Dieser George Keller macht mich wahnsinnig. Vielleicht ist es seine Einwanderermentalität. Ich entwickle gerade eine Theorie, nach der der Ehrgeiz der Amerikaner in direktem Verhältnis steht zu dem Zeitraum, der vergangen ist, seit sie den Kontinent betreten haben.
Ich will das erklären. Früher mal war ich schon der Meinung, Lambros hätte eine Rakete im Arsch. Aber er ist hier geboren. Die Generation seines Vaters kam mit dem Schiff hierher. Und niemand, absolut niemand kann die rasende Energie dieses Ungarn übertreffen, der noch keine zwei Monate im Lande ist. Die neue Sprache hat er praktisch in ein paar Tagen gelernt. Wenn er eine Dampflock wäre, wäre er längst in die Luft geflogen, so wahnsinnig hat er eingeheizt.
Wenn ich um acht zu dieser für mich gottlos frühen Stunde aufwache, ist er bereits fest am Arbeiten und hat schon längst gefrühstückt. Fast jeden Tag teilt er mir mit einer Art fröhlichem Stolz mit, er sei der erste im Speisesaal gewesen (man vergleiche das mit Newall, der sich rühmt, in seiner Harvard-Zeit noch nicht ein einziges Mal zum Frühstück aufgestanden zu sein). George hat sich von mir fünfzig Dollar geliehen (die er zurückzahlen will, sobald er sein Stipendiengeld erhält) und sich ein tragbares Tonbandgerät gekauft, das er in alle Vorlesungen mitnimmt.
An den Nachmittagen spielt er die Vorlesungen nochmals — und oft mehrmals —, bis er sie fast auswendig kann. Eine Menge davon sind in Russisch, was ihm ja guttun mag, ich aber habe das Gefühl, plötzlich im Kreml zu wohnen. Es muß wohl nicht erwähnt werden, daß George die Wohnung den Tag über so ziemlich für sich alleine hat. Mit Ted und Sara gab es etwas Schwierigkeiten. George zeigte zwar viel Verständnis für die Tatsache, daß sie einen Ort brauchten, um allein zu sein - er habe nichts dagegen, wenn sie mein Schlafzimmer benutzten -, aber er bestand darauf, gleichzeitig im Wohnzimmer lernen zu können. Ich mußte ihm so taktvoll wie möglich klarmachen, das würde die beiden aber sicher stören. George erklärte sich schließlich bereit, an den Tagen, an denen Ted und Sara zeitweise hier wohnen, von vier bis halb sieben in der Bibliothek zu arbeilen. Aber da gibt es noch eine Schauergeschichte. Ich habe keine Ahnung, wann er ins Bett geht. Tatsächlich habe ich den geheimen Verdacht, daß der Kerl überhaupt nicht schläft! Und neulich spät abends erlebte ich etwas Verrücktes.
Nach einem anstrengenden Saufgelage im >Porc< zwang mich ein körperliches Bedürfnis, um zwei Uhr nachts aufzustehen. Als ich im Klo stand und den Dingen ihren Lauf ließ, hörte ich plötzlich eine Geisterstimme aus der Dusche: »Beginnen - begann - begonnen. Beißen - biß - gebissen. Singen - sang - gesungen.« Ich rief: »George«, aber statt zu anworten, übte er in seinem gekachelten Tonstudio weiter seine unregelmäßigen Verben. Daraufhin zog ich den Duschvorhang zurück. Da stand er in seinen modischen Jockey Shorts, in der Hand eine englische Grammatik. Er nahm mich kaum wahr und hämmerte sich weiter mit dröhnender Stimme die einzelnen Formen ein.
Ich warnte ihn, er würde sich noch zu Tode pauken. Worauf er antwortete: »Pauken - paukte - gepaukt.« Ich ging zum Waschbecken, füllte ein Glas mit kaltem Wasser und schüttete es ihm über den Kopf. Er zitterte und sah mich mit komatösem Erstaunen an, riß mir dann den Duschvorhang aus der Hand, zog ihn zu und fuhr mit seiner Wortgymnastik fort: »Spinnen - spann- gesponnen - sprach - gesprochen.
Scheiße, dachte ich, soll er sich doch umbringen. Ich machte die Badezimmertür hinter mir zu, damit wenigstens Newall seine Ruhe hatte, wankte zum Bett zurück und ging wieder schlafen. Oder, wie George gesagt hätte: schlafen — schlief — geschlafen.
»Hallo, Vater. Jason hier. Ich muß dir was Großartiges erzählen.«
»Ich kann dich nicht verstehen, mein Sohn. Da ist ein wahnsinniger Krach um dich rum. Von wo rufst du an?« »Krach ist gar kein Ausdruck. Das gesamte Squashteam ist hier in meinem Zimmer. Sie haben gerade den nächsten Kapitän des Squashteams gewählt, und aus unerfindlichen Gründen bin ich es geworden.«
»Das ist ja großartig, mein Sohn«, sagte Gilbert, Sr. hocherfreut. »Das muß ich unbedingt gleich deiner Mutter erzählen. Und weißt du was? Ich wette, du wirst auch noch Kapitän des Tennisteams.« Als Jason auflegte, war er ein wenig traurig. Die letzten Worte seines Vaters hatten ihn irritiert. Er hatte ihn schließlich angerufen, um ihm einen großen Erfolg mitzuteilen. Und auch wenn sein Vater offensichtlich hocherfreut war, hatte er am Schluß doch sehr direkt seiner Erwartung Ausdruck gegeben, daß sein Sohn ihm noch mehr Ruhm und Ehre eintrüge. Wo sollte das enden? »He, Captain«, unterbrach Newall mit benommener Stimme seine Gedanken, »bist du etwa noch nüchtern?« »Gerade noch«, lachte Jason. »Mein Vater hätte sonst gedacht, wir sind alle nur besoffene Ganoven, was wir ja auch sind.«
Seine Teamkameraden stimmten ihm brüllend zu. Zwölf von ihnen drängten sich in dem kleinen Zimmer, dazu noch ein paar Mitläufer, darunter Ted und Sara. Andrew Eliot hatte sie mitgebracht, damit sie auch einmal die mehr sportlichen Lebewesen des Harvard-Geheges kennenlernten.
Ursprünglich hatte Newall diese Feier als Überraschung geplant. Dann aber weigerte sich George Keller, ihnen dafür die gemeinsame Wohnung zu überlassen. Da blieb Newall nur noch die Möglichkeit, Jason im voraus einzuweihen, damit die Sache in seiner eigenen Bude stattfinden konnte.
