21. Andrew Eliots Tagebuch 12. Oktober 1965

Ist das nicht die reinste Ironie? In dem Moment, in dem Ted und Sara, für mich das ideale Paar, mit der Geburt ihres ersten Kindes neue Höhen ihres ehelichen Zusammenlebens erreichten, werde ich ein Fall der Statistik. Zum großen Entzücken und Profit der Rechtsanwälte lassen Faith und ich uns scheiden.
Wenn dies auch nicht im Zorn geschieht, so doch mit einer Menge tiefsitzender Gleichgültigkeit, wie man sagen könnte. Es scheint, sie hat die Ehe mit mir nie als »Riesenspaß« empfunden. Unsere Anwälte nennen als Grund »unüberbrückbare Gegensätze«, aber das nur, weil es als Scheidungsgrund nicht ausreicht, daß Faith es unendlich langweilig findet, weiter hier draußen zu leben. Ich begreife eigentlich nicht ganz, warum für sie das Leben hier auf dem Lande so langweilig war, denn sie hatte so viele Liebesaffären, daß man ihre Zeiteinteilung schon fast hektisch nennen konnte.
Als ich das erste Mal den Verdacht hegte, daß sie sich auf das Gebiet außerehelicher Tändeleien begeben hatte, war ich vor allem besorgt, was meine Freunde darüber wohl denken würden. Die Sorge hätte ich mir ersparen können, denn sie hatte mit fast allen etwas.
Im Grunde wollte ich, ich hätte davon gar nichts erfahren. Offen gesagt ist es mir nie so vorgekommen, daß etwas wirklich falsch ist. Denn unsere Wochenenden waren sehr angenehm, und sie schien sich zu amüsieren. Unglücklicherweise hielt es aber einer meiner Harvard-Freunde im Lunch-Club für seine Pflicht, mich wortreich darüber aufzuklären, daß ich im ganzen südlichen Connecticut zum Gegenstand des Gelächters geworden war. Auf der nur allzu kurzen Bahnfahrt nach Hause versuchte ich mir auszudenken, wie ich die Sache bei Faith am besten zur Sprache bringen könnte. Aber als sie dann in der Tür stand, hatte ich keinen Mut mehr, sie damit zu konfrontieren.Vielleicht stimmte es gar nicht, sagte ich mir. Und es wurde ein ganz gewöhnlicher Abend, mit Cocktails, Abendessen und zu Bett gehen. Aber ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und hatte Herzklopfen, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte.
Schließlich begriff ich, was hinter meinem hamletartigen Zögern steckte. Eigentlich zweifelte ich überhaupt nicht, daß sie mir untreu war, denn ich erinnerte mich, schon immer war mir aufgefallen, daß sie bei den Tanzpartys an den Wochenenden im Club mit vielen Kerlen herummachte. Was mich aber bis ins Mark erschreckte, war die Tatsache, daß ich die Kinder verlieren würde. Denn auch wenn es einwandfrei feststeht, daß die Frau schuld ist, wird das Gericht immer ihr das Sorgerecht zusprechen. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, am Abend nach Hause zu kommen und nicht mehr den kleinen Andy rufen zu hören: »Papa ist da!«, als wäre ich der König des Universums. Oder nicht dabei zu sein, wenn Lizzy zu sprechen anfängt. Die Kinder haben meinem Leben nicht nur Sinn gegeben, sondern ich habe auch herausgefunden, daß ich eigentlich ein ganz guter Vater bin.
Ich wurde so verzweifelt bei all diesen Gedanken, daß ich um vier Uhr morgens plötzlich die Idee hatte, beide Kinder zu nehmen und mit ihnen im Auto irgendwohin zu fliehen. Aber das wäre natürlich auch keine Lösung gewesen. Am nächsten Morgen meldete ich mich krank (was nicht einmal ganz falsch war), um mich mit Faith auseinanderzusetzen. Sie leugnete nichts. Ich glaube, eigentlich wollte sie, daß ich alles herausbekomme. Jedenfalls sagte sie sofort »Ja«, als ich sie fragte, ob sie die Scheidung wolle.
Ich fragte sie, zu welchem Zeitpunkt sie entdeckt habe, daß sie mich nicht mehr liebe. Sie antwortete, sie hätte mich eigentlich nie geliebt und hätte sich eine gewisse Zeit nur eingebildet, mich zu lieben. Da sie jetzt wisse, sie habe sich geirrt, hielte sie es für am besten, daß wir uns trennten. Ich sagte, es sei doch wohl ganz schön unverantwortlich, mit jemandem, den man nicht wirklich liebt, zwei Kinder zu haben.
Worauf sie antwortete: »Genau das kann ich bei dir nicht ertragen, Andrew. Du bist so gräßlich sentimental.« Sie fragte, ob es mir etwas ausmache, wenn ich noch an diesem Morgen meine Koffer packte und auszöge, da sie viel zu tun habe. Ich erwiderte, das mache mir in der Tat etwas aus, und ich bliebe, bis Andy aus dem Kindergarten käme, denn ich wolle mit ihm reden. Sie sagte, ich solle tun, was ich wolle, nur solle ich dann bis zum Abendessen aus dem Haus sein.
Während ich nachlässig ein paar Hemden und Schlipse in einen Koffer warf, überlegte ich, wie zum Teufel man einem Vierjährigen erklärt, warum der Vater fortgeht. Ich weiß, man soll Kinder nicht belügen. Aber einfach zu sagen, »Mama liebt mich nicht«, das kann der kindlichen Psyche nicht sehr förderlich sein.
Als das Kindermädchen ihn nach Hause brachte, hatte ich mir dann die Geschichte ausgedacht, ich müsse in New York leben, um näher bei meiner Arbeit zu sein. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, ich würde an jedem Wochenende herauskommen und ihn und Lizzy besuchen. Und im Sommer würden wir bestimmt zusammen in Maine sein. Oder mindestens einen Teil des Sommers.
Ich beobachtete seinen Gesichtsausdruck, als ich dieses Märchen von mir gab. Und ich sah, daß er die Wahrheit begriff. Es brach mir das Herz. Obwohl erst vier Jahre alt, enttäuschte es meinen Sohn, daß ich ihm gegenüber nicht ganz ehrlich war.
»Kann ich mit dir fahren, Papa?« bat er. Mir tat alles weh von dem sehnsüchtigen Wunsch, ihn einfach zu entführen. Aber ich sagte ihm, der Kindergarten und seine Freunde würden ihm fehlen. Und jetzt solle er ein guter Junge sein und auf seine kleine Schwester aufpassen.
Er versprach mir das, vermutlich, um es mir leichter zu machen — er weinte auch nicht, als er zusah, wie ich den Koffer in den Wagen warf, um nach New York zu fahren. Er stand nur in der Tür und winkte stumm.
Kinder sind klüger, als wir glauben. Weshalb wir ihnen dann so viel Schmerz zufügen.

Als die Gewinner der Pulitzer-Preise des Jahres 1967 bekanntgegeben wurden, freute man sich besonders in der Pressestelle von Harvard. Es war zwar nichts Besonderes, daß zwei Harvard-Absolventen im gleichen Jahr den Preis bekamen, jedoch geschah es sehr selten — wenn nicht zum ersten Mal—, daß zwei Angehörige desselben Jahrgangs gleichzeitig ausgezeichnet wurden.
Das war eine hübsche kleine Meldung für die Presse. Denn den Lyrikpreis erhielt Stuart Kingsley, '58, und den Preis für Musik der schon mit vielen Ehrungen bedachte Danny Rossi desselben Jahrgangs.
Die beiden hatten sich in Harvard nicht gekannt. Stuart Kingsley war während seiner Studienzeit eine fast unsichtbare Erscheinung im Adams-Haus gewesen. Seinen sehr guten Gedichten in der Zeilschrift >Advocate< wurde gelegentlich durch die Rezensenten des >Crimson< ein mageres Lob zuteil. Bis zu dem Morgen, an dem ihn das Pulitzer-Preiskomitee anrief, hatte Stuart weiter in relativer Verborgenheil gelebt. Er, seine Frau Nina und ihre beiden Kinder wohnten in einer etwas heruntergekommenen Altbauwohnung am Riverside Drive, in der Nähe der Columbia-Universität, wo er >Kreatives Schreibern unterrichtete. Was Stuart fast so sehr freute wie der Preis selbst, war die Aussicht, endlich seinem berühmten ehemaligen Kommilitonen zu begegnen.
»Stell dir doch vor, Nina«, schwärmte er, »vielleicht komme ich sogar zusammen mit Danny Rossi auf ein Foto.« Dann erfuhr Stuart aber zu seinem Ärger, daß es gar keine Preisverleihung geben würde. Der Telefonanruf und ein Bild in der >New York Times< — das war alles.
»Ist doch ganz egal«, sagte Nina, um ihren enttäuschten Mann zu trösten, »ich werde dir die größte Party ausrichten die du je erlebt hast. Champagner wird fließen wie Selterswasser.« Er umarmte sie. »Ich danke dir, das finde ich schön. Ich glaube, es hat noch nie jemand eine Party für mich gegeben. Vielleicht verfaßt sogar einer der Gäste einen Limerick auf mich, oder so etwas.« »Falls nicht, kannst du selbst einen schreiben, und ich lese das vor.« Sie lächelte, aber merkte dann, daß Stuart noch immer nicht so begeistert war, wie sich das für einen Pulitzer-Preisträger gehörte.
»Hör mal, Liebling, wenn du unbedingt Danny Rossi treffen willst, dann lade ich ihn gerne zu der Party ein.« »Tu das ruhig«, sagte er mit ironischem Lächeln, »und ich bin auch überzeugt, daß er wahnsinnig gerne kommt.« Nina ergriff ihn bei den Schultern. »Jetzt hör mir mal gut zu, Kleiner. Ich habe zwar das >Savanarola<-Ballett nicht gesehen, wofür Rossi den Preis bekommen hat, aber George Balanchines Choreographie hat sicher auch einiges dazu beigetragen. Jedenfalls muß es schon ganz schön gut sein, wenn es mit deinem Band >Gesammelte Gedichte< mithalten will. Deshalb kannst du mir schon glauben, es wird ihm eine Ehre sein zu kommen.«
»Das spielt keine Rolle, Nina. In New York ist es nicht so wichtig, begabt zu sein, wichtig ist nur, ein Image zu haben.
Und Danny hat eine solche Ausstrahlung...«
»Ach, um Gottes willen, Stu, das ist doch nur das übertriebene Geschwätz eines Pressebüros. Das einzige, was Rossi dir voraus hat, sind eigentlich nur ein paar auffällige rote Locken.«
»Klar«, lächelte Stuart, »und ein paar Millionen Mäuse. Ich sag' dir, der Kerl ist ein wirklicher Star.«
Nina sah ihn nachsichtig und liebevoll an. »Weißt du, warum ich dich so sehr liebe, Stu? Weil du das einzige mir bekannte Genie bist, das am Gegenteil von Größenwahn leidet.« »Ich danke dir, Liebling«, erwiderte er, suchte seine Notizen zusammen und steckte sie in seinen Aktenkoffer. »Aber wenn du jetzt nicht damit aufhörst, mein Ego aufzublasen, komme ich noch zu spät in mein Vier-Uhr-Seminar. Bis um sieben heute abend. Wir können dann ja eine Party nur für uns machen.«
Als er am Abend nach Hause kam, hatte sie für ihn eine Überraschung.
»Wirklich, Nina? Ist das dein Ernst?«
»Ja, mein Lieber, Du triffst dich morgen um ein Uhr mit deinem charismatischen Kommilitonen zum Mittagessen im >Russian Tea Room<. Übrigens wirst du erstaunt sein zu erfahren, daß er sich sehr darauf freut, dich kennenzulernen.« »Wie hast du ihn denn erreicht?« »Ganz einfach, ich hatte eine Eingebung. Ich habe im Büro von Hurok eine Nachricht für ihn hinterlassen, und etwa zehn
Minuten später hat er angerufen.« »Nina, du bist fabelhaft. Das wird ja wirklich eine Sache werden.«
»Ja, Stuart«, sagte sie liebevoll, »für ihn wird es das.«

