10.3 Andrew Eliots Tagebuch 12. November 1956

Es gibt eine allgemein verbreitete Vorstellung, daß Preppies immer nur gelassen sind, ruhig, ungerührt, nie Magengeschwüre kriegen, auch nicht schwitzen und nie ungekämmt herumlaufen. Dieser Irrtum muß endlich aufgeklärt werden. Ein Internatszögling hat Augen. Er hat Hände, innere und äußere Organe und Leidenschaften. Sticht man ihn, so blutet er. Und ist er verletzt, weint er auch schon mal. Das geschah denn auch mit meinem langjährigen Freund und Mitbewohner Michael Wigglesworth, Nachkömmling des ersten Professors für Religionswissenschaften von Harvard, groß und gutaussehend, ein guter Ruderer und ganz allgemein ein prima Kerl.
Nichts davon, auch nicht die echte Zuneigung seiner Rudermannschaft und seiner Freunde im >Porc< oder im Eliot-Haus, ließ ihn bei Sinnen bleiben. Als er übers Wochenende nach Hause fuhr, nach Fairfield, unterrichtete ihn seine Verlobte ruhig davon, sie habe nach reiflicher Überlegung beschlossen, einen anderen, fast dreißigjährigen, zu heiraten.
Wig schien das mit stoischem Gleichmut wegzustecken. Zumindest bis er wieder hier war. Aber eines Abends, er stand ums Essen an, sagte er fröhlich zu einer der Damen, die das Essen austeilten: »Ich werde den Weihnachtstruthahn umbringen.«
Da er dabei kicherte, lachten auch die Damen. Dann aber zog Wig aus seiner ausgebeulten abgewetzten Jacke eine Axt heraus. Und damit um sich schlagend, begann er, überall im Eßsaal einen Truthahn zu jagen - den anscheinend nur er sah.
Tische stürzten um, Geschirr flog durch die Luft. Tutoren, Studenten, Radcliffe-Puppen - alle stoben auseinander. Jemand rief die Ordnungshüter der Universität, die aber, schon als sie eintrafen, auch eine Scheißangst hatten. Der einzige, der gelassen blieb und die Lage beherrschte, war der älteste Tutor, Whitney Porter. Er näherte sich Wig langsam und fragte mit unerschütterlicher Ruhe, ob Michael jetzt mit der Axt fertig sei.
Diese harmlose, genial gestellte Frage stoppte Wigs Fuchteln und ließ ihn Inventur machen. Er antwortete nicht gleich. Ich glaube, er begriff allmählich, daß er eine tödliche Waffe in der Hand hielt - aus welchem Grund war ihm wohl selbst nicht ganz klar.
Auf die gleiche unheimliche Art bat Whitney Michael um die Axt. Wigglesworth reagierte mit ausgesuchter Höflichkeit. Er reichte den fraglichen Gegenstand - mit dem Griff nach vorne - dem Tutor und sagte: »Ja, Sir, Dr. Porter.« Inzwischen waren ein paar Ärzte der Bereitschaft eingetroffen. Sie geleiteten Michael hinaus und waren zweifellos ewig dankbar dafür, daß Dr. Porter darauf bestand, mit ihnen ins Krankenhaus zu fahren.
Ich besuchte ihn, sobald es erlaubt wurde. Und es brach mir fast das Herz, sehen zu müssen, wie hilflos unser Harvard-Herkules war. Er schwankte zwischen Lachen und Weinen. Die Ärzte sagten, er brauche viel Ruhe. Mit anderen Worten, sie hatten keine Ahnung, wann es ihm besser gehen würde - wahrscheinlich auch nicht, wie es dazu kommen könnte.
Zehn Tage nach Michael Wigglesworths überstürzter Abreise wurde Andrew von Master Finley in sein Büro gerufen. Es begann wie so viele frühere Gespräche mit zahlreichen Wiederholungen seines Nachnamens in verschiedenen Tonlagen. Eliot: feststellend. Eliot: nachdenklich. Eliot: verhörartig. Nach dieser einleitenden Beschwörung sagte er: »Eliot, Sie sind für mich nicht nur ein Nachname, sondern auch ein wahrer Epigone.« Direkt nach dem Gespräch konsultierte Andrew ein Wörterbuch und fand heraus, daß er mit diesem Begriff einmal als Mitglied der Familie, deren Namen das Eliot-Haus trug, hervorgehoben wurde und zum zweiten als würdiger Träger dieses Namens.
»Eliot. Eliot«, wiederholte Finley, »ich bin schmerzlich betroffen von dem Schicksal Ihres Freundes Wigglesworth. Ich bin in mich gegangen und habe mich gefragt, ob es irgendwelche Anzeichen gegeben hat, die ich hätte bemerken müssen. Ich habe ihn immer für einen wahren Ajax gehalten.«
Andrew konnte nicht so recht folgen. Das einzige Ajax, das er kannte, war ein Putzmittel. »Sie wissen doch, Eliot«, fuhr der Gelehrle fort, »Ajax, das Bollwerk der Achäer, der Zweite nach Achilles selbst.« »Ja«, stimmte Andrew zu, »Wig war wirklich ein Bollwerk .«
»Jeden Morgen habe ich ihn hinausziehen sehen«, fuhr der Rektor fort, »wenn die Rudermannschaft an meinem Fenster vorbeikam. Ein frischer und gesunder Anblick.« »Er wird der Mannschaft fehlen.«

»Uns allen«, sagte Finley und schüttelte traurig das Silber- haar, »uns allen.«
Die folgenden Worte des großen Mannes kamen nicht ganz unerwartet. »Eliot, Eliot«, sagte er. »Ja, bitte?« »Eliot, Michaels vorzeitiges Ausscheiden hat hier im Haus und auch in unseren Herzen eine Lücke gerissen. Auch wenn wir einen zweiten Wigglesworth nicht mehr finden werden, vielleicht hat doch das Schicksal mitgespielt.« Er erhob sich, als ob er seine rhetorischen Flügel ausbreiten wollte.
»Eliot«, fuhr er fort, »niemandem können die tragischen Ereignisse der letzten Tage entgangen sein. Als Troja fiel, wurden zahlreiche unschuldige Bürger iactati aequore toto... reliquiae Darmum atque immitis Achilli...«
Trotz seiner spärlichen Lateinkenntnisse begriff Andrew, daß der Master aus der >Äneis< zitierte. Würde er jetzt gleich
sagen, Wigs Platz würde mit einem trojanischen Studenten besetzt werden.-*
Finley marschierte energisch im Zimmer auf und ab und sah dabei auf den Fluß hinaus, wo man den frischen und gesunden Wigglesworth niemals wieder erblicken würde. Dann drehte er sich plötzlich um und fixierte Andrew mit funkelndem Blick. »Eliot«, sagte er, »morgen abend trifft George Keller hier ein.«