»Und wie geht es diesem Dingsda?« fragte Jason und goß sich ein Bier ein. »Ich wette, inzwischen lernt er die ganze Encyclopedia Britannica auswendig.« »Lach bloß nicht«, warnte ihn Andrew, »er lernt nicht nur wie ein Irrer für alle seine Fächer, sondern er liest auch jeden Millimeter der >New York Times<, inclusive des Wohnungs- markts und der Kochrezepte — und schreibt sich jedes Wort auf, das er nicht kennt.« »Und das schließt die Sonntagsausgabe ein«, fügte Newall hinzu, »da ist die verdammte Zeitung fast so umfangreich wie >Krieg und Frieden< von Tolstoi.«
»Na ja«, sagte Jason, »eigentlich müßte man so einen Kerl ja bewundern.« »Ich würde ihn gerne bewundern«, erwiderte Newall, »wenn er nur mit jemand anderem zusammenwohnen würde.«
Plötzlich schlugen die Mitglieder des Squashteams an die Gläser und baten besoffen um Ruhe. Es sollte ein Toast auf den neuen Kapitän des Teams ausgebracht werden. Der Beredste von allen war Tod Anderson, früher selbst Kapitän des Andover Teams, jetzt die Nummer drei in Harvard. Tod hob das Glas und brachte einen Spruch heraus, der dieser Sportlerversammlung angemessen war: »Auf unseren geliebten neuen Anführer, Jason Gilbert, Squash-As und Weiberheld. Mögen seine Bälle beim Sport so wirksam sein wie im Bett.«
Kurz nach sieben verschwanden die letzten Gäste, und das Squashteam schlenderte, wie geplant, durch die Straßen von Cambridge zum Hasty Pudding Club<. Donnerstags war dort Steakabend, das billigste Angebot in Cambridge, für nur einen Dollar fünfundsiebzig. Auf ihrem Weg den Mount Auburn hinunter zur Holyoke Street brachen die Ritter des Harvard-Squashteams in die populären Siegesgesänge der Universität aus. Sie wurden erst etwas stiller, als sie sich die Holzstufen des Clubhauses hinaufschoben und über das Treppenhaus, das voll mit Theaterplakaten aus den letzten zweihundert Jahren hing, in den Speisesaal kamen, wo Newall für die ganze Truppe einen großen Tisch hatte reservieren lassen. Natürlich saß Jason oben am Tisch, denn dieser Ehrenplatz wurde von allen Mädchen, die die anderen Mitglieder des Clubs mitgebracht halten, aufmerksam beäugt.
Zum Mißvergnügen ihrer Begleiter lächelten die Damen dem Held des Tages fortwährend zu, und er lächelte entwaffnend zurück. Als Jason, Andrew und Dickie Newall ungefähr um zehn Uhr zurück zum Eliot-Haus schwankten, fiel dem neugewählten Kapitän etwas auf. »He«, sagte er. »ich hab' ja Anderson gar nicht beim Essen gesehen. Hat er keine Lust mehr gehabt, oder was war da los?«
»Aber Jason«, antwortete Newall mit alkoholisierter Heiterkeit, »du weißt doch. Tod ist kein Mitglied des >Pudding<.« »Wieso denn nicht?« fragte Jason, überrascht, daß ein so populärer Sportler nicht zu dem Freßverein gehörte, der fast ein Drittel aller Sportgrößen Harvards zu den Seinen zählte. »Sag nur noch, du hast nicht gemerkt, daß Anderson ein Neger ist«, beklagte sich Newall. »Na und?« sagte Jason. »Jetzt hör aber auf, Cilbert«, fuhr Dickie fort, »so liberal ist der >Pudding< nun auch wieder nicht. Schließlich muß ja auch noch irgend jemand außen vor bleiben.«
So wurde Jason Cilbert an diesem Abend großen persönlichen Triumphs wieder einmal daran erinnert, daß in Harvard zwar alle Studenten gleich sind, ein paar aber noch gleicher. ..
Professor Samuel Eliot Morison war eines der hervorragendsten Mitglieder des Lehrkörpers von Harvard und bei weitem das produktivste. Berühmt für seine vielen Bände über die Geschichte der Seefahrt und für seine Arbeiten zur Geschichte Harvards, war dieser hochverehrte Professor auch entfernt mit dem Eliot des Jahrgangs '58 verwandt, wie sein mittlerer Name schon andeutete. Fast drei Jahre lang war Andrew gerade so durchgekommen, wie eine Biene von Hauptfach zu Hauptfach fliegend (Englische Literatur, Amerikanistik, sogar ein paar törichte Wochen lang Wirtschaftswissenschaften). Jetzt aber wurde ihm von seinem Senior Tutor ein Ultimatum gestellt: Er hatte sich für ein Hauptfach zu entscheiden und dann auch dabei zu bleiben. Da er wußte, er würde mit einem Diplom in irgendeinem Fach von Harvard abgehen müssen, bemühte er sich, plötzlich in Panik geraten, um fachlichen Rat.
Er nahm allen Mut zusammen und schrieb Professor Morison eine Karte. Und war freudig überrascht, sogleich eingeladen zu werden, den großen Mann in seinem mit Seekarten tapezierten Büro tief in den Buchregalen der Widener Bibliothek aufzusuchen.
»Es ist mir wirklich ein Vergnügen«, bemerkte er, als sie sich die Hand gaben, »vor mir steht der lebende Beweis, daß die Nachkommen des alten John Eliot noch sehr lebendig sind. Ich kannte Ihren Vater schon als Studenten und versuchte ihn dazu zu bringen, mir ein wenig bei meiner Geschichte der Kolonialzeit zu helfen. Aber vermutlich hat ihn das Bankgewerbe davon abgebracht.«
»Ja«, bestätigte Andrew höflich, »mein Vater hat immer etwas für Geld übriggehabt.« »Das ist auch ganz in Ordnung so«, sagte Morison, »besonders da ja auch so viele Eliotsche Stiftungen dabei geholfen haben, dieses College aufzubauen. Mein Namensvetter Samuel Eliot stiftete schon 1814 die erste Professur für Griechisch. Sagen Sie, Andrew, was ist denn Ihr Hauptfach?«
»Das ist es ja gerade, Sir. Ich bin schon im dritten Jahr und bin noch nicht entschieden.« »Wissen Sie schon, was Sie nach dem College tun werden?« »Na ja, zunächst werde ich wohl eingezogen.« »Die Eliots haben viele Jahre ehrenvoll in der Marine gedient.«
»Sehr wohl, Admiral Morison«, erwiderte Andrew, sagte aber nicht, daß er gerade darum nicht zur Marine wollte. »Und dann?« »Ich glaube, mein Vater möchte gerne, daß ich so etwas wie ein Bankier werde.«
Schließlich komme ich in vier Jahren zu so viel Geld, dachte er, daß man wenigstens mal dahin gehen sollte, wo die Aktien liegen. Das hat doch mit der Bank zu tun,oder?
