17. Andrew Eliots Tagebuch 10.März 1959

Nach dem College-Abschluß hatte ich zwar erwartet, mich auf dem offenen Meer wiederzufinden, allerdings in bildhaftem und nicht in des Wortes eigentlichem Sinn.
Nun aber überquerte ich den Atlantik auf einem Schiff der amerikanischen Kriegsmarine. In Anbetracht der bedeutenden Geschichte  meiner  Familie  in  dieser  Waffengattung hatte ich beschlossen, mich nicht einer Sache auszusetzen, bei der ich über die Spuren meiner Vorfahren stolpern könnte. Aber als dann die Mitteilung kam, ich müsse mich innerhalb von neunzig Tagen bei der Armee melden, geriet ich in Panik und fand, ich wolle nicht zwei Jahre meines Lebens damit verbringen,im Schlamm herumzumarschieren. Deshalb meldete ich mich bei der Marine, denn wie schlimm kann es schon auf einem Schiff werden? Wenigstens kann man nirgendwohin marschieren.
Es kam jedoch anders. Das Leben eines Seemanns kann höllisch sein. Während mein alter Mitbewohner Newall als Maat in San Francisco auf ein Schiff voller Kerle wartet, die er anschreien kann, während sie durch die tropischen Meere kreuzen, glaubte ich, mich einmal einem Leben ohne Privilegien unterziehen zu müssen. Weshalb ich jetzt die Marine als ein einfacher Matrose mit weißer Mütze kennenlerne.
Nach der Grundausbildung wurde ich als einfacher Putzlumpen auf das Zerstörer-Versorgungsschiff >St. Clare< abgestellt. Wir sind dazu da, den Zerstörer >USS Hamilton< als eine Art seefahrende Kinderschwester zu begleiten. Ursprünglich  hatte ich dabei zwei Aufgaben.  Einmal, die >St. Clare< seetüchtig zu halten, mit anderen Worten: Deckschrubben. Dann, unserem Maat, der mich sofort von Herzen verabscheute, als eine Art Fußball zu dienen. Ich bekam nicht heraus, warum. Ich hatte ihm nie gesagt, daß ich von Harvard kam oder überhaupt vom College. (Später erzählte man mir, daß er mich »unangenehm höflich« fand — was immer das bedeutet.)
Aber der Kerl war darauf fixiert, mir Kummer zu machen. Und wenn ich nicht gerade eine der zahlreichen Sonderaufgaben erledigte, die er für mich bereithielt, oder Wache schob, stürmte er in unseren Schlafkojenraum und beschlagnahmte, was immer ich gerade las, als »Dreck«. Einmal versuchte ich, ihm eins auszuwischen. Ich deutete beim Essen in der Messe an, ich würde mich früh zurückziehen, um zu lesen, verzog mich schnell in die Koje und las in der Bibel. Wie vorauszusehen, kam er ein paar Minuten später herein, riß mir, ohne genau hinzusehen, das Buch aus der Hand und schrie: »Matrose, Sie lesen verdorbenes Zeug.« Worauf ich vor den zwei anderen noch anwesenden Kameraden bemerkte, ich halte mich an den heiligen Schriften erbaut.
Alles, was er herausbrachte, war: »Ach so«, legte das Buch zurück in die Koje und marschierte hinaus. Diese Schlacht hatte ich zwar gewonnen, aber unglücklicherweise war der Krieg damit verloren.
Von da an schikanierte mich der Kerl Tag und Nacht. Einmal war ich so verzweifelt, daß ich schon desertieren wollte. Aber da waren wir natürlich fast tausend Meilen vom nächsten Landgang entfernt. Bei der Armee zu sein, hat also doch gewisse Vorzüge.
Wenn dies das wirkliche Leben war, dann hatte ich genug davon. Und wenn ich die Marine überleben wollte, mußte ich Hände und Knie vom Deck wegbringen.
Als ich einmal sicher war, daß sich der Kerl irgendwo anders auf dem Schiff aufhielt, suchte ich den Ersten Offizier auf und bat um Versetzung.  Ich  nannte den  eigentlichen Grund nicht, sondern erklärte nur, ich glaubte, andere Fähigkeiten zu haben, mit denen ich der Marine besser dienen könne.
Welche zum Beispiel, fragte er. Ja, welche denn? dachte ich. Dann behauptete ich einfach so, ich könne ganz gut schreiben, und das schien ihn zu beeindrucken. Und so wurde ich in die Informationsabteilung versetzt - zur größten Enttäuschung meines persönlichen Freundes, der mich nun nicht mehr dazu bringen konnte, vom Schiff zu springen.
Ich arbeite jetzt also als eine Art Redakteur und Journalist und schreibe für die verschiedenen internen Marineveröffentlichungen. Die interessanteren Geschichten gebe ich nach Washington durch, von wo aus sie weiterverbreitet werden.
Das hat sich als ganz nette Sache herausgestellt. Bis auf die Tatsache, daß meine einzige Chance, einmal etwas per Funkspruch rauszugeben, vom Kapitän zensiert worden ist   Ich jedenfalls fand es eine interessante Nachricht, aufregend spannend, dramatisch und so weiter - sogar etwas komisch.