Der >Russian Tea Room< an der siebenundfünfzigsten Straße, kaum eine Oktave von der Carnegie Hall entfernt, war ein bevorzugter Treffpunkt der internationalen literarischen und musikalischen Welt. Bis zum Nachmittag dieses Tages hatte Stuart Kingsley nur dem Namen nach davon gehört. Jetzt stand er nervös im Eingang und suchte die Tische nach Danny Rossi ab.
Einmal nickte er jemandem zu, den er für einen alten Bekannten hielt. Der haarlose, bebrillte Kerl reagierte darauf äußerst sparsam und wandte sich dann ab. Stuart brauchte einige Zeit, bis er begriff, daß er aus Versehen Woody Allen gegrüßt hatte. Als er Rudolf Nurejew erkannte, der sich einem Tisch von ihn verehrenden Ballettomanen darbot, beging er nicht noch einmal diesen Fehler. Er lächelte nur in sich hinein bei dem Gedanken, in der Nähe von solch legendären Lebewesen zu sein.
Schließlich entdeckte er seinen Studiengenossen. Als sich ihre Augen trafen, winkte ihn Danny zu seinem Ecktisch, der voll von Notenpapier war. »Ich sehe, Sie verschwenden keine Zeit«, bemerkte Stuart fröhlich, als sie sich die Hand gaben. »Sie haben ganz recht. Unglücklicherweise neige ich dazu, zu viele Verpflichtungen einzugehen. Schließlich kann man eine Suite zum 4. Juli schlecht am Weihnachtsabend abliefern, meinen Sie nicht?«
Nachdem Danny für sie beide etwas zum Trinken bestellt hatte, ging es zunächst die Tonleiter rauf und runter, wer wen kannte, und sie entdeckten schnell, daß sie viele gemeinsame Freunde unter der Künstlergemeinde ihres Jahrgangs hatten.
»Kommen Sie oft von Philadelphia nach New York?« fragte Stuart.
»Leider mindestens einmal pro Woche. Ich habe mir hier sogar ein Studio mieten müssen.«
»Das ist sicher nicht ganz leicht für Ihre Frau«, bemerkte Stuart, denn es war ihm unvorstellbar, auch nur einen einzigen Tag ohne seine geliebte Nina verbringen zu müssen.
»Ja, schon«, erwiderte Danny, »aber Maria hat auch ganz schön mit den Kindern zu tun.« Dann wechselte er schnell das Thema. »Wissen Sie, ich habe mich fast so sehr darüber gefreut, daß Sie den Preis bekommen haben, wie über meinen eigenen. Ich habe Ihre Sachen immer sehr bewundert.«
»Haben Sie meine Gedichte denn gelesen?« »Stuart«, antwortete Danny lächelnd, »schließlich erscheinen Ihre Gedichte regelmäßig im >New Yorker<, und das ist meine liebste Lektüre, wenn ich im Flugzeug sitze. Ich glaube, ich habe alle Gedichte gelesen, die dort abgedruckt worden sind.«
»Meine Frau glaubt mir das bestimmt nicht«, murmelte Stuart halblaut, und dann sagte er: »Und was komponieren Sie zur Zeit, Danny? Ich meine, außer dem, was wir gerade als Tischtuch benutzen?« »Das ist es ja gerade, Stuart. Gerade was das Komponieren angeht, fühle ich mich irgendwie etwas frustriert. Deshalb ist unser Treffen für mich in einer Art schicksalhaft. Haben Sie schon mal daran gedacht, das Libretto für ein Musical zu schreiben?«
»Sie werden es nicht glauben«, bekannte Stuart, »das war nicht nur immer schon ein heimlicher Traum von mir, sondern ich spiele auch schon seit Jahren mit einer bestimmten Idee. Sie basiert allerdings auf einem etwas anspruchsvollen Buch.«
»Dagegen ist doch gar nichts einzuwenden«, erwiderte Danny herzlich. »Obwohl ich kein besonderes Interesse daran habe, ein neues >Hallo, Dolly< zu schreiben. Welches Meisterstück der Weltliteratur ist es denn?«
»Sie werden es nicht glauben. Der >Ulysses< von JamesJoyce.«
»Mensch, das ist eine fabelhafte Idee. Aber glauben Sie, das ist machbar?«
»Hören Sie«, antwortete Stuart, und seine kreativen Säfte begannen jetzt wirklich zu fließen, »ich bin so voll von dem verdammten Buch, daß ich Ihnen das Libretto gleich hier auf den Tisch legen könnte, wenn Sie Zeit dazu hätten. Aber vermutlich haben Sie einen verdammt vollen Terminkalender.«
Während der entschuldigenden Worte Stuarts stand Danny auf und sagte lässig: »Bestellen Sie uns schon mal Kaffee, ich werde inzwischen meinen Terminkalender neu orchestrieren.«
Den ganzen Nachmittag lang hörte Danny fasziniert zu, wie sein Studiengenosse von Ideen überschäumte. Natürlich war es unmöglich, den ganzen Roman von Joyce in zwei Stunden auf die Bühne zu bringen. Aber man konnte sich auf die Episode beschränken, in der der Protagonist Leopold Bloom nachts die verschiedenen exotischen Teile der Stadt durchwandert. Da gab es unendlich viele Möglichkeiten für musikalische Erfindungen. Nur eine einzige wichtige Veränderung war notwendig, wie Stuart sagte: »Unser einziges Zugeständnis ans Kommerzielle.« Der Schauplatz Dublin mußte nach New York verlegt werden. Stuart hatte sogar aufregende Ideen für ganz bestimmte Szenen und Lieder. Aber inzwischen war es spät geworden, und sie mußten ein zweites Treffen verabreden.
»Ich glaube, wir sind schon ein bißchen schwanger«, kommentierte Danny. »Wenn Sie Zeit haben, bleibe ich gerne über Nacht, damit wir morgen weitermachen können.« »Morgen habe ich keine Vorlesungen. Wann wollen Sie anfangen?« fragte Stuart eifrig. »Also, wenn Sie schon um acht Uhr früh bei mir im Studio sein können, dann sorge ich für viele abscheuliche, aber starke Tassen Nescafe.«
»Gemacht«, sagte Stuart und stand auf. Er sah auf die Uhr. »Mein Gott, schon fast fünf. Nina glaubt sicher, daß ich von einem Bus überfahren worden bin. Besser, ich rufe sie an und sage ihr, daß alles in Ordnung ist.« »Schon so spät?« fragte Danny. »Ich muß schnell weg. Denn vor meiner Wohnungstür wartet sicher schon ein ganz schön wütender Besuch.«

Nach ihrer zweiten Zusammenkunft waren beide begeistert. Sie hatten den ganzen Tag gearbeitet und auch nicht aufgehört, als sie die Sandwiches aßen, die Danny bestellt hatte. Nach acht Stunden hitziger symbiotischer Kreativität war nicht nur der Rohentwurf für beide Akte entstanden, sondern auch mindestens sechs Ideen für einzelne Lieder, und sie hatten die Stelle für eine Balletteinlage festgelegt. Vor allem aber waren sie beide in ihrer Begeisterung fest davon überzeugt, daß sobald der Vorhang schließlich über Blooms Trennung von Stephen Dedalus fiel, es im Publikum niemanden geben würde, der nicht Tränen in den Augen hätte — und daß ihnen dann alle nur möglichen Preise sicher wären.
Danny meinte, wenn sie eine bestimmte Zeit konzentriert zusammen arbeiten würden, dann könnten sie die ganze Sache sehr schnell realisieren. Er schlug vor, für den Sommer zwei nebeneinander liegende Häuser auf der Insel >Martha's Vineyard< zu mieten. Dann könnten sie ihre Familien mitnehmen, und wenn sie sich dann noch einen Produzenten geangelt hätten, könnte mit den Proben kurz nach Weihnachten angefangen werden. Aber da gab es eine Schwierigkeit, die Stuart schüchtern erwähnte. »Wissen Sie, Danny, ein Haus auf Vineyard, äh, das übersteigt aber leider meine finanziellen Möglichkeiten.«
»Macht nichts. Mit dem, was wir hier schon haben, finden wir bestimmt einen Produzenten, der uns mit Freuden einen saftigen Vorschuß gibt. Aber zuerst müssen wir einen Agenten finden, der uns vertritt. Haben Sie einen?« »Dichter haben keine Agenten, Danny. Ich bin froh, daß ich eine Frau habe, die keine Angst hat zu telefonieren.«
»Dann werde ich mich mal umhören und herausfinden, wer für den Broadway am besten ist. Einverstanden?« »Aber ja.«
»Gut. Jetzt muß ich aber los, sonst komme ich wieder mal zu spät zu einer wichtigen Verabredung.«

Als Stuart und Nina am nächsten Abend gewissenhaft die Platte mit Dannys >Savanarola<-Ballett hörten, klingelte das Telefon. Es war der Komponist selbst. »Sagen Sie, Stuart«, sagte er etwas atemlos, »ich muß schnell zum Flugzeug, deshalb bin ich in Eile. Haben Sie
schon mal von Harvey Madison gehört?« »Nein, wer ist das?«
»Meine Informanten behaupten, er sei der beste Theateragent in New York. Ein Kerl in Huroks Büro hat gesagt, er sei nicht mal zehn Prozent Mensch.«
»Und ist das so gut?« erwiderte Stuart erstaunt. »Gut? Das ist unglaublich. Man braucht einen völlig herzlosen Scheißkerl, der für einen verhandelt. Und verglichen mit diesem Madison ist der Hunnenkönig Altila der reinste Franz von Assisi. Was meinen Sie?« »Naja«, gestand der Dichter. »Ich habe immer eine Schwäche für Franz von Assisi gehabt. Aber Sie sind es, der etwas vom Geschäft versteht.«
»Großartig«, sagte Danny und beendete schnell das Gespräch: »Ich rufe Harvey gleich zu Hause an, damit er sofort anfängt, die Trommel zu rühren. Auf bald, Stuart.«

Auf Martha's Vineyard ist der Sommer immer wunderbar. Aber wenn man als Autor an einem Stück arbeitet, das für den Broadway bestimmt ist, dann wird es zu einer Insel der Seligen.
Stuart und Nina wurden zu vielen Grillparties, Muschelessen und Abendgesellschaften mit lauter Berühmtheiten eingeladen.  Wäre er nur Pulitzer-Preis-Gewinner für Lyrik gewesen,  hätte man ihn natürlich nicht in diese illustre Gesellschaft aufgenommen. Aber er wohnte in einem der teuersten Häuser in Vineyard Haven, ein klares Anzeichen dafür, daß nicht nur seine Verse, sondern auch sein Bankkonto gut lesbar waren. Eigentlich hatte er dieses Glück Harvey Madison zu danken, denn es war ihr neuer Agent gewesen, der das schicksalhafte Treffen mit Edgar Waldorf dem  unumschränkten  König der Broadway-Produzenten arrangiert hatte. Es ereignete sich an dem einzig möglichen Ort für eine solche Begegnung— ein Mittagessen im >21<.
Stuart, Harvey und Danny hatten zwanzig Minuten gewartet, bis der rundliche, in schillernde Farben gekleidete Produzent seinen großen Auftritt hatte. Noch bevor er sich setzte, sah er den Librettisten und den Komponisten an und erklärte mit Entschiedenheit: »Ich liebe es.«
Stuart begriff nicht ganz. »Aber Mr. Waldorf, wir haben doch noch kein Wort gesagt. Ich meine...« Seine höfliche Reaktion wurde mitten im Satz durch einen starken Griff unter dem Tisch von Harvey Madison abgewürgt, der fortfuhr: »Edgar meint damit, daß er die Idee fabelhaft findet.« »Nein, was ich himmlisch finde, ist die Chemie der Autoren. Als Harvey mich wegen dieser Sache anrief, geriet ich im Büro regelrecht aus dem Häuschen. Die Vorstellung, daß zwei Pulitzer-Preisträger für den Broadway schreiben, ist einfach fabelhaft. Haben Sie sich übrigens schon über den Titel Gedanken gemacht?« Edgar hatte sich diplomatisch an beide gewandt, meinte aber eigentlich Danny, der, wie er wußte, an sich schon eine ganze Menge wert war.
»Na ja«, erwiderte der Komponist, »wie Sie wissen, basiert das Stück auf dem >Ulysses< von Joyce, wobei nur der Schauplatz nach New York verlegt wird.« »Ich liebe es. Ich liebe es«, murmelte Edgar kontrapunktisch.
»Der Roman seinerseits basiert auf Homers >Odyssee<«, fuhr Danny fort. »Und da das Wesentliche an unserem Stück die Fahrt des Helden durch die Stadt ist, wollten wir es >Manhattan-Odyssee< nennen.«
Edgar dachte einen Augenblick nach, warf sich eine Krabbe in den Mund und antwortete: »Das ist gut, ist sehr gut — ich frage mich nur..., ist es nicht zu gut?« »Wie kann irgend etwas zu gut sein?« erkundigte sich Stuart naiv.
»Ich   meine,   relativ«, erwiderte Edgar und zog sich geschickt zurück. »Das durchschnittliche Broadway-Publikum ist schließlich nicht in Harvard gewesen. Ich glaube kaum, daß ich genügend Leute ins Theater brächte, die wissen, was >Odyssee< heißt.« »Aber Mr. Waldorf«, widersprach Danny, »das ist ein gebräuchliches Wort im Englischen.« Harvey Madison hielt es für besser, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Also, passen Sie auf, Edgar hat eine fabelhafte Idee für den Titel.« Der rundliche Produzent wartete, bis alle Augen wie Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren. Dann rief er: »Rejoyce!«
»Was?« fragte Danny Rossi.
»Verstehen Sie denn nicht? Der Name des Autors ist James Joyce. Wir bringen sein Produkt auf die Bühne. Deshalb: >Rejoyce<. Natürlich fügen wir noch ein Ausrufezeichen hinzu. Und das ist es dann. Fa-bel-haft, nicht wahr?« Danny und Stuart sahen sich ungläubig an. »Ich finde das einfach genial«, sagte Harvey Madison probeweise, der instinktiv alles lobte, was aus einer möglichen Einkommensquelle stammte. »Was meinen Sie dazu?« »Dann könnte man es auch gleich >Hallo, MolIy!< nennen« bemerkte Danny ironisch.
»Ich finde >Manhattan-Odyssee< gut«, sagte Stuart ruhig. »Aber Sie haben doch gehört, was Edgar Waldorf...« unterbrach Harvey Madison. »Ich finde >Manhattan-Odyssee< auch gut«, wiederholte Danny. Da kam von unerwarteter Seite und recht überraschend die lobende Bestätigung: »Ich finde, >Manhattan- Odyssee< ist wirklich fa-bel-haft, und es wird mir, Edgar Waldorf, eine Ehre sein, das Stück zu produzieren!«
Dann zwang der Produzent die Autoren zu einem Zeitplan, damit er die Proben und eine Tournee arrangieren und ein Theater mieten konnte. Als er hörte, die Jungens könnten das Stück schon diesen Sommer fertigstellen, wenn sie sich nach Martha's Vineyard zurückzögen, bot er Stuart großzügig seine bescheidene Behausung dort an. »Aber das kann ich doch nicht annehmen, Mr. Waldorf.«
»Bitte, Mr. Kingsley, ich bestehe darauf. Außerdem kann ich dann das Ding von den Steuern absetzen.« Dann kam er, ohne ein Wort gelesen oder einen Ton gehört zu haben, sofort zum Eigentlichen. »Mit welchem Star können wir das besetzen?« »Ich glaube, Zero Mostel wäre großartig als Bloom«, schlug Danny vor. »Nicht großartig«, erwiderte Waldorf, »sondern fa-bel-haft. Sein Agent ist zwar ein Hodenknacker, aber ich werde noch heute damit anfangen, das Monster zu bearbeiten. Mein Gott, wie wird uns Zero die Massen ins Theater bringen.« Mitten im selbstgemachten Begeisterungsausbruch kasteite er sich plötzlich: »Aber...« »Aber was?« fragte Harvey Madison beflissen. »Zero ist fabelhaft für das Partyvolk. Aber wir brauchen noch einen anderen Namen, der die Leute von außerhalb von New York ins Theater bringt. Jemand, der noch populärer ist. Was für eine Frauenrolle gibt es eigentlich in dem Ding?« »Haben Sie es denn nicht gelesen, Mr. Waldorf?« fragte Stuart Kingsley. »Aber klar doch. Das heißt, eine Studentin bei mir im Büro hat mir eine Art Inhaltsangabe gemacht.«
»Dann erinnern Sie sich vielleicht, daß Molly, Blooms Frau, eine recht wichtige Rolle ist«, sagte Danny Bossi und konnte sich kaum noch beherrschen. »Natürlich, natürlich, eine große Rolle«, stimmte der Produzent begeistert zu. »Wie wäre es mit Theora Hamilton dafür?«
»Unglaublich«, ejakulierte Harvey, »Edgar, das ist eine geniale Idee. Aber glaubst du, sie würde sich den Ruhm mit Zero teilen wollen?«
»Das überlaß mal mir«, prahlte der Produzent und schnippte mit den Fingern. »Die große Dame des amerikanischen Musicals ist Edgar Waldorf einiges schuldig, und das werde ich abrufen.«
»Ist das nicht fabelhaft, Jungs?« blubberte Harvey den Autoren zu. »Mostel und Hamilton. Oder vielleicht muß es Hamilton und Mostel heißen. Jedenfalls werden sie sich von hier bis nirgendwo nach Karten anstellen.«
»Offen gesagt, ich glaube, ich habe die Hamilton noch nie gesehen«, gestand Stuart scheu. »Das wüßten Sie auch noch«, merkte Danny an. »Sie hat eine Oberweite wie ein Zeppelin. Leider erreicht ihr Talent aber nicht das Format ihres Vorbaus.« Edgar Waldorf wandte sich arglos an Danny Rossi und fragte: »Darf ich daraus schließen, daß Sie von Miss Theora Hamiltons Stimme nichts halten?« »Das kann ich schon deshalb nicht«, erwiderte Danny ruhig, »weil sie gar keine hat. Sehen Sie, Mr. Waldorf, Stuart und ich wollen ein gutes Musical schreiben, ein erstklassiges Musical und — ja durchaus — ein kommerziell erfolgreiches Musical. Aber wenn Sie so wenig Vertrauen in unsere Fähigkeit haben, auch ohne vulgären Kitzel publikumswirksam zu sein, dann ist es, glaube ich, besser, wir suchen uns einen anderen Produzenten.«
Harvey Madison hüstelte verlegen. Aber Edgar Waldorf schaltete wie ein Rolls-Royce geräuschlos um. »Bitte, Mr. Rossi, lassen Sie uns für einen Augenblick die weibliche Hauptrolle vergessen und uns darauf konzentrieren, was jetzt einzig und allein zählt, nämlich die große Begabung von Ihnen beiden.« Dann hob er die Hand zum Segen. »Gehet hin, gehen Sie nach Martha's Vineyard und schaffen Sie etwas so Erlesenes, daß der Broadway geblendet ist und dieses Kritikerschwein von der >New York Times< dazu. Schreiben Sie ein Meisterwerk. Mr. Madison und ich werden uns um die ordinären Details kümmern.«
Er stand vom Tisch auf, verbeugte sich so, daß es fast wie ein Knicks aussah, und sagte: »Es ist für mich eine große Ehre«, wandte  sich dann um und ging zu den Klängen imaginärer Trompeten ab.

