Morgen heirate ich. Das wird sicher sehr interessant. Newall hängt in Hawai fest mit der Marine und kann nicht kommen. Aber sonst sind alle meine Freunde dabei - einschließlich Ted und Sara Lambros und sogar dieser verrückte George Keller.
Weil ich ihn irgendwie bewundere, habe ich Jason Gilbert gebeten, Trauzeuge zu sein. Er war einverstanden, weigerte sich aber, seine Uniform anzuziehen, obwohl das der Sache Glanz verliehen hätte.
Nach der Kirche findet ein Sektempfang im Beacon Hill Club statt. Dann fliegen wir nach Barbados in die Flitterwochen, kehren dann nach New York zurück, wo ich als Lehrling bei Down, Winship, Investment Bankers, arbeiten werde.
Ich bin sicher, es wird eine vergnügliche Sache - besonders, wenn mir erst mal klargeworden ist, wie mir das alles so schnell passieren konnte. Von einem bestimmten Standpunkt aus könnte man sagen, meine Eltern hätten Druck ausgeübt.
Obwohl es das in unserer Familie eigentlich nicht gibt. Mein Vater macht immer nur Vorschläge. Als ich letzten Sommer von der Marine gerade rechtzeitig ausgemustert wurde, um mit der Familie zusammen in Maine zu sein, erwähnte er beiläufig, er vermute, ich würde wohl in nächster Zeit heiraten. Worauf ich pflichtgemäß erwiderte, das sei wohl so. Und damit war dann die Unterhaltung eigentlich auch schon zu Ende, nur daß er noch hinzufügte: »Schließlich sollte man als Mann nicht so lange warten, bis man jenseits von Gut und Böse ist.«
Nachdem es keine Decks mehr zu schrubben und keine maritimen Berichte mehr zu schreiben gab, wußte ich, um ehrlich zu sein, nicht mehr so recht, was tun. Auch hatte die lange Zeit auf See mich noch spitzer auf das weibliche Geschlecht gemacht. Und wahrscheinlich ist die Ehe doch die beste Losung des Problems.
Bis vor kurzer Zeit hatte ich die romantische Vorstellung, Heiraten hätte etwas mit Liebe zu lun. Aber eigentlich wußte ich ja gar nichts vom Leben - so isoliert, wie ich erst in Harvard und dann auf dem weiten Meer war.
Die Liebe ist eines der wenigen Dinge, die meinen Vater so stark beschäftigen, daß er sie mit einem für seine Verhältnisse vulgären Wort belegt. Wir waren ein paar Tage später auf dem See beim Fischen, als ich erwähnte, wie sehr mich die Hochzeit von Ted und Sara ergriffen hätte, und die beiden seien für mich das ideale Liebespaar. Mein Vater zog die Augenbrauen hoch, sah mich an und sagte: »Andrew, weißt du nicht, daß Liebe eigentlich... Quatsch ist?«
Natürlich hatte ich bei der Marine schon stärkere Kraftausdrücke gehört, sicher aber nicht aus dem Mund meines Vaters. Er erklärte mir dann geduldig, als er jung war, seien die besten Ehen nicht im Himmel, sondern beim Mittagessen im Club geschlossen worden. Es sei schade, daß dies aus der Mode komme.
Zum Beispiel habe sein Freund Lyman Pierce, der Verwaltungsratsvorsitzende der Boston Metropolitan Bank, eine ganz phantastische Tochter, mit der er mich früher in den guten alten Zeiten vorzüglich verheiratet hätte. Ich gab zu, ich hätte ganz und gar nichts gegen Begegnungen mit phantastischen Frauen und würde die Dame gerne einmal anrufen, solange das auf freundschaftlicher Basis möglich sei - und ohne jede Verpflichtung.
Worauf mein Vater sagte, ich würde es sicher nicht bereuen, und sich wieder den Fischen zuwandte.
Ich hatte keine großen Erwartungen, als ich Faith Pierce anrief, und zwar unter der Nummer der Stiftung zum Schutz wilder Tiere, wo sie ganztägig als freiwillige Helferin arbeitete. Ich nahm an, sie sei eine fade, überprivilegierte, eingebildete Gesellschaftszicke. Nun ja, sie mochte eine Menge davon sein, aber eines war sie nicht: fade. Und was mich sehr überraschte, als wir uns trafen, sie sah sehr gut aus. Ich meine sie war eines der hübschesten Mädchen, die ich je gesehen
hatte. Ich fand, sie konnte durchaus mit Marilyn Monroe mithalten, bestimmt jedenfalls, was ihr Geld anging.
Mehr noch, ich mochte sie. Sie war unter den sogenannten Blaublütigen ein seltener Vogel - denn sie war begeisterungsfähig. Alles, was sie tat, war für sie »ein Riesenspaß«. Ganz gleich, ob es darum ging, am Charles River Fußball zu spielen, besondere Köstlichkeiten im Feinschmecker-Lokal von Maitre Jacques zu sich zu nehmen oder vor der Ehe miteinander zu schlafen. Ihr ganzes bisheriges Leben war anscheinend »ein Riesenspaß« gewesen.
Ihre Eltern waren nicht allzu gut miteinander ausgekommen. Als sie sich scheiden ließen und Faith im Alter von sechs Jahren in ein Internat gegeben wurde, war auch das ein Riesenspaß. Genauso war es dann auf der Höheren Schule in der Schweiz, von der sie einen wundervollen französischen Akzent mitbrachte - und ein oder zwei Worte, die sie beherrschte.
Skifähren, Segeln, Reiten und Sex - wie schon erwähnt - gehörten auch zu dem Riesenspaß.
Und sie ist fabelhaft im Garten.
Die Zeit des Freiens würde ich als Wirbelsturm bezeichnen - und ich habe keinen Zweifel, wie sie es nennen würde Jedenfalls kannten wir so häufig die gleichen Leute, daß ich befürchtete, die Ehe könne an einer Art von gesellschaftlichem Inzest scheitern. Es soll hier festgehalten werden daß ich Faith nicht nur deshalb heirate, weil unsere jeweiligen Eltern von dieser Idee fast wie besessen sind. Da ich die innersten Gefühle meines Vaters kenne, würde ich es ihm gegenüber niemals gestehen, aber heimlich bin ich doch - romantisch.
Und ich heirate Faith Pierce, weil sie etwas gesagt hat, was in meinem ganzen Leben noch niemand zu mir gesagt hat. Kurz bevor ich ihr einen Heiratsantrag machte, flüsterte sie: »Ich glaube, ich liebe dich, Andrew.«
Eines Morgens, es war spät im Frühling des Jahres 1062 wachte Danny Rossi allein auf. Nicht nur allein im Bett sondern mit dem Gefühl einer volligen Leere seines ganzen Lebens. Wie kann das angehen, fragte er sich. Hier lebe ich in meinem neuen zweistöckigen Luxusappartement an der Fifth Avenue mit Blick auf den Central Park. Gleich wird mein Butler durch die Tür dort kommen und mir das Frühstück auf einem silbernen Tablett bringen, zusammen mit der heutigen Post, bei der Einladungen zu mindestens zwölf Partys überall in der Welt sein werden. Und ich fühle mich plötzlich unglücklich.
Unglücklich? Eine lächerliche Vorstellung. Ich bin der Liebling der Kritiker. Ich glaube, wenn ich während eines Konzerts niesen würde, dann würde man schreiben, das sei eine neue aufregende Interpretation von dieser oder jener Musik. Ich kann kaum von hier zu Huroks Büro gehen, ohne daß Leute mich freundlich grüßen oder mich um ein Autogramm bitten.
Unglücklich? Es gibt kein Orchester der Welt, das mich nicht liebend gerne als Solisten hätte. Und jetzt kommen die Kompositionsaufträge für Symphonien. Alle scheinen mich zu wollen, meines Könnens und meiner Persönlichkeit wegen — ganz abgesehen von den unzähligen Schönen, die mich wegen meines Körpers begehren.
Warum denn also fühle ich mich hier in meiner fantastischen Wohnung, durch deren Fenster die gleißende Sonne strömt, schlechter als jemals in dem gräßlichen kleinen Übungsraum im Keller meiner Eltern?
Diese Gedanken hatte er keineswegs zum ersten Mal. Aber sie schienen jetzt häufiger zu kommen. Was die Sache noch schlimmer machte - er hatte am heutigen Tag keinerlei offizielle Termine. Kein Konzert, keine Probe, nicht mal einen Termin beim Friseur. Das hatte er natürlich selbst so gewollt. Denn heute hatte er sich an die Orchestersuite setzen wollen, die das St. Louis Symphony Orchestra in Auftrag gegeben hatte. Aber die Vorstellung, mit den Blättern leeren Notenpapiers allein zu sein, deprimierte ihn. Woher nur kam dieses melancholische Gefühl? Nach dem Frühstück zog er Jeans und einen Beethoven-Pulli an (Geschenk einer Verehrerin) und stieg zu seinem Studio im oberen Stockwerk hinauf. Auf dem Flügel lag vom Abend zuvor die unfertige Komposition und daneben auf einem Sessel eine Zeitschrift, die er durchgeblättert hatte, um sich zu entspannen und um auf die Wirkung des Schlafmittels zu warten. Vielleicht nur, um sich nicht an die Arbeit setzen zu müssen, ging er gemächlich hinüber und nahm die Zeitschrift auf. Es war ein Magazin für ehemalige Harvard-Studenten, das noch bei den Mitteilungen über die einzelnen Jahrgänge aufgeschlagen war. Woher kommt es, dachte er, daß immer nur die Langweiler dort über ihre Errungenschaften schreiben. Warum zum Teufel glauben sie, ihre Ehe oder sogar die Geburt eines Kindes könnte irgend jemand anderen interessieren. Aber trotzdem ließ er sich wieder in den Sessel fallen und las noch einmal die Aufzählung neuer Heiraten und Geburten, die am Abend zuvor so einschläfernd gewesen war.