Aber irgendwie sahen es die höheren Chargen nicht ganz so. Vergangene Woche fuhren wir in das Mittelmeer ein. Die Nacht war dunkel und nebelig (ganz schön dramatisch, nicht wahr?). Und in dieser gefährlichen Dunkelheit kollidierten wir mit einem anderen  Schiff. Es gab keine Verluste an Menschenleben, aber im nächsten Hafen sind ein paar Reparaturen fällig. Was mich an dem Vorfall so faszinierte, war die Tatsache, daß wir mit unserem eigenen Zerstörer zusammengestoßen waren. Ich fand, die Geschichte bekam dadurch etwas so Menschliches. Aber der Kapitän dachte da ganz anders. Er behauptete, amerikanischen Schiffen passiere so etwas nie. In der Annahme, es sei die Aufgabe des Journalisten, die Wahrheit zu berichten, hob ich hervor, es sei aber gerade geschehen. Daraufhin bekam er einen Wutanfall und schmiß mir seinen beachtlichen Wortschatz zum Thema fehlende Intelligenz an den Kopf. Die Quintessenz bestand darin, die amerikanische Marine mache gelegentlich zwar mal einen Fehler, aber gebe bestimmt darüber keine Pressemitteilung heraus.
In einem Jahr, drei Monaten und elf Tagen werde ich entlassen. Wenn ich Glück habe, ehrenhaft. Wie auch immer, es kann keinesfalls zu früh geschehen.

Sara war die Beste ihres Jahrgangs. Eigentlich hatte nichts in ihrer vorhergegangenen akademischen Ausbildung daraufhingewiesen, daß sie die anderen Radcliffe-Absolventinnen auch noch in Kurzschrift und Maschinenschreiben übertreffen würde. Aber am Ende diesen Sommers konnte sie 110 Worte pro Minute stenographieren und 75 Worte in der Minute tippen, glaube nicht, daß weitere Kurse bei uns Ihre Chancen auf dem Stellenmarkt noch verbessern können«, meinte Mrs. Holmes, die den Sommerkurs geleitet hatte. »Mit Ihrer Schnelligkeit und Ihrem Hintergrund sind Sie hervorragend als Chef-[Sekretärin qualifiziert. Ich schlage vor, Sie bewerben sich einfach auf einschlägige Anzeigen.«
Von dieser Äußerung ermutigt, durchforschten Ted und Sara Zeitungen. In Cambridge schien es so viele offene Stellen  zu geben, daß sie eigentlich auch etwas zu Fuß erreichbares in der Nähe ihrer Wohnung an der Huron Avenue finden mußte.
Die ersten beiden Vorstellungsgespräche führten zu festen Zusagen  und zu einem wirklichen Problem. Der erste Job beim Vizeprräsidenten  der Harvard Trust Rank wurde mil fabelhaften achtundsiebzig Dollar die Woche vergütet, während der Universitäts- Verlag bei längerer Arbeitszeit nur fünfundfünfzig Dollar bot. Aber es war klar, welcher Job beiden besser gefiel. Einmal lag der Verlag näher als die Bank, Sogar im Schneesturm konnte man dorthin schlittern. Und dann war dort die Möglichkeit des Aufstiegs geboten. »Mit Ihren Sprachen können Sie vielleicht schon bald Redakteur werden.« hatte die Personalchefin Mrs. Norton gemeint, als sie sah,
wie Sara auf das Gehaltsangebot reagierte.
Vielleicht der reizvollste Aspekt, fanden sie beide, war die Möglichkeit, dort auf höchstem Niveau einiges über die Welt der Klassik zu erfahren. Sie würden als erste wissen, wer ein Buch worüber schrieb und ob es angenommen oder abgelehnt wurde. Dieses Wissen konnte sich als unschätzbar erweisen, wenn Ted erst einmal eine Anstellung suchte.
Doktorand zu sein war viel härter, als er das je vermutet hätte. Um den Doktor zu erwerben, mußte man ein paar höllisch schwere Seminare in Linguistik, komparativer Grammatik, Metrik, griechischer und lateinischer Stilistik und so weiter machen. Glücklicherweise war er mit einem abendlichen Gesprächspartner gesegnet, mit dem er solche ausgefallenen Dinge diskutieren konnte.
Schon seit dem Sommer, als sie begonnen hatten zusammenzuleben, hatte Ted darauf bestanden, täglich das Abendessen zu machen. Da er der Meinung war, der Küchenchef sollte sein tägliches Studium der Klassik beendet haben, bevor er die Küche betrat, mußte Sara jetzt unangenehmerweise jedesmal bis zehn Uhr warten, bevor Ted soweit war.
Das brachte heikle diplomatische Probleme mit sich. Denn welche Frau konnte etwas gegen ein christliches Mahl einwenden, das mit einem erlesenen griechischen Wein und bei Musik und mildem Kerzenschein von einem überaus erfahrenen Kellner serviert wurde — der sich dann mit ihr zu Tisch setzte und ihr sagte, er liebe sie sehr, und der dann nach dem Essen mit ihr das Bett teilte? Wie hätte eine Frau einem solchen Mann sagen können, daß die Abende zwar zauberhaft waren, sie an den Vormittagen allerdings an der
Schreibmaschine kaum die Augen offenhalten konnte? Sara beschloß deshalb, es gäbe nur eine Möglichkeit, diese mißliche Lage zu ändern, indem sie sich von ihrer Schwiegermutter selbst in die Geheimnisse der Lambros-Küche einweihen ließ. Auf diese Weise könnte sie schon mit dem Kochen anfangen, während Ted sich noch mit indo-europäischen Etymologien herumschlug.
Thalassa Lambros schmeichelte das Interesse ihrer Schwiegertochter sehr, und sie tat alles, um mit ihrer kulinarischen Ausbildung schnell voranzukommen. Das schloß detaillierte Aufzeichnungen ein, die Sara sorgfältig studierte. Im Januar fühlte sie sich sicher genug, die Aufgabe zu übernehmen, das Abendessen zu kochen. Und keinen Augenblick zu früh. Denn Ted hatte zum Ende des Semesters eine ganze Batterie von Sprachprüfungen zu bestehen. Die deutsche Sprache brachte ihn fast um. Verdammt noch
mal, hatte er oft gedacht, warum muß es nur so viel wichtige Literatur über die Klassik in dieser wahnsinnig schweren Sprache geben? Sara hatte drei Jahre lang Deutsch in der Schule gehabt und konnte ihm dabei helfen, ein Gefühl für die langen Satzstrukturen zu bekommen. Sie arbeitete mit ihm ein paar wissenschaftliche Artikel durch und zeigte ihm, wie er die allgemeine Bedeutung durch die angeführten Zitate aus den Klassikern erfassen konnte.
