Den ganzen Sommer über habe ich mit einem Fuß in der Zukunft und mit dem anderen in der Vergangenheit gestanden — und man frage mich nicht, was mir lieber war.
Da ich, falls ich Glück habe, nächstes Jahr mit der Universität fertig bin, hielt es mein Vater für besser, daß ich dieses Jahr auf die körperliche Arbeit verzichte und mich statt dessen mit dem Bankgeschäft der Familie vertraut mache.
Natürlich war er in Maine und erledigte alles per Telefon. So gab er mich in die Obhut des »guten alten Winthrop«, eines Bankangestellten, der recht genau mit diesen beiden Eigenschaftswörtern beschrieben ist. »Halten Sie nur Augen und Ohren offen«, erklärte er mir zu Beginn des ersten Tages. »Passen Sie nur auf, wann ich kaufe, wann ich verkaufe und wann ich zurückhalte. Dann kommen Sie schon schnell auf den Trichter. Und jetzt holen Sie uns beiden erst einmal eine Tasse Tee.«
Unsere Bank liegt in Boston, nur ein kurzes Stück entfernt von der Historischen Gesellschaft. Dort habe ich tatsächlich etwas gelernt, als ich mich in die Tadagebücher des ehrwürdigen Andrew Eliot, Harvard-Jahrgang 1737, und seines Sohnes John, Jahrgang 1772, vertiefte. Durch sie bekam ich wirklich ein Gefühl Für die Geschichte unseres Landes (und unserer Familie), und ich erfuhr, daß sich, abgesehen von einigen Verbesserungen der sanitären Anlagen, das Leben in Harvard nicht verändert hat.
Ich habe ein paar saftige Kleinigkeiten aus John Eliots Tagebuch seines ersten Studienjahres fotokopiert.
Punkt 1: 2 September 1868 John geht aufs College. Packt das wichtigste Zeug. Vorgeschrieben: Blaue Jacke, Dreispitz und Umhang. Weiter: Gabel, Löffel und Nachttopf (Erstsemester mußten ihren eigenen mitbringen).
Punkt 2: Sein Vater besteht darauf, daß er die Charlestown-Fähre nimmt. Billigste Beförderungsart. Und sehr wichtig- der Gewinn geht an Harvard.
Punkt 3: Studiengelder können in Ware entrichtet werden, zum Beispiel Kartoffeln oder Brennholz. Einer brachte ein Schaf mit.
Punkt 4: Universitätstrunk, ein Punch, Flip genannt. Zwei-Drittel Bier, Sirup, gewürzt mit Rum. Aus riesigen Krügen, bumpers genannt.
Punkt 5: 6. September 1768. Beschreibt grauenhaftes Essen im Speisesaal. John schreibt: »Jeder Student bekommt ein Pfund Fleisch täglich. Aber da es nach nichts schmeckt, kann man nicht feststellen, von welchem Tier es stammt. Gelegentlich gibt es etwas Grünzeug. Bei besonderen Anlässen Löwenzahn. Die Butter ist unaussprechlich und war einige Male die Ursache gewalttätiger Studentendemonstrationen. Wenigstens werden wir nicht verdursten. Denn es gibt unbegrenzte Mengen Apfelsaft. Auf jedem Tisch steht eine Riesenkanne aus Zinn, die, wie die englischen Humpen, von Mund zu Mund geht.« Sieht man vom Apfelsaft ab, hätte das auch die Beschreibung eines Abendessens im Eliot-Haus sein können. Besonders, was die Tischgespräche angeht. Dieser Studentenscheiß hat anscheinend zeitlose Qualität.
Aber es gab nicht nur Vergnügen und Spiele. Als sich das Verhältnis zu England verschlechterte, wurde die Atmosphäre auf dem Universitätsgelände kritisch. Es gab blutige Auseinandersetzungen zwischen aufständischen und königstreuen Studenten. Und dann kam der Krieg. Nach der Boston Tea Party Ende 1773 gab es einen Tumult im Speisesaal zwischen Patrioten und Konservativen. Kein schlichter Kampf ums Essen, sondern eine tödliche Auseinandersetzung. Tutoren versuchten, das Blutvergießen zu beenden.