Wenig später ging auch Harvey Madison und ließ die beiden Autoren in ihrem Erfolg schwelgen.
»Ich muß unbedingt gleich Nina anrufen«, sagte Stuart »Haben Sie noch so lange Zeit? Dann könnten wir zusammen gehen?«
»Tut mir leid«, erwiderte Danny, »aber ich habe in zwanzig Minuten eine wichtige Nachmittagsveranstaltung.« »Ich wußte gar nicht, daß Sie heute auftreten.« Danny grinste. »Nur Kammermusik, Stuart. Haben Sie das Titelblatt von >Vogue< gesehen?« »Nicht meine Sorte Zeitschrift«, antwortete er und begriff immer noch nicht. »Sehen Sie sich am Zeitungsstand das Titelblatt an mein Freund. Und die Dame ist heute nachmittag Ehrengast in meinem Studio.« »Oh«, sagte Stuart Kingsley.

»Außer gelegentlich bei Cocktailpartys verkehrten die jüngeren und die älteren Mitglieder der Fakultät für die Klassischen Sprachen in Harvard fast nie miteinander. Es war nicht nur eine Frage des Altersunterschieds, sondern die fast calvinistische Unterscheidung zwischen den Dozenten auf Zeit und den festen Professoren.
Assistenzprofessor Ted Lambros war deshalb überrascht, daß Cedric Whitman ihn zum Mittagessen in den >Faculty Club< einlud, auch wenn er und Sara sich darüber einig waren, daß er der humanste der ihnen bekannten Humanisten war. Nachdem sie bestellt hatten, räusperte sich der Ältere und sagte: »Ted, mich hat Bill Foster, der neue Ordinarius in Berkeley, angerufen. Er und seine Kollegen bewundern Ihr Buch, und er fragt an, ob Sie Interesse an der Professur für Griechische Literatur haben, die jetzt frei wird.«
Ted wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Denn er war sich nicht klar, was hinter dieser Anfrage steckte. War das ein Hinweis, daß er in Harvard keine feste Professur zu erwarten hatte?
»Ich ... ja ... das ist sehr schmeichelhaft für mich.« »Das meine ich auch«, erwiderte Whitman. »Berkeley hat eine der besten Abteilungen für Klassische Literatur in der Welt. Die haben da wirklich ein paar hervorragende Wissenschaftler. Und ganz konkret gesagt, die Gehälter sind dort außergewöhnlich gut. Ich habe mir erlaubt, Bill zu sagen, er möchte Ihnen direkt schreiben. Zumindest kommt dabei eine schöne Einladung zu einer Vorlesung in Kalifornien heraus.«

Wie Aischylos Agamemnon beschreibt, so war auch Ted »tief getroffen von tödlichem Schlag«. Aber er nahm seinen Mut zusammen und fragte: »Cedric, heißt das, Harvard läßt mich auf diese Weise wissen, daß mein Vertrag nicht erneuert wird? Bitte, sagen Sie es mir ganz offen, ich kann die Wahrheit vertragen.«
»Ted«, sagte Whitman, ohne zu zögern, »ich kann natürlich nicht für die ganze Fakultät sprechen. Sie wissen, daß John und ich Sie außerordentlich schätzen. Und natürlich würden wir Sie gerne hierbehalten. Das hängt aber letztlich von der Abstimmung ab, und niemand weiß, wie sich die Historiker, Archäologen und alle anderen, die Ihre Arbeit nicht so gut kennen, dabei verhalten. Wenn Sie ein offizielles Angebot von Berkeley vorzuweisen haben, könnte das die Unschlüssigen dazu bewegen, Sie zu halten.« »Sie meinen also, ich sollte auf alle Fälle hinfahren?« »Glauben Sie einem Veteranen«, lächelte sein Mentor, »ein Akademiker lehnt nie eine Reise ab, wenn sie bezahlt wird und zu einem halbwegs anständigen Ort führt. Und nach Kalifornien, na ja, res ipsa loquitur.«

Sara freute sich sehr, ihn zu sehen. »Was für eine nette Überraschung«, sagte sie und sprang die Steinstufen des Verlags hinunter. Er küßte sie flüchtig und konnte seine Befürchtungen nicht länger unterdrücken. »Cedric hat da beim Mittagessen ein paar deprimierende Sachen von sich gegeben.« »Sie verlängern deinen Vertrag nicht?« »Das ist es ja gerade«, antwortete er frustriert, »er hat alles, was Harvard angeht, nicht angesprochen. Er hat nur gesagt, daß Berkeley mir eine feste Professur anbieten will.« »Berkeley hat eine fantastische Abteilung für Klassische Sprachen«, erwiderte sie. Ted blieb das Herz stehen. Das hatte er am allerwenigsten erwartet.»Du glaubst also auch, daß alles aus ist«, fragte er traurig. Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Ich habe wirklich geglaubt, ich hätte Chancen gehabt, hier in Harvard einen Lehrstuhl zu bekommen.« »Mensch, natürlich habe ich das auch gedacht«, antwortete sie ehrlich. »Aber du weißt doch, wie das hier läuft. Selten genug kann sich mal jemand hocharbeiten. Man läßt sie gehen und wartet ab, was aus ihnen wird. Und wenn sie bedeutend werden, dann holt man sie zurück.« »Aber das ist Kalifornien«, klagte Ted. »Na und? Können wir dreitausend Meilen von Harvard etwa nicht überleben?«

Zwei Abende später rief Bill Foster an und lud ihn offiziell zu einer Gastvorlesung ein. Sie einigten sich auf einen Termin kurz vor den Osterferien in Harvard. »Wir machen das normalerweise eigentlich nicht«, fügte er hinzu, »aber wir möchten gerne, daß Ihre Frau mitkommt. Die Leute unseres Universitätsverlages möchten sie gerne kennenlernen.«
»Oh, das ist aber sehr schön«, sagte Ted und dachte dabei, die wissen alles von mir. Ich bin Handelsobjekt, wie ein professioneller Basketballspieler. Sie haben meine Trefferquote und mein Feldspiel studiert — und wahrscheinlich auch, wie ich mich in die Mannschaft einfüge. Irgendwie verstärkte sich bei ihm das Gefühl, versagt zu haben.
Nachdem Ted und Sara ihren Sohn bei seinen in ihn vernarrten Großeltern untergebracht hatten, bestiegen sie am letzten Märzsonntag das Nachmittagsflugzeug nach Kalifornien. »Ist das nicht aulregend?« sprudelte Sara, als sie sich anschnallten. »Unsere erste bezahlte Reise, die wir deinem Kopf verdanken.«
Drei Stunden später sah Ted auf die Uhr. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte des Kontinents überflogen.
»Das ist wirklich albern«, sagte er. »Wo zum Teufel liegt denn das? Es ist ja wahnsinnig weit von jeder Zivilisation entfernt.« »Ted«, tadelte sie ihn liebevoll, »sei doch nicht so nervös. Es könnte ja immerhin sein, daß du etwas besonders Schönes in der Welt entdeckst.« »Und was wäre das?« »Zum Beispiel, daß der menschliche Verstand nicht an den Grenzen von Massachusetts haltmacht.«

In San Francisco wurden sie von einem Professor mittleren Alters und einem jungen Kollegen abgeholt, der als Erkennungszeichen ein Exemplar von Teds Buch über Sophokles hochhielt. Ted war während der letzten paar Stunden des Flugs erst bedrückt und dann benommen gewesen, jedoch besserte sich seine Laune durch diese respektvolle Geste.
Bill Foster begrüßte sie herzlich und stellte ihnen Hans-Dietrich Meyer vor, einen Papyrologen, der kürzlich von Heidelberg nach Kalifornien gewechselt war. Beide waren ganz besonders herzlich und bestanden darauf, ihnen die Koffer zum Wagen zu tragen.
Obwohl es schon früher Abend war, wimmelte es auf der Hauptstraße von Berkeley von Menschen. »Hier scheint es ja eine Menge Hippies zu geben«, bemerkte Ted gleichgültig. »Ich höre da ganz prima Musik«, sagte Sara. Bill Foster griff Teds Bemerkung auf: »Machen Sie sich nur keine falschen Vorstellungen, Ted. Die Studenten laufen hier zwar in Jeans statt in Tweed herum, aber Sie können sich nicht vorstellen, wie gescheit sie sind. Die dauernde Fragerei macht einen fast wahnsinnig, aber das hält einen intellektuell auf Trab. Wir können gerne zu ein paar Seminaren gehen, wenn Sie wollen.« »Ja«, sagte Ted, »fände ich schön.« »Ich würde auch gern mitkommen«, stimmte Sara ein.
»Natürlich«, sagte Meyer herzlich, »ich weiß ja, Sie sind eine Verehrerin der griechischen Lyrik, Sara.« Sie kamen ans Ende der Straße, und Bill Foster erklärte: »Meyer und ich setzen Sie jetzt am neuen >Faculty Club< ab. Falls Sie nicht zu müde sind, schlage ich vor, Sie gehen nachher die Telegraph Avenue entlang und trinken irgendwo ein Bier, vielleicht im >Larry Blake's<. Nur damit Sie mal sehen, wie das hier am Abend so ist.«

»Die sind doch prima, findest du nicht auch?« fragte Sara, als sie wenig später ihre Sachen auspackten. »Ganz natürlich und freundlich, finde ich. Wenn man Meyer so reden hört, würde man nicht vermuten, daß er mit einunddreißig Jahren schon Ordinarius war. Und für einen Deutschen ist er ganz schön unteutonisch. Vielleicht ist er schon kalifornisiert.«
»Ach, hör doch auf«, sagte Ted, »die bezirzen uns doch nur. Er kannte ja sogar deine Abschlußarbeit.« »Ja, das habe ich gemerkt, und das hat mir gutgetan«, antwortete Sara. »Du magst es wohl nicht, verführt zu werden?« »Na ja, noch haben sie es nicht geschafft«, antwortete Ted griesgrämig.
»Laß dich überraschen. Komm, jetzt sehen wir uns mal die Telegraph Avenue an.« Zuerst schien es, als ob er an nichts Spaß hätte. Weder an den belebten Straßen noch an den Buchläden, noch an den buntgekleideten Sängern mit ihren Gitarren. Aber nach der ersten Ecke bemerkte Sara, daß wenigstens ein Aspekt dieses vibrierenden Ortes endlich das Interesse ihres Mannes gefunden hatte.
»Aha«, sagte sie lächelnd, »wenigstens gefällt dir etwas hier.« »Was meinst du?« »Wir sind gerade an sechs Mädchen ohne BHs vorbeigekommen, und diese sechs schlaksigen Dinger haben Ihnen Spaß gemacht, Dr. Lambros. Sag nur nicht, ich hätte nicht
recht, denn ich habe dein Gesicht beobachtet.« »Du hast dich getäuscht«, sagte Ted mit zusammengepreßten Lippen. »Es waren mindestens sieben Mädchen.« Und endlich lächelte er.