Nach einer dieser kleinen Nachhilfestunden sah er sie mit unverhohlener Zuneigung an und sagte: »Sara, was zum Teufel würde ich ohne dich tun?« »Oh, wahrscheinlich würdest du gerade eine attraktive Kommilitonin verführen.« »Bitte, sag das nicht mal im Spaß«, flüsterte Ted und streichelte sie.
Mit Saras Hilfe und Ermutigung überwand Ted alle Prüfungshürden erfolgreich und begann mit seiner Doktorarbeit über Sophokles. Das brachte ihm den Posten eines Lehrassistenten in Finleys >Geist<-Vorlesung ein.

Er warf sich hin und her und konnte nicht wieder einschlafen. »Liebling, was ist denn?« fragte Sara und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich kann nichts dagegen machen. Ich habe einlach Angst vor morgen.«
»Das ist doch ganz klar«, sagte sie besänftigend. »Das erste Mal vor den Studenten — es wäre ja unnatürlich, wenn du da nicht nervös wärst.« »Ich bin nicht nervös«, erwiderte er, »ich bin vollkommen durchgedreht.« Er setzte sich auf. »Aber Liebling«, versuchte sie ihn zu beruhigen, »es ist doch nur eine Diskussion über >Geist 2<. Die Kerle werden mehr Angst als du haben. Erinnere dich doch an dein erstes Seminar damals.«
»Ja, schon. Ich war ja auch nur ein kleiner ängstlicher Stadtjunge. Aber es heißt, diese verdammten Studenten werden immer pfiffiger. Und es ist albern, aber ich stelle mir vor, daß sich irgendein weltberühmter Prolessor morgen unangemeldet mit in das Seminar setzt.«
Sara sah auf den Wecker. Es war fast fünf Uhr, und es hatte keinen Sinn mehr, Ted zum Schlafen zu überreden.
»Paß auf, ich mach' uns Kaffee und dann höre ich mir einfach an, was du denen erzählen willst — als eine Art Generalprobe.« »Gut«, seufzte er und war erleichtert, nicht mehr länger ans Bett gefesselt zu sein. Sie machte schnell zwei große Becher Nescafe, und sie
setzten sich an den Küchenlisch. Um halb acht begann sie zu lachen. »Was ist denn zum Teufel? Was habe ich falsch gemacht?« fragte Ted beunruhigt.
»Du verrückter Grieche.« Sie lächelte. »Du hast jetzt fast zwei Stunden lang großartig über Homer geredet. Dabei geht es um ganze fünfzig Minuten, also glaubst du nicht doch, daß du für deine ersten Studenten ausreichend vorbereitet bist?« »He«, lächelte er, »du bist eine gute Psychologin.« »Eigentlich nicht. Nur kenne ich meinen Mann besser, als er sich selbst kennt.«
Tag, Zeit und Ort von Teds erster Übung stehen unauslöschlich in seiner Erinnerung. Am Freitag, den 28. September 1959, eine Minute nach zehn Uhr morgens, betrat er einen Seminarraum im Aiston Burr Science Building. Er holte eine lächerlich große Anzahl von Büchern heraus, in denen er viele Passagen sorgfältig angestrichen hatte, die er vorlesen konnte, falls ihm nichts mehr einfallen sollte. Um fünf nach zehn schrieb er seinen Namen und seine Sprechstunden an die Tafel, dann wandte er sich um: vierzehn Studenten, zehn männlich, vier weiblich, mit geöffneten Kollegheften und gezücktem Stift, bereit, jedes seiner Worte aufzuschreiben, saßen vor ihm. Um Gottes willen, dachte er plötzlich, die schreiben ja auf, was ich sage. Wenn ich jetzt einen schlimmen Fehler mache, und einer von ihnen zeigt das Finley? Oder noch schlimmer, einer von ihnen hat schon tausend Jahre Klassik gehabt und erwischt mich gleich hier?
Er öffnete seine Mappe mit den sorgfältig unterstrichenen Notizen, holte Luft und sah auf. Sein Herz schlug so laut, daß er fast fürchtete, man könnte es hören.
»Nur für den Fall, daß einer von Ihnen Physik studiert, möchte ich erst mal sagen, daß dies eine >Geist 2<-Gruppe ist. Ich bin Ihr Diskussionsleiter. Während ich mir Ihre Namen notiere, können Sie sich meinen einprägen. Er steht an der
Tafel. Er ist griechisch und bedeutet >brillant<. aber ob das zutrifft, können Sie dann in ein paar Wochen entscheiden, wenn Sie wollen.« Gelächter. Sie schienen ihn zu mögen. Es begann, ihm Spaß zu machen.
»Die Vorlesung behandelt nichts weniger als die Wurzeln aller westlichen Kultur. Die zwei Epen, die man Homer zuschreibt, stellen die ersten Meisterwerke westlicher Literatur dar. Wie wir in den nächsten Wochen erfahren werden, ist die >Ilias< unsere erste Tragödie und die >Odyssee< die erste Komödie...«
Von diesem Moment an sah er nicht mehr in seine Notizen.