Eines Nachmittags machte ich in der Historischen Gesellschaft eine faszinierende Entdeckung. Ich entdeckte, daß die englische Armee einmal vorgehabt hatte, Harvard dem Erdboden gleichzumachen. Am 18. April 1775 galoppierte Paul Revere durch die Nacht, um die Bürger von Lexington und Concord zu warnen, daß die Engländer im Anmarsch seien. Aber noch ein weiterer Teil ihrer Truppen marschierte auf Cambridge zu. John Eliots Tagebuch berichtet unter dem 19. April von der Panik in Harvard. Denn man wußte, daß die Engländer das College für »eine Brutstätte des Aufruhrs« hielten. Da man fürchtete, der Gegner könnte über die große Brücke über den Charles Biver kommen, wurde sie von einigen Studenten demontiert, um den Engländern diesen Weg zu versperren. Dann versteckten sie sich in den Büschen, um zu sehen, was geschehen würde. Kurz nach Mittag tauchten Truppen am Westufer auf, angeführt von Lord Percy selbst, der in prächtiger Uniform auf einem schönen Schimmel saß. Als er sah, was wir —ich meine die Kerle von Harvard — getan hatten, um seine Pläne zu durchkreuzen, war er ganz schön sauer. Dieser schlaue britische Hund hatte aber ein paar Zimmerleute mitgebracht, die die Brücke in weniger als einer Stunde wieder herstellten. Dann marschierten sie mitten durch die Stadt, in der sämtliche Fensterläden geschlossen waren. Percy wollte den Truppen, die schon in Lexington waren, zu Hilfe kommen. Aber er wußte den Weg nicht. Also drang er dorthin vor, wo er am wahrscheinlichsten Auskunft erhalten würde - zum Harvard College. Er ritt an der Spitze seiner Männer mitten auf den Yard mit den scheinbar verlassenen Gebäuden und rief nach jemandem, der ihm sofort den Weg beschreiben sollte. Nichts rührte sich. Die Studenten hatten Mut. John Eliot und seine Mitbewohner spähten aufgeregt durch die Ritzen der Fensterläden und fürchteten, Percy würde seinen Truppen befehlen zu feuern. Und das hätte er wohl auch getan, aber er probierte es erst einmal mit einem anderen Trick. Er fragte noch einmal — aber auf lateinisch. Da tauchte plötzlich der Tutor Isaac Smith aus der Hollis Hall auf und näherte sich dem Engländer. Die Studenten hörten nicht, was sie sprachen, aber sahen Smith in Richtung Lexington deuten. Percy machte eine Armbewegung, und alle galoppierten davon. Gleich darauf wurde der Tutor mit Schreien überhäuft: »Prolet, krebsfressender Vollidiot«. Der Mann war völlig verwirrt. Er gehörte zu der Sorte von Akademikern, die den ganzen Cicero und Platon auswendig kennen, aber sich keinen einzigen Namen der Studenten merken können. Er stotterte, man habe die Auskunft im Namen des Königs verlangt, wie hätte er sich da als loyaler Bürger verweigern können, und fügte hinzu, Lord Percy habe vor, Harvard noch einmal mit einem Besuch zu beehren.
Die Studenten waren außer sich. Anscheinend hatte der General gesagt, sie würden am Abend »ein gutes Glas Madeira am Feuer« zu sich nehmen. Der Idiot hatte nicht begriffen, daß der Rotrock mit »Feuer« eine Feuersbrunst meinte. Einige wollten diesen übergescheiten Vollidioten teeren und federn, aber typisch für Harvard: Jeder schlug etwas anderes vor. Und während sie pompös argumentierten, machte sich Smith heimlich davon. Er wurde nie wieder gesehen.
Am gleichen Abend ritt Paul Revere in Cambridge ein und brachte schlimme Nachrichten von Lexington und Concord. Einige Studenten schlossen sich freiwillig an und errichteten auf dem Hauptplatz von Cambridge hastig Barrikaden, um auf den Angriff der Engländer vorbereitet zu sein. Die kamen aber nicht. Die Brookline Miliz, angeführt von Isaac Gardner, Jahrgang 1747, überfiel die anrückenden Rotröcke bei Watson's Corner. Obwohl Isaac fiel, zerstreute der tapfere Angriff die Engländer, die glaubten, daß der Weg nach Cambridge von solchen wilden Patrioten nur so wimmelte. Leuten wie ihm ist es zu verdanken, daß im Yard von Harvard keine Schlacht stattfand.