Allein in seinem großartigen Penthouse-Studio, gestand er sich, fast ohne es zu wollen, etwas ein: Eigentlich ist das gar nicht langweilig. Hier wird alles das erwähnt, was mir bisher im Leben gefehlt hat. Natürlich stieg einem der Applaus zu Kopf. Aber wie lange hält das vor? Fünf oder zehn Minuten, höchstens. Wenn alles vorbei ist, komme ich hierher nach Hause, und nur das Personal ist da. Natürlich macht es Spaß, eine Frau mitzubringen. Aber nach allen körperlichen Vergnügungen haben wir uns nichts mehr zu sagen - es macht mich jedesmal nur noch einsamer, scheint mir - Ich glaube, ich will eine Frau. Ich weiß ich will - Aber eine wirkliche, mit der ich leben und reden kann und vor allem - wenn das überhaupt möglich ist - eine Frau, die mich gern hat, wie ich bin, und nicht mein verlogenes Bild, wie es die Werbeagentur fabriziert hat. Wenn ich mir überlege, wer mich jemals um meiner selbst willen geliebt hat,
dann war das nur Maria.
Himmel, was war er töricht gewesen sich diese einzigartige Gelegenheit einer solchen Beziehung entgehen zu lassen, und das nur aus einem wirklich schlimmen Grund: Weil Maria nicht wie alle anderen Frauen gewesen war, weil sie ihren Körper auf dem Altar seines Egos geopfert hatte.
We lange hatte er sie schon nicht mehr gesehen? Zwei Jahre? Drei Jahre? Inzwischen müßte sie ihr Studium abgeschlossen haben, hatte wahrscheinlich einen netten Katholiken geheiratet und zog Kinder auf.. Klar, so ein fabelhaftes Geschöpf saß doch nicht einfach da und wartete daß Danny Rossi s.ch mal wieder meldete. Nein, dazu war sie viel zu klug. Jetzt wußte er genau, warum er so deprimiert war. Und wußte auch, daß er nichts dagegen tun konnte. Oder doch?
Oder doch?
Maria wird jetzt dreiundzwanzig oder höchstens vierundzwanzig Jahre alt sein. Nicht alle Frauen waren da schon verheiratet. Vielleicht hatte sie auch weiterstudiert. Oder vielleicht war sie sogar - hcl's der Teufel - Nonne geworden,
Komischerweise hatte er immer noch ihre Telefonnummer in Cleveland, ein Beweis dafür, daß er unbewußt die Hoffnung nie ganz aufgegeben hatte.
Er holte tief Atem und wählte. Ihre Mutter war am Apparat. »Darf ich bitte Maria Pastore sprechen?« fragte er nervös. »Es tut mir leid, sie wohnt nicht mehr hier«
Danny verlor den Mut. Wie befürchtet, war er zu spät. »… aber ich kann Ihnen gerne ihre Nummer geben. Wer spricht denn bitte?« »Hier ist - eh - Daniel Rossi.« »O ja«, antwortete sie. »Ich wußte, die Stimme kam mir bekannt vor. Wir haben Ihre Karriere mit großer Bewunderung verfolgt.«
»Vielen Dank. Geht es Maria gut?« »Ja. Sie gibt Tanzunterricht an einer Mädchenschule, und es macht ihr viel Spaß. Sie ist jetzt gerade dort.« »Würden Sie mir bitte die Adresse geben?« unterbrach Danny. »Aber sicher«, erwiderte Mrs. Paslore, »aber ich kann gerne auch etwas ausrichten.« »Nein, bitte nicht. Ich wäre Ihnen sogar dankbar, wenn Sie ihr nicht erzählen würden, daß ich angerufen habe. Ich möchte sie gerne ... überraschen.«
»Eins - zwei - drei - beugen. Jetzt die vierte Position, Mädchen. Den Rücken einziehen, bitte.« Maria leitete eine Tanzklasse mit etwa einem Dutzend Zehnjähriger an der Mädchenschule in Sherwood. Sie war so intensiv bei der Sache, daß sie kaum bemerkte, wie sich die Studiotür hinter ihr öffnete. Aber irgend etwas erregte ihre Aufmerksamkeit, und dann sah sie im Spiegel die Gestalt eines ihr früher einmal bekannten Menschen.
Sie war erstaunt, traute ihren Augen nicht. Aber bevor sie sich umwandte, sagte sie geistesgegenwärtig zu ihren Schülerinnen: »Wiederholt diese Bewegungen, Mädchen. Und Laurie, du gibst den Takt vor.«
Dann wandte sie sich um und ging auf den Besucher zu.
»Hallo, Danny.« »Hallo, Maria.« Sie waren offensichtlich beide verlegen. »Gibst du hier ein Konzert? Ich muß es in der Zeitung übersehen haben.«
»Nein, Maria, ich bin hergeflogen, um dich zu sehen.«
Eine Pause entstand. Ein paar Sekunden lang sahen sie sich nur stumm an, während hinter ihnen die zehnjährige Laurie für die kleinen Tänzerinnen den Takt auszählte.
»Hast du mich verstanden, Maria?« fragte Danny leise »Ja. Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll. Ich meine, nach so langer Zeit...?« Statt darauf zu antworten, stellte Danny die Frage, die ihm während des ganzen Fluges nach Cleveland auf der Seele gebrannt hatte: »Hat dich inzwischen irgendein glücklicher Kerl bekommen, Maria?« »Na ja, ich bin so befreundet mit einem Architekten ...« »Ist es was Ernstes?« »Er will mich heiraten.« »Hast du manchmal an mich gedacht?«
Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Ja.« »Du bist mir nie aus dem Kopf gekommen.«
»Wie hast du denn dazu überhaupt die Zeit gehabt Danny?« fragte sie mit freundlicher Ironie. »Deine Liebesgeschichten sind überall so bekannt, daß ich sie an der Kasse des Supermarkts nachlesen kann, sogar ohne die Zeitung kaufen zu müssen.« »Das ist ein anderer Mensch. Der wirkliche Danny Rossi liebt dich noch immer. Er möchte nur eine Frau mit Namen Maria und viele Kinder. Vielleicht sechs süße Tänzerinnen wie die da drüben.«
Sie sah ihn fragend an. »Warum ich?« »Maria, es würde eine Ewigkeit dauern, das zu erklären.« »Könnte ich vielleicht eine gekürzte Fassung von fünfundzwanzig Worten oder weniger bekommen?« Wenn er sie jetzt nicht für sich gewann, dann hatte er keine Chance mehr, das wußte Danny.
»Maria«, sagte er ernst, »ich weiß, daß ich vom Applaus wie besoffen war, als du mich das letzte Mal gesehen hast. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, ich würde mir nichts mehr daraus machen. Aber ich weiß jetzt, das ist mir nicht genug. Meine Konzerte sind überfüllt, aber mein Leben ist unglaublich leer. Verstehst du?« »Du hast mir immer noch nicht die erste Frage beantwortet.«
»Es fällt mir schwer, darauf zu antworten. Seit ich, sagen wir mal, berühmt geworden bin, sagen mir alle Leute sie liebten mich. Und ich glaube ihnen kein Wort. Der einzige Mensch, dem ich wirklich vertraut habe, warst du. Ich weiß nur du begreifst, daß ich das ganze gockelnde Getue nur anstelle, weil ich in meinem Innersten davon überzeugt bin daß niemand mich wirklich mag.« Er hielt ein und sah sie an »Das waren etwas mehr als fünfundzwanzig Worte« sagte sie leise.
»Glaubst du mir denn?«
Ihre Antwort war kaum zu hören, denn sie war dem Weinen nahe. »Ja, alles«, sagte sie.
Obwohl er es niemals laut gesagt hätte, genoß Jason diese Ausbildung mehr als seine Studien in Harvard. Die einundzwanzig Wochen Grundausbildung in der Marineschule in Quantico, Virginia, umfaßte so unakademische Fächer wie Führung, Techniken der militärischen Ausbildung, Kartenlesen, Infantrietaktik, Waffenkunde sowie Geschichte und Tradition des Marine Corps. Weiter gab es Kurse in Erster Hilfe, Nachrichtenkunde, taktischen Unterricht für Luft-Boden-
Operationen, Panzer- und Amphibien-Operationen und — sein Lieblingsfach — Konditionstraining.
Während die Mehrheit der anderen College-Absolventen entweder ohnmächtig wurde oder stöhnte oder betete es solle bald zu Ende sein, fühlte sich Jason mit all den Klimmzügen, Liegestützen und Kniebeugen und nach jedem gelaufenen Kilometer immer besser. Er war tatsächlich wie verrückt auf den Hindernislauf und verbrachte sogar einen Teil seiner knappen Freizeit damit, seine Technik bei den einzelnen Hindernissen zu verbessern. Mit dem Gewehr wurde er sogar noch vertrauter als mit dem Tennisschläger. Obwohl er auch
nicht annähernd zu den besten Studenten auf dem College gehört hatte, war er entschlossen, hier der Beste zu werden. In der letzten Woche waren die schriftlichen Prüfungen in theoretischer und praktischer Militärkunde sowie die praktischen Prüfungen in Geländekunde und in den Techniken der militärischen Ausbildung. Jason war überall recht gut, in den mehr sportlichen Wettbewerben hoffte er aber auf eine Goldmedaille.
Im Karabiner- und Pistolenschießen hatte er außerordentlich gute Ergebnisse, aber mindestens ein halbes Dutzend Bauernkerle, die ihr Leben lang mit Schußwaffen umgegangen waren, schossen wesentlich besser als er. In den körperlichen Fitneßtests war er der Beste. Und das war ein gewisser Trost dafür, daß er insgesamt nur als Fünfter abschnitt.