»Nun ja«, sagte Morison, »Sie werden einen schönen Beruf haben. Jetzt sollten Sie ein Hauptfach wählen, das für Sie zum Steckenpferd werden kann. Haben Sie schon mal an die Geschichte Ihrer eigenen Familie gedacht?« »Mein Vater hat dafür gesorgt, daß ich sie nicht vergesse«, antwortete Andrew ehrlich und fühlte sich etwas ungemütlich. »Als ich noch in den Windeln steckte, hat er mir schon Vorträge über unsere vornehme Herkunft gehalten. Offengestanden, Sir, ist es etwas irritierend, wenn man sogar beim Essen von John Eliot, dem Apostel der Indianer, hört und vom Urgroßvater Charles, dem berühmten Präsidenten von Harvard. Ich bin an den Blättern unseres Stammbaums fast erstickt.«
»Sie haben aber jetzt ein paar Jahrhunderte übersprungen«, bemerkte der Admiral. »Was ist zum Beispiel mit den Revolutionskriegen? Wissen Sie denn, wo die Eliots alle waren in dieser Zeit, in der die Seelen der Menschen geprüft wurden?« »Nein, Sir. Ich war immer der Meinung, sie haben in der Gegend von Bunker Hill ihre Musketen abgefeuert.« Der Professor lächelte. »Ich glaube, darüber kann ich Sie
aufklären. Die Eliots im 18. Jahrhundert waren glänzende Tagebuchschreiber. Und wir besitzen ihre eigenen Aufzeichnungen darüber, was sie während der Revolution sahen und taten. Andrew, ich kann mir besonders für einen Eliot kaum etwas Aufregenderes vorstellen, als zu erforschen, was damals mit Harvard-Abgängern los war. Das wäre doch ein großartiges Thema für eine Diplomarbeit.«
Da mußte Andrew gestehen: »Sir, ich muß Ihnen leider sagen, daß meine Noten für einen Abschluß mit Auszeichnung nicht gut genug sind.«
Der große Historiker lächelte. »Andrew, dann sollen Sie wahre Erziehung erleben. Ich werde dafür sorgen, daß Sie von mir betreut werden, und wir werden zusammen die Eliotschen Tagebücher durcharbeiten. Das hat mit den Noten nichts zu tun. Das Lesen allein wird Lohn genug sein.« Fast atemlos vor Begeisterung, verließ Andrew das Büro von Admiral Morison. Jetzt bot sich ihm die Chance, außer dem Abschlußzeugnis vielleicht sogar eine wirkliche Bildung zu erhalten.
Danny Rossi war hin- und hergerissen. Einmal wünschte er verzweifelt, die Proben von >Arcadia< wären endlich vorbei, und das verdammte Ballett wäre fertig und bereits aufgeführt. Dann wieder wollte er, die Vorbereitungen würden für immer weitergehen. Im Februar und im März mußte er sechs Nachmittage wöchentlich mehrere Stunden lang am Klavier zubringen, während Maria versuchte, das Ballett auf die Füße zu stellen. Sie arbeitete mit den Tänzern, demonstrierte die Bewegungen und kam immer wieder zum Flügel, an den gelehnt sie den Komponisten um Rat fragte.
Es war dieser verdammte blaue Gymnastikanzug. Nein, ihrem Trikot konnte man nicht die Schuld geben, denn es waren ihre sich so aufreizend klar abzeichnenden Körperformen darin, die ihn fast verrückt machten. Am schlimmsten aber war es, wenn sie nach den Proben essen gingen und sich über die erzielten Fortschritte unterhielten. Sie war so herzlich, und die Gespräche dauerten stundenlang. Es war eine Qual, denn diese Abende schienen normalen Verabredungen immer ähnlicher zu werden, obwohl Danny genau wußte, daß das nicht stimmte.
Als sie einmal Grippe hatte, besuchte er sie in der Krankenstation des College und brachte ihr Blumen. Er saß an ihrem Bett und versuchte, sie mit dummen Geschichten aufzuheitern. Sie lachte viel und sagte, als er aufstand: »Danke für deinen Besuch. Du bist ein prima Kerl.«
Das war es ja eben, verdammt, er war nur ein prima Kerl.
Aber wie hätte es denn auch anders sein können? Sie war schön selbstsicher - und groß. Und er war nichts dergleichen.
Und welchen Vorwand konnte er denn nur erfinden, um sie weiter zu sehen, wenn die Aufführungen erst einmal vorbei waren?
Endlich kam der Abend der Premiere. Alle selbsternannten Harvard-Größen versammelten sich im Agassiz Theater von Radcliffe, um über Maria Pastores Choreographie und Daniel Rossis Musik zu urteilen.
Danny war so in sein Dirigieren versunken, daß er nicht spürte, wie die Sache lief, obwohl die Zuhörer an einigen Stellen applaudierten. War das der Musik oder des Tanzes wegen?
Da die meisten Mitwirkenden keinen Alkohol tranken, wurde in einem der Probenräume gefeiert, wo abgestandener Selters-Punch serviert wurde und einige verwegene Gäste Bier bekamen.
In einer Beziehung sind die Bühnenaufführungen in Harvard wie die am Broadway. Die Mitwirkenden bleiben solange auf, bis die Kritiken erscheinen. Der einzige Unterschied in Cambridge war, daß man auf die Besprechung im >Crimson< wartete. Um elf Uhr abends kam endlich jemand mit dem Artikel von Sonya Levin für die morgige Ausgabe.
Für eine Zeitung, die erklärtermaßen hochnäsig war, begann die Kritik mit recht begeisterten Bemerkungen über Marias Choreographie, die als »dynamisch und phantasievoll, mit einigen amüsanten Einfällen« bezeichnet wurde. Dann richtete Miss Levin ihr Augenmerk auf Danny Rossi, oder vielmehr ihre Geschütze. Ihrer Meinung nach war »die Musik zwar anspruchs- und kraftvoll, aber, um es milde auszudrücken, reine Nachahmung. Imitation mag die ehrlichste Art der Schmeichelei sein, hier aber können Strawinsky und Aaron Copeland mit vollem Recht Tantiemen einfordern.«
Danny war betroffen, daß dies alles laut durch den Bühnenmeister verlesen wurde, der sich allerdings immer unwohler fühlte, je länger er las. Danny war getroffen.
Warum versuchte sich diese ironische Klugscheißerin auf seine Kosten hochzuziehen? Wußte sie denn, wie sehr das verletzte? Er mußte aus dem Raum hinaus, gerade da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Es war Maria. »Du, Danny...« »Ach, laß mich«, murmelte er verbittert. Er brachte es nicht über sich, sich umzuwenden und ihr ins Gesicht zu sehen, und ging langsam hinaus. Seinen Parka ließ er auf einem Stuhl hinter der Bühne liegen. Sobald er auf der Treppe war, ging er schneller. Er mußte so schnell wie möglich hier heraus, schon um all den mitleidigen Blicken zu entfliehen. Im Erdgeschoß sah er den Wegweiser zur Telefonzelle, und es fiel ihm ein, daß er Dr. Landau versprochen hatte anzurufen, wenn die Aufführung vorbei war. Ach, Scheiße, nein. Ich kann unmöglich diese vernichtenden Dinge wiederholen, die diese verdammte Kritikerin gesagt hat. Wie konnte er seinem Lehrer überhaupt jemals wieder unter die Augen treten? Er war ein Versager, ganz offensichtlich und vor aller Öffentlichkeit. Wie vor langer Zeit an dem Tag auf der Aschenbahn.