Er schwärmte einfach von der Bedeutung Homers, seinem Stil, der mündlichen Überlieferung und dem frühen Heldenverständnis der Griechen. Bevor er es begriff, war die Stunde fast vorbei. »O je«, sagte er lächelnd, »ich fürchte, ich bin etwas abgeschweift. Jetzt mache ich aber Schluß. Haben Sie noch Fragen?« In einer der hinteren Reihen hob sich eine Hand. »Haben Sie Homer auf Griechisch gelesen, Mr. Lambros?« fragte eine junge Radcliffe-Studentin mit Brille. »Ja«, antwortete Ted stolz. »Würden Sie vielleicht so freundlich sein, eine Passage im Original zu sprechen, damit wir ein Gefühl für den Klang bekommen?« Ted lächelte. »Ich tue, was ich kann.« Dann rezitierte er auswendig, obwohl er die Originaltexte vor sich auf dem Tisch hatte, mit Emphase den Anfang der >Ilias<, wobei er die Worte besonders hervorhob, die die Studenten vielleicht verstanden.
Zu seiner größten Verwunderung applaudierte die kleine Gruppe. Die Glocke läutete. Ted fühlte sich plötzlich erleichtert, stolz und erschöpft. Er hatte keine Ahnung, wie er gewesen war, bis er ein paar Bemerkungen der Studenten aufschnappte, die den Raum verließen. »Mensch, da haben wir Glück gehabt«, hörte er einen sagen. »Der Kerl ist eine Bombe«, sagte ein anderer. Als letztes hörte Ted — oder glaubte zu hören —, wie eine weibliche Stimme äußerte: »Der ist sogar besser als Finley.« Aber das war sicher ein Produkt seiner müden Einbildung.
Denn John M. Finley war einer der bedeutendsten Lehrer in der Geschichte Harvards.

Jason Gilbert gestaltete die ersten Monate seines Sheldon-Stipendiums zu einer ausgewogenen Mischung von Kultur und Sport. Er nahm an so vielen europäischen Tennisturnieren teil wie nur möglich, verbrachte aber ebensoviel Zeit in Museen wie beim Tennisspielen. Obwohl die Bedingungen seines Stipendiums ausdrücklich ordentliche akademische Studien untersagten, betrieb er den Winter über das verglei- chende Studium des internationalen Skisports — mit besonderer Berücksichtigung der Abfahrten Österreichs, Frankreichs und der Schweiz.
Als seine Begeisterung für diesen Sport zusammen mit dem Schnee abzutauen begann, machte er sich nach Paris auf, der Stadt zahlloser sinnlicher Vergnügungen. Er konnte kein Französisch, beherrschte aber perfekt die internationale Sprache des Charmes und mußte nie sehr lange nach weiblichen Fremdenführern Ausschau halten. Innerhalb weniger Stunden befreundete er sich mit einer Kunststudentin namens Martine Pelletier. Während sie einen Monet im >Jeude Paume< bewunderte, hatte er ihre Beine bewundert. Sie schlenderten zusammen die Boulevards entlang, und Jason bestaunte das Leben in Paris und beugte sich immer wieder vor, um die Unmenge von Plakaten mit Kulturereignissen zu studieren. Eines davon interessierte ihn besonders: Salle Pleyel. Pour la premiere fois en France la jeune Sensation americaine Daniel Rossi, pianiste.
»Sieh mal an«, sagte er stolz zu Martine, »den Kerl kenne ich. Sollen wir hingehen und uns ihn anhören?« »Das fände ich wunderschön.«

Und so kam es, daß durch einen glücklichen Umstand des Schicksals Jason Gilbert unter den Zuhörern war, als Danny sein triumphales Debüt in Paris hatte.
Vor dem Künstlerzimmer mußten sich Jason und Martine durch eine Riesenmenge von Reportern und Verehrern kämpfen, um nahe genug an Danny heranzukommen und von ihm gesehen zu werden. Der Star des Abends war entzückt, seinen Studiengenossen zu sehen, und begrüßte Jasons hübsche Begleiterin in schnellem, flüssigem und elegantem Französisch. Jason schlug vor, sie sollten zusammen zum Essen gehen, aber Danny hatte eine Privateinladung, zu der er sie leider nicht mitnehmen konnte.
Später aßen sie eine dicke Zwiebelsuppe in den Markthallen, da fragte Martine: »Ich dachte, dieser Danny Rossi sei dein Freund.«
»Warum bezweifelst du das?« »Weil er mich aufgefordert hat, mit ihm heute nacht zu >Castels< zu gehen — ohne dich.« »Dieser geile kleine Ochse, er glaubt, er sei ein Geschenk Gottes an die Frauen.« »Nein, Jason«, lächelte sie, »das bist du. Er ist nur ein Geschenk Gottes an die Musik.«
Ende April 1959 hatte Jason genug von den Museumsstücken vergangener Zeiten und brannte darauf, wieder auf den Tennisplatz zu kommen. Für eine Art Abschiedstournee meldete er bei allen internationalen Turnieren, in die er sich hineinschwindeln konnte. Aber sogar dieser Teil seiner Reise stellte sich als Bildungserlebnis heraus. Denn er begriff, wie weit entfernt er davon war, der beste Tennisspieler der Welt zu sein. Er kam nie über das Viertelfinale hinaus und empfand es schon als kleinen Triumph, wenn er auch nur einen Satz gegen einen gesetzten Spieler gewann. Bei den Internationalen Tennismeisterschaften von Gstaad hatte er die zweifelhafte Ehre, als ersten Gegner den Australier Rod Laver zu ziehen. Jason ging in drei Sätzen ohne Spielgewinn unter, nahm aber die Niederlage mit Anstand. Als sie sich nach dem Spiel die Hand schüttelten, sagte er: »Rod, es war für mich eine Ehre, von Ihnen untergebuttert worden zu sein.« »Danke, Yankee. Gutgemacht.«
Jason ging langsam vom Platz, schüttelte den Kopf und fragte sich, warum er an diesem Nachmittag so langsam — oder warum der Ball so schnell gewesen war. Eine große junge Frau mit einem braunen Pferdeschwanz kam auf ihn zu, um ihn freundlich zu trösten.