Wegen des dreistündigen Zeitunterschieds wachten sie sehr früh auf und nahmen an, sie wären die ersten im Speisesaal des Faculty Clubs. Doch da saß schon jemand an einem Ecktisch, löffelte Frühstücksflocken mit der einen Hand und hielt in der anderen Hand eine Oxforder Klassikerausgabe. »Siehst du, was ich sehe?« flüsterte Sara. »Wir teilen uns diesen ganzen Speisesaal mit niemand geringerem als dem Inhaber des Königlichen Lehrstuhls für Griechische Klassik in Oxford, einem Regius-Professor.« »Tatsächlich, du hast recht. Das ist Cameron Wylie. Was macht er denn hier?« »Dasselbe wie wir«, lächelte Sara, »frühstücken. Hält er dieses Jahr nicht hier die Sather-Vorlesungsreihe?« »Ah ja, richtig. Über Homer und Aischylos. Meinst du, wir können ihn uns anhören?« »Warum gehst du nicht hinüber, stellst dich vor und fragst ihn?« »Das kann ich doch nicht«, protestierte Ted, plötzlich furchtsam geworden. »Er ist doch so bedeutend.« »Ach los, du strahlender Grieche. Wo hast du denn deinen üblichen Mut gelassen? Oder möchtest du gerne, daß ich als dein Gesandter gehe?« »Nein, nein. Ich mach' das schon. Wenn ich nur wüßte, wie ich anfange«, antwortete Ted und stand zögernd auf.
»Versuche es doch einfach mit einem >Guten Morgen<. Das hat sich im Laufe der Jahrhunderte als ganz wirksame Eröffnung herausgestellt.« »Sehr komisch«, reagierte Ted lakonisch, dem sein Sinn für Humor in dieser Situation völlig abhanden gekommen war.
Er hörte nervös die eigenen Schritte auf dem Boden des leeren Speisesaals. »Entschuldigen Sie bitte, Professor Wylie, ich hoffe, ich störe nicht. Ich möchte Ihnen nur sagen, wie sehr ich Ihre Arbeiten bewundere. Ich fand Ihren Artikel über die >Orestie< das Beste, was je über Aischylos geschrieben worden ist.« »Danke vielmals«, sagte der Engländer und verbarg sein Vergnügen nicht. »Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?« »Eigentlich wollten meine Frau und ich Sie bitten, sich zu uns zu setzen. Sie ist da drüben.« »Ah ja, ich habe Sie schon bemerkt, als Sie hereinkamen. Danke, es ist mir ein Vergnügen.« Er stand auf, nahm seine Cornflakes und das Buch und folgte Ted zu ihrem Tisch. »Professor Wylie, das ist meine Frau Sara. Oh, ich habe ganz vergessen - ich bin Ted Lambros.« »Guten Tag«, sagte der Engländer, schüttelte Saras Hand und setzte sich. Dann wandte er sich an Ted: »Sie sind doch nicht etwa der Sophokles-Mann?«
»Doch, der bin ich«, antwortete Ted, und es wurde ihm fast schwindelig, erkannt worden zu sein. »Ich bin hier, um eine Gastvorlesung zu halten.« »Ich fand Ihr Buch erstklassig«, fuhr Wylie fort, »hat ja eine ganze Menge Staub in der Sophokles-Forschung aufgewirbelt. Ich habe das Buch in Oxford schon zur Pflichtlektüre gemacht. Eigentlich finde ich es sehr schön, daß jemand mit diesem Nachnamen ein Buch über Sophokles geschrieben hat. Das macht sich wirklich gut.« Ted verstand die Verbindung nicht, wollte aber nicht vor einem derart erlauchten Wissenschaftler ignorant erscheinen. Sara sprang in die Bresche und opferte sich auf dem Altar der Naivität. »Ich fürchte, das verstehe ich nicht«, sagte sie respektvoll. Der englische Wissenschaftler war entzückt, die Sache erklären zu können. »Wie Ihr Mann weiß, hatte Sophokles Seeinen Mann namens Lampros als Tanz und Musiklehrer.«
»Ach wirklich? Welcher Zufall«, erwiderte Sara und war bezaubert von dieser amüsanten Bagatelle. Und dann stellte sie eine Frage, von der sie wußte, daß Ted sie zu gerne gestellt hätte: »Können Sie mir sagen, auf welche Stelle Sie sich beziehen?« »Oh, es gibt einen ganzen Sack voll«, antwortete der Regius-Professor, »>Athenäus I,20<, Hinweise in der >Vita< und noch ein paar andere Stellen. Muß ein guter Mann gewesen sein, dieser Lampros. Aristoxenus stellt ihn neben Pindar. Und da gibt es dann noch dieses Fragment von Phrynichos, aber das ist zu dumm, um es ernst zu nehmen. Sind Sie auch Hellenistin, Mrs. Lambros?« »Nicht von Berufs wegen«, antwortete Sara scheu. »Meine Frau ist etwas zu bescheiden. Sie hat ein magna cumseite 409Seite 409 laude in Klassischer Literatur von Harvard.«
»Vorzüglich.« Dann fragte er Ted: »Worüber werden Sie sprechen?«
»Ach, ich werde probeweise ein paar Ideen über den Einfluß von Euripides auf den Meisterschüler von Lampros entwickeln.«
»Ach, darauf bin ich aber wirklich gespannt. Wann findet Ihr Vortrag statt?«
Für einen Augenblick zögerte Ted. Er war sich nicht sicher, ob er einen so bedeutenden Wissenschaftler als Zuhörer für seine noch ungeordneten neuen Theorien haben wollte. Aber Sara hatte da überhaupt keine Zweifel. »Morgen um fünf in der Dwinelle Hall«, sagte sie. Der Engländer zog einen Füllfederhalter und ein kleines Notizbuch hervor und notierte sich die Daten.
Da tauchte Bill Foster auf. »Wie ich sehe, haben sich unsere zwei Besucher schon bekannt gemacht«, sagte er frisch. »Drei«, korrigierte ihn der Engländer mit erhobenem Finger. »Die Lambros sind beides lampros.« Worauf sich der große Mann erhob, sein Buch nahm (es war der von ihm selbst herausgegebene Thukydides) und in die Bibliothek ging.
Als Bill Foster mit ihnen eine recht ausführliche Führung über den Campus veranstaltete, mußte Ted sich selbst eingestehen, daß das alles sehr schön war. Aber irgendwie waren der Glockenturm und die im spanischen Stil erbauten Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert nicht das, was er sich unter einer Universität vorstellte. Für ihn war wissen- schaftliches Arbeiten mit klassizistischer Architektur verbunden -  wie die großen Türme vom Lowell- oder Eliot-Haus.
Es war nicht zu leugnen, die Bibliothek war beeindruckend (es gab sogar einen Busdienst direkt zur Bibliothek der Universität von Stanford, >Gutenberg-Express< genannt). Und diese vielen ruhigen soliden Bauten bildeten einen klaren Kontrast zum lebhaften Kaleidoskop des studentischen Lebens, das - wie auf der Agora von Athen in klassischer Zeit sich an einem einzigen Ort abspielte, nämlich auf der Sproul Plaza, zwischen dem Verwaltungsgebäude und der Union. Nach dem Besuch eines lebhaften Lateinseminars quetschten sich die drei in ein kleines Restaurant, wo es Rohkost gab. Ted hatte etwas auf dem Herzen. »Was für ein Mensch ist Cameron Wylie eigentlich?« fragte er Bill und versuchte, beiläufig zu klingen. »Ein Tiger und eine Schmusekatze. Mit unseren Studenten ist er fabelhaft. Aber was andere Professoren angeht, so kann er Idioten nicht ausstehen. Als zum Beispiel letzte Woche Hans-Peter Ziemssen hier las, hat Wylie ihn in der Fragestunde völlig zur Schnecke gemacht.« »Ach du je«, murmelte Ted.

Die nächsten Stunden war er vor Angst wie benommen. Sara ließ ihn seinen ganzen Vortrag noch einmal durchgehen. Danach sagte sie ganz ernsthaft: »Du bist soweit, Champion, wirklich.« »Das war Daniel auch, als er in die Löwengrube stieg.« »Lies mal in der Bibel nach, Liebling. Er wurde nämlich nicht gefressen, falls du das noch weißt.«
Als er den Hörsaal betrat, hatte sich Ted in sein Schicksal ergeben. Etwa hundert Menschen waren im Saal. Die Gesichter verschwammen vor Teds Augen, bis auf drei Ausnahmen; Cameron Wylie und —zwei Hunde, Collies. Hunde? »Sind Sie soweit?« flüsterte Bill Foster. »Ja, ich denke doch. Aber, Bill, was sind das denn für Hunde?« »Ach, das ist in Berkeley üblich«, lächelte Foster. »Machen Sie sich nichts daraus. Hunde gehören zu meinen aufmerksamsten Zuhörern.« Dann ging er auf das Podium und führte den Gastredner des Tages ein. Höflicher Applaus. Ted war allein. Er begann damit, eine eindrucksvolle Szene zu beschwören. »Stellen Sie
sich Sophokles vor — ein etablierter Bühnenautor in den Vierzigern, der im dramatischen Wettbewerb sogar den großen Aischylos besiegt hat. Er sitzt im Dionysos-Theater und sieht der Aufführung des ersten Stückes eines neuen Autors mit Namen Euripides zu ...«
Die Zuhörer waren gefesselt. Denn er hatte sie mit diesen Worten zurück ins fünfte Jahrhundert vor Christus versetzt. Sie hatten das Gefühl, etwas über lebende Bühnenautoren zu erfahren, und tatsächlich wurden die klassischen Dramatiker Griechenlands zum Leben erweckt, wenn Ted Lambros über sie sprach.
Als er zu Ende war, sah er auf die Uhr an der hinteren Wand. Er hatte neunundvierzig Minuten gebraucht. Genaue Zeiteinteilung. Der Beifall war groß — und spürbar echt. Sogar die beiden Hunde schienen einverstanden. Bill Foster kam herauf, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Ganz hervorragend, Ted. Würden Sie vielleicht noch ein oder zwei Fragen beantworten?«
Ted hatte keine Wahl, denn er wußte, wenn er ablehnte, würde ihm das als akademischer Kleinmut ausgelegt. Als ob ein schlimmer Traum Wirklichkeit würde, hob sich als erstes die Hand von Professor Cameron Wvlie. Sehr viel schlimmer als alle Fragen, die ich mir ausgedacht habe, kann das auch nicht werden, dachte Ted.
Der Engländer stand auf. »Professor Lambros, Ihre Ausführungen waren außerordentlich interessant. Ich würde gerne wissen, ob Sie irgendeinen bedeutenden Einfluß von Euripides auf die >Antigone< sehen?« In Teds Adern begann das Blut wieder zu pulsieren. Wylie
hatte ihm tatsächlich ein Kompliment gemacht, statt ihn zu erdolchen.
»Chronologisch ist das natürlich durchaus denkbar. Aber ich teile auch nicht eine der romantisierenden Interpretationen des 19. Jahrhunderts zur >Antigone<.« »Sie haben ganz recht«, stimmte Wylie zu, »die romantischen Interpretationen sind alle völliger Blödsinn — und durch nichts im Text gerechtfertigt.«
Als Wylie sich mit dem Lächeln des Einverständnisses wieder gesetzt hatte, sah Ted, daß in der hintersten Reihe ein kraushaariges Mädchen wie verrückt mit dem Arm fuchtelte. Sie stand auf und erklärte: »Ich finde, wir übersehen hier alle etwas Wichtiges. Was ich sagen will — was haben die Kerle, von denen Sie gerade gesprochen haben, eigentlich mit uns heute zu tun? Ich meine, ich habe nicht ein einziges Mal das Wort Politik gehört. Ich meine, was für eine Einstellung hatten diese Griechen eigentlich zur freien Meinungsäußerung?«
Das Publikum stöhnte. Ted hörte irgendwo aus dem Publikum deutlich: »Ach du Scheiße.« Bill Foster bedeutete ihm, daß er die Frage ignorieren könne. Aber Ted war beifallssüchtig und wollte sich der Frage dieser Studentin stellen. »Zunächst einmal«, sagte er, »da
jedes griechische Drama für die gesamte Bevölkerung einer Stadt, der Polis, aufgeführt wurde, war es schon seiner Natur nach politisch. Die wichtigen Tagesthemen waren den Menschen so wichtig, daß ihre Komödiendichter sich mit nichts anderem beschäftigten. Und es gab keinerlei Beschränkungen in dem, was Aristophanes und Genossen sagen konnten. In gewissem Sinn ist ihr Theater ein bleibendes Zeugnis für die Demokratie, die sie mitbegründet haben.«
Die Fragestellerin war verblüfft. Einmal, weil Ted sie überhaupt ernst genommen hatte — denn sie wollte eigentlich nur etwas intellektuelle Anarchie schaffen, und dann von der Qualität seiner Antwort.
»Sie sind ganz schön cool, Professor«, murmelte sie und setzte sich. Als Bill Foster aufstand, strahlte er. »Nach diesen bewegenden Worten«, verkündete er, »möchte ich Professor Lambros danken für seine außerordentlich interessanten Ausführungen, die logisch wie philologisch waren.«
Beifall — warm, herzlich und anhaltend. Ted war erschöpft, erleichtert, stolz ... und siegreich.

Der Empfang zu ihren Ehren fand in Fosters Haus in den Hügeln von Berkeley statt. Jeder, der in dieser Bucht akademisch etwas darstellte, schien anwesend, ganz abgesehen von einem gewissen distinguierten Professor aus Oxford. Man war festlicher Stimmung und redete nur über Ted. »Ich habe gehört, Ihr Vortrag war sogar noch aufregender, als unsere letzten Studentenunruhen«, scherzte Sally Foster. »Es tut mir sehr leid, daß ich nicht kommen konnte. Aber jemand mußte ja hier die ganzen Köstlichkeiten vorbereiten. Und Bill war sicher, meine Tacos würden Sie dazu verführen, nach Berkeley zu kommen.«
»Ich bin schon verführt«, sagte Sara Lambros und lächelte glücklich.
Da Sally spürte, daß ihre beiläufige Bemerkung Ted etwas unangenehm war, fügte sie schnell hinzu: »Eigentlich darf ich ja so etwas nicht sagen. Aber ich blamiere mich immer mit dem, was ich sage. Jedenfalls habe ich strikte Anweisung, Sie mit allen literarischen Größen hier bekannt zu machen.« Und dies war in der Tat eine hochkarätige Versammlung der Intellektuellen San Franciscos. Ted sah Sara in angeregtem Gespräch mit einem Typen, der dem Beat-Dichter Allen Ginsberg erstaunlich ähnlich sah, und es war wirklich Allen
Ginsberg.
Den Verfasser von >Howl<, diesem radikalen Geheul in Versen, das während seiner College-Tage so viele kontroverse Diskussionen ausgelöst hatte, wollte Ted unbedingt kennenlernen. Als er näher kam, hörte er, wie Ginsberg irgendeine persönliche apokalyptische Erfahrung schilderte.
»Ich sah aus dem Fenster in den Himmel, und plötzlich war es, als sähe ich in die Tiefen des Universums. Der Himmel schien plötzlich unendlich alt zu sein. Und das war der uralte Ort, über den Blake gesprochen hat, der süße goldene Landstrich. Plötzlich begriff ich, dies war das eigentliche Sein. Verstehen Sie mich, Sara?«
»Hallo, Liebling«, lächelte Ted, »ich hoffe, ich störe nicht.«
»Aber gar nicht«, antwortete sie und stellte dem bärtigen Barden ihren Mann vor.
»Sagt mal, ich höre, ihr kommt in den Westen«, sagte Ginsberg. »Ich hoffe, ihr macht das. Das Gefühl von Prana ist hier wirklich sehr stark.«
In diesem Moment wurden sie von Bill Foster unterbrochen. »Es tut mir leid, so dazwischenzukommen, Allen, aber Dekan Rothschmidt möchte noch unbedingt mit Ted sprechen, bevor er geht.« »Klasse. Dann kann ich Teds Alte noch ein bißchen faszinieren.«
Der Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakulität wollte Ted seine Bewunderung über dessen Vortrag ausdrücken und bat ihn, er möchte doch am nächsten Morgen um zehn Useitehr in sein Büro kommen.
Auf dem Weg zurück zu Sara hielt ihn Cameron Wylie an: »Ich muß sagen, Ihre Vorlesung war wirklich erstklassig. Ich freu' mich darauf, sie gedruckt zu sehen. Und ich hoffe, Sie machen uns das Vergnügen, auch einmal nach Oxford zu kommen.« »Das wäre eine große Ehre für mich«, erwiderte Ted. »Gut, wenn Sie Ihr nächstes freies Studienjahr haben, kümmere ich mich gerne darum. Jedenfalls hoffe ich, wir bleiben in Verbindung.«
Da hatte Ted einen blitzartigen Einfall. Vor zwei Tagen hatte Cameron Wylie sein Sophokles-Buch gelobt. Heute abend pries er die Vorlesung. Könnte nicht ein Brief des Regius-Professors für Griechisch in Oxford, in dem dieser seine Eindrücke festhielt, die schwankende Waage in Harvard zu Teds Gunsten senken? Jedenfalls konnte es nichts schaden, den günstigen Augenblick zu nutzen.
»Professor Wylie, ich... ich würde Sie gerne um einen besonderen Gefallen bitten ...« »Aber gerne«, antwortete der Gelehrte  iebenswürdig. »Nächstes Jahr wird über meine Anstellung in Harvard entschieden, und ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht für mich ein Gutachten verfassen könnten.« »Nun ja, ich habe schon eine ganz schöne Lobeshymne für die Leute hier in Berkeley verfaßt, aber ich habe nichts dagegen, dieselbe Sache noch mal an Harvard zu schicken. Ich erspare mir die Frage, warum Sie unbedingt die kalten
Winter von Cambridge ertragen wollen. Jedenfalls muß ich jetzt zu Bett. Bitte, wünschen Sie Sara eine gute Nacht von mir. Sie unterhält sich da mit einem haarigen Typen, und ich möchte ungern sein Getier aufschnappen.«
Er wandte sich um und ging. Ted lächelte hocherfreut. Sein Ehrgeiz brannte mit diamantharter Flamme.