Er stieß die Glastür auf und ging in die kalte Märznacht hinaus, ohne den scharfen Wind auf dem Gesicht zu spüren. Er war zu sehr beschäftigt mit dem Gedanken, daß diese unerwartete Entwicklung ihm den Respekt seines geliebten Lehrers rauben könnte. Danny hatte immer gewußt, er würde Landaus letzter Schüler sein. Und er wollte sein bester Schüler sein. Er konnte nicht weiter. Er setzte sich auf die Steinstufen und hielt seinen Kopf in den Händen.
»He, Rossi, was machst du denn hier. Du holst dir ja eine Lungenentzündung.«
Maria stand über ihm, direkt vor der Tür.
»Geh weg, Pastore, du solltest dich nicht mit Zweitklassigen abgeben.« Ohne auf seine Worte zu hören, kam sie herunter und setzte sich auf die Stufe unter ihm. »Hör mal zu, Danny, es ist mir völlig egal, was Sonya meint, ich finde deine Musik fabelhaft.«»Morgen früh lesen das alle hier im College. Da werden die Scheißkerle im Eliot-Haus vielleicht was zu lachen haben.« »Sei doch nicht so dumm«, antwortete sie. »Die meisten Preppies können doch sowieso nicht lesen.« Und sie fügte sanft hinzu: »Du sollst wissen, es schmerzt mich genauso wie dich.«
»Warum denn? Du bist doch gut besprochen worden.« »Weil ich dich liebe.« »Kannst du nicht«, antwortete er nur halb im Spaß. »Du bist viel zu groß.« Sie mußte über diese absurde Reaktion lachen. Dann lachte er auch und zog sie an sich. Sie küßten sich.
Nach einem Augenblick sah Maria ihn an und lächelte.
»Jetzt bist du dran.« »Was?« »Ich finde, das ist doch keine Einbahnstraße, oder?« »Nein«, antwortete er leise, »ich liebe dich auch.«
Sie fühlten den kalten Wind nicht, während sie sich umarmten.
Während der Osterferien in Harvard finden die verschiedensten Dinge statt. Die Studenten, die im letzten Jahr sind bleiben da und machen ihre Abschlußarbeit fertig, die zu Anfang des letzten Semesters abgegeben werden muß. Wer genug Geld hat, fliegt auf die Bermudas, um an der College-Woche, einem sagenhaften Ritus, teilzunehmen. Das Programm besteht aus Sonnenbaden, Segeln, Wasserskifahren
Kalypsotanzen und — wenigstens theoretisch — dem Verführen eben der Mädchen, die meistens desselben Programms wegen dorthin strömen.
Um diese Zeit ist in Cambridge nur dem Kalender nach schon Frühling. Doch die Muskeln der Sportler brauchen die Frühlingswärme, um für die wichtigen bevorstehenden Wettkämpfe in Form zu kommen. Das Leichtathletikteam fliegt nach Puerto Rico, was exotischer klingt, als es für sie ist. Im Gegensatz zu den Touristen an den Sandstränden der Bermudas, muß das Team um fünf Uhr früh aufstehen, vor dem
Frühstück fünfzehn Kilometer laufen, dann wird den Tag über geschlafen und am späten Nachmittag wieder gelaufen. Nur ganz wenige haben am Abend noch Kraft oder gar das Bedürfnis, sich den Senoritas zu widmen.
Die Tennis-, Golf- und Baseballteams machen eine Tournee durch die Südstaaten und bestreiten Wettkämpfe gegen einige der dortigen Universitäten, um in Schwung zu kommen. Diese Teams leben weniger asketisch als die Läufer deshalb haben sie noch genügend Energie für abendliche Unterhaltungen. Nach dem Abendessen stolzieren sie über einen meist recht ländlichen Campus und tragen auf ihren Pullovern das vornehme >H<, das die reizenden Mädchen der Südstaaten unwiderstehlich anzieht.
Nach einem schwer errungenen Sieg über die Universität von North Carolina machten sich Jason Gilbert und seine Mannschaftskameraden zum Ausgang fertig, um die weibliche Bevölkerung von Chapel Hill zu unterwerfen. Während sie duschten und sich anzogen, hatte Dain Oliver, ihr Coach, noch einiges an konstruktiver Kritik zu üben — so halte Jason auf dem Court etwas schlapp ausgesehen, auch wenn er gewonnen hatte. »Weil ich müde bin, Coach«, protestierte er. »Die ganze Reiserei, das Trainieren und die Turniere sind nicht gerade ein Picknick.« »Hör mal, Gilbert«, wies ihn Dain gutgelaunt zurecht, »du hast etwas zu viel Energien auf andere Aktivitäten nach dem Spiel verwandt. Darf ich dich daran erinnern, daß das hier eigentlich keine Ferien sind.« »Und vielleicht darf ich Sie daran erinnern, daß ich heute gewonnen habe, Coach.«
»Schon, aber du hast im Stehen geschlafen. Also sieh zu, daß du wieder in Form kommst, sonst verhänge ich eine Ausgangssperre. Klar, Gilbert?« »Jawohl, Sir. Es tut mir leid, mein liebes Mütterlein.« Gelächter scholl sogar aus den Duschkabinen. Ein grauhaariger Herr in Anzug und Krawatte erschien und wollte den Coach sprechen.