Lieutenant Jason Gilbert, US-Marine-Corps, benutzte den ersten Urlaub dazu, einen langen Brief an Fanny zu schreiben, um sein langes Schweigen zu erklären. Sie antwortete kurz, aber herzlich: »Ich war wirklich überrascht, etwas von Dir zu hören. Vielleicht ist die >Odyssee< doch nicht nur ein Märchen. Jetzt muß ich Dich aber um Geduld bitten, denn ich muß für mein Schlußexamen lernen. Wenn ich hinterher einen Job in einem Krankenhaus habe, kann ich wieder schreiben. Alles Liebe, F. P. S. Habe ich erwähnt, daß ich
Dich vermisse?«
Weihnachten trug er seine Ausgehuniform (blaue Jacke, Goldknöpfe bis zum Hals, weiße Mütze), um seine Eltern zu beeindrucken. Leider wurde aber seine so eindrucksvoll kostümierte Ankunft von einer traurigen Angelegenheit überschattet. Bei Jasons großem Auftritt saßen sein Vater, seine Mutter und seine Schwester um den Eßtisch. Julie stützte den Kopf in die Hände. Aus dem Nebenzimmer hörte man das Schreien der kleinen Samantha. Der elegante Marineoffizier war gelinde gesagt enttäuscht, als sein Vater ihn mit einem flüchtigen Blick und den Worten begrüßte: »Guten Tag, mein Sohn, du kommst gerade zur rechten Zeit.«
Er küßte seine Mutter, setzte sich an den Tisch und fragte:
»Was ist denn hier los?« »Charles und Julie haben Probleme«, antwortete sie. »Probleme?« schrie sein Vater auf einmal. »Der Scheißkerl hat sie verlassen. Er ist aufgestanden und gegangen. Seine Frau und sein einjähriges Kind einfach so zu verlassen, das ist
kein besonders anständiges Benehmen für einen erwachsenen Menschen!«
»Ich habe Charlie nie für erwachsen gehalten«, bemerkte Jason. »Warum hat er es denn getan?« »Er hat gesagt, er mag es nicht, verheiratet zu sein«, schluchzte Julie. »Er hat gesagt, er wollte nie heiraten.« »Das hätte ich dir früher sagen können, es hätte dir eine
Menge Kummer erspart«, bemerkte Jason. »Ihr wart beide noch zu jung.« »Hör damit auf, heiliger als der Papst zu sein«, fuhr ihn sein
Vater an. »Okay, Entschuldigung«, antwortete er leise und fügte hinzu. »Du, Julie, es tut mir wirklich leid, daß du mit diesem Idioten reingefallen bist.« Sie reagierte auf das Mitgefühl ihres Bruders mit neuen Tränen. »Ich sehe schon, das wird hier wohl kaum ein besonders fröhliches Weihnachten«, kommentierte Jason und stand auf. Da kam das Hausmädchen Jenny ins Zimmer, sah den jungen Gilbert und rief: »Mensch, Mr. Jason, Sie sehen aber dufte aus.«
Das Weihnachtsessen war eine ziemlich traurige Geschichte, auch wenn Gilbert, Sr. sich inzwischen von dem Schock erholt hatte, daß die Tochter den elterlichen Erwartungen nicht entsprochen hatte. Jetzt konzentrierte er sich wieder auf die alte Quelle seines Stolzes.
»Du willst mir wirklich weismachen, daß dir die Grundausbildung Spaß gemacht hat, Jason?« staunte er. »In gewisser Weise schon, aber ich fürchte, ich habe es übertrieben. Mein Kommandeur möchte, daß ich noch dableibe und eines der Fitneßprogramme übernehme.«
»Und warum nicht?« »Noch eineinhalb Jahre in Quantico ist keine besonders attraktive Aussicht. Allerdings kann es sein, daß man mich zu ein paar Tennisturnieren fahren läßt. Jedenfalls bin ich sicher wesentlich besser dran als Andrew, der das Deck eines Zerstörers schrubben muß, wie ich hörte.«
»Ich werde nie begreifen, warum er nicht Offizier geworden ist«, bemerkte Mr. Gilbert. »Das begreife ich schon. Die Eliots waren immer hohe Tiere in der Marine - Admirale und so. Wahrscheinlich fand er, dem müsse er dann gerecht werden. Verglichen mit ihm habe ich es da schon besser, was meinen künftigen Beruf angeht.«
»Wie das denn«, fragte sein Vater, der jetzt Präsident des zweitgrößten Elektronikkonzerns der Welt war. »Andrew hängt an einem dünnen Zweig des großen Familienstammbaums, während wir erst seit einer Generation aus dem Ghetto heraus sind.«
»Das ist nicht gerade sehr schön ausgedrückt«, bemerkte sein Vater. Soweit Jason Gilbert, Sr. sich erinnerte, war das Wort Ghetto bisher in diesem Haus noch nie gefallen. Es war ihm äußerst unangenehm und schien so gar nicht zum Weihnachtsessen zu passen. Er wechselte zu einem festlicheren Thema. »Hast du kürzlich mal wieder von deiner holländischen Freundin gehört?« »Nicht so kürzlich, wie ich es gern hätte«, antwortete Jason. »Übrigens möchte ich sie gerne nach dem Essen anrufen wenn du erlaubst.«
»Aber sicher doch«, antwortete Jason, Sr. und war erleichtert, wieder in die Zukunft blicken zu können, statt in die noch nicht ausreichend entfernte Vergangenheit.
Im August 1961 wurde Jason aus dem Marine Corps entlassen, früh genug, um anschließend auf die Harvard Law School zu gehen.
Er hatte den Rest seiner Militärzeit erst als Ausbilder und dann - vor allem, weil er in seiner Uniform so fabelhaft aussah — als Rekrutierungsoffizier zugebracht. Er war von Universität zu Universität gezogen und hatte die Studenten davon zu überzeugen versucht, seinem Weg zu Ruhm und Ehre zu folgen. Jason verglich diese Expeditionen mit einem Wettfischen. Und wie immer ganz auf Wettbewerb eingestellt, wollte er unbedingt mit dem größten Fang nach Hause kommen. Er war erfreut, ja überrascht, von seinem Kommandeur zu erfahren, daß er auch in dieser Disziplin gewonnen hatte.
Trotzdem war er froh, den Militärdienst zu verlassen und sich nun mit Jura beschäftigen zu können. Er war auch wie verrückt danach, Fanny wiederzusehen. Denn ihre Korrespondenz hatte während der fast zwei Jahre, die sie sich nicht mehr gesehen hatten, unvermindert angedauert. Leider hatte ihm das Marine Corps nicht mal die paar zusätzlichen Urlaubswochen gegönnt, um die Frau zu besuchen, die er - und da war er sicher - heiraten wollte. Ihr Wiedersehen mußte also noch ein weiteres akademisches Jahr der Prüfung
warten, mit noch mehr Briefen und Telefonaten, aber mit wesentlich weniger Geduld.
Über das Studium an der Harvard Law School gibt es einen altbekannten Spruch: Im ersten Studienjahr hast du Todesangst, im zweiten Jahr arbeitest du dich zu Tode, und im dritten Studienjahr langweilst du dich zu Tode.
Die zwei Jahre Militärdienst, die Jason den meisten seiner Mitstudenten voraus hatte, halfen ihm, mit den furchterregenden Juraprofessoren fertig zu werden. Sie waren bei weitem nicht so furchterregend wie viele der Sergeants, die sich als Schleifer erwiesen hatten. Wenn er zum Beispiel im Seminar über Vertragsrecht keine blendende Antwort zu geben wußte, war das spöttische Lächeln des Lehrers wesentlich angenehmer als hundert Liegestützen.
Er genoß auch den Vorteil, daß einige seiner Kommilitonen vom Jahrgang '58, die einen Aufschub ihres Militärdienstes erreicht hatten, inzwischen im letzten Studienjahr standen und nichts lieber taten, als ihrem früheren Helden zu helfen. »Du solltest Strafverteidiger werden«, rief Gary McVeagh. »So, wie du aussiehst, bezirzt du die weiblichen Geschworenen, ohne auch nur den Mund aufmachen zu müssen Und die kümmern sich dann schon um die Männer. Du wirst keinen Fall verlieren.«
»Aber nein«, widersprach Seymour Herscher, »er sollte Scheidungsanwalt werden. Dann kämen sie alle zu ihm gelaufen in der Hoffnung, Jason gleich als Teil der Vereinbarung mitzubekommen.«
Aber Jason wußte längst, in welche Richtung er wollte. Er und sein Vater hatten das schon viele Jahre lang besprochen. Falls er es schaffte, auf der Law School mit diesen ganzen Supergescheiten mitzuhalten, würde er versuchen, in einer Anwaltskanzlei unterzukommen. Danach kämen dann ein paar Jahre allgemeiner Anwaltstätigkeit in einer renommierten großen Kanzlei in New York oder Washington. Aber das ganze war nur als Sprungbrett gedacht für seinen ehrgeizigsten Wunsch - in die Politik zu gehen.
»Jason«, hatte Gilbert, Sr. einmal scherzhaft erklärt »ich bin so sicher, daß du es schaffen wirst, daß ich bereit bin sofort Geld in ein Haus in Washington zu investieren.«
Aber diese jugendlichen Zukunftsträume waren inzwischen verdrängt worden von einem neuen und besseren Traum der Jason die scheußliche Serie von Prüfungen im Januar ertragen ließ und schließlich auch die Anstrengungen des Frühjahrs mit den eigentlichen Schlußexamina. Es war die Aussicht, ob bestanden oder nicht, wieder mit dem wunderschönen holländischen Mädchen zusammen zu sein, deren Bild ihn auf seinem Schreibtisch anlächelte.
In den zweieinhalb Jahren ohne Fanny hatte er nicht gerade wie ein Mönch gelebt. Aber die Mädchen, mit denen er gelegentlich ausging, hatten ihm nur bewußt gemacht, wie anders seine Beziehung zu ihr doch war. Und obwohl sie davon nie etwas in ihren Briefen sagte, spürte er, daß auch sie die Tage zählte, bis sie wieder zusammen sein würden.