»Heute haben Sie kein Glück gehabt, nicht wahr?« Sie sprach Englisch mit einem reizenden fremden Akzent. »Aber jetzt habe ich Glück«, antwortete er. »Spielen Sie beim Turnier mit?« »Ja, ich bin morgen nachmittag im Damen-Einzel. Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie nicht am Freitag mit mir das gemischte Doppel spielen wollen.« »Warum das denn? Sie haben doch gerade gesehen, wie
schlecht ich bin.« »Ich bin auch nicht besonders gut«, antwortete sie offen. »Das heißt, wir werden wahrscheinlich beide geschlagen.«
»Aber es könnte trotzdem Spaß machen. Das ist doch die Hauptsache, finden Sie nicht?« »Ich bin so erzogen worden, daß für mich das Wichtigste ist, zu gewinnen«, sagte Jason mit fröhlicher Offenheit. »Aber ich revidiere gerade meine Theorie. Warum also nicht. Es wäre mir ein Vergnügen, in Ihrer Gegenwart geschlagen zu werden. Übrigens, wie heißen Sie?« »Fanny van der Post«, antwortete sie und streckte die Hand aus. »Ich bin Mitglied des holländischen Universitätsteams.« »Ich bin Jason Gilbert, kaum gut genug als Balljunge für Rod Laver, wie Sie gesehen haben. Wollen wir unsere Strategie für das Doppel heute abend beim Essen diskutieren?«
»Ja«, antwortete sie. »Ich wohne im Boo Hotel in Saanen.«
»Welcher Zufall«, bemerkte Jason. »Ich auch.« »Das weiß ich. Ich habe Sie gestern abend in der Bar gesehen.« Am selben Abend fuhren sie in Jasons gemietetem Volkswagen zu einem dreihundert Jahre alten Gasthof in Chlösterli. »Mein Gott«, sagte Jason, als sie sich setzten, »dies Ding ist älter als Amerika.« »Jason«, lächelte Fanny, »fast alles auf der Welt ist älter als Amerika. Haben Sie das noch nicht bemerkt?« »Ja, ja«, räumte er ein, »diese ganze Reise war wie eine Dampfwalze für mein Ego. Ich komme mir vor, als wäre ich erst gestern zur Welt gekommen und nur sechzig Zentimeter groß.«
»Ich kann Ihnen sagen, Jason«, meinte sie mit einem Augenzwinkern, »wenn Sie wirklich begreifen wollen, wie es ist, wenn man klein ist, dann kommen Sie nach Holland. Vor langer Zeit waren wir einmal eine Weltmacht — uns gehörte sogar der Central Park in New York. Heute sind wir nur noch deswegen berühmt, weil wir der Welt Rembrandt und das Wort Cookie geschenkt haben.« »Setzen sich alle Holländer selbst so herab?« »Ja, das ist unsere raffinierte Art, arrogant zu sein.«
Sie unterhielten sich ohne Pause bis in die frühen Morgenstunden. Als sie sich endlich gute Nacht sagten, wußte er, dieses Mädchen war etwas Besonderes.
Fanny war in den ersten Kriegsjahren auf einem Bauernhof bei Groningen geboren worden und hatte die schrecklichen Zeiten des Hungers, die gegen Ende des Krieges ihr Land fast zugrunde gerichtet hatten, überlebt. Trotz einer schweren Kindheit war sie fröhlich und optimistisch, was ihm sehr gefiel. Und obwohl Fanny Ehrgeiz hatte, wurde sie von ihm keineswegs aufgefressen. Sie studierte Medizin in Leyden, gerade genug, um eine gute Ärztin zu werden, und trainierte nur so viel Tennis, um anständig zu spielen.

Aus der Unterhaltung an diesem Abend schloß Jason, daß Fanny der ausgeglichenste Mensch war, dem er je begegnet war. Sie war weder ein gehirnlastiges Radcliffe-Mädchen, das um eine Professur für Medizin kämpfte, noch eine Gesellschaftszicke aus Long Island mit nichts im Kopf, deren einziges Lebensziel der Ehering war. Fanny hatte eine Eigenschaft, die er bisher bei keinem Mädchen
erlebt hatte, mit der er in Amerika ausgegangen war: Sie war ganz einfach froh, sie selbst zu sein.
Als er am nächsten Nachmittag auf der Tribüne saß und ihr beim Spielen zusah, wuchs seine Bewunderung noch mehr. Nicht nur war sie am Abend vor ihrem Match lange aufgeblieben, sondern sie hatten auch eine ganze Menge Wein getrunken. Er war sicher, das Mädchen aus Florida, gegen das sie spielte, war um neun Uhr mit einem Glas heiße Milch ins Bett gegangen. Aber Fanny war immer noch so gut, daß ihre Gegnerin um den Sieg zu kämpfen hatte. Ihr Service war stark und genau, und sie verlor erst im zweiten Satz ihr erstes Aufschlagspiel, als der starke amerikanische Teenager sie langsam müde werden ließ. Fanny verlor 7:5, 5:6, 1:6. Jason
kam mit einem Handtuch und einem Glas Orangensaft an den Platz.
