15.Andrew Eliots Tagebuch 1. Juni 1958

Als eine Art schmerzstillendes Mittel gegen das Trauma unserer symbolischen Wiedergeburt veranstaltet Harvard in der letzten Woche eine Anzahl erlesener Feierlichkeiten, die am Donnerstagmorgen ihren krönenden Abschluß finden mit der heiligen Handauflegung.
Der Abschlußgottesdienst in der Memorial Church am Sonntag war eine ziemlich matte Sache. Zumindest sagte das einer der Kerle, die tatsächlich hingegangen sind. Es war nicht gerade ein Publikumsrenner. Der offizielle Schlußball am Montag war etwas besser besucht. Etwa die Hälfte des Jahrgangs füllte den Hof des Lowell-Haus, man trug gemietete weiße Abendjacken und tanzte bis in die frühen Morgenstunden zu den weichen Saxophonklängen des >Les-and-Larry-Elgart's-Orchesters<. Falls an eine erzieherische Wirkung gedacht war, wie es meiner Meinung nach bei allem in Harvard der Fall ist, dann sollten wir wohl einen Vorgeschmack bekommen, wie es ist, wenn man in die Jahre kommt. Mit ein oder zwei Cha-Cha-Chas - die gegenwärtige Tanzmode - nahm das Orchester auch die neuere Zeit zur Kenntnis - auch mit ein paar Elvis-Nummern. Aber das waren dann mehr die leisen und vorsichtigen Stücke wie >Love me tender<.

0 ja, wir hatten auch Mädchen dabei. Ich erröte bei dem Geständnis, daß Newall und ich mit Jason ein gesellschaftliches Arrangement getroffen hatten, auf gewisse Weise analog zu der gegenseitigen Begünstigungspolilik zwischen mir und Ted Lambros. Wir erhielten seine ausrangierten Mädchen.
Aber natürlich sind diese Ehemaligen des Jason Gilbert in besonders gutem Zustand. Joe Keezer würde sagen, »kaum getragen«.
Das einzige Problem sind die noch vorhandenen Spuren ihrer Zuneigung zu  Jason.  Weshalb zum  Beispiel  Lucy meine sogenannte Braut für den Abend, und Melissa die mit Newall zusammen sein sollte, sich fortwährend bemühten einen Blick unseres Marshal zu erhaschen, um wenigstens einmal mit ihm zu tanzen — während er sich mit dieser unglaublichen Blondine beschäftigte, einer Sportjournalistin die er sich auf einem Turnier geangelt hatte. Es braucht nicht mehr erwähnt zu werden, daß Dickie und ich trotz unseres atemberaubenden Charmes mit unseren jeweiligen Mädchen nicht mal zu den ersten Fingerübungen kamen.
Aber wir hatten wenigstens etwas Hübsches im Arm was vermutlich der Hauptgrund für viele Paarungen an diesem Abend war. Ted und Sara waren eines der vielleicht zwölf Paare, die wirklich verliebt waren. Morgen abend gibt es eine weitere vergnügliche Veranstaltung (für die mir Gilbert auch schon eine Begleiterin besorgt hat), nämlich eine Mondscheinfahrt durch den Hafen von Boston. Newall läßt das aus da er aus irrationalen Gründen fürchtet, seekrank zu werden. Und wie würde das aussehen, da er doch am nächsten Morgen sein Patent als Marineoffizier in Empfang nehmen soll.

Während dieser künstliche Karneval weitergeht, frage ich mich zunehmend, warum niemand wirklich Spaß daran zu haben scheint. Und ich habe, wie ich meine, dafür eine tiefschürfende Erklärung. Unser Jahrgang ist eigentlich gar kein Jahrgang. Ich meine, wir sind keine Gemeinschaft von Brüdern - im Grunde überhaupt nichts, was zusammenhält.
Während der vier Jahre hier herrscht eigentlich eine Art Waffenstillstand im Kampf um Macht und Ruhm. Und in zwei Tagen werden die Kanonen wieder in Stellung gebracht.