Aus diesem Grund begrüßte es Jason, daß die Prüfungen endlich kamen. Während den meisten seiner Kommilitonen immer übler wurde, und sie mit jedem Examen mehr und mehr in Panik gerieten, war für ihn jede abgegebene Prüfungsarbeit nur ein weiterer Schritt auf dem Weg durch die Pforten der Law School in die Arme seiner Geliebten.
Während des langen Flugs nach Amsterdam war Jason ziemlich nervös. Sie hatten sich so lange Zeit nicht mehr gesehen. Hatte er sich in der tödlichen Langweile militärischer Routine vielleicht das Wunder ihrer Beziehung übertrieben ausgemalt? Würde ihr Wiedersehen auf dem Flughafen Schiphol zur Enttäuschung werden? Aber als er sie hinter dem Zollbereich stehen sah, wußte er, daß das nicht so war. Als sie sich küßten, spürte er wieder dieselbe Erregung. Die ersten paar Tage verbrachten sie auf dem Hof ihrer Eltern, wo er die
Wärme und Nähe der Familie van der Post genoß. Ihr Bruder, der in Den Haag studierte, und ihre verheiratete Schwester - neben einer Menge Vettern und Tanten - kamen vorbei, um Fannys amerikanischen Freund kennenzulernen. Am letzten Abend stand er vor dem offenen Kamin im Hauptraum des Hofes und sah sich die Fotographien auf dem Kaminsims an. »Es ist wirklich phantastisch«, rief er, »alle diese Menschen habe ich in weniger als einer Woche kennengelernt.« Und dann sah er das Bild eines dunkelhaarigen Mädchens. »Nur sie nicht.« »Das ist Eva«, sagte Frau van der Post. »Ich nehme an, Fanny hat Ihnen von ihr erzählt.« »Ja«, erwiderte Jason.
»Sie ist ein wunderbares Mädchen«, fügte Fannys Vater hinzu. »Immer ein wenig traurig, aber das ist verständlich.«
Fanny nahm Jason zum Anne-Frank-Haus an der Prinsengracht 265, im Schatten der Westerkerk, um ihm ganz konkret zu zeigen, was seine Glaubensgenossen während des Zweiten Weltkriegs durchgemacht hatten. Er stand stumm vor dem engen Verschlag, wo sich das junge Mädchen und ihre Familie länger als ein Jahr vor der deutschen Besatzungsarmee versteckt hatten, bevor man sie verschleppte und tötete.
»Während dieser ganzen Zeit hat sie nie ihre Menschlichkeit aufgegeben«, sagte Fanny. »Du solltest ihr Tagebuch lesen. Trotz allem glaubte sie daran, daß die Menschen eigentlich in ihrem Innersten gut sind. Und ein solcher Mensch - ein unschuldiges kleines Mädchen - ist im KZ umgekommen, nur weil sie Jüdin war.«
Jason hatte davon schon gehört. Denn man hatte Anne Franks Tagebuch zu einem erfolgreichen Theaterstück gemacht, das seine Eltern am Broadway gesehen hatten. Nachträglich fragte er sich, warum sie mit ihm und mit seiner Schwester nie darüber geredet hatten. Hatten sie wirklich geglaubt, daß das nichts mit ihnen zu tun hätte?
Dann fuhren sie nach Venedig, um ihre Liebesbeziehung da wieder aufzunehmen, wo sie vor drei Jahren unterbrochen worden war.
»Fanny, glaubst du, wir sind das erste Liebespaar, das sich in einer Gondel liebt?« »Nein, mein Liebling, dafür sind wir etwa tausend Jahre zu spät dran.« »Gut, dann sind wir aber die ersten, die sich so lieben, wie wir es tun.« Freude und Leidenschaft waren unverändert. Fanny halte die einzigartige Gabe, Jason das Lachen in der Welt sehen zu lassen. Aber jetzt war noch etwas Zusätzliches
in ihre Beziehung gekommen. Jason hatte viele Frauen gekannt und war schon oft gefesselt, ja vernarrt gewesen. Aber was er für Fanny empfand, war etwas völlig anderes. Nie zuvor hatte er so viel von sich geben wollen, nicht nur an Sinnlichkeit, sondern auch an Zärtlichkeit. Er sehnte sich danach, sie zu beschützen, sich um sie zu kümmern. Und sie, die starke unabhängige Arztin, verwandelte sich wieder in ein Kind und genoß seine beschützende Wärme. Aber wenn sie in der Liebe die Initiative ergriff, dann ließ sie ihn sich verwundbar fühlen. Und zum ersten Mal erlebte er, wie die Liebe einer Frau nicht nur durch seine Kraft erregt wurde. Sie waren also
füreinander Eltern, Kind, Liebhaber und Freund. Etwas zu wunderbar Ganzes, um es wieder aufzugeben.
Ihre Ferien waren viel zu kurz, und wieder mußten sie sich trennen.
»Ich komme sofort nach meinem letzten Examen im Juni zurück«, versprach er.
»Was mache ich nur bis dahin?« fragte sie hilflos.
»Ach komm, es ist wirklich nicht lange. Das letzte Mal waren wir fast drei Jahre getrennt.«
»Schon«, sagte sie traurig, »aber da hatte ich noch keine Ahnung, wie sehr ich dich liebe.«
Jason sah sie an. »Fanny, ich muß dir etwas gestehen.« »Was denn?« fragte sie, etwas verunsichert. »Als ich gestern nachmittag allein wegwollte, hatte ich etwas vor.« Er griff in die Tasche und zog ein kleines Samtetui hervor. »Falls der auf einen deiner Finger paßt, dann sollten wir heiraten.«
»Jason«, lächelte sie, »auch wenn er nur auf eine meiner Zehen paßt, heiraten wir.« Sie umarmten sich.
Andrew holte George Keller am Busbahnhof in Bangor ab. Sie nutzten die Fahrt zu Eliots Haus in Bar Harbor, um sich die jeweiligen Neuigkeiten zu berichten. »Du siehst blaß aus, George. Warst du denn den ganzen Sommer nicht mal draußen?« »Ich bin Doktorand und nicht bei der Wasserwacht Andrew. Meine Doktorarbeit muß nächstes Frühjahr fertig sein.«
»Warum denn so eilig?« »Weil ich im Juni mit allem fertig sein möchte.« »Und was machst du dann?« »Das weiß ich noch nicht.«
»Warum dann diese Hast?« »Das verstehst du doch nicht. Ich muß einfach meinen Zeitplan einhalten. Trotzdem bin ich dir dankbar, daß du mich zu diesem Wochenende verleitet hast.« »Wochenende? Ich dachte, du bleibst die ganze Woche.« »Nein, nein, nein. Ich muß wieder an den Schreibtisch.« »Okay«, gab Andrew auf. »Aber wenn du in den nächsten zwei Tagen auch nur eine Postkarte schreibst, dann schmeiße ich dich raus. Einverstanden?« »Unter Protest.« Der Wissenschaftler lächelte. »Nun, mein Alter, was macht die Ehe?«
»Ich kann dir sagen, Keller, das ist ein großer Spaß. Solltest du auch mal ausprobieren.«
»Kommt alles noch. Erstmal muß ich .. .« »Kein Wort mehr darüber«, unterbrach ihn sein ehemaliger Mitstudent. »Ich verbiete dir, deine Doktorarbeit während des Wochenendes auch nur zu erwähnen. Und übrigens, es wäre schön für Faith, wenn du das Gespräch vielleicht auf einer allgemeinen Ebene halten könntest. Ich will damit sagen — sie ist ein fabelhafter Kerl, aber Universitätsbildung ist nicht ihre Stärke.«
Die bildschöne Mrs. Andrew Eliot winkte ihnen schon am Anlegesteg zu, als sie herankamen. Auch der mit anderen Dingen beschäftigte George Keller mußte registrieren, wie gut sie im Bikini aussah. Und wie gut sie sich anfühlte, als sie ihn zur Begrüßung umarmte. Faith geleitete dann die beiden Männer auf die Terrasse, wo schon ein paar Martinis auf sie warteten. »Seit wir uns auf der Hochzeit zum ersten Mal begegnet sind, habe ich mich auf ein Gespräch mit Ihnen gefreut«, sagte Faith und gab ihm ein Glas. »Andrew sagt, Sie seien besonders intelligent.« »Andrew macht Komplimente.« »Ich weiß«, kicherte sie. »Mir auch. Aber ich mag es.«
Dann überreichte George ihr ein Päckchen. »Das hätten Sie wirklich nicht tun sollen«, rief sie, riß es auf und fügte mit etwas gekünstelter Freude hinzu: »Oh, wie schön — ein Buch. Sieh doch mal, Andrew, George hat mir ein Buch geschenkt.« »Das ist aber schön«, bemerkte ihr Mann und fügte, zu ihrem Gast gewandt, hinzu: »Faith liebt nämlich Bücher. Was es denn, Liebes?« »Es sieht aufregend aus«, erwiderte sie und hielt es hoch. Es war >Die Notwendigkeit der Wahl< von Henry Kissinger.
»Wovon handelt es, George?« fragte sie. »Von der Rüstungslücke zwischen amerikanischen und sowjetrussischen Raketen. Es ist ohne Frage bis heute das bedeutendste Buch zu diesem Thema.« »Es ist von einem der Professoren von George«, erklärte Andrew.