Als ich an diesem feuchtheißen Nachmittag das erste Mal die Aufzeichnungen John Eliots las, versuchte ich mir vorzustellen, wie wir Studenten wohl reagieren würden, wenn unsere Universität mit Waffengewalt bedroht würde. Was würden wir tun - vielleicht mit Frisbees auf den Feind werfen?
Es war schon fast fünf Uhr, als ich vom Mittagessen zurückkam. Ich ging geradewegs zu Mr. Winthrop und entschuldigte mich. Er sah vom Tisch auf und sagte, er habe gar nicht bemerkt, daß ich fortgewesen sei.
Das ist das Los meines Lebens.
Als der Jahrgang 1958 nach Cambridge zurückkam, waren sich alle schmerzhaft bewußt, daß die Sanduhr ihres Universitätslebens fast abgelaufen war. Denn in genau neun Monaten würde der bequeme Mutterschoß Harvard sie in die kalte rauhe Welt entlassen. Es schien alles immer schneller und schneller zu gehen. Die Studenten des letzten Studienjahres sind wie Abfahrtsläufer, und einigen von ihnen macht die zunehmende Geschwindigkeit Angst, und sie können sich nicht auf den Füßen halten, obwohl sie das Ziel schon vor Augen haben. Der Jahrgang hatte bis zu diesem Zeitpunkt schon drei Selbstmorde zu beklagen, alle drei verursacht von dem krampfhaften Versuch, in Harvard Erfolg zu haben. Im letzten Jahr sollten sich noch zwei umbringen, jetzt aber aus Furcht davor, Harvard verlassen zu müssen. Der letzte Akt der vierjährigen Studienzeit ist auch noch in anderer Hinsicht traurig. Der in den ersten drei Jahren so verbreitete Zynismus verwandelt sich langsam und überraschend in Nostalgie.
Diese wiederum entsteht in den letzten Monaten des Studiums durch ein embryonales Gefühl der Reue. In bezug auf vergeudete Zeit, verpaßte Gelegenheiten und das Gefühl, eine Sorglosigkeit zu verlieren, wie man sie nie wieder erfahren wird.
Es gibt auch Ausnahmen. Wer diese Feuerprobe des letzten Studienjahres besteht, gehört meistens zu denen, die dem Jahrgang Ruhm und Ehre einbringen. Und keineswegs der geringste unter ihnen gab am 12. Oktober 1957 mit den Bostoner Symphonikern sein Debüt als Konzertpianist.
Jedoch sah der Danny Rossi, der da in dem menschengefüllten, ehrwürdigen Konzertsaal nervös zum Flügel ging, anders aus, als der eine Brille tragende junge Mann, der er noch im Frühling gewesen war. Dieser hier hatte nämlich keine Brille mehr. Nicht, daß seine Augen besser geworden wären, sein Anblick war es. Er verdankte diese Verwandlung einer amourösen Bewunderin aus dem Personal der Tanglewood-Festspiele dieses Sommers.
Als sie sein Gesicht in einer Situation sah, in der er keine Brille brauchte, um zu funktionieren, machte sie eine Bemerkung über die starke Wirkung seiner durchdringenden grüngrauen Augen und sagte, es sei doch sehr schade, daß das Publikum seine Augen durch die Brillengläser davor nicht sehen könne. Am nächsten Tag ließ er sich Kontaktlinsen anpassen.
Als er die Bühne der Symphony Hall betrat, erkannte Danny schon, wie recht seine Geliebte gehabt hatte, denn außer dem freundlichen Applaus hörte er Ausrufe wie: »Ah, er sieht gut aus.« Seine Darbietung war fast makellos. Er spielte das Konzert mit großer Leidenschaft, und im letzten Satz fielen ihm sogar die Haare in die Stirn. Das Publikum gab ihm stehend Ovationen.