»Danke«, keuchte Fanny, »aber ich hätte lieber ein schönes kaltes Bier. Ein aggressiver kleiner Teufel ist das, nicht wahr?« »Ja, das stimmt«, antwortete Jason, »ich wette, ihr Vater hätte sie versohlt, wenn sie verloren hätte. Hat Sie sein Gebrüll nicht verrückt gemacht?« »Nein, ich höre nie etwas, wenn ich spiele. Jedenfalls hat es mir Spaß gemacht.«
Sie gingen zusammen zu den Umkleidekabinen. »Wissen Sie, Sie könnten wirklich sehr gut sein, wenn Sie an sich arbeiten würden.«
»Hören Sie auf. Tennis ist ein Spiel. Wenn ich wirklich mehr trainieren würde, würde es zum Beruf. Wo wollen Sie heute abend essen?«
»Ich weiß nicht. Schlagen Sie etwas vor.« »Gehen wir ins >Rougemont< und essen Fondue. Heute bin ich an der Reihe mit einer Einladung.«
Am Abend besprachen sie nur kurz ihre Strategie für das Doppel. Da Fanny kleiner war (wenn auch nicht sehr), wollte sie am Netz spielen. »Ich verlasse mich darauf, daß erst gar kein Ball durchkommt«, scherzte Jason. »Machen Sie sich nur keine allzu großen Hoffnungen. Ich glaube, Sie mit Ihrem amerikanischen Wettbewerbsdenken meinen im Ernst, wir könnten morgen gewinnen.« »Na ja«, sagte Jason, »ich gebe zu, das dachte ich. Die beiden Flaschen, gegen die wir spielen, könnten ja schlechter sein als wir.« »Bei diesem Turnier gibt es niemanden, der schlechter ist als wir.« »Mein Gott, Sie sind wirklich ein großartiger Partner. Sie zerstören mein Selbstvertrauen.« »Nichts könnte Ihr Selbstvertrauen zerstören, Jason.« Sie lächelte bedeutungsvoll.
Fast gewannen sie.
Keiner ihrer Gegenspieler, ein spanisches Paar, schlug besonders harte Bälle, und sie gewannen sogar den ersten Satz recht leicht. Dann plazierten die Gegner ihre langen hohen Bälle mit größerer Genauigkeit, spielten an Fanny vorbei und ließen Jason bis zur Erschöpfung laufen. Nach dem Marathonkampf schwitzte er und rang in der dünnen Schweizer Luft nach Atem. Er war zu erschöpft, um sich umzuziehen, saß einfach auf einer Bank und dachte über die eigene Schwäche nach. Fanny kam mit zwei Papierbechern Mineralwasser und setzte sich neben ihn. »Gott sei Dank haben wir verloren«, sagte sie und wischte ihm das Gesicht mit einem Handtuch ab. »Noch mal ein so langer Nachmittag wäre nichts für mich. Aber ich sage Ihnen etwas, Jason. Ich finde, wir haben ganz gut zusammen gespielt fürs erste Mal. Nächstes Jahr werden wir sicher etwas knapper verlieren.«
»Das mag schon sein, aber nächstes Jahr kann ich nicht. Da werde ich schon woanders erwartet...« »Erwartet?« fragte sie, »vermutlich von einem Mädchen?« »Ganz richtig«, erwiderte er, »meine Braut heißt das United States Marine Corps. Sie kriegt mich für zwei Jahre ab September.«
»Was für eine Verschwendung.« Sie lächelte. »Wann fahren Sie zurück?« »Oh, ich habe noch etwa drei Wochen Zeit«, antwortete er.
Dann sah er ihr in die Augen. »Und die würde ich gerne mit Ihnen verbringen — aber nicht mit Tennisspielen.« »Das ließe sich machen«, antwortete sie. »Ich habe den VW«, sagte er, »wo würden Sie gern hinfahren?«
»Ich wollte immer mal gerne nach Venedig.« »Warum?« fragte Jason. »Weil es dort Kanäle gibt wie in Amsterdam.« »Das ist ein sehr guter Grund«, antwortete er.
Sie ließen sich Zeit, fuhren erst durch die Schweizer Berge, dann nach Italien, wo sie ein paar Tage am Corner See blieben. Und die ganze Zeit unterhielten sie sich. Jason hatte inzwischen das Gefühl, daß er alle ihre Freunde gut kannte und sie auflisten könne, und Fanny entdeckte, daß ihr neuer Freund viel komplizierter war als der hübsche blonde Tennisspieler, den sie aus der Ferne in einer vollen Hotelhalle bewundert hatte.
»Was für ein Amerikaner bist du eigentlich?« fragte sie, als sie am Seeufer saßen.
»Was meinst du damit?«
»Da du offenbar keine Rothaut bist, wird deine Familie doch irgendwoher gekommen sein. Ist Gilbert ein englischer Name?« »Nein, der ist einfach so erfunden. Als meine Großeltern auf Ellis Island ankamen, hießen sie Grünwald.« »Deutsch?« »Nein, Russen. Russische Juden eigentlich.« »Ah, dann bist du Jude«, sagte sie mit offensichtlichem Interesse. »Na ja, eigentlich nur ein bißchen.« »Wie kann man denn nur ein bißchen Jude sein. Das wäre genauso wie ein bißchen schwanger, oder?«
»Na ja, Amerika ist ein freies Land. Und da meinem Vater die Religion nichts bedeutete, beschloß er, er könnte wie alle anderen sein.«
»Aber das geht doch gar nicht. Ein Jude kann nur Jude sein.«
»Warum denn? Du bist protestantisch, aber könntest du nicht katholisch werden, wenn du willst?« Sie sah ihn ungläubig an. »Ein ganz schön naives Argument für jemanden, der so intelligent ist wie du, Jason.
Glaubst du etwa, Hitler hätte dich und deine Familie verschont, nur weil ihr euren Glauben verleugnet?«
Das Gespräch begann ihn zu irritieren. Worauf wollte sie hinaus?