»Ein außerordentlich bedeutender Mann«, fügte George schnell hinzu. »Er ist mein Doktorvater, und vom Augenblick meiner Ankunft in Amerika an hat er in loco parentis gewirkt.« »Sie meinen, er ist etwas verrückt?« fragte Faith. Ihre Frage erübrigte die Antwort, wie George fand, und er fügte hinzu: »Er erwähnt mich im Vorwort. Darf ich es Ihnen vorlesen?«
»Ach, ist das aufregend«, plätscherte Faith und gab ihm den Band. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der in einem Buch vorkommt.«
George fand die Stelle schnell und las: »Meiner Dankbarkeit für die Hilfe und die Einsichten meines Schülers und Freundes George Keller kann ich nur ungenügend Ausdruck geben.«
»Allerhand«, kommentierte Andrew, »er nennt dich tatsächlich seinen Freund. Das ist ja fabelhaft.« »Ja Und nicht nur hat er mich zum Assistenten seiner Übung >Staatswissenschaften 18o< gemacht, sondern er hat sogar einen Beitrag von mir in der Zeitschrift >Foreign
Affairs< untergebracht.« »Oh George.« Faith lächelte. »Das klingt aber sehr unanständig.« George war von ihrem Humor entzückt,
»Eliot«, sagte er. »du hast da wirklich großes Glück gehabt.«
»Na, Faith«, fragte Andrew, als er George zum Bus gebracht hatte, »wie findest du denn meinen alten Freund George? Ein irres Genie, was?« »Er ist ganz anziehend«, antwortete sie nachdenklich, »aber irgend etwas an ihm beunruhigt mich. Ich kann nicht wirklich sagen, was es ist. Ich glaube, seine Art zu reden. Ist dir nicht aufgefallen, er hat überhaupt keinen ausländischen Akzent.«
»Natürlich nicht. Das ist ja gerade das Fantastische an ihm.« »Andrew sei doch nicht so naiv. Wenn ein Ausländer überhaupt keinen Akzent hat, dann verbirgt er etwas. Ich glaube, dein ehemaliger Mitbewohner könnte durchaus ein Spion sein.«
»Ein Spion? Für wen zum Teufel soll er denn spionieren?« »Ich weiß nicht. Für den Feind. Vielleicht sogar für die Demokratische Partei.«
Unter der Rubrik >Meilensteine< stand am 12. Januar 1963 in der Zeitschrift >Time< folgende Notiz:
»Heirat: DanielRossi, 27, Klavier-Wunderkind, und Maria Pastore, 25, sein College-Schwarm; beide zum ersten Mal:
in Cleveland, Ohio.
Nach einer Hochzeitsreise durch Europa (während der Rossi einigen seiner langfristigen Konzertverpflichtungen nachkommen wird) will das Paar sich in Philadelphia niederlassen, wo Rossi gerade zum zweiten Dirigenten der Symphoniker ernannt worden ist.«
Als einziges voreheliches Versprechen konnte Maria bei Danny erreichen, daß er seine frenetischen Konzerttourneen drastisch reduzieren würde, damit sie sich irgendwo niederlassen und ein häusliches Leben beginnen konnten. Obwohl er erst sehr zögerte, auf die vielsprachigen Lobeshymnen zu verzichten, die ihm doch so viel Vergnügen machten, kam das Angebot aus Philadelphia dann wie eine Art Wunderlösung.
Sie kauften in Bryn Mawr ein geräumiges Haus im Tudor-Stil auf eineinhalb Morgen Land. Das Haus war genügend groß, um das ganze obere Stockwerk in ein Studio für Danny verwandeln zu können. Dazu kam noch ein heller, luftiger Raum für Maria, wo er unbedingt auf dem Einbau eines Übungsgeländers bestand. Sie aber wollte aus dem Raum so bald wie möglich ein Kinderzimmer machen.
Sie verbrachten ihre Hochzeitsnacht im Sheraton in Cleveland, wo Gene Pastore auch den üppigen Hochzeitsempfang gegeben hatte. Während der ganzen offiziellen Feierlichkeiten war Danny merkwürdig bedrückt - obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Was ihn beunruhigte, war die Möglichkeit, daß er, der international den Ruf eines Don Juan hatte, bei der einzigen wirklich zählenden Gelegenheit
diesem Ruf nicht gerecht werden könnte.
Erwartungsgemäß zwangen ihn die Hochzeitsgäste zum Klavierspielen. Das erwies sich für ihn selbst als unheilvoller Vorbote. Denn auch wenn er die Gäste mit einer vollständigen Wiedergabe von »Rossi am Broadway« erfreute, war er wahrscheinlich der einzige im Raum, der bemerkte, daß er nicht so gut wie sonst spielte. Vielleicht war es der Champagner. Er hatte den Abend über etwas getrunken, um seine Nerven zu beruhigen, obwohl er wußte, es war keine sehr gute Idee. Sonst hielt er sich an seine eiserne Regel, vor einem Konzert niemals etwas Stärkeres als eine Cola zu trinken. Falls er besonders nervös war, nahm er ein Beruhigungsmittel. Aber dafür war es jetzt zu spät.
Jetzt war er etwas angetrunken und fragte sich, ob er sich nicht selbst sabotiert hatte. Denn sehr bald würde er das Schlafzimmer eines der erotischsten Mädchen, das er je kennengelernt hatte, betreten, und sie hatte ihr ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet. In der Hochzeitssuite gab es für sie und ihn je ein Badezimmer. Während Danny sich lange und langsam die Zähne putzte, sah er im Spiegel das Gesicht eines verängstigten Jungen. Würde er es schaffen? Natürlich, sagte er sich. Mach doch nicht so eine Riesensache
daraus. Außerdem ist sie noch Jungfrau. Selbst wenn du nicht so gut wie sonst bist, woher soll sie das denn wissen. Danny sah sich wieder im Spiegel, und sein Gesichtsausdruck sagte ihm, daß er es nicht schaffen würde, ins Schlafzimmer zu gehen und sich Maria zu stellen. Jedenfalls nicht allein. Er machte den Reißverschluß einer Seitentasche seines Waschbeutels auf und stellte sechs kleine Pillenfläschchen auf die Ablage über dem Waschbecken. Ihre Wirkung reichte von largo e pianissimo (Beruhigungsmittel) bis zu allegro e
presto (Aufputschmittel, wenn er nach einem langen Flug erschöpft war), wie er das im Spaß für sich nannte.
Gelobt sei die medizinische Wissenschaft, dachte er und griff nach einem Fläschchen mit der Aufschrift: >Meth.< Er ließ eine Tablette auf seine linke, schweißnasse Handfläche fallen, verschloß das Glasfläschchen und steckte das ganze Sortiment wieder an seinen Geheimplatz.
Eine ausgelassene Stimme rief aus dem Schlafzimmer: »Danny, gibt es dich noch, oder hast du mich in meiner Hochzeitsnacht verlassen?« »Ich komme sofort, Liebling«, erwiderte er und hoffte seine Stimme würde seine Nervosität nicht verraten.
Er zerkrümelte die Pille, um sie schneller wirken zu lassen, und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Fast im selben Augenblick wurde seine Stimmung besser. Sein Herz schlug schneller, aber nicht mehr aus Angst. Er zog den Bademantel an und ging ins Schlafzimmer. Sie erwartete ihn mit strahlendem Gesicht. »Ach, Danny«, sagte sie zärtlich »ich weiß, wir werden sehr glücklich sein.«
»Ja, das werden wir, mein Liebling«, antwortete er und kam zu ihr.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Danny Bossi bei seinen musikalischen und auch bei anderen Auftritten niemals etwas anderes als leidenschaftlich und fehlerlos gewesen. Auch diese Nacht bildete keine Ausnahme. Aber er war schon sehr sehr nah daran gewesen zu versagen.
Fanny und Jason waren jetzt viel zu aufgeregt, um sich noch mit Briefen zufrieden zu geben. Ihre Gefühle waren so leidenschaftlich, daß sie das wirksamere Medium des Telefons benutzen mußten. Was als wöchentliches Ritual begann, wurde schon bald fast ein tägliches. Die Rechnungen waren astronomisch.
»Es wäre billiger, wenn einer von uns zu dem anderen flöge«, sagte er. »Du hast ja recht, Jason. Aber du kannst deine Prüfungen nicht hier machen und ich die meinen nicht da drüben. Also ich fürchte, wir müssen uns noch ein paar Monate zusammennehmen, und dann werden wir so lange zusammen sein, daß du es schon müde werden wirst.«
»Nie werde ich müde werden.« »Das sagen sie alle«, scherzte sie. »Manchmal wollte ich, wir könnten uns das ganze Hochzeitsgetue ersparen und einfach nur zusammenleben.«
»Fanny, du wirst in Boston leben, und das ist immer noch eine puritanische Stadt. Außerdem will ich dich lebenslang unter Vertrag nehmen, damit du mir auf keinen Fall weglaufen kannst.« »Das klingt sehr gut«, antwortete sie.
Die Hochzeit sollte im Juli in der Kirche ihrer Gemeinde in Groningen stattfinden. Da Fanny für den Sommer eigentlich wieder geplant hatte, Eva zu besuchen, wurde beschlossen, sie würde statt dessen drei Wochen gegen Ende des Frühlings fahren — sobald sie mit ihrem Examen fertig war.
Am 15. Mai rief sie Jason an, um sich bei ihm für drei Wochen zu verabschieden. Da der Kibbuz ihrer >Schwester< Eva in Galiläa eine ziemlich spartanische Siedlung war, war es so gut wie unmöglich, Verbindung zu halten. »Ich glaube, da gibt es höchstens drei Telefone«, sagte Fanny. »Da würde man es sicher nicht gut finden, wenn wir die ganze Zeit schwatzen. Glaubst du, du hältst es einundzwanzig Tage lang aus?«
»Nein«, sagte Jason.
»Dann überleg dir mal, ob du mich nicht in Israel treffen willst, sobald deine letzte Prüfung vorbei ist. Es ist sowieso Zeit daß du endlich das Land deiner Väter kennenlernst.«
»Das ist durchaus möglich, wenn ich es nicht mehr aushalte«, erwiderte er. »Sag mal, ich habe ganz vergessen, dich zu fragen, wie war denn das Mündliche?« »Alles in Ordnung«, sagte sie bescheiden.