»Du warst fantastisch, Ted. Heute war der stolzeste Tag meines Lebens. Du hast alle tief beeindruckt.« Auf dem Weg zu ihrem Zimmer im >Faculty Club< konnte es Ted kaum erwarten, ihr die gute Nachricht mitzuteilen.
»Sogar der alte Cameron Wylie schien recht beeindruckt«, sagte er gelassen. »Ich weiß, ich habe gehört, wie er das zwei oder drei
anderen Leuten gesagt hat.«
Er schloß die Tür und lehnte sich dagegen. »Also, Mrs. Lambros, was hielten Sie davon, wenn wir nicht von Cambridge wegmüßten.«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete Sara und war ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. »Also hör zu«, vertraute Ted ihr an, »Wylie wird für mich an Harvard schreiben. Glaubst du nicht, daß mich eine Empfehlung von ihm in den Himmel der Festanstellung schießen wird?« Sara zögerte. Sie war an diesem Abend in solcher Hochstimmung gewesen und war so entzückt von den ganzen Erfahrungen hier in Berkeley, daß diese >gute< Nachricht für sie eher enttäuschend war. Eigentlich sogar doppelt enttäuschend, denn sie ahnte, daß die Sache mit Harvard schon negativ entschieden und nichts mehr daran zu ändern war.
»Ted«, antwortete sie mühsam, »ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne dich zu kränken. Aber in Wylies Brief kann auch nichts anderes stehen, als daß du ein guter Wissenschaftler und ein großartiger Lehrer bist.« »Aber Herrgottnochmal, reicht das denn nicht? Oder muß ich vielleicht noch die Meile unter vier Minuten laufen?« Sara seufzte. »Sieh mal. Die brauchen doch keinen Brief aus Oxford, in dem steht, was sie schon längst wissen. Begreife das doch endlich. Die beurteilen dich nicht als Wissenschaftler. Sie stimmen darüber ab, ob sie dich für die kommenden fünfunddreißig Jahre in ihren Club aufnehmen sollen.« »Willst du etwa damit sagen, daß sie mich nicht mögen?« »Oh, die mögen dich schon. Die Frage ist nur, ob sie dich genügend mögen.«
»Scheiße«, sagte Ted halb zu sich selbst, und seine Euphorie wurde plötzlich zu einem Abgrund von Verzweiflung.
»Jetzt weiß ich wirklich überhaupt nicht mehr, was ich tun soll.«
Sara umarmte ihn. »Ted, vielleicht nützt es dir in diesem existentiellen Zwiespalt zu wissen, daß du bei mir immer eine Festanstellung hast.« Sie küßten sich.

Dekan Rothschmidt begann am nächsten Morgen: »Ted, Berkeley hat eine Professur für Griechische Literatur zu vergeben, und Sie sind einhellig unsere erste Wahl. Wir sind bereit, Ihnen im ersten Jahr zehntausend Dollar zu be- zahlen.« Ted fragte sich, ob Rothschmidt wußte, daß er ihm über dreitausend Dollar mehr anbot, als Ted gegenwärtig in Harvard verdiente. Aber natürlich wußte er es. Und es war genug, um ein verdammt schönes neues Auto zu kaufen.
»Und natürlich bezahlen wir Ihre gesamten Umzugskosten von der Ostküste hierher«, fügte Bill Foster schnell hinzu.
»Ihr Angebot ist... sehr schmeichelhaft«, erwiderte Ted. Aber Rothschmidt hatte noch mehr zu bieten. »Ich weiß nicht, ob sich Sara bei diesem ganzen verrückten Durcheinander gestern abend in Bills Haus daran erinnert, aber der grauhaarige Herr, mit dem sie kurze Zeit gesprochen hat, war Jed Roope, der Leiter des Universitätsverlages. Er ist bereit, ihr einen Lektoratsposten anzubieten. Das Gehalt
müßte noch ausgehandelt werden.« »Großartig«, bemerkte Ted, »das wird sie sehr freuen.« Und fügte dann so gelassen wie möglich hinzu: »Ich darf doch noch ein offizielles schriftliches Angebot erwarten?« »Natürlich«, erwiderte der Dekan, »das ist aber nur eine
bürokratische Formalität. Ich versichere Ihnen, das Angebot ist verbindlich.«

Diesmal lud er Whitman zum Mittagessen in den >Faculty Club< ein. »Cedric, falls man überhaupt noch Interesse hat, mich in Harvard zu halten, dann habe ich, glaube ich, neue Munition.« Sein Mentor schien erfreut über das, was Ted berichtete. »Gut, ich glaube schon, das verbessert Ihre Sache wesentlich. Ich werde dem Chairman sagen, er soll Wylie um den Brief bitten, dann können wir die Frage Ihrer Anstellung bei der nächsten Fakultätssitzung behandeln.«
Vierundzwanzig Tage später fand die offizielle Abstimmung statt. Der Abteilung lagen vor: Teds Bibliographie (vier Artikel, fünf Rezensionen), sein Buch über Sophokles (und die Besprechungen darüber, die von »solider Arbeit« bis zu »ein monumentales Werk« reichten) und verschiedene Gutachten und Empfehlungsbriefe, einige von Experten seines Fachs, deren Namen Ted nie erfahren würde. Aber einer davon war sicher vom Regius-Proiessor in Oxford.
Ted und Sara warteten nervös in ihrer Wohnung in der Huron Avenue. Sie wußten, die Konferenz hatte um vier Uhr begonnen, und um fünf Uhr dreißig hatten sie immer noch keine Nachricht.
»Was meinst du?«, fragte Ted, »ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?« »Zum letzten Mal, Lambros«, sagte Sara bestimmt, »ich weiß auch nicht, was da los ist. Aber als Ehefrau und Wissenschaftlerin bin ich fest davon überzeugt, daß du eine Professur in Harvard verdient hast.« »Wenn die Götter Gerechtigkeit üben«, fügte er schnell hinzu.
»Richtig«, sie nickte, »aber denk daran, in der akademischen Welt gibt es keine Götter - sondern nur Professoren. Spitzfindige, fehlerhafte, unberechenbare Menschen.« Das Telefon ging. Ted griff danach. Es war Whitman. Seine Stimme verriet nichts.
»Cedric, bitte befreien Sie mich von meinen Qualen. Wie ist das Ergebnis der Abstimmung?« »Ich darf Ihnen keine Einzelheiten mitteilen, Ted, aber ich kann Ihnen sagen, es war sehr, sehr knapp. Es tut mir leid, Sie haben es nicht geschafft.«
Ted Lambros verlor die sorgfältig gepflegte Haltung, die er sich zehn Jahre lang mühsam angeeignet hatte, und wiederholte laut, was er vor zehn Jahren gesagt hatte, als das College ihm ein Vollstipendium verweigerte: »Scheiße.«
Sara war sofort bei Ted und legte tröstend die Arme um ihn. Er wollte nicht auflegen, ohne die abschließende, ihn brennende Frage zu stellen: »Cedric«, sagte er so ruhig wie möglich, »darf ich wenigstens den Vorwand... ich meine, die Begründung erfahren, ganz allgemein, weshalb ich es nicht geschafft habe?«
»Das läßt sich schwer sagen, aber es wurde davon gesprochen, man wolle noch auf das zweite wichtige Buch warten.« »Ach«, erwiderte Ted und dachte verbittert, es gibt ein oder zwei von den festen Professoren, die noch nicht mal ihr erstes wichtiges Buch geschrieben haben. Aber er sagte nichts mehr. »Ted«, fuhr Whitman fort, und Mitgefühl lag in seiner Stimme, »Anne und ich möchten Sie gerne heute abend zu uns zum Essen einladen. Das ist kein Weltuntergang. Es ist eigentlich überhaupt kein Ende. Kommen Sie?« »Zum Abendessen heute?« wiederholte Ted abwesend. Sara nickte mit Mühen. »Ja gerne, Cedric. Wann sollen wir kommen?«

Es war ein warmer Frühlingsabend, und Sara bestand darauf, die zwei Kilometer zu Whitmans Haus zu Fuß zu gehen. Sie wußte, Ted brauchte etwas Zeit, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
»Ted«, sagte Sara, während er sich niedergeschlagen dahinschleppte, »ich weiß, dir gehen jetzt zumindest ein Dutzend Kraftausdrücke durch den Kopf, und ich finde, um den Verstand zu behalten, solltest du jetzt hier auf der Straße einfach losschreien. Weiß Gott, ich würde auch gerne schreien. Aber du bist es, meine ich, der beschissen worden ist.«
»Nein, völlig zugeschissen hat man mich. Diese verklemmten Bastarde führen sich auf wie im alten Rom, Daumen rauf, Daumen runter. Ich hätte Lust, ihnen die Mahagonitüren einzutreten und ihnen die Fresse zu polieren.« Sara lächelte. »Aber hoffentlich nicht auch ihren Frauen.« »Natürlich nicht«, antwortete er bissig. Und dann begriff er, wie kindisch sein Wutanfall war, und fing an zu lachen. Sie kicherten beide bis zur nächsten Straßenecke, wo Teds Lachen plötzlich in Schluchzen umschlug. Er verbarg sein Gesicht an Saras Schulter, und sie versuchte, ihn zu trösten. »Ach Gott, Sara«, weinte er, »ich komme mir so töricht vor. Aber ich wollte es doch so sehr. So wahnsinnig gerne.«»Ich weiß«, flüsterte sie zärtlich, »ich weiß.«

Für Stuart und Nina war es der wunderbarste Sommer ihres Lebens. Jeden Morgen nahm er das Fahrrad und radelte zu Rossis Haus. Er begegnete dabei oft Maria und ihren zwei Mädchen im Caravan auf dem Weg zu Edgar Waldorfs Privatstrand, wo sie sich mit Nina und den Jungens trafen.
Stuart kam am frühen Abend zurück, erschöpft und aufgekratzt zugleich, nahm Nina bei der Hand und machte mit ihr einen langen Spaziergang am Meer entlang.
»Und wie ist das mit dem großen Komponisten ernster Musik, wenn er Show-Melodien schreibt?« fragte sie während eines ihrer Spaziergänge. »Ach, der Kerl ist so vielseitig, der könnte mit der linken Hand ein Rondo und mit der rechten gleichzeitig einen Ragtime komponieren. Aber er ist nicht bestechlich.« »Wie meinst du das?« »Ich meine, er unterschätzt die Intelligenz seiner Zuhörer nicht. Ein paar seiner Melodien sind ganz schön komplex, weißt du?« »Ich dachte immer, das Geheimnis des Erfolgs am Broadway sei Schlichtheit«, bemerkte Nina. »Keine Angst, Liebling, er schreibt schon keinen >Woyzeck<.« »Dann ist es ja gut. Ich weiß, was du schreibst, ist fabelhaft, aber ich würde wirklich gerne einmal hören, was Danny daraus gemacht hat. Maria sagt, er habe noch nicht
mal ihr etwas vorgespielt.« »Na ja, vermutlich hat jeder Künstler so sein besonderes Temperament«, sagte Stuart, hob ein Stück Treibholz auf und schleuderte es ins Wasser. »Und auch jede Ehe ist anders«, fügte Nina hinzu. »Glaubst du, sie sind glücklich?« »Hör mal, Liebling«, warnte Stuart, »ich bin sein Librettist, aber nicht sein Eheberater. Ich weiß nur, er ist ein guter Arbeitspartner.«

Am ersten Septemberwochenende flog Edgar Waldorf mit Harvey Madison ein, um sich die Früchte der Sommerarbeit seiner beiden jungen Genies anzuhören.
Stets freigiebig, war er beladen mit Geschenken für die Kingsley-Söhne, die Rossi-Töchter und die Frauen. Was die »Jungens« anging, so hatten diese ihm auch etwas zu bieten. Nach einem üppigen italienischen Abendessen zogen sich die beiden Besucher, die Künstler und ihre Frauen in das Wohnzimmer zurück, um zum ersten Mal die Musik von »Manhattan-Odyssee« zu hören.
Danny saß am Flügel, Stuart erzählte und las da und dort aus den Dialogen vor, um zu demonstrieren, wie geschickt er Joyce für die Bühne bearbeitet hatte. Und dann führte er die Liednummern ein. Sein Libretto war kunstvoll geschrieben.
Die Musik war kräftig, die Rhythmen kühn.
Nach einem lebhaften Oktett in Bella Cohens berühmten Bordell brach die kleine Gruppe von Zuhörern in Beifall aus. Dann kommentierte Danny stolz: »Bisher gab es auf dem Broadway keine Bühnenmusik mit Liedern in Fünfteln.« »Was sind Fünftel?« fragte Edgar Waldorf.
»Es ist ein besonders schwieriger Rhythmus, fünf Viertel. Aber lassen Sie mal - wichtig ist, Sie mögen, was Sie da hören.«
»Mögen?« rief Edgar aus, »fa-bel-haft, einfach fa-bel-haft!
Vielleicht steht die Fünf für die Anzahl der Jahre, die das Stück laufen wird.« »Warum nur fünf? Warum nicht sechs oder sieben?« warf
Harvey Madison ein, weil er sich als Agent nicht zurückhalten konnte, immer noch eins draufzusetzen. Schließlich sangen die beiden Autoren das Schlußduett von Bloom und seinem Ersatzsohn Stephan. Dann erwarteten sie das Urteil das familiäre wie das offizielle. Zuerst herrschte ehrfurchtsvolle Stille.
»Na, Nina«, fragte Stuart seine Frau ungeduldig. »Würdest du dir dafür eine Karte kaufen?« »Ich glaube, ich würde jeden Abend hingehen«, antwortete sie, begeistert von dem, was ihr Mann geschaffen hatte. »Und ist meine Frau damit zufrieden?« fragte Danny.
»Ich bin ja kein berufsmäßiger Kritiker«, sagte Maria scheu, »aber ganz ehrlich, dies ist die beste Komposition die ich je gehört habe — von irgendeinem Komponisten.«
»Die >New York Times< sollte Sie sofort anstellen« warf Harvey Madison ein.
Edgar Waldorf erhob sich zu einer Ankündigung. »Meine Damen und Herren — und Genies, in aller Bescheidenheit gesagt, es ist mir die Ehre widerfahren, Zeuge zu sein bei der ersten Präsentation des zweifellos fabelhaftesten Musicals das je den Broadway im Sturm genommen hat.« Dann wandte er sich an die Autoren. »Ich habe nur eine einzige Frage — was machen Sie mit den zehn Millionen
Dollar, die Sie damit verdienen werden?« »Neun«, korrigierte Harvey Madison ihn schnell, auch im Scherzen immer ein Profi.

