10.1 Andrew Eliots Tagebuch 29. September 1956

Sex

Ich habe den ganzen Sommer darüber oft nachgedacht, als ich mir auf dem Bau die Seele aus dem Leib schwitzte. Die Beschäftigung hatte mir mein Vater besorgt, um mich mit körperlicher Arbeit vertraut zu machen. Während meine Mitbewohner Newall und Wig sich an den besseren Küsten von Europa vergnügten, tat ich den ganzen Sommer nichts als Backsteine aufeinanderzulegen.
Ich kam für das dritte Studienjahr wieder nach Harvard und war fest entschlossen, da Erfolg zu haben, wo ich niemals versagt hatte — weil ich nämlich noch nie den Mut gehabt hatte, es auch nur auszuprobieren.
Ich mußte meine Jungfräulichkeit loswerden.
Mike und Dick erzählten die unglaublichsten Geschichten, wie sie Nacht für Nacht mit Nymphen jeder Nationalität und Brustgröße verbracht hatten. Aber es war mir einfach unmöglich, einen der beiden um Rat — oder, um genauer zu sein, um eine Telefonnummer zu bitten. Dann wäre ich ja nicht nur im >Porcellian< zum Gegenstand wüsten Gelächters geworden — sondern auch im Eliot-Haus, bei dessen Bewohnern und wahrscheinlich sogar auch bei den Hilfskellnern, die im Speisesaal servieren.
In meiner Verzweiflung erwog ich, die einschlägigen Bars am Scollay Square auszuprobieren, aber ich brachte einfach nicht den Mut auf, da alleine hinzugehen. Außerdem war allein die Idee schon irgendwie widerlich.
Wer könnte mir nur helfen?
Eine befriedigende Lösung des Problems ergab sich fast wie von selbst schon am ersten Abend, an dem ich meinen Job in der Bibliothek wieder antrat. Denn da saß wie immer Ted Lambros an seinem Tisch und schaffte vor sich hin.

Diesmal war es Andrew, der Ted bat, auf sein Zimmer zu kommen, weil er dringend etwas mit ihm zu besprechen habe. Ted war erstaunt, weil er seinen Freund noch nie so aufgeregt erlebt hatte. »Was ist denn los, Eliot?« »Na, wie waren die Ferien, Ted?« »Nicht schlecht, außer, daß ich Sara nur an ein paar Wochenenden getroffen habe. Sonst war es im >Marathon< wie gehabt. Aber sag, wo brennt's denn?«
Andrew überlegte, wie er es am besten anfangen könnte. »Lambros, du mußt es aber für dich behalten, ja?« sagte er. »Was glaubst du eigentlich, mit wem du redest, Eliot. Wir mit unserem geheiligten Mietverhältnis.«
Andrew machte noch ein Bier auf und nahm einen langen Schluck. »Also, du weißt ja, ich bin seit meinem achten Lebensjahr auf Internaten gewesen. Die einzigen Mädchen, die wir zu Gesicht bekamen, waren die, die für Tanztees und so etwas herbeigekarrt wurden. Du weißt schon, diese tiefgefrorenen, zimperlichen Mädchen ...«
»O ja«, sagte Ted, »den Typ kenn ich.« »Warst du auf einer gemischten High School?« »Klar, einer der Vorzüge, keinen Zaster zu haben.« »Dann mußt du schon ganz schön früh mit Mädchen, äh, ausgegangen sein.« »Na ja, schon«, antwortete er in so beiläufigem Ton, der annehmen ließ, er spüre nichts von Andrews zunehmender Nervosität.
»Wie alt warst du, als du deine erste..., na, du weißt schon ... Erfahrung gemacht hast?«