»Warum berufen sich alle auf Hitler, um mich davon zu überzeugen, daß ich Jude bin?« fragte er. »Mein Gott, Jason«, antwortete sie, »begreifst du denn nicht, du hast deine Kindheit nur wegen des Atlantiks überlebt. Ich bin unter den Nazis aufgewachsen. Ich habe gesehen, wie sie unsere Nachbarn abgeholt haben. Meine Familie hat sogar während des Krieges ein jüdisches Mädchen versteckt.«
»Wirklich?«
Sie nickte. »Ja, Eva Goudsmit. Wir sind wie Schwestern aufgewachsen. Ihre Eltern hatten eine Porzellanfabrik und waren — so dachten sie jedenfalls - Stützen der holländischen Gesellschaft. Aber die Soldaten, die sie verschleppten, beeindruckte das überhaupt nicht.«
»Was ist mit ihnen passiert?« fragte Jason ruhig.
»Das, was vielen Millionen Juden in ganz Europa passiert ist. Nach dem Krieg suchte Eva überall nach ihnen. Sie stellte bei allen möglichen Stellen Nachforschungen an, aber konnte sie nicht mehr finden. Alles, was sie herausfand, war, daß ein entfernter Vetter von ihr in Palästina lebte. Als sie mit der Schule fertig war, ging sie zu ihm dorthin. Wir stehen immer noch in Verbindung. Jeden zweiten Sommer oder so fahre ich in ihren Kibbuz in Galiläa.«
Dieses Gespräch und die vielen anderen, die sie in den Wochen ihres Zusammenseins führten, ließ bei Jason den festen Wunsch entstehen, etwas über seine Herkunft zu erfahren. Und es war eine Ironie des Schicksals, daß er diesen Wunsch nicht einem anderen Juden, sondern diesem christlichen Mädchen aus Holland verdankte, das er von Tag zu Tag lieber gewann.
Er hatte sie nach Amsterdam fahren und von dort das Flugzeug nehmen wollen. Aber sie verliebten sich in Venedig und blieben so lange dort, bis Jason zurück mußte. Der Abschied auf dem Flugplatz brachte ihn ganz durcheinander. Nachdem sie sich immer wieder umarmt und geküßt hatten, schwor Jason ihr, er werde mindestens einmal in der Woche schreiben.
»Bitte glaub doch nicht, daß du so etwas sagen mußt. Es ist wunderschön gewesen, und ich werde immer in Liebe an dich denken. Aber wir sollten uns nichts vormachen und etwa glauben, wir würden zwei Jahre lang dasitzen und uns nacheinander sehnen.« »Das sagst du so, Fanny«, protestierte er. »Ich meine, wenn du dasselbe für mich empfindest, was ich für dich empfinde ...«
»Jason, du bist der netteste Mann, dem ich je begegnet bin. Und mir ist noch nie jemand so nahe gewesen. Warum warten wir nicht einfach ab, was passiert— solange wir uns nur keine falschen Illusionen machen.«
»Hast du mal die >Odyssee< gelesen, Fanny?« »Ja, natürlich. Die beiden waren zwanzig Jahre getrennt.« »Damit verglichen, was sind da vierundzwanzig Monate.« »Die >Odyssee< ist ein Märchen, Liebes.«
»Okay, mein ironisches kleines holländisches Mädchen«, erwiderte Jason und versuchte, sie wie John Wayne zu beeindrucken, »du versprichst mir einfach, jeden Brief zu beantworten, den ich schreibe, und dann sehen wir mal, was passiert.«
»Das verspreche ich.«
Sie umarmten sich ein letztes Mal. Er ging zu seinem Flugzeug, oben von der Tür aus blickte er zum Besucherbalkon hinüber, wo sie stand. Sogar über diese Entfernung sah er, daß ihr die Tränen über das Gesicht liefen.
 

JDanny Rossi erwachte und war etwas verwirrt, sich in einem fremden, wenn auch prunkvollen Hotelzimmer wiederzufinden. Auf seinen gedrängten Konzerttourneen war er es gewohnt, die Hotelzimmer so oft wie Schlafanzüge zu wechseln. Aber er hatte immer genau gewußt, wo er sich befand, in welchem Land, in welcher Stadt, in welchem Hotel, und mit welchem Orchester er auftrat.
Während er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, erblickte er fünf glitzernde goldene Statuen auf der Kommode hinter dem Bett. Da kam es ihm langsam wieder. Am vergangenen Abend war die jährliche Feier der Grammy Awards gewesen. Die besten Schallplatten des Jahres wurden prämiert. Es war eine festliche Galaveranstaltung im großen Ballsaal des Century Plaza Hotels in Los Angeles. Er war gerade rechtzeitig eingeflogen, war ins Beverly Wilshire Hotel gefahren, hatte sich in einen Smoking geworfen und war zu der wartenden Limousine geeilt, mit der ihn zwei Werbefritzen zu der Feierlichkeit geleiteten.
Dannys Sieg als bester Pianist klassischer Musik kam nicht unerwartet. Die Auszeichnungen werden schließlich ebenso für den geschickten Umgang mit den Medien wie für die musikalische Virtuosität verliehen. Und in beidem war er ein Meister geworden. Während man darüber hätte streiten können, ob seine Interpretationen sämtlicher Klavierkonzerte Beethovens das beste klassische Werk der letzten zwölf Monate war, stand es außer Frage, daß seine Öffentlichkeitsarbeit unübertroffen war.
Was aber an dem Abend besonderes Aufsehen erregt hatte, war sein zweiter Grammy für das beste Jazzalbum eines Solisten. Das war der krönende Abschluß dieses kleinen Spaßes vom Abend seines ersten Auftritts mit den New Yorker Philharmonikern, als er auf der Party danach ein Potpourri aus Musicalmelodien gespielt hatte. Denn dieser Herr, der ihn damals um einen Termin gebeten hatte, meldete sich tatsächlich am nächsten Tag wieder. Wie sich herausstellte, war es Edward Kaiser, Präsident der Columbia Schallplatten Gesellschaft, und er war sich absolut sicher, daß es eine große Zahl von Musikhörern zwischen Klassik und Unterhaltung gab, die Dannys musikalische Nebenprodukte wie Champagner schlürfen würden.