Er hatte keine Ahnung, wie lange der Beifall dauerte. Danny wurde von der Welle mitgerissen und hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er wäre weiter auf der Bühne geblieben, hätte Munch ihm nicht freundschaftlich den Arm um die Schulter gelegt und ihn von der Bühne geleitet. Kurz nachdem er in seine Gaderobe gelangt war, erschienen seine Eltern. Und ihnen auf den Fersen folgten die Journalisten — Planeten, die von jetzt an die Sonne Danny Bossi umkreisen würden.
Zuerst Blitzlichter, als er Munchs Hand schüttelte. Dann mehr mit seiner Mutter und seinem Vater. Und dann weiter Danny mit einer ganzen Beihe von Würdenträgern der Musikwelt, von denen viele aus New York gekommen waren.
Schließlich hatte sogar Danny genug.
»Genug jetzt«, bat er, »ich bin sehr müde. Sie können sich denken, ich hatte wenig Schlaf letzte Nacht. Würden Sie jetzt bitte gehen? Natürlich nur, wenn Sie die Bilder haben, die Sie brauchen.«
Die meisten Presseleute zogen sich zurück. Aber einer der Fotografen bemerkte, daß noch ein einziges Bild fehlte. »Danny«, rief er, »geben Sie doch noch Ihrer Freundin einen Kuß.«
Danny sah zu der Ecke, wo sich Maria, unauffällig gekleidet, fast versteckt hatte. Er hatte sie wochenlang dazu überreden müssen, »nur als Freund« zum Konzert zu kommen. Er winkte ihr, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, Danny, bitte nicht. Ich möchte nicht fotografiert werden. Außerdem ist das dein Abend. Ich bin nur einer deiner Zuhörer.« Doppelt enttäuscht, denn wie gerne hätte er sich der Welt mit einem aufregenden Mädchen gezeigt, erwiderte er nichts mehr und erklärte dem Journalisten: »Sie ist es nicht gewohnt. Ein andermal, ja?«
Dann fuhren die Rossis und Maria zum Ritz, wo die Orchesterintendanz für sie ein Appartment gemietet hatte. Danny fühlte sich wie im Traum, von den üppigen Lederpolstern der Limousine, die von einem Chauffeur gelenkt wurde, umfangen, sagte er sich immer wieder: »Ich kann es nicht glauben, ich bin ein Star. Ein verdammter Star.«
Nie hätte er sich die Hochstimmung vorstellen können, in der er sich befand. Deshalb hatte er auch seine Eltern gebeten, die Gesellschaft klein zu halten. Denn er hatte gedacht, nach der Aufführung würde ihn der Schmerz überwältigen, daß der Mann nicht mehr dabei sein konnte, der ihn so weit gebracht hatte. Aber die überwältigenden Ovationen des Abends hatten ihn so sehr berauscht, daß er nur an sich selber denken konnte. Munch und der Konzertmeister kamen nur schnell auf ein Glas (Champagner und gingen dann wieder. Sie hatten am »Genug jetzt«, bat er, »ich bin sehr müde. Sie können sich denken, ich hatte wenig Schlaf letzte Nacht. Würden Sie jetzt bitte gehen? Natürlich nur, wenn Sie die Bilder haben, die Sie brauchen.«
Die meisten Presseleute zogen sich zurück. Aber einer der Fotografen bemerkte, daß noch ein einziges Bild fehlte. »Danny«, rief er, »geben Sie doch noch Ihrer Freundin einen Kuß.« Danny sah zu der Ecke, wo sich Maria, unauffällig gekleidet, fast versteckt hatte. Er hatte sie wochenlang dazu überreden müssen, »nur als Freund« zum Konzert zu kommen. Er winkte ihr, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, Danny, bitte nicht. Ich möchte nicht fotografiert werden. Außerdem ist das dein Abend. Ich bin nur einer deiner Zuhörer.«
Doppelt enttäuscht, denn wie gerne hätte er sich der Welt mit einem aufregenden Mädchen gezeigt, erwiderte er nichts mehr und erklärte dem Journalisten: »Sie ist es nicht gewohnt. Ein andermal, ja?«
Dann fuhren die Bossis und Maria zum Ritz, wo die Orchesterintendanz für sie ein Appartment gemietet hatte. Danny fühlte sich wie im Traum, von den üppigen Lederpolstern der Limousine, die von einem Chauffeur gelenkt wurde, umfangen, sagte er sich immer wieder: »Ich kann es nicht glauben, ich bin ein Star. Ein verdammter Star.«
Nie hätte er sich die Hochstimmung vorstellen können, in der er sich befand. Deshalb hatte er auch seine Eltern gebeten, die Gesellschaft klein zu halten. Denn er hatte gedacht, nach der Aufführung würde ihn der Schmerz überwältigen, daß der Mann nicht mehr dabei sein konnte, der ihn so weit gebracht hatte. Aber die überwältigenden Ovationen des Abends hatten ihn so sehr berauscht, daß er nur an sich selber denken konnte.