Jetzt war es an den Männern, am Meer spazierenzugehen Edgar mußte die Finanzierung abschließen. Er hoffte das mit dem Tonband zu schaffen, das er mit nach New York nahm. Aber es mußte auch noch über Regisseur und Stars gesprochen werden.
Danny hatte Jerome Robbins Inszenierung der >West Side Story< besonders bewundert, deshalb wollte er ihn gerne als Regisseur und  Choreograph für ihre Show haben.  Stuart stimmte enthusiastisch zu. Aber Edgar war so fasziniert von der englischen Herkunft des Kritikers der >New York Times<, daß er auf Sir John Chalcott bestand, dessen letzte Inszenierung am Old Vic so gut angekommen war. »Schließlich beschäftigen wir uns hier mit einem der großen Klassiker der englischen Sprache«, argumentierte der Produzent, »warum nicht die Regie jemandem anvertrauen, der es gewohnt ist, mit den Unsterblichen umzugehen.« »Unsterblich kann ein anderer Ausdruck für >tot< sein«, kommentierte Danny Rossi.
»Bitte, Daniel«, erwiderte Edgar, »ich habe es einfach im Gefühl, Sir Johns Name würde die Sache bestimmt noch aufwerten.« Und nach weiteren fünfhundert Metern Strand hatte er sie herumgekriegt.
Dann kam man zu den Hauptrollen. Es begann mit begeisterter Einigkeil. Nicht nur waren alle mit Zero Mostel einverstanden, der Star selbst hatte nur des Romans >Ulysses< wegen schon zugestimmt. Die Frage der Besetzung der weiblichen Hauptrolle war schwieriger zu lösen. Danny hatte eine sensationelle Idee, wie er fand. Er hatte den Part von Molly - die schon bei Joyce eine Berufssängerin ist - für eine ausgebildete Stimme komponiert. Deshalb schlug er jemanden dafür vor, der seiner Meinung nach die großartigste Stimme der Gegenwart besaß: Joan Sutherland.
»Eine Opernsängerin in einer Broadway-Show?« zuckte Edgar zusammen. »Außerdem übernimmt sie die Rolle niemals.« »Dazu muß ich zunächst einmal sagen«, antwortete Danny, »ich habe sie kennengelernt, als ich in Mailand >Lucia< dirigiert habe. Sie ist eine fabelhafte Frau. Und dann, sie hat den Mut, sich einer neuen Aufgabe zu stellen.« »Ich bin wirklich der letzte, der Miss Sulherlands Begabung in Frage stellt«, argumentierte der stets vernünftige Edgar Waldorf, »aber Oper und Broadway - das scheint einfach nicht zusammenzugehen.«
»Und was ist mit Ezio Pinza in >South Pacific<?« fragte Stuart.
»Ein glücklicher Zufall, nur ein Zufall«, sagte Waldorf. »Und was diese Show so erfolgreich gemacht hat, war Mary Martin. Und außerdem können wir uns die Sutherland gar nicht leisten. Nein, wir müssen es mit jemandem machen, der acht Aufführungen pro Woche schafft, jemand, der ein Kassenmagnet ist — anziehend, überschäumend, aufregend ...«
»Und vielleicht auch mit großem Vorbau?« fragte Danny scherzhaft.
»Das könnte auch nichts schaden«, sagte der Produzent und versuchte unschuldig zu tun.
Danny Rossi blieb stehen, legte die Hände an die Hüften und stand da im Sand von Martha's Vineyard wie ein kleiner Koloß.
»Hören Sie zu, Edgar, nur über meine Leiche kommt Theora Hamilton in diese Show. Ich habe meine Prinzipien.« »Ich auch«, fügte Stuart hinzu.
»Nun mal langsam, Kinder. Niemand setzt sich hier über irgendwelche Prinzipien hinweg«, sagte Harvey Madison vermittelnd, »im amerikanischen Theater gibt es Millionen von Talenten, und ich bin sicher, wir werden jemanden finden der allen Wünschen gerecht wird. Warum drehen wir jetzt nicht um. Seit einer halben Stunde warten schon die Cocktails.«

Als das Quartett zurückkam, sagte Maria Rossi, die mit Nina Kingsley dabei war, ein Holzkohlenfeuer in Gang zu bringen: »Na, haben die Herren alle Probleme gelöst?« »Vollkommen«, sagte Harvey Madison, »die großen Geister sind sich einig.« Und dann verkündete Edgar Waldorf im Zwielicht der verlassenen Küste: »Es ist für mich eine besondere Freude Ihnen mitteilen zu können, daß die Proben für >Manhattan Odyssee<, Regie Sir John Chalcott, am 26. Dezember beginnen. Am 7. Februar wird das Stück am Schubert Theater in Boston herauskommen und seinen Broadway-Vorlauf beginnen. Wenn dann am 24. März in New York Premiere ist, wird das Stück zweifellos auf ein Jahr ausverkauft sein. Und dies nicht nur, weil es so genial geschrieben und komponiert ist, sondern auch, weil es die schier unglaubliche doppelte Schlagkraft von Mr. Zero Mostel besitzt...« Er brach ab, um die Wirkung des folgenden noch zu steigern: »...und von Miss Theora Hamilton.«
Die Frauen der Autoren sahen ihre Männer erstaunt an. Deren Gesichter aber waren merkwürdig resigniert. Man plauderte während dem Grillen. Dann verließen sie alle schnell den Strand, um stumm vor dem Fernsehschirm zu sitzen. Und die Virtuosität von Sandy Koufax im Kampf gegen die San Francisco Giants zu bewundern.
»Wie hat er euch rumgekriegt?« fragte Maria auf der Heimfahrt. »Ich weiß es eigentlich selbst nicht«, gestand Danny. »Er war so raffiniert, daß es sich mir immer noch im Kopf dreht. Ich kam mir vor wie General Custer. Jedesmal, wenn ich einen von Edgars Angriffen abgewehrt hatte, war er schon wieder hinter mir mit einem neuen Tomahawk.« »Aber Danny«, bestand Maria, »ihr seid doch die Künstler, du und Stuart. Ihr müßt doch die letzte Entscheidung haben.«
»Ich hatte auch die letzte Entscheidung«, er lächelte ironisch. »Nur daß Edgar immer noch mit Hunderten von Argumenten kam, nachdem ich endgültig entschieden hatte.
Plötzlich taugte Zero Mostel nicht mehr dazu, um auch nur ein paar zusätzliche Eintrittskarten zu verkaufen. Er war ein Amateur. Das Publikum hatte ihn satt nach dem >Fiddler<, Edgar hatte tausend Gründe. Und dann erklärte er, das einzige, was uns überhaupt noch retten könne, sei die vollbusige Erscheinung der untalentierten Theora Hamilton. Weißt du, ich werde einfach ihre Rolle so reduzieren, daß wir uns ihretwegen nicht allzusehr genieren müssen.«
»Aber hättet ihr euch nicht auf jemand anders einigen können?« Danny sah sie verlegen an und gestand: »Edgar scheint bei seinen Geldgebern auf Widerstand gegen Joyce zu stoßen. Außerdem dürfte es auch schwerfallen, einen anderen weiblichen Star zu finden, deren Mann bereit ist, eine halbe Million Dollar zu investieren, wenn wir seiner Frau die Rolle geben.«
»Ach so«, sagte Maria überrascht und enttäuscht. »Nun ja, es heißt ja immer, daß Stücke am Broadway wie Venus aus einem Meer von Kompromissen aufsteigen.« »Das mag ja sein«, sagte Danny und konnte seine Frustration nicht mehr verbergen, »aber das ist der letzte Kompromiß, der allerletzte.«

Nur ein paar Stunden, nachdem Ted Lambros die Professur von Harvard nicht bekommen hatte, trafen aus allen wichtigen Universitätsorten Amerikas Nachrichten und Anrufe ein. Einige Anrufer drückten nur ihr Mitgefühl aus. Andere fragten nach, ob es wirklich zutreffe. Dahinter stand die Hoffnung, vielleicht gäbe es jetzt für sie eine Möglichkeit, nachdem Lambros abgeschossen worden war. Aber die wohl erstaunlichsten Anrufe kamen von denen, die vorgaben, die geheimnisvollen Vorgänge dieses schicksalhaften Nachmittags zu kennen. Als sie von den Whitmans nach Hause kamen, befand sich Ted nach der Depression in einer Art postmortaler Euphorie, und er hatte das paradoxe Gefühl, von der Enttäuschung high zu sein.
Walt Hewlett von der Universität in Texas rief an, um ihm das Gift des Eingeweihten zu verpassen. »Ted, ich weiß, die Kerle, die Sie zu Fall gebracht haben, waren die Müllologen.« Das war sein Ausdruck für die Archäologen, die er nur für Lumpensammler in den Müllei-
mern der antiken Zivilisation hielt.
»Woher wissen Sie das so sicher, Walt?« »Na, hören Sie mal, die Burschen haben doch eine unglaubliche Animosität gegen alles, was in Büchern steht. Sie trauen nur den pornographischen Kritzeleien an den Wänden römischer Pissoirs. Sie werden jetzt wohl nach Berkeley gehen, oder?« Ted war verblüfft. Er hatte keine Ahnung, daß im Fach Klassik jeder alles wußte. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete er verschlossen. Denn die Erfahrung des heutigen Tages hatte ihm eine Lektion in den Gesetzen des Universitätsdschungels erteilt. »Also, Walter, alter Freund, ich bin wirklich gerührt, daß Sie angerufen haben. Aber hier ist es schon nach Mitternacht. Und wenn ich auch den Job nicht bekommen habe, heißt das nicht, daß ich morgen mein Neun-Uhr-Seminar ausfallen lassen kann.«
Er legte auf und sah Sara an, die inzwischen auch ausgelassen geworden war. »Das ist wirklich eine Posse. Wir sollten das Telefon abhängen und ins Bett gehen.« In diesem Augenblick läutete es wieder. Es war Bill Foster aus Berkeley. Das war nun nicht die Stimme, die Ted nach Mitternacht noch hören wollte, müde und angetrunken, wie er war. Aber gnädigerweise übernahm Billy das ganze Reden.
»Hören Sie, Ted, ich weiß, es ist spät bei Ihnen, deshalb mache ich es kurz. Wir wollen Sie wirklich hier und warten auf Ihre schriftliche Zustimmung, damit wir Sie ins Vorlesungsverzeichnis aufnehmen können.« »Danke, Bill«, antwortete Ted und versuchte, nüchtern
und ernst zu klingen, hatte aber mit beidem Schwierigkeiten.
Der nächste Tag war der schmerzlichste in Teds Leben. Nicht nur, weil er einen furchtbaren Kater hatte, sondern weil er allen Mut zusammennehmen mußte, in die Boylston Hall und das Büro der Fakultät zu gehen und der Sekretärin einen guten Morgen zu wünschen, so als ob nichts geschehen wäre. Schlimmer noch, er mußte mit den Professoren zusammenkommen und mit ihnen platte Höflichkeiten austauschen, und dabei seine Neugier und seine Wut unterdrücken.
Als er am Harvard Yard an John Harvards Standbild vorbeikam, hatte er sogar Angst davor, John Finley zu begegnen, da er befürchtete, sein Idol würde ihn jetzt als Versager ablehnen. Aber er mußte den Alltag bestehen. Er konnte nicht wie Achilles in seinem Zelt schmollen, schon deshalb nicht, weil er zumindest in den Augen von Harvard kein großer Held mehr war. Er hatte das falsche Los gezogen, der Club hatte ihn abgelehnt.
Wie ein Schlafwandler hielt er von neun bis zehn Uhr sein Seminar »Grundbegriffe des Griechischen. Als er danach in das Büro der Abteilung ging, um seine Post abzuholen, versuchte er, sich seine Benommenheit zu erhalten. Das Schicksal war ihm gnädig, es war niemand da, und er mußte nur mit der Sekretärin die üblichen Begrüßungsformeln austauschen. Ted staunte, wie gut sie ihr Wissen über den gestrigen Nachmittag verbarg. Er sagte sich, das war eine Eigenschaft, die Abteilungssekretärinnen wahrscheinlich mit Begräbnisunternehmen gemein hatten: inmitten einer Katastrophe eine freundliche Haltung zu bewahren. Auf dem Weg zu seiner nächsten Vorlesung begann sein Adrenalinspiegel wieder zu steigen. Er dachte, nein, zum Teufel, ich werde den Studenten deswegen nichts Schlechtes vorsetzen, nur weil diese Scheißkerle mich getreten haben und es weh tut. Glücklicherweise hatte er einen brauchbaren Stoff, die Tragödie >Hippolytos< von Euripides. Er konnte über die Ungerechtigkeit der Götter sprechen. Ted bestieg
das Podium und hielt eine der bewegendsten Vorlesungen seines Lebens. Die Studenten klatschten - ein seltenes Ereignis mitten im Semester.
Zum Teufel mit den Müllologen, ich möchte mal erleben, daß die eine solche Vorlesung halten. Sie mögen ja meine Karriere zerknüllt haben wie einen Pappbecher, aber mich werden sie nicht kleinkriegen.