»Wer ist dieser Kerl?« fragte Jason mit leiser Stimme Newall, der sich neben ihm abtrocknete. »Vermutlich ein FBI-Agent, der hinter dir her ist, Gilbert«, witzelte Newall. »Du hast es schließlich diese Woche schon vier- oder fünfmal mit Minderjährigen getrieben.« Bevor Jason antworten konnte, rief der Coach die Mannschaft zusammen. Ein Dutzend kaum bekleideter Spieler versammelte sich gehorsam. Coach Oliver verkündete: »Dieser Herr hier ist Rabbi Yavetz, Direktor der U.N. C. Hillel Society. Er sagt mir, heute abend beginnt das Passah-Fest, und die jüdischen Spieler sind eingeladen, am Gottesdienst teilzunehmen.« »Es wird kurz und festlich«, fügte der Rabbi mit seinem Südstaatenakzent hinzu. »Nur ein einfacher Seder mit schönem Essen und einigen Liedern, die euch hoffentlich eure Großväter gelehrt haben.« »Hat jemand Interesse?« fragte der Coach. »Ich komme gern«, sagte Larry Wexler, Student im zweiten Jahr und als Nummer sieben der Rangliste neu im Team. »Das wird meine Eltern trösten, sie waren etwas enttäuscht, daß ich nicht zu Hause bin.«
»Noch jemand?« fragte Oliver und sah Jason Gilbert an. Jason sah ihm direkt in die Augen und antwortete: »Danke sehr, aber ich habe kein Interesse.« »Sie sind herzlich willkommen, falls Sie es sich noch anders überlegen«, sagte der Rabbi. Dann wandte er sich an Larry Wexler. »Etwa um halb sieben Uhr wird Sie eines unserer Mitglieder am Wohnheim abholen.«
Als der Rabbi gegangen war, fragte Newall beiläufig: »Sag mal, Wexler, was ist denn das für ein Feiertag?« »Eigentlich eine ganz schöne Sache«, erwiderte Wexler. »Der Auszug der Juden aus Ägypten. Du weißt schon, als Moses sagte: >Laß mein Volk ziehen<.« »Klingt ja fast wie ein schwarzer Folklorerummel«, kommentierte Newall. »Laß mal«, gab Wexler zurück, »Disraeli hat mal zu einem bigotten Engländer gesagt: >Als meine Vorfahren schon die Bibel lasen, schwangen sich die Ihren noch von Baum zu Baum.<«
Als sich Larry Wexler eine Stunde später den Knoten seines Schlipses geradezog, sah er Jason im Spiegel - ungewöhnlich feierlich in blauem Blazer. »Sag mal, Wexler«, fragte er unsicher, »wenn ich jetzt mitgehe, werden die mich für ein komplettes Arschloch halten? Weil ich doch überhaupt nicht weiß, was da passiert?« »Kein Problem, Gilbert. Du mußt nichts tun als dich hinsetzen, zugucken und essen. Ich werde sogar für dich umblättern .«
Etwa fünfzig Menschen saßen an langen Tischen im Speisesaal der Union. Rabbi Yavetz gab eine kurze Einführung. »Das Passah-Fest ist im wahrsten Sinn das wichtigste religiöse Fest im jüdischen Kalender. Denn es erfüllt sich unser zentrales Glaubensgebot: unsere Kinder aller Generationen daran zu erinnern, was geschrieben steht in Exodus, Kapitel 15: >Der Herr hat uns vom ägyptischen Joch befreit<.«
Jason hörte still zu, als die Anwesenden abwechselnd die Bibeltexte lasen und Psalmen sangen. Einmal flüsterte er Larry zu: »Wieso kennt ihr alle diese Lieder?« »Sie sind die Hitparade des Jahres 5000 vor Christus. Deine Vorfahren müssen ein besonders langsames Kamel geritten haben.«
Jason war erleichtert, als das Essen aulgetragen wurde. Denn jetzt drehten sich die Gespräche wieder ganz um die Universität des 20. Jahrhunderts, und er kam sich nicht mehr ausgeschlossen vor. Während des Essens flüsterte Larry: »Hat dir das irgendwas gegeben — ich meine kulturell?« »Schon«, antwortete Jason höflich, aber nicht wirklich überzeugt. Denn eigentlich hatte er überhaupt nicht verstanden, was dieses Ritual mit ihm, der 1957 lebte, zu tun haben sollte.
Aber bevor der Abend vorüber war, sollte er es begreifen. Als der Gottesdienst weiterging, ließ der Rabbi alle aufstehen, um für die Wiederkehr des Messias zu beten. Dann bezog er sich auf die jüngste Geschichte: »Natürlich wissen wir alle, daß die Ägypter keineswegs die letzten waren, die unser Volk zu vernichten trachteten. Am Passah-Fest 1945 begannen die tapferen Juden des Warschauer Ghettos, halb verhungert und ohne Waffen, sich heldenhaft gegen die Nazis, die sie umzingelt hatten, zu erheben. Und das geschah nicht uns unbekannten Urahnen, es geschah unseren eigenen Verwandten, Onkeln, Tanten, Großeltern — und bei einigen von uns waren es Brüder und Schwestern. Ihrer und der sechs Millionen anderen Juden, die von Hitler ermordet worden sind, gedenken wir in dieser Stunde.«
Es herrschte tiefe Stille. Jason sah, daß ein junger Mann am vordersten Tisch den Kopf senkte und leise weinte. »Hast du auch da drüben Verwandte verloren?« flüsterte Jason. Larry Wexler sah seinen Teamkameraden an und antwortete ernst: »Haben wir das nicht alle?« Gleich darauf setzten sie sich wieder und sangen festliche Lieder. Wenig später gingen die Feierlichkeiten zu Ende. Es folgte die private Begegnung mit den attraktiven weiblichen Studenten, die sich mit doppelter Gastlichkeit um die beiden Gäste aus Harvard scharten.
Kurz vor elf gingen Larry und Jason über den dunklen Campus zurück zu ihrem Wohnheim. »Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, Gilbert«, bemerkte Larry, »aber ich bin sehr froh, hingegangen zu sein, findest du es nicht auch ganz schön, etwas von seinen Ursprüngen zu wissen?«
»Ja, schon«, antwortete Jason Gilbert halblaut und dachte, mein Ursprung ist ein Bezirksgericht, wo ein hilfsbereiter Richter vor zwanzig Jahren meinen Vater einen neuen, nichtjüdischen Namen annehmen ließ. Um unsere Zukunft zu sichern, verpfändete er unsere Vergangenheit. Ich frage mich nur, warum Vater das tun mußte. Dieser Wexler ist auch nicht schlechter als ich. Eigentlich hat er es sogar besser, denn er hat eine Identität.
Jason kam von dieser Tennisreise in einer Hinsicht verändert zurück. Nach einem Match gegen eine Gruppe früherer College-Studenten, die jetzt in Quantico, Virginia, bei der Marine dienten, war er den schmeichelnden Überredungskünsten eines Rekrutierungsoffiziers erlegen und hatte sich für einen Offizierslehrgang eingeschrieben.
Er fand, dies sei der beste Weg, seinen Militärdienst zu absolvieren, denn er würde nur jeweils in den nächsten zwei Sommerferien dahin müssen. Nach dem Universitätsabschluß hatte er dann noch zwei Jahre bei der Marine als Offizier abzuleisten. Man halte sogar recht deutlich von der Möglichkeit gesprochen, daß er nach der Grundausbildung vielleicht sogar zu bestimmten Sondereinheiten versetzt werden und seine Militärzeit auf dem Tennisplatz verbringen könnte.
Jetzt aber hatte er noch eine andere Schlacht vor sich. Das Tennismatch gegen Yale im Mai, und die Kerle von New Haven sannen auf Rache.