Munch und der Konzertmeister kamen nur schnell auf ein Glas Champagner und gingen dann wieder. Sie hatten am nächsten Tag ein Nachmittagskonzert und wollten nach Hause, um sich auszuruhen. Der Intendant der Bostoner Symphoniker hatte einen äußerst bedeutsamen Herren mitgebracht, der keinesfalls auch nur einen Tag länger auf ein Gespräch mit Danny warten wollte. Der unerwartete Gast war niemand anderes als S. Hurok, der weltberühmte Konzertagent. Er sagte dem jungen Pianisten, wie sehr er seine Darbietung bewundert habe, und er hoffe, Danny würde in Erwägung ziehen, von ihm vertreten zu werden. Er versprach Danny sogar, er könne schon im folgenden Jahr mit bedeutenden Orchestern auftreten.
»Aber, Mr. Hurok, ich bin doch völlig unbekannt.«
»Vielleicht«, lächelte der alte Herr, »aber ich bin es nicht.
Und die meisten Chefdirigenten, mit denen ich Verbindung aufnehmen werde, verlassen sich vor allem auf ihre Ohren.« »Wollen Sie damit sagen, im Publikum waren heute welche?« »Nein«, lächelte Hurok, »aber Maitre Munch fand, es sei vielleicht ganz nützlich, wenn er das heutige Konzert mitschneiden ließe. Und mit Ihrer Genehmigung — ich könnte die Tonbänder recht gut einsetzen.«
»Wirklich?« »Guten Abend, Mr. Hurok«, mischte sich Arthur Rossi ein. »Ich bin Dannys Vater. Wenn Sie wollen, können wir morgen
zusammen frühstücken.« Danny warf seinem Vater einen sengenden Blick zu und sagte dann zu dem Impresario: »Es ist für mich wirklich sehr schmeichelhaft, Mr. Hurok. Vielleicht können wir darüber ein andermal sprechen.«
»Aber natürlich, gern«, sagte Hurok freudig und verständnisvoll, »wir reden darüber, wenn es für Sie etwas ruhigergeworden ist.« Darauf wünschte er höflich eine gute Nacht und ging zusammen mit dem Intendanten. Jetzt waren sie nur noch zu viert, Danny, seine Eltern und Maria. »Hier sind wir also, wir Italiener«, scherzte Arthur Rossi.
und lächelte Maria zu. Er vermied Dannys Blick, denn er wußte, er hatte nur wenige Augenblicke zuvor die gerade neudefinierten Grenzen ihrer Vater-Sohn-Beziehung übertreten. Und er fürchtete sich vor Dannys Zorn.
»Wenn niemand etwas dagegen hat«, sagte Gisela Rossi, »möchte ich sehr gerne auf jemanden anstoßen, der heute
abend nur im Geiste anwesend ist.« Danny nickte, sie hoben die Gläser. »Auf Frank Rossi«, setzte sein Vater an und hielt plötzlich inne, als er seinen Sohn mit äußerster Selbstbeherrschung flüstern hörte: »Nein, Vater, das nun nicht heute abend.«
Es war still, dann murmelte Mrs. Rossi: »Im Gedanken an Gustav Landau. Hoffentlich hat Dannys Musik ihn heute mit Gottes Hilfe erreicht, damit er stolz auf ihn sein konnte.« Sie tranken ernst.
»Das war Dannys Lehrer«, erklärte sie. »Ja, ich weiß«, antwortete Maria leise. »Danny hat mir viel von ihm erzählt, und wie sehr er ihn geliebt hat.« Es entstand eine Pause, da niemand etwas zu sagen wußte.