»Dann bist du ja jetzt eine richtige Ärztin. Gratuliere! Warum freust du dich denn gar nicht?«
Sie antwortete liebevoll: »Weil ich bald etwas sehr viel Wichtigeres werde - nämlich deine Frau.«
Diese Worte brannten wie Feuer in Jason Gilberts Erinnerung. Denn es waren die letzten Worte, die er von Fanny van der Post hören sollte.
Zehn Tage später wurde er um sechs Uhr früh durch einen Telefonanruf aus Amsterdam geweckt. Es war ihr Bruder Anton.
»Jason«, sagte er mit bebender Stimme, »ich fürchte, ich muß dir etwas Schreckliches von Fanny mitteilen.« »Hat sie einen Unfall gehabt?« »Ja. Nein, eigentlich nicht. Sie ist getötet worden.«
Jason setzte sich auf, sein Herz schlug wie rasend. »Wie denn, was ist passiert?«
»Ich weiß noch keine Einzelheiten«, stotterte er, »Eva hat gerade angerufen und sagt, es habe einen Terroristenangriff gegeben. Der Kibbuz liegt in unmittelbarer Nähe der Grenze.
Anscheinend sind in der Nacht ein paar Araber hinübergekommen und haben Handgranaten in die Kinderschlafstätte geworfen. Fanny hat gerade nach einem kranken Mädchen gesehen und .. .« Er brach schluchzend ab.
Zuerst war Jason wie betäubt. »Ich kann es nicht glauben«, murmelte er. »Ich kann einfach nicht glauben, daß das wirklich geschehen ist.«
In den sechsundzwanzig behüteten Jahren seines Lebens hatte er noch nie etwas erlebt, was einer Tragödie auch nur entfernt ähnlich war. Und jetzt hatte es ihn wie ein Geschoß in der Seele getroffen.
»Eva sagt, Fanny war sehr tapfer, Jason. Sie hat sich über eine Handgranate geworfen, um die Kinder zu retten.« Jason wußte nicht, was er sagen sollte. Oder denken. Oder tun. Er fühlte, irgendwann würden die Tränen kommen, und er empfand eine rasende Wut. Im Moment war er starr von dem Schock. Dann begriff er, er mußte etwas zu ihrem Bruder sagen. »Anton«, flüsterte er, »ich kann dir gar nicht sagen, wie tieftraurig ich bin.« »Wir sind auch wegen dir sehr traurig, Jason«, antwortete er. »Fanny und du — ihr habt euch doch so sehr geliebt.« Mit kaum hörbarer Stimme fügte er hinzu: »Wir dachten, du möchtest vielleicht zum Begräbnis kommen.« Das Begräbnis. Mein Gott, nur daran denken zu müssen, war unerträglich. Es zwang ihn zu begreifen, daß Fanny wirklich tot war, daß er ihre Stimme nie wieder hören würde, sie nie wieder lebendig sehen würde. Aber er war etwas gefragt worden. Wollte er dabei sein, wenn der Körper seiner Geliebten in die Erde gesenkt und mit Erde bedeckt würde?
»Ja, Anton. Ja, natürlich«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Wann ist es?«
»Es sollte eigentlich stattfinden, sobald wir alle dort sind. Aber wir warten natürlich auf dich, wenn du kommst.« »Ich verstehe nicht«, sagte Jason. »Ist das Begräbnis denn nicht in Holland?«
»Nein«, antwortete Anton. »Die Familie hat darüber nachgedacht. Du weißt ja, daß wir sehr religiös sind und uns mit der Bibel und dem Heiligen Land eng verbunden fühlen. Da Fanny dort gestorben ist, fanden wir, sie sollte auf dem protestantischen Friedhol in Jerusalem bestattet werden.«
»Ach.«
»Vielleicht ist die Reise zu weit für dich?« sagte Anton freundlich.
»Ach was«, antwortete Jason ruhig. »Ich rufe die Fluggesellschaft an, sobald die Büros aufmachen, und nehme das erste Flugzeug, das ich bekomme. Ich rufe dich wieder an und sage dir, wann ich ankomme.«
Seit er Fanny kannte, hatte er seinen Paß immer bei sich. Für den Fall, daß er die Trennung nicht mehr würde ertragen können. Er brauchte also nur einen Koffer zu packen, einen Flug zu buchen und abzufliegen.
An diesem Vormittag war ein Examen, auf das er sich seit Wochen vorbereitet hatte, und da sein Flugzeug nach Israel erst am Abend von New York abflog, hätte er es noch machen können. Aber nichts hatte mehr Bedeutung. Es war ihm alles völlig gleichgültig. Er ging zu einem Reisebüro am Harvard Square, holte den Flugschein und wanderte den Rest des Tages ziellos durch Cambridge. Die Sonne schien, und fröhlich lachende Studenten waren auf dem Weg zum Fluß, um dort zu picknicken. Ihr Lachen versetzte ihn in stille Wut. Wie
konnten sie hier lachend über die Straßen gehen, so, als ob das Leben noch wie gestern sei. Warum schien nur die verdammte Sonne so strahlend hell? Alles sollte aufhören und trauern.
Um vier Uhr nachmittags flog er von Boston nach New York und ging über die Parkplätze bis zum Schalter von >El Al<, um sich einzuchecken. Dort erwarteten ihn seine Eltern.
»Jason«, weinte seine Mutter, »das ist so furchtbar.« »Können wir irgend etwas für dich tun?« fragte sein Vater.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Jason abwesend. Ein sportlicher junger Mann mit schwarzgelocktem Haar, offenem Hemd und einem Funksprechgerät näherte sich ihnen und sagte mit bestimmtem Ton: »Sind Sie alle drei Passagiere?« »Nein«, sagte Jason, »nur ich.« »Ich fürchte, dann müssen Sie beide gehen«, sagte er höflich. »Hier dürfen sich nur Passagiere aufhalten. Aus Sicherheitsgründen.« Das brachte den älteren Gilbert auf. »Sieh dir doch nur dieses Flughafengebäude an«, beschwerte er sich, während er sich zögernd zum Gehen wandte, »überall Polizei, und mindestens ein weiteres Dutzend solcher Typen wie dieser junge
Mann hier. Das muß die gefährlichste Fluggesellschaft der Welt sein.«
Bevor Jason antworten konnte, drehte sich der Sicherheitsbeamte um und sagte zu ihnen: »Entschuldigen Sie, aber wir sind die sicherste Fluggesellschaft der Welt, weil wir so viele Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Hören Sie immer bei der Unterhaltung anderer Leute mit?« fuhr ihn Jasons Vater an. »Nur wenn ich im Dienst bin, mein Herr. Das gehört zu meinem Beruf.«
Ungerührt sagte Mr. Gilbert zu seinem Sohn: »Versprich mir, mit einer amerikanischen Fluggesellschaft zurückzufliegen.«
»Bitte, Vater, ich wäre dankbar, wenn du mich in Ruhe ließest.« »Ja, mein Sohn«, sagte er ruhig. »Natürlich.«
Sie umarmten ihren Sohn und gingen.
Jason seufzte, als er den zwei weiblichen Sicherheitsbeamten zusah, wie sie sorgfältig den Inhalt seines kleinen Koffers — drei Hemden, Unterwäsche, zwei Schlipse, ein Waschbeutel
— auf den Tisch leerten und alles genau untersuchten. Eine von ihnen prüfte sogar die Tuben mit Zahnpasta und Rasierseife. Endlich packten sie alles wieder ein, viel sorgfältiger als er das getan hatte. »Kann ich jetzt gehen?« fragte er und versuchte, seine Ungeduld zu unterdrücken.
»Ja, Sir«, antwortete die junge Frau, »bitte in die Zelle dort zur Körpervisite.«
Der Flug war lang, und das Flugzeug war vollbesetzt. Kinder jagten sich den Gang hinauf und hinunter. Alte bärtige Männer - und auch ein paar junge - gingen zwischen den Sitzreihen auf und ab und dachten sicher über irgendeine wichtige Stelle im Talmud oder bei den Propheten nach. Auch Jason konnte nicht sitzen bleiben. Er staunte über die verschiedenen Gesichter der Passagiere. Außer den stereotypen Gesichtern von Patriarchen, die direkt dem Alten Testament zu entstammen schienen, gab es braungebrannte muskulöse junge Männer. Er nahm an, daß viele der athletischen Typen mit offenem Hemd Sicherheitsbeamte waren. Es gab auch Gesichter so schwarz wie die von Negern, Jemeniten wie er später erfuhr.
Am meisten wunderte ihn, daß er sich selbst in einigen Menschen wiedererkannte. Denn da und dort saßen blonde und blauäugige Passagiere und unterhielten sich in schnellem Hebräisch. Sie waren alle verschieden. Trotzdem waren es alles Juden
Und er war unter ihnen.
Als der Pilot vierzehn Stunden später ansagte, sie befänden sich im Anflug auf Tel Aviv, bemerkte Jason, daß viele Menschen, nicht nur in seiner Nähe, schluchzten. Und als sie ausstiegen und über das Vorfeld an schwerbewaffneten Soldaten vorbeigingen, sah er, daß sich ein alter Mann niederkniete und den Boden küßte. Die Menschen waren so ergriffen, an diesem heißen und schwülen Ort angekommen zu sein, daß sie es nur durch zwei Extreme ausdrücken konnten: Tränen oder Lachen. Er war zu benommen, irgend etwas zu empfinden.
Der Beamte, der seinen Paß stempelte, lächelte und sagte: »Willkommen daheim.«
Instinktiv antwortete Jason: »Ich bin nur Tourist.«
»Ja«, sagte der Beamte, »aber Sie sind Jude. Und Sie sind nach Hause gekommen.«
Da er keinen Koffer zu holen hatte, ging er direkt durch den Zoll und auf die automatischen Türen zu. Dahinter stand eine aufgeregte Menschenmenge und begrüßte in allen möglichen Sprachen rufend und schreiend ihre angekommenen Verwandten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und entdeckte Anton van der Post, der seitwärts mit einem dicken, kahlen Mann in mittleren Jahren wartete. Er eilte zu ihnen. Um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen, tauschten sie nur Platitüden aus.