Obwohl es ab und zu geregnet hatte in den ersten Tagen der Feierlichkeiten, bewies der Donnerstag, der 12. Juni 1958, mit seinem heißen und sonnigen Wetter, daß Harvard offenbar über gute Beziehungen zu dem da oben verfügte - ein vollkommener Tag für die 322. Abschlußfeier der Universität.
Jedermann schien sich verkleidet zu haben. Von den gemieteten schwarzen Hüten und Umhängen der Studenten über die grellrosa Umhänge der Doktoranden bis zu dem Kostüm im Stil des 18. Jahrhunderts, das der Sheriff des Middlesex County trug, der zu Pferd die Feier eröffnete.
Angeführt von Jason Gilbert und zwei anderen Marshals schritt der Jahrgang '58 über den Yard, um die University Hall herum auf den großen offenen Platz zwischen Memorial Church und Widener-Bibliothek. Jedes Jahr stehen dort für ein paar Stunden viele Reihen von Holzstühlen, und der mit Bäumen bestandene Ort verändert sich magisch in ein >Dreihundertjahrtheater<. Und wie seit dreihundert Jahren begannen die Feierlichkeilen mit einer lateinischen Ansprache, die vielleicht sechzehn Menschen verstanden, während alle anderen so taten als ob. Dieses Jahr war der Sprecher Theodore Lambros aus Cambridge, Massachusetts, ausgewählt von der Fakultät für klassische Sprachen. Seine Rede stand unter dem Thema De optimo genere felicitatis - >Über die vornehmste Art des Glücks*.
In der lateinischen Ansprache müssen in hierarchischer Reihenfolge die hohen Persönlichkeiten begrüßt werden, angefangen mit dem Präsidenten von Harvard, Pusey, danach erst kommt der Gouverneur von Massachusetts, dann die Dekane, Pfarrer, und so fort. Gespannt ist man dabei aber vor allem auf den traditionellen Gruß an die Mädchen von Radcliffe (die natürlich erst ganz zum Schluß kommen).
»Nec vos ommittamus, puellae pulcherrimae Radcliffianae quas socias studemus vivendi, ridendi, bibendi... «
»Euch wollen wir nicht auslassen, ihr schönsten Mädchen von Radcliffe, deren Gesellschaft wir suchen für das Leben, für das Lachen, das Trinken ... «
Tausende von Händen applaudierten, am stärksten klatschte die Familie Lambros, die kein Wort verstanden hatte. Nach den ganzen Begrüßungen soll der Redner mit einer Art moralischem Motto schließen. »Die vornehmste Art des Glücks liegt in der selbstlosen Liebe zum Mitmenschen« folgte Ted der Tradition.
Wenig später forderte Präsident Pusey den Jahrgang '58 auf, sich zu erheben und sich auf den Stufen der Memorial Church zu versammeln, um in die Gemeinschaft gebildeter Männer aufgenommen zu werden.

Zuerst betrat Marshal Jason Gilbert das Podium um stellvertretend für alle das Diplom entgegenzunehmen. Jasons Vater, der in dem für die Eltern und Verwandten reservierten Teil nahe der Bühne saß, hörte eine Frauenstimme rufen: »Er sieht aus wie aus einem Roman von Scott Fitzgerald.« Mr. Gilbert wandte sich seiner Frau zu, sie solle doch nicht so laut reden. Aber da sah er, daß Betsy weinte. Das Kompliment war von einer anderen Frau in ihrer Reihe gekommen. Er lächelte und dachte: »Keiner hier ist so stolz wie ich«, womit er natürlich unrecht hatte, denn es gab mindestens eintausend Väter des Jahrgangs '58, die alle diesen Moment als euphorischen und stolzen Höhepunkt empfanden.

Vier Jahre zuvor waren 1162 junge Männer nach Harvard gekommen. Heute erhielten 1051 ihre Diplome. Etwas mehr als zehn Prozent von ihnen hatten nicht durchgehalten. Die alten Römer hätten gesagt, sie waren dezimiert worden.
Einige waren durchgefallen und kamen vielleicht in einem der nächsten Jahre wieder, um den Abschluß nachzuholen. Andere hatten ihren Ehrgeiz aufgegeben, Harvard-Studenten zu sein, indem sie entweder den Verstand oder — durch eigene Hand — das Leben verloren hatten. Heute aber gedachte ihrer niemand, denn dies war der Tag der Glückwünsche und nicht des Mitleids.
Nicht einmal Jason dachte an David Davidson, sein Mitbewohner im ersten Studienjahr, der noch immer in Massachusetts in der Klinik lag und, unberührt von seinem anhaltenden Ausfall noch immer von künftigem wissenschaftlichen Ruhm träumte.

Das Essen danach im Eliot-Haus bedeutete für Art und Gisela Rossi, von Danny Abschied zu nehmen, denn am nächsten Morgen würde Danny zurück nach Tanglewood gehen — in diesem Sommer als Solist, und danach ging er nach Europa auf die von Hurok organisierte Konzerttournee.
Seine Mutter konnte nicht umhin, ihn zu fragen, warum Maria nicht hier war. Denn sie hatte das Mädchen wirklich gern gehabt. Art Rossi hatte dafür mehr Verständnis. »Laß doch, Liebling«, flüsterte er, »es war wahrscheinlich nur eine kurze Affäre. Dan ist noch viel zu jung und zu klug, sich schon so früh festzulegen.«
Danny machte das Spiel mit und lächelte. Innerlich aber war er gekränkt, denn als er Maria gebeten hatte, »der alten Zeiten wegen« zu kommen, hatte sie das abgelehnt.
George Keller hatte sich damit abgefunden, allein zu Mittag zu essen. Natürlich war von seiner Familie niemand anwesend. Dann kam Andrew Eliot auf ihn zu. »He, George«, sagte er freundlich, »könntest du mir einen Gefallen tun? Komm doch zu uns an den Tisch und rede mit meinen Stiefschwestern. Ich kann mir ihre Namen nicht merken, aber einige von ihnen sind ganz hübsch.«
»Danke, Andrew, das ist sehr freundlich von dir. Ich bin hingerissen ...«

Am späteren Nachmittag war die Trennung vollzogen. Sie waren in eintausend Atome zerfallen und bewegten sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in verschiedene Richtungen. Würden sie sich wieder als Einheit zusammenfinden?
Waren sie je eine Einheit gewesen?