Schließlich sagte Maria: »Ich will die Feier nicht stören, aber es ist spät geworden. Ich nehme ein Taxi heim nach Radcliffe.« »Wenn du noch einen Augenblick bleibst«, bot Danny an, »dann bringe ich dich gern nach Hause. Der Fahrer kann mich danach am Eliot absetzen.« »Nicht doch«, protestierte sie. »wo doch das Orchester diese phantastische Suite für dich gemietet hat. Das hier macht bestimmt mehr Spaß als ein Metallbett in Harvard.« Maria war plötzlich wegen ihrer letzten Bemerkung etwas verlegen. Hatten Dannys Eltern wohl den Eindruck bekommen, sie sei in seinem Schlafzimmer gewesen? Bevor sie das erfahren konnte, hatten Gisela und Arthur Rossi eine gute Nacht gewünscht und waren zu ihren Zimmern gegangen.
Danny und Maria standen nebeneinander im Lift und sahen vor sich hin. Auf dem Weg zum Ausgang hielt Danny sie zurück. »Maria«, flüsterte er, »geh nicht fort. Ich möchte mit dir zusammen sein. Ich meine, ich möchte diese Nacht mit jemandem verbringen, den ich wirklich liebe.« »Ich bin müde, Danny, wirklich«, antwortete sie leise. »Maria, bitte«, bat Danny, »komm mit mir hinauf, bleibe bei mir.«
»Danny«, antwortete sie zärtlich, »ich weiß, wie wichtig das alles heute abend für dich ist. Aber wir gehören wirklich nicht zusammen, gerade wegen heute abend.« »Was meinst du damit?« »Ich habe gesehen, wie sehr du dich auf dem Podium verändert hast. Ich freue mich für dich über deinen großen Erfolg, aber du bist heute in eine völlig neue Welt eingetreten, in der ich mich gar nicht wohl fühle.«
Er versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken, es gelang ihm aber nicht. »Also schon wieder eine Ausrede, nur um nicht sagen zu müssen, daß du nicht mit mir schlafen willst.«
»Nein«, flüsterte Maria mit erregter Stimme. »Ich habe heute abend begriffen, daß es in deinem Leben keinen Platz für einen anderen Menschen gibt. Der Scheinwerfer ist nicht groß genug für zwei.« Sie wandte sich um und ging durch die dunkle Lobby zum Ausgang.
»Maria, warte«, rief er, und seine Stimme hallte in der Marmorhalle wider. Sie blieb stehen und sagte: »Bitte, Danny, sage nichts mehr. Ich werde immer mit Liebe an dich denken.« Und dann sagte sie kaum hörbar: »Auf Wiedersehen.« Und verschwand in der Drehtür.
Danny Rossi stand in der leeren Lobby in dieser Nacht seines größten Triumphes, hin- und hergerissen von dem Gefühl des Stolzes und dem des Verlustes. Schließlich aber begriff er da in der dunklen Halle, daß er diesen Preis zu zahlen hatte — dem Ruhm zuliebe.
Ted und Sara waren jetzt völlig unzertrennlich. Sie saßen in denselben Vorlesungen und Seminaren, und ihre Unterhaltungen drehten sich — außer wenn sie miteinander schliefen — vorwiegend um die klassische Literatur. Sie wählten sogar verwandte Themen für ihre Abschlußarbeiten. Sara arbeitete über griechische Darstellungen des Eros — unter besonderer Berücksichtigung des Apollonius von Rhodos bei Professor Whitman. Und Ted beschäftigte sich bei Professor Finley mit den zwei bedeutenden antithetischen Frauengestalten bei Homer, Helena und Penelope. Jeden Nachmittag saßen sie sich in der Widener-Bibliothek gegenüber und unterbrachen ihre fleißige Arbeit nur durch Zettel, auf denen sie auf lateinisch oder griechisch Nichtigkeiten austauschten. Etwa um
vier Uhr nachmittags verließen sie zusammen mit den Sportlern, die zum Training mußten, die Bibliothek, nur daß Ted und Saras Spielwiese Andrews neues Zimmer war.