»Wie war der Flug?«
»Gut, Anton. Wie tragen es deine Eltern?« »Ganz gut, wenn man es bedenkt. Übrigens, das ist Yossi Ron, der Sekretär des Kibbuz.«
Jason und der ältere Mann gaben sich die Hand.
»Schalom, Mr. Gilbert«, sagte er. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut...« Auch er fand keine Worte. Sie kletterten in einen alten Lastwagen des Kibbuz und begannen die Fahrt.
Etwa eine Stunde später kamen sie einen steilen Hügel hinauf, und als die Straße eine Biegung nach rechts machte, sahen sie Jerusalem, dessen weiße Steine in der frühen Morgensonne aufleuchteten. Dann redete Anton zum ersten Mal auf der Fahrt. »Wir dachten, sie sollte mit deinem Ring begraben werden, Jason. Ist dir das recht?« Er nickte. Und plötzlich überfiel ihn die ganze schreckliche Wahrheit dessen, was ihn an diesen sogenannten heiligen Ort gebracht hatte.
Mit einer schlichten Feier wurde sie hinter den hoch aufragenden Bäumen des protestantischen Friedhofs auf dem Emek Refaim begraben. Eine Abordnung des Kibbuz war die Nacht hindurch hergefahren und versammelte sich am Grab. Alle waren braungebrannt und trugen offene Hemden. In seinem dunklen Anzug mit Krawatte kam sich Jason fehl am Platz vor. In der ersten Reihe standen Anton und seine Eltern er hatte den Arm um seine Mutter gelegt, und ein dunkelhaariges israelisches Mädchen hielt Mr. van der Posts Hand. Das war sicher Eva Goudsmit.
Die Gesichter der holländischen Besucher waren schmerzverzerrt. Die Kibbuzniks weinten offen über den Verlust eines Freundes. Für sie war sie nur das gewesen. Nicht einmal im Traum hätten sie sich vorstellen können, was Fanny für Jason Gilbert bedeutet hatte. Als der Sarg ins Grab gesenkt wurde ein Teil seines Innersten mit ihr begraben. Sein Schmerz war zu groß für Tränen. Als die Begräbnisfeier zu
Ende war und die Trauernden sich langsam entfernten, zog es ihn und Eva unwillkürlich zueinander, es war keine Vorstellung nötig.
»Fanny hat oft von Ihnen erzählt«, sagte sie mit heisererStimme. »Ich hätte bei der Explosion sterben sollen. Wenn jemand ein glückliches Leben verdient hatte, dann war sie es.« »Ich empfinde wie Sie«, murmelte Jason. Sie gingen weiter durch das Friedhofstor, und wandten sich nach rechts. Als sie zur Bethlehem-Straße kamen, sagte er: »Ich möchte gerne sehen, wo es passiert ist.«
»Meinen Sie den Kibbuz?« fragte sie. Er nickte.
»Sie können heute nachmittag mit uns im Bus zurückfahren.« »Nein«, erwiderte er. »Ich will mit ihrer Familie zusammen sein bis zu ihrer Abreise morgen. Ich werde mir einen Wagen mieten und dann selbst nach Galiläa fahren.«
»Ich werde Yossi sagen, daß er für Sie alles vorbereitet. Wie lange werden Sie bleiben?«
Jason Gilbert sah auf die Dächer der Altstadt und antwortete: »Ich weiß es nicht.«
Am nächsten Morgen fuhr Jason um fünf Uhr früh die drei Menschen, zu deren Familie er gehört hätte, zu ihrem Flug nach Hause. Obwohl sie sich versichert hatten, sie würden in Verbindung bleiben, wußten alle, es würde nur noch wenig oder keinen Kontakt mehr geben, da sie den Menschen verloren hatten, durch den ihr Leben verbunden gewesen war.
Mit einer Karte auf dem leeren Sitz neben sich fuhr Jason nach Norden, erst an der Küste des Mittelmeers entlang, links von der Straße das blaue Meer. Dann nach Caesarea ostwärts, durch Nazareth und Galiläa bis zum Toten Meer, wo vor zweitausend Jahren Christus auf dem Wasser gegangen war.
Dann bog er wieder nach Norden, hatte den Jordan zur Rechten und durchquerte Qiryath Shemona. Gegen Mittag erreichte er das Eingangstor von Vered Ha-Galil, fuhr hindurch und stellte den Wagen ab.
Außer den üppigen Büschen und Blumen erinnerte ihn der Ort an eine kleine Militärstation. Denn er war von Stacheldraht umgeben. Nur wenn er über den Jordan hinaussah, spürte er etwas von der friedlichen Ruhe. Der Kibbuz schien verlassen. Er sah auf die Uhr und wußte, warum. Es war Essenszeit. Der Eßsaal mußte sich in dem einzeln stehenden großen Gebäude befinden, das am Ende der Häuserreihe stand.
Im Inneren herrschte der Lärm angeregter Unterhaltung. Er suchte mit den Augen die Tische ab und entdeckte schnell Eva, wie alle anderen in T-Shirt und Shorts. »Guten Tag, Jason«, sagte sie leise. »Haben Sie Hunger?« Erst da wurde ihm klar, daß er bis auf eine Tasse Kaffee vor sechs Stunden in Jerusalem nichts zu sich genommen hatte. Das Essen war einfach — selbstgezogenes Gemüse, Käse und eine Art Joghurt. Eva stellte ihn den Kibbuzniks vor, die um sie herumsaßen, sie begrüßten ihn und drückten ihm ihr Beileid aus
»Ich würde gerne sehen, wo es passiert ist«, sagte Jason. Jetzt ist Mittagspause«, sagte Ruthie, eine der Kinderbetreuerinnen. »Können Sie bis vier Uhr warten?« »Ich denke doch.«
Nach dem Mittagessen ging Eva mit ihm an der langen Reihe der gleichförmigen Holzhütten entlang bis zu der in der er wohnen sollte.
»Sie können in Dov Levis Bett schlafen«, sagte sie. Und wo schläft er?« Dov ist beim >Miluim< — Militärdienst für Reservisten Er
ist noch drei Wochen fort.« »Ich glaube aber nicht, daß ich so lange bleiben werde « Eva sah zu ihm auf und fragte: »Müssen Sie denn so dringend wieder irgendwohin zurück?« »Nein«, räumte er ein, »eigentlich nicht.«
Jason zog die Schuhe aus, legte sich auf das knarrende Metallbett und dachte über die Ereignisse der letzten zweiundsiebzig Stunden nach. Am Anfang dieser Woche war er noch mit seinen Freunden über das Gelände der Harvard Law School geschlendert und hatte an nichts anderes als an seine Hochzeit, seine Prüfungen und seine Zukunft als Politiker gedacht. Jetzt war er hier, im sogenannten Land seiner Väter, und sein Leben hatte keinen Sinn mehr. Schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf. Das nächste, was er spürte war, daß Yossi ihn sanft rüttelte. Er hatte einen breitschultrigen, etwa vierzigjährigen Mann mitgebracht, den er als Aryeh, den Sicherheitsbeamten des Kibbuz, vorstellte. Jason schüttelte schnell den Schlaf ab und ging mit ihnen zum Kindergebäude hinüber.
»Ich finde es etwas eigenartig«, sagte er, als sie sich dem Haus näherten, »warum lassen Sie denn alle Kinder in einem Gebäude schlafen? Wären sie nicht bei ihren Eltern sicherer?«
»Das ist ein Teil der Kibbuz-Philosophie«, erklärte Yossi. »Die kleinen Kinder werden zusammen aufgezogen, damit sie das Gefühl für Kameradschaft bekommen. Liebe fehlt ihnen nicht. Sie besuchen ihre Eltern täglich.«
In dem langen rechteckigen Schlafraum standen zwei Reihen Betten, an den Wänden hingen Kinderzeichnungen. Es gab keine erkennbaren Spuren der Zerstörung. Offensichtlich hatte man den Schaden schnell wieder repariert.
»Also hier war es?« fragte Jason ruhig. »Ja«, bestätigte Aryeh mit schmerzlicher Stimme und zog hastig an einer billigen Zigarette. »Ein kleines Mädchen hatte Mandelentzündung, und Fanny behandelte es, als ...«
»Haben Sie denn keine Wachen hier? Ich meine, so nahe an der Grenze?«
»Jeder hier im Kibbuz hält eine Nacht pro Monat Wache und geht das gesamte Gelände ab. Aber es gibt hier so viel Land zu bewachen. Wenn die Fedayeen Geduld haben, wie das bei den Kerlen offensichtlich der Fall ist, warten sie einfach, bis die Patrouille vorbei ist, dann schneiden sie den Stacheldraht durch, verrichten ihr schmutziges Geschält und fliehen wieder.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben keinen erwischt?« »Nein«, antwortete Aryeh traurig. »Die Explosionen haben solche Verwirrung verursacht — und dann haben die noch am Wasserturm mit Leuchtmunition geschossen. Zuerst mußten wir uns um unsere Verwundeten kümmern. Außer Fanny gab es noch drei verletzte Kinder. Bis ich einen Suchtrupp zusammengestellt hatte, war ihr Vorsprung schon zu groß, und sie waren wieder über die Grenze.« »Und warum haben Sie sie nicht weiter verfolgt?«
»Das hat die Armee übernommen. Wir müssen dafür sorgen, daß wir sie das nächste Mal rechtzeitig erwischen.«
»Sie wissen also, daß sie wiederkommen werden?« »Entweder sie oder ihre Vettern. Sie werden so lange versuchen, uns zu vertreiben, bis wir sie davon überzeugt haben, daß dies unsere Heimat ist.«
Jason bat sie, ihn allein zu lassen. Die zwei Männer nickten.