Sein Sohn begrüßte ihn an der Haustüre. Ted dachte, wenigstens einer, der mich für großartig hält. Er küßte Sara, und während sie das Abendessen machte, absolvierte er das Ritual, seinen Sohn ins Bett zu bringen. Dessen Höhepunkt war Teds falsch gesungene Fassung von >Nani to moro mou, nani<, eines griechischen Wiegenliedes. Dann setzte er sich mit Sara an den Küchentisch und legte langsam die geistige Rüstung ab, die er den Tag über getragen hatte. »Fühlst du dich schrecklich beschissen oder beschissen schrecklich?« fragte sie sanft. »Na ja, ich habe diesen ersten Tag als Un-Person überstanden, ohne jemanden zu verprügeln oder in den Charles River zu springen.« »Das ist gut«, sagte sie lächelnd.
Das Telefon läutete. »Tut mir leid, Ted, ich habe vergessen, es abzunehmen, als wir uns hingesetzt haben. Laß mich mal machen, ich werd den schon abwimmeln.« Aber Sara legte nicht gleich auf. »Es ist Robbie Walton«, rief sie. »Ich glaube, du solltest mit ihm sprechen. Er ist wirklich erschüttert deinetwegen.«
Ted nickte und ging zum Telefon. Als Rob, der erste Doktorand, dessen Arbeit Ted betreut hatte, von Harvard wegging und Dozent am Canterbury College wurde, hatte er Ted ewige Dankbarkeit gelobt.
»Wie konnte Harvard Ihnen das nur antun?« sagte Robert wütend. »Hören Sie, so sind nun mal die Spielregeln. Wir können nur daraus lernen.« »Na ja, aber Sie haben doch sicher eine Unmenge Alternativen. Jedenfalls verdienen Sie das.« »Ich habe ein paar«, antwortete Ted unverbindlich. »Und wie läuft's in Canterbury, Robert?« »Nicht schlecht. Ein paar Studenten sind wirklich gescheit — und der Ort hier ist unglaublich schön. Die klassische Abteilung ist allerdings ein bißchen langweilig. Es gibt eben keinen Ted Lambros hier.«
»Vielleicht bin ich deshalb nie eingeladen worden«, erwiderte Ted halb im Spaß. »Wollen Sie damit sagen, Sie würden ernsthaft in Erwägung ziehen hierherzukommen?« »Offen gestanden weiß ich im Moment überhaupt nicht, was ich will. Ich werde in nächster Zeit erst einmal alles auf mich zukommen lassen.«
Plötzlich wurde Robbie ganz aufgeregt. »Hören Sie, wenn Sie es auch nur ein wenig ernst meinen mit Canterbury, dann sage ich das dem Dekan gleich morgen früh. Mein Gott, der kippt aus den Pantinen.«
»Na ja«, antwortete Ted gelassen, »es wäre ganz interessant zu erfahren, was passiert, wenn Sie es ihm sagen. Danke, Rob.«
»Welche finsteren machiavellistischen Pläne machst du denn jetzt?« fragte Sara, als sie sich wieder hingesetzt hatte. »Liebling, dies kleine Manöver nennt man Optionen offenhalten.« »Ich würde es ein schmutziges Geschäft nennen.« »Sara, hast du es denn noch immer nicht begriffen? Das akademische Spiel ist ein schmutziges Geschäft.«

Zwei Tage später rief Robbie wieder an. Er jubelte. »Ich wußte es«, rief er, »ich habe Tony Thatcher, dem Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Ihr Buch gegeben, und es hat ihn angemacht. Er bat mich, mit Ihnen einen Tag für eine Gastvorlesung zu verabreden. Wie wäre es mit Mittwoch, dem 14.?« »In Ordnung«, antwortete Ted und versuchte, sich seine
Befriedigung nicht anmerken zu lassen, »von mir aus geht das in Ordnung.«

In den nächsten Tagen verschlang Ted alles, was er an Informationen über das Canterbury College ergattern konnte.
Es war 1772 gegründet worden und eines der ältesten Colleges Amerikas. Und anders als Harvard und Yale, die nach einfachen Sterblichen benannt waren, hatte Canterbury einen vornehmen Ursprung. Es war auf Befehl von Gilbert Sheldon, Erzbischof von Canterbury unter König Georg II., gegründet worden, um Priester für die Kolonien auszubilden.
Sara aber kannte Canterbury nur als einen Footballgegner aus der Wildnis Vermonts. Obwohl sie davon gehört hatte, daß der Campus besonders schön war, hatte sie noch nie etwas Bemerkenswertes über die dortige Abteilung für klassische Sprachen gehört. Hätte sie gewagt, völlig offen zu sein, hätte Sara gesagt, daß ihr Berkeley sogar noch besser als Harvard gefiel. Aber die Vorstellung, nach Canterbury zu gehen, schien Ted sehr aufzumöbeln. Schließlich wäre er da der unbestrittene König der Berge. Saras einzige - natürlich unausgesprochene - Bedenken betrafen die Aussicht, auf diesen Bergen leben zu müssen.

Nach einer gemütlichen Nachmittagsfahrt bezogen sie das ländliche, aber elegante Hotel Windsor Arms und setzten sich gleich auf die Terrasse, um das vor ihnen ausgebreitete Feenland zu betrachten. Auf der anderen Seite eines saftig-grünen Parks befand sich die Hillier-Bibliothek, deren weißer klassizistischer Turm stolz in einen wolkenlosen Himmel ragte.
»Sieh doch, Sara, das ist sogar noch eindrucksvoller als Eliot-Haus, findest du nicht auch?« »Nein«, erwiderte sie, »aber es ist ganz schön.«
Robbie traf ein und begrüßte sie überschwenglich. Er trug einen orangefarbenen Blazer, ein weißes Hemd mit angeknöpften Kragenecken und einen Samtschlips. »Ich bin zu Ihrem offiziellen Führer ernannt worden«, sagte er. »Wir haben vor Ihrer Vorlesung genügend Zeit für eine Tour durch das College und eine Tasse Tee.«
Rob war von dem Leben in Canterbury begeistert. »Atmen Sie tief ein«, drängte er, »es ist die reinste Luft, die Sie je geatmet haben. Keine vergiftete Stadtluft hier.« »Aber auch keine Stadt«, fügte Sara sachlich hinzu.

Als sie später zur Canterbury Hall kamen, wurde Robbie etwas nervös. »Hm... Ted..., ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn da nicht viele Zuhörer sein werden.« »Das macht überhaupt nichts. Es wird mir ein Vergnügen sein, nur Sie und Sara anzusprechen!«
»Das kann schon passieren«, murmelte Rob und war jetzt offensichtlich verlegen. »Ich meine, ich habe Ihre Vorlesung in meinen eigenen Seminaren angekündigt, nur die Plakate sind erst ziemlich spät angemacht worden.«
»Wann denn?« fragte Ted. »Na ja, leider erst heute vormittag«, antwortere Robbie, als sie zum Haupteingang des Gebäudes kamen.
Sara Lambros hatte finstere Gedanken. In dem großen Vortragsraum waren weniger als zwei Dutzend Menschen. Nur schwer konnte Ted seine Enttäuschung verbergen. »Keine Sorge«, flüsterte Rob, »der Dekan und der Kanzler sind da — und das ist das einzige, was zählt.«
»Und was ist mit den Kollegen?« »Natürlich«, antwortete Rob schnell, »ein paar von ihnen sind auch da.«
Ted und Sara wußten beide, was das bedeutete. Ein paar Professoren — die keinen Anschlag brauchten, um von dieser Veranstaltung zu erfahren — halten beschlossen, seinen Vortrag zu boykottieren. Auch wenn Ted durch seinen früheren Doktoranden sehr freundlich und wortreich eingeführt wurde, fragte sich Sara, warum von der Abteilung nicht jemand Höherstehender für die Einführung benannt worden
war. Schließlich war Ted, wie die amerikanische Zeitschrift für Philologie geschrieben hatte, der Autor des bedeutendsten Buches über Sophokles in diesem Jahrzehnt. Ted hielt seinen Vortrag ruhig und sicher und ignorierte die Leere  des  Hörsaals.  Am   Schluß klatschten   die wenigen Erwählten kräftig. Ein eleganter Herr mit grauen Schläfen streckte als erster die Hand aus. »Ich bin Tony Thatcher, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät«, sagte er, »ich habe Ihre Ausführungen mit großem Vergnügen gehört. Könnten wir morgen, sagen wir, um acht Uhr, zusammen frühstücken?«
»Gerne«, erwiderte Ted.
Dann wandte er sich ein paar Studenten zu, die Fragen hatten, und dann stellte Robbie ihm einen jüngeren Akademiker mit Hornbrille und einem Clark-Gable-Schnurrbart vor. »Ted, das ist unser Latinist und Ordinarius, Henry Dunster. Er möchte mit Ihnen zu Abend essen.«
»Guten Tag, Professor Lambros«, sagte Dunster mit tiefer Stimme, die klang, als wäre ein Echo eingebaut. »Vermutlich haben Sie jetzt nichts gegen einen trockenen Martini, oder?«
»Danke sehr«, sagte Ted und versuchte zu ignorieren, daß der Ordinarius nicht einmal ein verbindliches Wort über die Vorlesung gesagt hatte. »Ich hole Rob und Sara.« »Nein, Rob wird nicht mitkommen«, intonierte Dunster. »Ich dachte ein kleines Abendessen wäre die beste Gelegenheit für Sie, die anderen Kollegen kennenzulernen. Übrigens hatte Ken Bunting eine anderweitige Verpflichtung und konnte deshalb nicht kommen. Aber ich weiß, daß er noch mit Ihnen reden will.«
Während Robbie die Ehrengäste aus dem Hörsaal brachte, empfand Sara ein wenig Mitleid für ihn.

Sie betraten ein kerzenerleuchtetes Restaurant, wo sie die restlichen Mitglieder der klassischen Abteilung an einem Ecktisch erwarteten.
»Sehen Sie mal an, Professor Lambros«, murmelte Dunster, »Sie haben es sogar geschafft, die Abteilung in ganzer Stärke zu mobilisieren.« Die drei Professoren standen auf, als sie an den Tisch kamen. Dunster stellte vor. »Professor und Frau Lambros, Graham Foley, unser Archäologe...« Eine haarlose Halbkugel verbeugte sich und gab wortlos die Hand. »Und Digby Hendrickson, unser Historiker.« Ein kleiner Mann zeigte das erste Lächeln des Abends. »Hallo, nennen Sie mich Digby. Ich darf Sie doch Ted und Jane nennen?« »Gerne, wenn Sie möchten«, lächelte Ted diplomatisch, »aber meine Frau heißt Sara.« Schließlich verkündete Dunster, und er deutete dabei auf einen großgewachsenen Preppie in den mittleren Jahren mit blondem Haar, das in die Stirn gekämmt war: »Und dies ist unser Hellenist, der schon vermißt wurde, Ken Bunting.« »Es tut mir leid, daß ich Ihren Vortrag versäumen mußte, Lambros«, entschuldigte er sich, »aber ich werde ihn ja sicher lesen können, wenn er veröffentlicht wird.« »Ich weiß nicht«, sagte Sara, die die Situation schnell durchschaut halte, »das sind nur ein paar Gedanken, die Ted zusammengestellt hat. Zur Veröffentlichung müßte daran noch viel getan werden.«
Zunächst war Ted erstaunt, daß seine Frau seine Wissenschaftlichkeit so herunterspielte. Aber er war ihr dankbar, als er die herzliche Reaktion des Hellenisten von Canterbury auf ihre Untertreibung vernahm. »In der Tat«, sagte Bunting. »Immer diese Sucht, alles so
schnell drucken zu lassen — das ist besonders in Mode in Harvard, oder?« »Ja, das finde ich auch.« »Also, sollen wir bestellen?« sagte Dunster. »Hatte jemand Martinis gesagt?« Seine Kollegen waren einhellig dafür, obwohl der Archäologe nur durch Nicken seine Zustimmung gab.

Bis halb acht gab es nur Cocktails und unverbindliches Gerede. Sara versuchte, sich und Ted nüchtern zu halten, indem sie Salzgebäck mit Butter und Cracker dick mit Käsedip bestrich. Auch machte sie unverblümte Bemerkungen wie: »Ich habe gehört, daß der Salm hier sehr gut sein soll. Was empfehlen Sie uns, Professor Dunster?« Ted überlegte fieberhaft, wie sich in dieser Gruppe die Macht verteilte. Bei der Vorbereitung auf diesen Besuch hatte er sämtliche Artikel des Lehrkörpers gelesen. Dazu war nicht viel Zeit nötig gewesen. Er beschloß, den Griechischprofessor auf seinen wichtigsten Artikel >Der Symbolismus in Homers Schiffskatalog< anzusprechen. »Professor Bunting, Ihr Artikel in TAPA über den Schluß von Buch 2 der >Ilias< hat mich sehr interessiert. Über das attische Kontingent stellten Sie die These auf, daß ... «
Hier unterbrach ihn die volltönende Stimme des Vorsitzenden Dunster mit der sehr willkommenen Ankündigung: »Mademoiselle ist gekommen, um unsere Bestellungen entgegenzunehmen .«
Sara Lambros sang innerlich ein Halleluja. Plötzlich erhob sich der schweigsame Archäologe und überraschte Ted und Sara dadurch, daß er ein paar Silben von sich gab: »Es ist schon spät«, verkündete er, an niemand Besonderen gewandt. »Gute Nacht. Und danke für die Cocktails.« Dann wurde er wieder stumm wie zuvor, nickte den Ehrengästen zu und ging.
»Er lügt«, feixte Dunster. »Er geht nur nach Hause, um in die Glotze zu sehen. Können Sie sich vorstellen«, fragte er Sara Lambros, »daß dieser Mann fernsieht?« »Das tun viele«, antwortete sie unverbindlich. »Hat Ihr Mann für dieses Medium eine Vorliebe?« forschte er.
»Aber nein, wir besitzen gar keinen Empfänger«, antwortete sie freimütig und dachte, er kann es ruhig Armut oder Arroganz nennen, solange er nur derselben Meinung ist.