Und doch, seit sie zu ihrem letzten Studienjahr nach Harvard zurückgekehrt waren, war ihnen mehr und mehr bewußt geworden, daß ihre Idylle — zusammen mit den friedlichen Tagen der Collegezeit — sich schließlich einem Ende näherte, oder vielleicht einer Art Erfüllung. Ted hatte sich an der Harvard Graduate School weiter für Klassische Literatur eingeschrieben, und Sara spielte mit dem Gedanken, dasselbe zu tun, wenn auch ihre Eltern angedeutet hatten, sie würden ihr vielleicht ein Studienjahr in Europa finanzieren.
Das bedeutete keineswegs, daß sie ihre Beziehung zu Ted mißbilligten, denn sie hatten ihn noch nicht kennengelernt und wußten so gut wie nichts von ihm. Hingegen war Sara regelmäßig Gast beim wöchentlichen Sonntagsessen der Familie Lambros und fühlte sich schon fast als Familienmitglied — und Mama Lambros betete einmal in der Woche, daß sie das auch würde.
Die beiden leidenschaftlichen Liebhaber, der Klassik und der Liebe, hatten keine unterschiedlichen Vorstellungen über die Zukunft. Sie hatten nie über Heirat gesprochen, nicht etwa, weil es Zweifel über die Pläne des anderen gegeben hätte, sondern einfach deshalb, weil es für beide eine Selbstverständlichkeit war, lebenslang zusammenzubleiben. Die Hochzeit selbst war nur eine Formalität. Die griechischen Worte für Mann und Frau waren dieselben wie für Ehemann und Ehefrau. Somit waren sie dem Wortsinn und ihrer Vorstellung nach schon längst verheiratet.
Greorge kam zu seinem letzten Schuljahr wieder ins Eliot-Haus zurück, und er fühlte sich mindestens so sehr als Amerikaner und als Harvard-Student wie alle anderen. Da sein Bedürfnis zu studieren so groß war, hatte er sich freundschaftlich von den mit ihm zusammenwohnenden Preppies getrennt und war in ein Einzelzimmer gezogen. »Jetzt kannst du dich selbst die ganze Nacht über wachhalten«, spaßte Newall.
George kam sich wie ein Artillerieoffizier vor. Während seines ersten Studienjahres in Harvard hatte er versucht, sich zu orientieren. Den Sommer über hatte er sein Ziel angepeilt: ein ideales Thema für seine Abschlußarbeit zu finden. Wer war denn auch besser qualifiziert als er, über die ungarische Revolution im Spiegel der sowjetischen Presse< zu schreiben? Und die Arbeit würde sehr wahrscheinlich gedruckt werden, wie Dr. K. deutlich machte.
Jetzt war er bereit, mit der neu erworbenen Munition alle Barrieren zu überwinden, die den Weg zum politischen Triumph versperrten. Aber was wollte er eigentlich wirklich? Diese Frage stellte ihm Kissinger nach der letzten Sitzung des Seminars, als sie nachmittags in dessen klimatisiertem Büro saßen und mit Eistee den Abschluß feierten. »Sie könnten Professor in Harvard werden«, versicherte
ihm Henry. »Ich weiß«, lächelte George, »aber würde das Ihrem eigenen Ehrgeiz genügen, Henry?« Der Spieß war umgedreht, sein Mentor lachte verlegen und versuchte mit einer spaßhaften Antwort abzulenken.
»Na ja«, lachte er, »ich hätte natürlich nichts dagegen, Kaiser zu werden. Und Sie?« »Ich hätte nicht einmal etwas dagegen, Präsident zu werden«, lächelte George, »aber selbst Sie können nicht zum Präsidenten gewählt werden. In dieser Beziehung müssen wir also beide zurückstecken, Henry. Es ist unser beider Schicksal, nie den höchsten Gipfel erklimmen zu können.« »Ich muß schon sehr bitten, Mr. Keller«, sagte Kissinger mit erhobenem Zeigefinger. »Sie scheinen die fälschliche Vorstellung zu haben, daß die Leute im Weißen Haus tatsächlich die USA regieren. Darf ich Sie gleich von diesem Irrtum befreien. Es sind meistens schwache Feldspieler, deren Leistungen stark von den Weisungen ihres Coach abhängen. Sie und ich, George, sind beide dazu in der Lage, uns als Berater unentbehrlich zu machen. Das wäre doch ganz schön, meinen Sie nicht?«
George nickte grinsend. Er hob sein Glas und sagte: »Auf die Vermehrung Ihrer Macht, Henry.«
Jason Gilbert kehrte nach einem Sommer beim Marine Corps braungebrannt und in Hochform nach Cambridge zurück. Gleich nach seiner Ankunft besuchte er Eliot und Newall, befreit von dem wahnsinnigen Ungarn, in ihrer neuen Zweierwohnung. Es gab eiskaltes Bier und Geschichten von Liebe und Krieg. Newall war im Sommer auf einem Flugzeugträger im Pazifik ausgebildet worden. Bevor er wieder nach Hause kam, hatte er eine Woche lang auf Hawai »ein Faß aufgemacht«, wie er es nannte, worüber er fröhlich und detailliert berichtete.