Zunächst verkaufte sich >Rossi am Broadway< langsam, aber sicher, was hauptsächlich an der stetig zunehmenden Bekanntheit Dannys lag. Als er aber dann in der Fernsehshow von Ed Sullivan auftrat, stiegen die Absatzzahlen von dreitausend auf fünfundsiebzigtausend Stück die Woche.
Die Sullivan Sendung kam auch zu einem außerordentlich günstigen Zeitpunkt. Bis dahin hätte man jede Wette abgeschlossen, daß Count Basie der Preisträger würde. Aber nach Eds monotoner und mächtig übertreibender Einführung: »Amerikas großes neues musikalisches Genie« wendete sich das Blatt. Damit schrieb Danny ein weiteres Stück Musikgeschichte — an ein und demselben Tag
gewann er einen Grammy in der Kategorie klassische Musik und einen in der Kategorie Jazz-Musik. Wie Count Basie gesagt haben soll, er war eben ein »kleiner Glücksvogel«.
Danny versuchte, die einzelnen Mosaiksteinchen zusammenzusetzen, konnte sich aber noch immer nicht erklären, wo die vielen anderen Goldstatuen herkamen, die da im ersten Licht des Tages glänzten. Wie, zum Teufel, kamen sie dorthin? Aber das Rätsel würde sich sicher lösen, wenn erstmal das Geheimnis ergründet war, warum er sich in diesem   fremden   Hotelzimmer   befand.   Im   Badezimmer rauschte Wasser. Jemand vollzog dort morgendliche Waschungen. Offensichtlich hatte er das Zimmer und, wie es
schien, auch das Bett mit jemandem geteilt. Warum war nur sein sonst so messerscharfes Gedächtnis derart vernebelt?
Da ertönte eine klare weibliche Stimme: »Guten Morgen, Liebling.« Und es folgte der Auftritt von Carla Atkins, dreifache Grammy-Gewinnerin, makellos frisiert und in durchsichtigem Morgengewand.
»Hallo, Carla«, schwärmte Danny, »du warst letzte Nacht ein wirklicher Schlager.« »Du warst auch nicht gerade schlecht, Baby«, gurrte sie und kroch zu ihm.
»Vermutlich meinst du nicht die Grammies«, fragte Danny mit einem Lächeln. Carla lachte ihr tiefstes Lachen: »Mit den kleinen Dingern kann man im Bett nichts anfangen. Wir beide haben eine besondere Belohnung verdient, findest du nicht auch?«
»Da bin ich aber froh, daß du das sagst«, antwortete Danny ehrlich. »Ich wollte nur, ich könnte mich etwas besser an meinen Abend mit Amerikas größter Sängerin erinnern.
Haben wir etwas getrunken?«
»Klar, ein bißchen Sekt da unten. Und als wir raufkamen, habe ich ein paar Amies verteilt.« »Amies?« »Ja, Schätzchen.. Amylnitrite. Du weißt schon, diese süßen kleinen Pillen mit dem anregenden Geruch. Sag nur nicht, daß es das erste Mal war.« »War es aber«, gestand Danny. »Warum kann ich mich nur nicht daran erinnern, ob es mir Spaß gemacht hat oder nicht?«
»Weil du so high warst wie ein Raumschiff, mein Kleiner. Ich mußte dir später ein paar Sedative geben, sonst hättest du an der Zimmerdecke getanzt. Wie wäre es denn mit Frühstück?«
»Aber klar doch — gut, daß du es erwähnst«, antwortete Danny. »Wie wär's mit fünf oder sechs Eiern und Speck und Toast?« Carla Atkins lächelte. »Ich verstehe«, sagte sie, rief den Zimmerservice an und besteilte Frühstück für ein Quintett. »Quintett?« fragte Danny, als sie aufgelegt hatte. »Ja, Liebling — für die kleinen Kerle da drüben«, und sie zeigte auf die in einer Reihe stehenden fünf glänzenden Grammies.

Die Stewardeß bot ihm Sekt an. »Nein, danke«, sagte Danny höflich. »Aber Mr. Rossi, Sie sollten Ihren Triumph feiern«, sagte sie und lächelte einladend. Sie war sehr hübsch. »Also schön. Rufen Sie mich, wenn Sie es sich anders überlegen — und ich gratuliere.«
Sie zögerte noch einen kurzen Moment, in der Hoffnung, Danny würde sie um ihre Telefonnummer bitten, dann ging sie weiter und kümmerte sich um die anderen Stars, die an diesem Nachmittag in der ersten Klasse von Los Angeles nach New York flogen.

Danny war tief in Gedanken. Er zerbrach sich den Kopf und versuchte herauszubekommen, was passiert war, nachdem er in Carla Atkins Hotelzimmer gekommen war. Allmählich kam es ihm wieder. Zuerst war da das aufregende Vergnügen, mit dem unbestrittenen Star des Abends zusammenzusein. Dann das Vergnügen, mit ihr zu schlafen. Und dann nach ihren Pillen dieses phantastische Gefühl. Ja, er erinnerte sich an seine wilde Fröhlichkeit. Sein Herz schlug schnell nur bei der Erinnerung daran. Er hatte sich durch die Pillen wirklich stark gefühlt. Aber das Zeug, was sie ihm dann gegeben hatte, um ihn wieder runterzuholen, hatte ihm den Kopf vernebelt.
Und er hatte vergessen, sie zu fragen, was das denn gewesen war.