»Nein.« »Bitte.« »Nein!«
Mit gerötetem Gesicht setzte sich Maria Pastore auf. »Bitte, Danny, muß das jedesmal wieder sein?« »Maria, du bist unvernünftig.« »Nein, Danny. Du bist grausam und gefühllos. Verstehst du denn nicht, daß ich meine Grundsätze habe.«
Danny Rossi kam mit Maria einfach nicht weiter. Auch wenn sie in den ersten Wochen im Trubel von Cambridge gleichsam allein mit sich in einem Paradies für zwei gelebt hatten, bekamen sie bald ernsthafte moralische Probleme miteinander. Maria war das netteste, freundlichste, klügste und schönste Mädchen, dem Danny je begegnet war. Und sie betete ihn an. Aber aus Gründen, die er nicht verstand, auf jeden Fall aber nicht akzeptierte, wollte sie nicht mit ihm schlafen. Sie ließ sogar noch wesentlich weniger als das zu. Sie umarmten und küßten sich leidenschaftlich auf seiner Couch, aber wenn er auch nur mit der Hand unter ihren Pullover fuhr, verwandelte sich ihre ganze Leidenschaftlichkeit in verkrampfte Furcht. »Bitte, Danny. Bitte nicht.« »Maria«, erklärte er ihr geduldig, »wir haben doch wirklich nicht nur eine kurze Affaire. Wir mögen uns, und ich will dich doch nur anfassen, weil ich dich liebe.« Sie stand auf, zog sich den Pullover herunter und bat ihn, ihre Gefühle zu respektieren. »Danny, wir sind beide katholisch. Verstehst du denn nicht. Es ist nicht richtig das zu tun, bevor man verheiratet ist.«
»Was zu tun?« sagte er gereizt. »Wo steht denn in der Bibel, daß ein Mann nicht die Brüste einer Frau berühren darf. Im Lied der Lieder steht sogar...« »Bitte, Danny«, sagte sie ruhig, aber offensichtlich gequält, »du weißt genau, daß es nicht darum geht. Damit ist es doch nicht zu Ende.« »Aber ich schwöre dir, ich will bestimmt nicht mehr.«
Maria sah ihn mit roten Wangen ah und sagte behutsam: »Schau mal, vielleicht glaubst du, du kannst dann mittendrin aufhören. Aber ich kenne mich und weiß, wenn wir erstmal so weit sind, dann kann ich nicht aufhören.« Für einen Augenblick beflügelte Danny dieses Geständnis: »Dann willst du eigentlich auch alles?« Sie nickte und sah beschämt aus. »Danny, ich bin eine Frau. Ich liebe dich und in mir steckt eine ganze Menge Leidenschalt. Aber ich bin auch gläubige Katholikin. Die Nonnen haben uns gelehrt, es ist eine Todsünde, das zu tun.« »Aber sieh doch mal«, bestand er, als wäre er in einer öffentlichen Debatte, »willst du als aufgeklärte Radclilfe-Studentin des Jahres 1957 wirklich behaupten, du kämst tatsächlich in die Hölle, wenn du mit jemandem schläfst, den du liebst?« »Ja, solange ich nicht verheiratet bin.« »Mein Gott, das ist ja nicht zu fassen«, antwortete er, nahe daran, die Geduld zu verlieren, denn ihm gingen die Argumente aus. Fast benommen von dem Bedürfnis, dieses so sinnliche wie konservative Mädchen zu überzeugen, sagte er heftig: »Aber Maria, wir werden ja eines Tages heiraten. Reicht dir das nicht?«
Vielleicht war sie zu durcheinander, um gehört zu haben, daß er tatsächlich von Ehe gesprochen hatte. Jedenfalls antwortete sie: »Bitte, Danny, glaub mir bei allem, was dir heilig ist, ich kann meine Erziehung einfach nicht vergessen. Mein Priester, meine Eltern — nein, ich will ihnen die Verantwortung gar nicht zuschieben — es ist mein Glaube. Ich will für meinen Mann die Jungfernschaft bewahren.« »Mein Gott, wie altmodisch. Hast du Kinsey nicht gelesen? Das tun heute nur noch knapp zehn Prozent aller Frauen.« »Danny, das ist mir völlig gleichgültig, und wenn ich das letzte Mädchen auf der Welt wäre.«
Danny, der am Ende seiner rhetorischen Möglichkeiten angelangt war, hatte darauf nur eine Antwort: »Scheiße.« Dann sagte er, auch um seine eigene Leidenschaft zu zügeln: »Okay, okay, am besten wir vergessen das alles und gehen etwas essen.« Während er sich die Krawatte umband, hörte er sie zu seinem Erstaunen antworten: »Nein.« Er fuhr herum und bellte: »Also, was soll das denn jetzt?« »Danny, laß uns ehrlich sein. Keiner von uns beiden kann so weitermachen. Und das heißt, alle unsere Gefühle füreinander werden sich bestimmt verlieren.«
Sie stand auf, als wollte sie ihn nicht nur moralisch, sondern auch physisch zurücksetzen.
»Danny, ich mag dich wirklich sehr«, sagte sie. »Aber ich will dich nicht...« »... mehr wiedersehen?« »Ich weiß nicht«, erwiderte sie, »jedenfalls für einige Zeit nicht. Du bist diesen Sommer wieder in Tanglewood. Ich werde zu Hause in Cleveland arbeiten. Vielleicht tut uns eine Trennung gut. Dann haben wir beide Zeit nachzudenken.« »Hast du denn nicht gehört, ich will dich heiraten.« Sie nickte und antwortete leise: »Doch. Aber ich bin nicht sicher, ob du es ernst meinst. Deshalb brauchen wir Zeit für uns selbst.«
»Können wir uns wenigstens schreiben?« »Ja, bitte, das tun wir.«
Dann ging Maria zur Tür und drehte sich um. Sie sah ihn einen Augenblick stumm an und murmelte dann: »Du weißt gar nicht, wie weh mir das tut, Danny.« Dann ging sie.
im Frühling 1957 konnte George Keller so gut wie alle anderen Studenten seines Jahrgangs den Vorlesungen und Kursen in der an der Universität üblichen Sprache folgen. Wie zu erwarten, hatte er als Hauptfach Staatswissenschaften gewählt. Denn Brzezinski hatte ihm bedeutet, mit seinem perfekten Russisch und seinen politischen Kennntissen über die Länder hinter dem Eisernen Vorhang könne man auf ihn
in Washington nicht verzichten.
Unter anderem hatte er im Frühjahr >Staatskunde 180, Grundlagen Internationaler Polilik< belegt, obwohl der Name des Professors in ihm wieder seine ursprünglichen paranoiden Gefühle geweckt hatte. Denn es war ein gewisser William Palmer Eliot — noch ein angeblicher Verwandter seines Mitbewohners Andrew.
Dennoch war es eine schicksalhafte Entscheidung. Denn Eliots Assistent war ein dicklicher junger Mann, der Englisch mit einem noch stärkeren ausländischen Akzent als George sprach. Er hieß Henry Kissinger. Und auf unheimliche Weise waren sie wie telepathisch voneinander angezogen. Kissinger, wie George Flüchtling, wenn auch aus dem Kriegsdeutschland, war ebenfalls Harvard-Student gewesen und hatte wie George seinen Vornamen Amerika angepaßt. Es war geradezu unheimlich, was er alles von Politik verstand — in der Theorie wie in der Praxis. Dr. K., wie er liebevoll genannt wurde, leitete damals schon das Harvard-International-Seminar, wie es hieß. Weiter gehörte er zu den Herausgebern der wahrscheinlich wichtigsten politischen Zeilschrift >Foreign Affairs<. George glaubte, aus eigener Klugheit in Kissingers Arbeitsgruppe gekommen zu sein, fand aber heraus, daß dieser selbst alles Notwendige unternommen hatte, ihn in sein Seminar zu bekommen. Keiner von beiden wurde enttäuscht.
