber sie war so nervös, daß sie kaum irgend etwas bemerkte. Sie brauchte eine halbe Stunde dazu, ihre Vorstellungen zu entwickeln.
Sie hatte die Idyllen von Theokrit und die Eklogen von Vergil gelesen und ein paar Anleihen bei Ranke-Graves' >Griechischer Mythologie< gemacht — genügend Material für ein Ballett-Szenario, das sie >Arcadia< nennen wollte (»Apollo und Daphne, das könnte zum Beispiel eine aufregende Szene geben«). Die Haupttänzer sollten Schäfer und Schäferinnen sein, und als komische Einlagen sollten immer wieder groteske kleine Satyre erscheinen und die Nymphen auf der Bühne herumjagen. Danny fand die Idee großartig. Das sei wirklich eine prima Idee.
Am nächsten Tag kamen beim Mittagessen ein paar Studenten, die er gar nicht kannte, an seinem Tisch vorbei und machten ein paar Bemerkungen über die besondere Attraktivität seines Gastes vom Vorabend. Danny lächelte mit maskulinem Stolz.
Ja ja, dachte er, so etwas hat man hier noch nie gesehen. Als ein paar Hausbewohner deutlicher wurden und ihn fragten: »Na, bist du bei ihr gelandet, Rossi?« vermied er es vornehm, darauf einzugehen, zum Schutz von Miss Pastores Ehre. Er hatte sie sogar den ganzen Weg nach Radcliffe zurückgebracht, und er war überzeugt, er würde sie niemals auch nur küssen können. Sie war viel zu groß, und obwohl ihre gemeinsamen Pläne noch viele künftige Nachmittage in seinem Zimmer vorsahen, sah er keinerlei Chancen, je mit ihr
weiterzukommen. Denn sie war ein einsfünfundsiebzig großes Schneewittchen — und bekanntlich war Schneewittchen mit all den
Zwergen sehr platonisch liiert.