Für Jason war der Sommer unter der sengenden Sonne in den Südstaaten ein wenig anders gewesen. Da hatte es erst einmal den Sergeant gegeben, der es besonders auf die feinen Studenten abgesehen hatte. Einmal hatte der Kerl ihn wegen eines geringfügigen Anlasses in Stiefeln und Feldausrüstung in der Knallhitze eine ganze Stunde lang um das Militärgelände herumlaufen lassen. »Das muß mörderisch gewesen sein«, bemerkte Eliot und machte eine zweite Büchse Bier auf. »So schlimm war das gar nicht«, sagte Jason lässig. »Ich war gut in Form. Aber natürlich habe ich so getan, als stünde ich kurz vor einem Herzanfall.« »Ganz schön raffiniert«, sagte Newall. »Diese Marines sollen ja häufig Sadisten sein.« »Eigentlich tat mir der Kerl leid«, sagte Jason unerwartet.
»Wieso das denn?« fragte Newall. »Ich verstehe schon, warum er uns im Lager so geschliffen hat«, erklärte er etwas nachdenklich, »denn außerhalb des Militärgeländes ist das Leben in Virginia ganz schön beschissen, wenn man Schwarzer ist. Eines Samstags nach Dienstschluß sind wir alle in die Stadt gefahren, um uns mit Eis abzufüllen. Wir saßen da im >Howard Johnson's<, als der Sergeant vorbeikam. Und ich Arschloch winkte ihm, er solle sich zu uns setzen.« »Was war denn daran um Gottes willen falsch?« fragte
Andrew.
»Ihr werdet es nicht glauben, aber er stand da draußen und zeigte uns einen Vogel. Und am folgenden Montag mußten wir so viele Liegestütze machen, daß wir den ganzen Tag lang nicht mehr vom Boden wegkamen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Andrew, »schließlich habt ihr doch nur versucht, freundlich zu sein, oder?« »Schon richtig, aber euer naiver Jason Gilbert hatte nicht mitbekommen, daß außerhalb des Militärgeländes in der Stadt, in diesem Quantico, Rassentrennung herrscht wie zur Sklavenzeit. Dieser amerikanische Soldat durfte nicht mit uns im selben Laden Eis essen, das ist das Unglaubliche. Deshalb war er so beleidigt — er dachte, wir hätten uns über ihn lustig gemacht.«
»So 'ne Scheiße«, sagte Newall. »Und das hier und heute. Na, da wirst du ja ganz froh gewesen sein, daß du nur Jude bist.«
Jason fixierte seinen Teamkameraden und angeblichen Freund und wehrte die gar nicht witzige Beleidigung wie ein erfahrener Boxer ab. »Newall, ich verzeihe dir das, weil ich weiß, daß du schon dumm geboren wurdest.«
Andrew Eliot, der ewige Vermittler, wechselte entschlossen das Thema. »Hört mal her, Jungs, ich habe hier das neueste Verzeichnis der Erstsemester. Warum prüfen wir nicht die neue Ernte und reservieren uns schon mal ein paar Häschen?«
»Einverstanden«, sagte Newall und war froh, wieder auf neutralen Boden zu kommen. »Was meinst du, Gilbert, sollen wir die Schönheiten des Jahrgangs 1961 in Augenschein
nehmen?«
Jason lächelte. »Du bist wenigstens in jeder Beziehung konsequent, Newall«, spottete er, »immer der letzte der Rangliste. Ich habe meine Hausaufgaben schon gestern gemacht. Maureen McCabe, allererste Wahl, und sie geht heute abend mit mir zum Morumbega Park.«