Kissinger war unter anderem von Georges Kenntnis der russischen Sprache beeindruckt. Aber auch sein eigener brennender Ehrgeiz, die Nummer eins in Harvard zu werden — und dann darüber hinaus in der Welt-, hatte ihn vor allem bewogen, den jungen Ungarn in sein Team zu holen. Denn er wußte, daß sein Erzrivale Zbig Brzezinski George unbedingt n seinem Einflußbereich halten wollte.
Nach einer Besprechung zu Anfang des Semesters bat er George, noch etwas zu bleiben, und sagte: »Mr. Keller, haben Sie noch einen Moment Zeit? Ich würde mit Ihnen gern über Ihre letzte schriftliche Arbeit sprechen.« »Aber gewiß«, sagte George höflich und fürchtete plötzlich, seine Arbeit wäre doch nicht die originelle und einsichtige Analyse, wie er geglaubt hatte. »War die Arbeit in Ordnung, Professor?« fragte George, nachdem der letzte Student gegangen war. Als raffinierter akademischer Stratege hatte er Kissinger schlauerweise den Titel Professor verliehen, obwohl er sehr wohl wußte, daß dieser nur einfacher Dozent war. Der Geehrte war offensichtlich geschmeichelt, denn er lächelte über das ganze Gesicht. »Ihr Papier war nicht nur in Ordnung, Mr. Keller. Es ist absolut erstklassig. Ich habe noch nie eine Arbeit gelesen, die so klar alle Feinheiten der verschiedenen osteuropäischen Denkweisen analysiert hat.« »Vielen Dank, Herr Professor«, erwiderte George erleichtert.
»Ich weiß, Sie sind einer unserer Frischimporte aus Ungarn. Was haben Sie in Budapest studiert?« »Jura. Natürlich sowjetrussisches Recht. Nutzloses Recht eigentlich, meinen Sie nicht?« »Das hängt davon ab, für wen. Für meine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten hätte ich gerne einen Experten auf diesem Gebiet, der außerdem ohne Schwierigkeiten Russisch liest.« »Um auf dem Boden der Talsachen zu bleiben, Herr Professor«, erwiderte George, »ich habe in Ungarn keinen Abschluß gemacht. Man kann also wirklich nicht behaupten, ich sei ein Experte.«
Kissingers Augen glitzerten hinter den dicken schwarzgefaßten Brillengläsern. »In Ungarn würde das vielleicht nicht ausreichen. Aber in Cambridge sind auch Leute mit Ihrer Erfahrung so selten wie Hühnerzähne ...« »Oder vielleicht wie Schneeflocken im Juli«, schlug George vor, um seine englischen Sprachkenntnisse zu demonstrieren.
»So ist es«, erwiderte Dr. K. »Wenn Sie also Zeit hätten, würde ich Sie gerne als wissenschaftlichen Assistenten engagieren. Das Institut für Europäische Studien zahlt zwei Dollar die Stunde, was ganz gut ist. Und ein zusätzlicher Anreiz könnte es sein, daß wir möglicherweise bei den Aufgaben, die damit auf Sie zukommen, das Thema für Ihre Abschlußarbeit finden.« »Wollen Sie damit andeuten, daß Sie selbst meine Arbeit betreuen würden?« »Junger Mann, ich wäre beleidigt, wenn Sie mich nicht darum bäten«, antwortete Kissinger mit verführerischer
Freundlichkeit. »Darf ich also damit rechnen, daß Sie mein
Angebot annehmen, George, oder wollen Sie erst noch einmal darüber nachdenken? Oder es vielleicht mit Ihrem Studienberater besprechen? Wer ist das eigentlich? Dieser junge polnische Kollege Brzezinski?« »Kein Problem. Ich werde es Zbig erklären. Wann soll ich
mit der Arbeit anfangen, Dr. Kissinger?« »Kommen Sie nach dem Mittagessen in mein Büro. Und noch eins, George, von jetzt ab nennen Sie mich bitte Henry, wenn wir nicht im Seminar sind.«
Und so ging das vorletzte Studienjahr des Jahrgangs zu Ende. Während draußen in der Welt Eisenhower von der ihn liebenden großen Familie der Amerikaner zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, wählten mehrere Millionen Menschen einen Angehörigen des Jahrgangs '58 zu ihrem Oberhaupt, ja zum Gott selbst. Denn als der regierende Aga Khan im Sterben lag, bestimmte er unerwartet seinen Enkel Prinz Karim zum geistigen Oberhaupt der moslemischen Ismaeliten. Viele Angehörige dieses Jahrgangs betrachteten das als gutes Omen, so als besäßen auch sie den Segen des Himmels.
George Keller hatte die weiteste Strecke zurückgelegt - geographisch und geistig. Nach kaum sieben Monaten beherrschte er die englische Sprache perfekt. Er war mit allen Feinheiten vertraut. Die einzelnen Worte waren gleichsam nur noch Schachfiguren im Spiel der Kräfte, in dem Argumente ausgetauscht und Gegner überzeugt wurden. Er war jetzt für eine akademische Karriere gerüstet. Und dabei besaß er einen meisterhaften Führer. Denn schon die Tatsache, daß er Henry Kissinger jetzt sehr nahestand, hätte die Zeit in Harvard gelohnt. Ihrer beider Verstand arbeitete auf unheimliche Weise synchron, weshalb er mit der beneidenswerten Aufgabe betraut wurde, im Sommer als Dr.K.s Spezialassistent bei der Durchführung des Internationalen Seminars mitzuarbeiten und die dazugehörige Publikation >Confluence< zu redigieren.
Das Seminar mit seinen Colloquien und öffentlichen Vorträgen hatte einige Dutzend Regierungsbeamte und bedeutende Intellektuelle von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zusammengeführt, um sie mit den neuen globalen Konstellationen der Nachkriegszeit vertraut zu machen. Ein Teil der Aufgaben Georges bestand darin, persönliche Kontakte mit den Vertretern der Ostblockländer aufzunehmen und herauszufinden, was diese wirklich von Harvard, von dem Seminar und schließlich von Kissinger selbst hielten. Trotz anfänglicher Vorsicht verfielen sie bald dem europäischen Charme von George, und früher oder später begannen sie in der fremden Umgebung einer westlich kapitalistischen Universität viel offener zu reden, als sie sich das je vorgestellt hätten.
Natürlich gab es in Henrys Anweisungen auch nicht den geringsten Hinweis darauf, George solle gar so weit gehen und Körperkontakt mit einem der Teilnehmer aufnehmen. Das tat er aus eigener Initiative. Vielleicht lag es an dem schwülen Wetter in Cambridge, an der Situation, daß plötzlich Scharen von aufreizenden Mädchen in extrem kurzen Shorts und superengen T-Shirts, die nicht aus Radcliffe stammten, über den Yard schlenderten. Oder vielleicht war auch das Schuldgefühl, das George zu selbstauferlegter Keuschheit — eine Art sublimierender Buße — getrieben hatte, mit der Zeit verschwunden. Anfang August schlief er mit einer der führenden polnischen Journalistinnen. Sie war an die Vierzig und eine weltgewandte Frau, weshalb ihre Bemerkungen über Georges Liebestechniken Gewicht hatten.