»Na, so wie üblich«, antwortete Ted. »Eigentlich schon ziemlich alt, fast sechzehn.« »Mit 'ner Professionellen?« »Aber hör mal, dafür bezahlt man doch nicht. Es war ein geiles Mädchen namens Gloria. Und du?« »Was soll sein?« »Wie alt warst du, als du deine Tugend verloren hast?« »Ted«, stotterte Andrew verlegen, »du wirst vielleicht schockiert sein ...« »Jetzt sag nur nicht, du warst elf und hast es mit deinem Kindermädchen getrieben!«
»Ich wollte, es wäre so. Bei Newall war es so ähnlich. Nein, was ich sagen wollte — ach, Scheiße, ist mir das peinlich. Ich hab' noch nie.«
Kaum hatte er es gestanden, fürchtete Andrew, sein Freund würde ihn auslachen. Statt dessen sah ihn Ted nachdenklich und wirklich mitleidig an: »Sag mal, hast du da Probleme,
oder was?« »Nein — es sei denn, du nennst Sterbensangst ein Problem.
Ich meine, ich hab mich in den letzten Jahren mit einer Menge Mädchen getroffen, und ich glaube auch, ein paar von denen hätten, na ja ... mitgemacht. Aber ich hatte einfach zu viel Angst, irgendwas zu machen. Weil ich, offen gesagt, einfach die Technik nicht beherrsche. Ich habe zwar die ganzen Bücher gelesen, >Liebe ohne Furcht<, >Die ideale Ehe<, und so. Aber ich bin jetzt schon so lange darauf fixiert, daß ich einfach Angst davor habe, im entscheidenden Moment die Kupplung kommen zu lassen — wenn du verstehst, was ich meine.«
Ted legte väterlich die Hand auf Andrews Schulter. »Mein Junge, ich glaube, du brauchst das, was man beim Football eine Ubungskeilerei nennt.«
»Genau, aber ich will dir keine Schwierigkeiten machen.« »Wieso denn, Andy. In Cambridge gibt es noch haufenweise Bräute aus meiner Oberschulzeit. Die wären geschmeichelt, wenn sich ein Harvard-Student mit ihnen verabredet — vor allem so ein edler Typ vom Eliot-Haus.«
»Aber Ted«, antwortete er sehr besorgt, »es dürfen aber keine reinen Ferkel sein. Ich muß mich mit ihnen schon sehen lassen können. Du weißt schon, beim Essen oder irgendeiner anderen Gelegenheit.«
»Keine Angst. Du mußt sie überhaupt nicht in schicke Restaurants schleppen. Du lädst sie einfach auf dein Zimmer ein, dann nimmt die Natur schon ihren Lauf. Und die Puppe, an die ich da denke, sieht fabelhaft aus.«
»He, aber auch nicht wieder zu gutaussehend. Ich möchte meine Karriere unten anfangen und mich dann hocharbeiten. Du weißt schon, was ich meine.« Ted Lambros lachte. »Andy, Andy, sei doch nicht so verdammt puritanisch. Man muß ja nicht alles im Leben auf die harte Tour machen. Paß auf, wir treffen uns morgen um Viertel nach zwölf vor >Brigham's<. Die kleine Blonde, die da das Eis ausgibt, ist die reinste Rakete.«
Er stand auf und gähnte. »Hör mal, es ist spät, und ich habe morgen um neun eine Vorlesung. Bis morgen.«
Andrew Eliot saß wie betäubt da. Er hatte nicht damit gerechnet, daß es so schnell passieren würde, denn er hätte noch tausend Fragen gehabt.
Vor >Brigham's< begrüßte er Ted am nächsten Tag ärgerlich. »Wo zum Teufel hast du gesteckt? Ich warte schon stundenlang.« »He, wieso denn? Ich bin ganz pünktlich. Ich hatte bis zwölf eine Vorlesung. Was hast du denn? Also los, die Show ist eröffnet.«
»Halt, warte mal, Lambros. Ich muß noch wissen, was ich zu tun habe.« Ted antwortete leise: »Also hör zu, Eliot. Wir gehen zusammen rein, bestellen ein Eis, und wenn niemand da ist, stelle dich Lorraine vor.«
»Und wer ist Lorraine?« »Sie ist deine Fahrkarte zum Paradies, Baby. Sie ist ein prima Kerl und einfach verrückt nach Harvard-Leuten.«
»Aber Ted, was soll ich denn zu ihr sagen?« »Schenke ihr einfach dein schönstes Lächeln und frage sie, ob sie heute nachmittag mit dir was Trinken kommt. Und wie ich Lorraine kenne, wird sie ja sagen.«
»Warum bist du da so sicher?« »Weil sie noch nie zu irgendwas nein gesagt hat.«
Kaum traten sie an die Theke, da kam sie auch schon. Ted hatte nicht gelogen, das Mädchen war wirklich eine Schau. Während sie freundlich plauderten, lehnte sich das Mädchen so vor, daß Andrew einfach in ihre sorglos geknöpfte Uniform sehen mußte.
Teufel, Teufel, dachte er, wie geschieht mir? Gott, ich wollte, ich hätte mich gestern abend noch etwas länger mit den Gebrauchsanweisungen befaßt.
»Und in welchem Haus bist du?« fragte Lorraine. »Ah ... im Eliot«, erwiderte er einsilbig, spürte Teds Ellbogen in den Rippen und fügte hinzu: »Hättest du Lust, heute nachmittag vorbeizukommen?«
»Klar«, antwortete sie. »Ab vier ist die Bude sturmfrei, oder? Ich treff dich am Eingang. Ihr müßt mich jetzt entschuldigen, aber die Kunden werden sonst ungeduldig.«
»Na?« fragte Ted, als sie wieder draußen waren, »alles in Ordnung?« In Ordnung? Ihm wurde fast schwarz vor Augen. »Lambros«, flehte er, »könntest du mir nicht wenigstens ein paar Tips geben? Ich meine, wie man damit anfängt?«
Ted blieb mitten auf dem Harvard Square stehen, in einem Heer von Studenten, die Mittagspause machten.
»Andy«, sagte er nachsichtig, »sag einfach so was wie: Lorraine, warum gehen wir nicht in mein Schlafzimmer und vertreiben uns ein wenig die Zeit?« »Ist das nicht zu plump?« »Herrgott noch mal, Eliot, sie ist doch nicht Doris Day! Glaub mir, sie macht es wirklich ausnehmend gerne mit Harvard - Kerlen.«
»Ehrlich?« »Ehrlich«, wiederholte er, und als Abschiedsgeschenk holte er etwas aus der Tasche und schob es Andrew in die Hand.
»Was ist das denn?« »Ein Kulturgut«, antwortete er lächelnd. »Du hast gerade von einem Griechen ein Trojanisches Pferd bekommen.«