Er stellte sich vor, wie die Terroristen durch die Gittertür gebrochen waren und ihre Handgranaten auf die schlafenden Kinder geworfen hatten. Unwillkürlich griff er nach der Pistole, die er früher einmal am Gürtel getragen hatte, um auf die Angreifer zu schießen. In ihm entstand ein rasender Zorn, Zorn auch über sich selbst. Ich hätte hier sein und sie beschützen müssen, dachte er. Um Fanny zu beschützen. Sie wäre noch am Leben.
Irgend etwas hielt Jason in Vered Ha-Galil. Die schwere körperliche Arbeit, sagte er sich, war das einzige Mittel gegen seine alles durchdringende Trauer. Und die Abendunterhaltungen mit den Kibbuzniks taten seiner geplagten Seele wohl. Eine Woche nach seiner Ankunft gelang es ihm, eine Telefonverbindung mit Amerika zu bekommen. Sein Vater berichtete, er habe mit dem Dekan der Harvard Law School gesprochen und alles erklärt. Jason könne im kommenden Frühjahr die verpaßten Examen nachholen.
»Wann kommst du nach Hause, Jason?« »Ich weiß es nicht, Vater. Ich weiß vieles noch nicht.«
Der Kibbuz war einer der ältesten des Landes. Er war gegründet worden von Juden, die Europa vor der großen Katastrophe verlassen hatten, weil sie die Vision einer besseren Zukunft hatten und daran glaubten, wie alle anderen Menschen das Anrecht auf eine Heimat zu haben. Sie waren davon überzeugt, daß Palästina schon immer ihre Heimat gewesen sei. Und ihr Idealismus ließ sie zu Anführern werden für eine Heimkehr, zu der sich, wie sie hofften, noch viele Tausende mehr entschließen würden.
»Wenn du diese Gebäude primitiv findest«, meinte Yossi eines Abends nach dem Essen, »dann stell dir vor, wie das bei den Vätern hier aussah. Das ganze Jahr über nur in Zelten leben und ohne Traktor die Felder pflügen.« »Es muß unerträglich gewesen sein«, sagte Jason.
»Unbequem, ja, aber nicht unerträglich. Sie genossen jeden Augenblick, auch den kalten Regen. Denn es war ihr Regen, so wie es ihr Land war, auf das der Regen fiel. Der Zweite Weltkrieg brachte mehr Menschen hierher. Zuerst diejenigen, die noch vor den Mörderbanden fliehen konnten. Und später kamen dann die Überlebenden aus den Konzentrationslagern. Ein paar von ihnen sind noch immer hier und arbeiten von morgens bis abends auf den Feldern zusammen mit so jungen Kerlen wie dir.«
Jason hatte die eintätowierten blauen Zahlen auf ihren Unterarmen bemerkt. Evas Vetter, Jan Goudsmit, war den Gaskammern entkommen und auf einem der vielen illegalen Schiffe nach Palästina gelangt. Er wurde aber von den Engländern aufgegriffen und als Ausländer interniert.
»Kannst du dir vorstellen, wie sie versucht haben, einem Mann zu erklären, er gehöre nicht in sein eigenes Land?« sagte Yossi lachend. »Jedenfalls wurde er wieder in einem Lager festgesetzt. Es war natürlich nicht so schlimm wie bei den Deutschen. Die Engländer haben sie nicht schlecht behandelt. Aber Stacheldraht gab es da auch. Er floh aus dem Lager gerade rechtzeitig für den Unabhängigkeitskrieg.
Da trafen wir uns. Wir hatten zusammen ein Gewehr.« »Ihr hattet was?« fragte Jason. »Du hast schon richtig verstanden, mein amerikanischer Freund. Wir hatten ein Gewehr für zwei Leute. Und glaube mir, wir hatten auch nicht sehr viel Munition. Der zweite
Mann führte deshalb immer genau Ruch darüber. Jedenfalls, als es vorbei war, habe ich Jan nach Hause mitgenommen.« »Und da habe ich ihn gefunden«, sagte Eva. »Als er eine feste Adresse hatte, ließ er seinen Namen bei der >HIAS< registrieren, die Überlebende zusammenzuführen versuchte. Ihr holländisches Büro brachte uns in Kontakt.« »Es muß schwer gewesen sein, das Land zu verlassen, in dem man geboren worden ist«, meinte Jason, »ich meine, eine neue Sprache lernen und so.« »Ja, es war keine leichte Entscheidung«, bestätigte Eva. »Ich hatte die van der Posts besonders gern. Aber es war merkwürdig, sie haben mich davon überzeugt, daß ich gehen müßte.«
»Hast du nie Heimweh gehabt?« fragte Jason und genierte sich sogleich wegen dem falschen Wort. »Manchmal sehne ich mich nach Amsterdam«, gab Eva zu, »es ist eine der schönsten Städte der Welt. Ich bin auch ein paar Mal wieder dort gewesen, um Fanny zu besuchen. Aber bevor Jan starb, hatte er mich davon überzeugt, daß es nur einen Ort gibt, an dem ein Jude zu Hause ist.«
»Als patriotischer Amerikaner«, sagte Jason, »möchte ich da eine Ausnahme machen.« »Du meinst als Vogel Strauß«, warf Yossi ein. »Sag mir doch, wie lange leben denn schon Juden in Amerika?« »Wenn ich mich recht an meine ersten Schuljahre erinnere, dann hat Peter Stuyvesanl die ersten um 1700 nach New Amsterdam gebracht.«
»Zieh nur nicht die falschen Schlüsse daraus, mein Junge«, antwortete Yossi. »In Deutschland haben die Juden mindestens schon doppelt so lange gelebt. Und sie waren genauso erfolgreich...« »... und genauso eingebürgert«, fügte Eva schnell hinzu. »Das heißt, bis der wahnsinnige Anstreicher beschloß, sie verdürben die arische Rasse und müßten deshalb ausgemerzt werden. Dann bedeutete es plötzlich nichts mehr, daß Heine ein Jude war und Einslein, und daß die Musiker in den meisten Orchestern, die Mendelssohn spielten, Juden waren. Sie mußten uns vernichten, und fast haben sie es ja auch geschafft.«
Jason saß einen Augenblick stumm da und versuchte sich einzureden, das sei nur die Propaganda, die jeder Besucher Israels zu hören bekäme. Außerdem hatte man ihm beigebracht, daß es noch einen anderen Weg gab, wie sich Juden vor den Pogromen und Verfolgungen ihrer langen Geschichte retten könnten. Wie sein Vater — durch Anpassung.
Nach der ersten Woche, in der er tagsüber Orangen pflückte und nächtelang diskutierte, wollte er immer noch nicht abreisen. Erst, als man ihm sagte, Dov Levi komme vom Militärdienst zurück und werde sein Bett wieder haben wollen, begriff Jason, daß er irgendeine Entscheidung zu treffen hatte.
»Hör mal«, sagte Yossi, »ich will dich nicht dazu überreden, dein ganzes Leben lang hier zu verbringen. Aber wenn du diesen Sommer hierbleiben willst, kann ich dich mit sechs oder sieben freiwilligen Helfern zusammen in einem Haus unterbringen. Was meinst du dazu?«
»Gut, geht in Ordnung«, sagte Jason.
Er schrieb an seine Eltern:
»Liebe Mutter, lieber Vater,
es tut mir leid, daß ich seit unserem Telefongespräch nichts mehr von mir habe hören lassen, aber plötzlich ist mir meine ganze Welt in Stücke gegangen. Nächsten Monat sollte die Hochzeit sein. Die Trauer schmerzt noch immer sehr, und ich kann mich nur dadurch trösten, daß ich hierbleibe, wo sie gestorben ist.
Auch brauche ich Zeit, mir zu überlegen, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will. Der Verlust von Fanny hat mich sehr verändert. Irgendwie habe ich weit weniger Ehrgeiz als früher, besonders viel Erfolg zu haben — was immer das bedeutet.
Die allgemeine Einstellung hier im Kibbuz gefällt mir sehr. Natürlich wollen ein paar von den jungen Leuten Ärzte oder Professoren werden. Aber die meisten kommen hierher zurück, wenn sie mit dem Studium fertig sind, und bringen das Gelernte in die Gemeinschaft ein. Es ist eigenartig, daß ich hier keinen einzigen Menschen getroffen habe, der berühmt werden möchte. Alle möchten
nur in Frieden und Ruhe leben und die wahren Freuden des Lebens genießen, wie zum Beispiel harte Arbeit, Kinder und Freundschaft.
Ich wollte, ich könnte behaupten, ich sei ruhig geworden. Aber dem ist nicht so. Es ist nicht nur die Trauer, sondern ich spüre ein primitives Bedürfnis in mir, Rache zu nehmen. Ich weiß, das ist nicht gut, aber noch werde ich dieses Gefühl nicht los.
Ich habe mich entschlossen, den Sommer über hier zu bleiben und als freiwilliger Helfer mit den anderen zusammenzuarbeiten. Da ich mit Waffen umgehen kann, übernehme ich auch regelmäßig Wachdienste, und falls ein Terrorist so dumm sein sollte, diese Siedlung wieder anzugreifen, wird er es bereuen.
Jedenfalls danke ich Euch, daß Ihr mich das alles selbst herausfinden läßt.
Euer Euch liebender Sohn Jason.«
Zeitschrift für ehemalige Harvard-Studenten, im Juni 1963:
Theodore Lambros hat den Doktor der Philosophie in
Klassischen Sprachen erworben. Die Harvard University
Press wird seine überarbeitete Doktorarbeit unter dem
Titel >Tlemosyne: Der tragische Held bei Sophokles«
veröffentlichen. Im Herbst dieses Jahres wird er Dozent der
Fakultät für Klassische Sprachen.