»Mein Junge«, flüsterte sie, »du bist der beste Liebhaber, den ich je gehabt habe.« George lächelte. »... und der kälteste«, fügte sie schnell hinzu. »Du machst alles so, als hättest du es aus einem einschlägigen Buch gelernt.« »Bezweifelst du etwa meine Aufrichtigkeit?« fragte er gutgelaunt.
»Natürlich nicht«, erwiderte sie und lächelte listig: »Ich habe auch nicht eine Sekunde angenommen, daß du überhaupt so etwas hast. Du bist ihr Spion, nicht wahr?«
»Klar«, grinste George, »der Direktor will, daß ich herausfinde, wer von den Teilnehmerinnen im Bett am besten ist.« »Und?« fragte sie unverschämt. »Wenn es einen Leninpreis für Sex gäbe, bekämst du ihn spielend.«
»Ach, George«, gurrte sie, »du redest genauso elegant wie du vögelst. Du hast eine große Zukunft vor dir.« »Auf welchem Gebiet denn?« fragte er und war wirklich neugierig, wie ihn diese weltläufige Frau einschätzte. »Das ist doch klar«, erwiderte sie. »Es gibt nur einen Beruf,
in dem man gleichermaßen deine beiden größten Begabungen benötigt. Ich meine natürlich die Politik«, und sie zog ihn an sich, um sich noch einmal der erotischen Dialektik hinzugeben.
Jason Gilberts Höhenflug zu sportlichem Ruhm ging unbehindert weiter. Er hatte zum zweiten Mal die College-Meisterschaften gewonnen. Und neben allen anderen Ehrungen bewiesen ihm seine Teamkameraden, wie sehr sie ihn schätzten, und wählten ihn zum Mannschaftskapitän - der er im Squashteam bereits war.
Obwohl eigentlich nicht nachtragend, mußte er einfach seinem alten Schuldirektor, Mr. Trumbull, den langen Artikel im >Crimson< schicken, der die stattliche Anzahl seiner sportlichen Errungenschaften bis heute aufführte. Die Lobeshymne schloß: »Wer würde zu spekulieren wagen, in welche Höhen Gilbert im Laufe seines letzten Jahres in Harvard noch gelangen wird?«
Teds und Saras Liebe war so stark geworden, daß schon der Gedanke, sich während des Sommers für zwei Monate trennen zu müssen, unerträglich wurde. Deshalb überredete Sara ihre Eltern dazu, sie auf die Harvard-Summer-School gehen und für die Zeit eine Wohnung in North Cambridge mieten zu lassen. Saras Mutter hatte so ihre Zweifel an der plötzlichen Leidenschaft ihrer Tochter für ein solches zusätzliches Studium. Aber ihr Vater, dem sie anvertrauen konnte, daß ihrer Mutter die Sache tatsächlich zu Recht verdächtig vorkam, unterstützte sie großzügig, und sie erreichte, was sie wollte. Es war ein langer und leidenschaftlicher Sommer, in dem sie sich in einer Sternennacht sogar einmal im Harvard Yard liebten. Der Trennungsschmerz am Labour Day war groß. Sara weinte schon eine Woche bevor sie die Wohnung aufgeben mußten.
Für Danny Rossi war der Sommer 1957 wie eine Ouvertüre zum Höhepunkt seiner bisherigen musikalischen Laufbahn. Charles Munch hatte ihn verpflichtet, am 12. Oktober mit den Bostoner Symphonikern Beethovens Drittes Klavierkonzert zu spielen. Die Triller im ersten Satz sollten überall in der Musikwelt Widerhall finden. Als er Dr. Landau anrief, um ihm jubelnd von dem Engagement zu berichten, erfuhr er zu seiner großen Freude, daß sein Lehrer Geld für ein Flugbillet gespart hatte und zum Konzert kommen wollte.
Dennoch machte ihm das bevorstehende Debüt viel weniger Freude, als er sich immer erträumt hatte. Denn das vorletzte Studienjahr hatte ihm mehr genommen als gegeben. Die erniedrigenden Äußerungen des >Crimson< über sein Ballett verfolgten ihn noch immer. Und dann war da noch die quälende Beziehung zu Maria.
Er hatte gehofft, die Trennung während des Sommers würde lang genug sein, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, auch hoffte er, in Tanglewood ein paar Mädchen verführen zu können, um sein männliches Ego wieder aufzurichten. Aber ein tragisches Ereignis überdeckte plötzlich alles wie mit einem Leichentuch. An dem Abend, als er in Tanglewood eintraf, teilte ihm seine Mutter am Telefon mit, daß Dr. Landau einen tödlichen Herzanfall erlitten hatte. Besinnungslos vor Trauer packte Danny seine Sachen und flog nach Hause zum Begräbnis seines geliebten Lehrers.
Am Grab weinte er hemmungslos.
Als sich die Trauergemeinde nach der kurzen Begräbnisfeierlichkeit zerstreute, flehte ihn seine Mutter an, mit nach Hause zu kommen. Sie sagte Danny, es sei der letzte Wunsch Dr. Landaus gewesen, daß er sich mit seinem Vater versöhnte.
So kehrte der verlorene Sohn endlich in das Haus zurück, in dem er eine so schlimme Jugend verbracht hatte. Arthur Rossi schien sich innerlich und äußerlich verändert zu haben. Er hatte Falten und graue Schläfen bekommen. Für einen flüchtigen Augenblick empfand Danny schmerzliches Bedauern, so, als seien die äußerlichen Anzeichen körperlichen Verfalls durch ihn, den Sohn, verschuldet worden. Aber
als sie sich dann in den ersten peinlichen Augenblicken wortlos gegenüberstanden, mußte Danny wieder daran denken, wie gefühllos dieser Mann ihn behandelt hatte. Er konnte seinen Vater nicht mehr hassen, aber er konnte ihn auch nicht lieben.
»Du siehst gesund aus, mein Sohn.« »Du auch, Vater.« »Es ist lange her...«
Das war wirklich alles, was er über die Lippen brachte.
Dannys Vorstellung einer langersehnten väterlichen Entschuldigung war nur Produkt der eigenen kindlichen Sehnsucht gewesen. So streckte Danny ruhig die Hand aus, und mit einem Großmut, der aus schmerzlicher Trauer wie aus neuentdeckter Gleichgültigkeit herrührte, erklärte er so ihren Streit für beendet. Sie umarmten sich sogar. »Ich bin wirklich froh, mein Sohn«, murmelte Arthur Rossi. »Endlich können wir das Vergangene begraben.« Klar, dachte Danny, scheißegal. Es ist völlig unwichtig geworden. Der einzige, der für mich wirklich wie ein Vater war, ist tot.