Zwei weitere Stunden vergingen, ohne daß auch nur ein lateinischer oder griechischer Autor erwähnt wurde. Verzweifelt versuchte Ted, das alles zu begreifen. Aber er erinnerte sich auch an Saras Worte: »Es ist ein Klub, und man prüft, ob man dich als Mitglied haben will.« »Spielen Sie Tennis, Lambros?« fragte Bunting. Ted log: »Ein wenig. Ich versuche gerade etwas besser zu werden.« Und nahm sich im stillen vor, einen von Saras Brüdern um Stunden zu bitten, wenn er die Stelle bekommen sollte. »Der alte Bunting ist die Sportskanone unserer Abteilung«, sagte der Historiker Digby vorlaut. »Er war zweiter im Inter-Universitäts-Turnier 1956. Und heute hatte er ein wichtiges Spiel gegen einen neuen Dozenten in den Staatswissenschaften.« Dann wandte er sich an seinen Kollegen, den Fast-Sieger: »Na, hast du's ihm gezeigt, Ken?« Professor Bunting nickte bescheiden: »6:4, 5:7, 6:5, 6:1. Es dauerte so lange, daß ich fast zu spät zum Essen gekommen wäre.«
»Hurra, darauf trinken wir.«
Aber während sie Kenneth Bunting zuprosteten, dachte Sara, du blöder Sportler, du hättest doch wohl das Spiel aufschieben und die Vorlesung meines Mannes anhören können, oder? Später, als sie alleine waren, gestattete sich Ted endlich, das zu sagen, was sie beide während des Essens gedacht hatten. »Mein Gott, was sind das für Scheißer.«
»Hör mal, Ted«, antwortete Sara etwas benommen von der ganzen Erfahrung, »in Harvard gibt's auch Scheißer. Aber die hier sind besonders kleine Scheißer.«

Sie erwachte im Morgengrauen und sah, daß ihr Mann zum Fenster hinausstarrte. »Was ist denn, Liebling?« fragte Sara besorgt. »Deprimiert dich das jetzt alles?« »Nein«, antwortete er ruhig und sah weiter hinaus auf den Park, »ganz im Gegenteil.«
Willst du damit sagen, es hat dir gefallen, wie sie dich gestern behandelt haben?« »Nein, das nicht, aber der Ort hier verschlägt mir den Atem. Ich glaube, wir könnten hier wirklich glücklich sein.« »Mit wem können wir hier denn wirklich reden?« fragte sie traurig. »Mit den Bäumen? Die plätschernden Bäche sagen sicher mehr als dieser autistische Archäologe!«
Er senkte den Kopf. »Die Fragen der Studenten gestern waren wirklich ganz gut.« Sie reagierte nicht. »Die Bibliothek ist fantastisch ...«
Sie antwortete immer noch nicht.
»Die haben hier wirklich gute Abteilungen. Zum Beispiel Französisch. Und dieser Lipton, der Mathematiker, hat früher mal mit Einstein gearbeitet.« »Aber Ted«, unterbrach sie sanft, »mir mußt du nicht mit Dialektik kommen. Der Ort hier hat Geschichte. Und ich weiß, etwas in dir kann die Welt nicht ertragen, wenn du nicht an einer der alten Eliteuniversitäten bist. Ich begreife das nicht, aber ich muß es akzeptieren.«
»Es ist ein hübscher Ort, Sara.« »Ja, nur drei Stunden Autofahrt von Harvard weg... « »Zweieinhalb«, sagte er leise.

Der Frühstücksraum sah wie ein Orangenhain aus. An allen Tischen saßen Paare, mittleren Alters und auch ältere, und alle trugen diesselbe Farbe: die Herren orangefarbige Blazer, die Damen Canterbury Shawls. »Ist das so etwas wie ein Klassentreffen?« fragte Ted Tony Thatcher, als er sich mit dem Dekan zum Frühstück setzte. »Nein«, antwortete Thatcher, »das ist hier so das ganze Jahr über. Die früheren Studenten kommen nicht nur zu den Footballspielen - sie machen immerzu sentimentale Reisen hierher.« »Ich kann es ihnen nachfühlen«, bemerkte Ted. »
Das freut mich«, erwiderte der Dekan, »denn ich hätte Sie gerne hier in Canterbury.« »Ich schließe aus Ihrem Gebrauch der ersten Person Singular, daß es hierüber keine einhellige Meinung in der Abteilung gibt.«
»Ich fürchte, da würde nicht einmal über eine Gehaltserhöhung einheitlich abgestimmt. Offen gesagt, was wir brauchen, ist eine verbindende Kraft — ein solider Akademiker der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Ich möchte, daß Canterbury zum besten kleinen College des Landes wird. Sogar besser als Dartmouth oder Amherst. Und das kann nur gelingen, wenn wir Leute Ihres Kalibers
an uns binden. Ich bin autorisiert worden, Ihnen eine assoziierte Professur mit zukünftiger Festanstellung anzubieten.«
»Was heißt zukünftige Festanstellung<?« »Das heißt, nach einem Jahr sind Sie fest angestellt. Was meinen Sie dazu?« »Um ehrlich zu sein, der Gedanke einer Probezeit beunruhigt mich ein wenig.« »Das ist wirklich nur eine Formsache«, erwiderte der Dekan in beruhigendem Ton. »Außerdem wissen die Leute hier, auf die es ankommt, was wir an Ihnen haben.«

»Ted, ich werde das Beste daraus machen. Ich verspreche dir das.«
Auf der Heimfahrt gab ihm Sara immer wieder zu verstehen, sie sei mit ihm in guten und schlechten Zeiten verheiratet. Und nachdem sie ein letztes Mal erklärt hatte das Berkeley besser und Canterbury schlechter sei, würde sie schon die großartige Umgebung lieben lernen.
»Sara«, erwiderte Ted und machte sich mindestens so sehr Mut wie ihr, »wir werden eines Tages im Triumph zurückkehren. Ich werde Ruhe und Frieden nutzen und ein so hervorragendes Euripides-Buch schreiben, daß die Leute von Harvard auf den Knien angerutscht kommen werden, damit ich zurückkomme. Denke daran, wie die Römer vor Coriolanus auf dem Bauche gekrochen sind, nachdem sie ihn rausgeworfen hatten.« »Ja schon«, erwiderte sie. »Aber der Kerl endete trotzdem mit einem Messer im Rücken.« »Eins zu null«, lächelte Ted. »Warum habe ich nur eine so kluge Frau geheiratet?« »Weil du kluge Kinder haben wolltest«, sagte sie und lächelte ihn an.
Aber in ihrem Inneren dachte sie: Wenn du wirklich meine Intelligenz respektiertest, dann wärst du auch meinem Rat gefolgt.

Jason Gilbert traf zwei wichtige Entscheidungen, die den Rest seines Lebens beeinflussen sollten. Es war ihm klargeworden, daß alles, was er in den letzten zweieinhalb Jahren getan hatte, auf eine Verpflichtung hindeutete, das Land seiner Väter zu verteidigen. Das hieß, er würde bleiben und sich niederlassen. Trotzdem war er sehr einsam. Wenn er den Kindern des Kibbuz beim Spielen zusah, wollte er selbst Vater sein. Aber er wußte nicht sicher, ob er sich da auch ganz würde einbringen können, denn er empfand immer noch Wut und Trauer.
Immer wenn er ein paar Urlaubstage hatte und in den Kibbuz zurückkam, saßen er und Eva in dem großen, leeren Eßsaal und redeten bis in die frühen Morgenstunden, und dann fühlte sich Jason am meisten als Mensch.
Eines Abends spät gestand er ihr: »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn du heiratest. Wer soll denn dann aufbleiben und mir zuhören, wenn ich mich über die ganze Welt beklage?« »Das habe ich mir auch überlegt«, antwortete sie scheu. »Seit du hier bist, habe ich mich an deiner Schulter ausweinen können.« »Aber du weinst nie wirklich.« »Ich habe das auch nur bildlich gemeint.« »Klar. So wie wenn ich sage, du bist der einzige Mensch hier, der mir die Hand hält. Nur ein Bild.« »Ja, wir sind beide nur... Bilder.«
Ihre Blicke trafen sich.
»Ich würde wirklich gerne deine Hand halten«, sagte er. »Und ich würde mich wirklich gerne an deiner Schulter ausweinen.«
Sie umarmten sich.
»Eva, ich mag dich wirklich. Ich möchte gerne sagen, ich liebe dich, aber ich weiß ehrlich nicht, ob ich noch lieben kann.« »Ich empfinde genauso, Jason. Aber wir könnten es probieren.« Dann küßten sie sich.

Die Trauung fand in Vered Ha-Galil statt zu Anfang eines einmonatigen Urlaubs, den Jason auf seine Rückmeldung hin erhalten hatte. Der ganze Kibbuz freute sich darüber, daß das Paar sich entschlossen hatte, bei ihnen zu bleiben, auch wenn Jason für längere Zeit in der Armee an verschiedenen, meist geheimen Orten des Landes tätig sein würde.
Für Jason war der Kibbuz Familienersatz geworden. Er hatte sich von seinen Eltern jetzt fast vollständig entfremdet. Eva bat ihn, sie zu ihrer Hochzeit einzuladen. Er lehnte ab. Statt dessen schrieb er am Abend vor der Trauung in ihrer neuen Behausung mit zwei kleinen Zimmern - luxuriös ausgestattet mit einem kleinen Eisschrank, einer Kochplatte und einem Schwarzweißfernseher- seinen Eltern einen Brief:
»Liebe Mutter, lieber Vater,
morgen heirate ich Eva Uoudsmit, das Mädchen, das von Fannys Familie während des Holocaust versteckt wurde. Ihr
verdanke ich, daß ich jetzt verstehe, was Israel bedeutet. Unter normalen Umständen hätte ich Euch eingeladen. Ich
weiß, wie wenig Ihr mit meinem jetzigen Leben einverstanden seid, und das morgige Gelöbnis besiegelt nur das, was ihr
vermutlich als Rebellion betrachtet.
Die ersten einundzwanzig Jahre meines Lebens bin ich Eurem Plan gefolgt, wobei ich kaum die kleinen Kompromisse bemerkt habe, die ich währenddessen machen mußte.
Genausowenig habt Ihr Eure Kompromisse bemerkt, dessen bin ich sicher. Ich weiß, Ihr habt es gut gemeint. Ihr wolltet,
daß Eure Kinder nicht an dem Stigma leiden, jüdisch zu sein. Und genau das will ich auch für meine Kinder. Hier ist es eine Ehre, Jude zu sein, und keine Benachteiligung. Meine Kinder werden zwar etwas gefährlich aufwachsen, aber niemals werden sie sich schämen müssen.
Ich bin Euch immer dankbar dafür, was Ihr mir gegeben habt, während ich heranwuchs. Jetzt bin ich erwachsen, und auch wenn Ihr nicht mit meiner Überzeugung übereinstimmt, möchte ich Euch bitten, doch mein Recht zu respektieren, ihnen entsprechend zu leben.
Euer Euch liebender Sohn Jason.«

Ihre Flitterwochen verbrachten sie, vom Kibbuz finanziell unterstützt, am südlichsten Punkt Israels, in Eilat, an der Spitze der Negev-Wüste. Der Hafen am Roten Meer war von König Salomon gegründet worden, um von dort das Erz aus seinen Bergwerken verschicken zu können. Und dort hatte er auch die Königin von Saba empfangen. Jason brachte Eva das Tauchen bei, und sie verbrachten ihre Vormittage zwischen den vielfarbigen bunten Korallenbänken. Am Abend wanderten sie Hand in Hand von den primitiven, aber teuren Shish-Kebab-Ständen zu den kitschig dekorierten, aber noch teureren Diskotheken.
Aber sie waren beide glücklich.
»So muß es auch an der französischen Biviera sein«, sagte Eva eines Abends bei einem Strandspaziergang. »Mehr oder weniger«, erwiderte Jason, der seiner Frau die Illusion nicht nehmen wollte. »Mit dem einzigen Unterschied, wenn man hier etwas zu lange schwimmt, ist man unverhofft in Saudi-Arabien.« »Ja«, gab sie zu, »die Araber sind hier ganz schön nah.« »Die denken sicher dasselbe von uns. Aber wahrscheinlich werden ihre und unsere Kinder eines Tages miteinander spielen.« »Das hoffe ich auch«, sagte Eva zärtlich, »und ich hoffe, wir haben recht viele Kinder.«
Ihre Ehe würde gut und haltbar werden, denn sie hatten keine Illusionen. Sie mochten dieselben Dinge, dieselben Menschen, und sie mochten sich. Ihre Liebe war geweiht von den Tränen bleibender Trauer, aber zugleich durch den gemeinsamen Verlust gestärkt.

Während des folgenden Jahres beschossen die arabischen Geschütze auf den Golan-Höhen die Kibuzze im Norden Israels immer häufiger. Terroristen drangen über die jordanische und libanesische Grenze nach Israel ein, überfielen nicht-militärische Ziele und ermordeten Zivilisten. Frauen an einem Freitagmorgen auf einem Marktplatz. Kinder auf dem Schulhof.
Die Bevölkerung Israels forderte wütend eigene Aktionen, statt immer nur auf die der Gegner zu reagieren. Wenn man die Fedayeen nicht außerhalb der Grenzen halten konnte, dann mußte etwas geschehen, um sie aufzuhalten, noch bevor sie eindringen konnten. Eine Eliteeinheit der Fallschirmjäger erhielt den Befehl, Vergeltungsschläge durchzuführen. Jason Gilbert gehörte zu der Einheit, die
wochenlang für den Schlag über die Grenze trainierte. In der Nacht vor dem Angriff schliefen sie auf einem Feld, wenige hundert Meter von der jordanischen Grenze entfernt. Beim ersten Tageslicht sprangen sie in ihre Fahrzeuge und rasten auf das auf dem Berg gelegene Dorf Samua zu, das nach Auskunft des Geheimdienstes ein Stützpunkt der El-Fatah-Kommandos war. Fünfhundert Meter vom Dorf entfernt sprangen sie ab und kletterten den Rest des Weges mit dem Gewehr im Anschlag den Abhang hinauf.
Israelische Flugzeuge erschienen am Himmel. Sie flogen über Samua hinaus, um die regulären jordanischen Truppen zu bombardieren und sie auf diese Weise abzulenken und von der Operation fernzuhalten. Als sie nur noch weniger als hundert Meter vom Dorf entfernt waren, begann Jason zu laufen und signalisierte seinen Männern zu schießen, um den Gegner zu verwirren. Während sie sich den Steilhang hinaufarbeiteten, tauchten Gewehre in den Fenstern auf, und der Feind begann zurückzuschießen.
Der Soldat unmittelbar rechts neben Jason wurde in die Brust getroffen und fiel hintenüber. Für einen kurzen Moment blieb Jason wie versteinert stehen, als er sah, wie das Blut das Hemd des Mannes rot färbte, den er nur unter dem Namen Avi kannte. Zum ersten Mal sah er, wie jemand im Gefecht verwundet wurde. Noch immer starrte er ihn an. Erst als der Sanitäter, der herbeigelaufen war, ihm ein Zeichen gab weiterzustürmen, wandte sich Jason um und rasend vor Wut lief er weiter den Hügel hinauf. Im Laufen riß er eine
Handgranate vom Gürtel, zog sie ab und warf sie in das Dorf. Sie explodierte auf einem Dach.
Als die Fallschirmjäger nach Samua hineinkamen, waren die Terroristen geflohen. Zurückgeblieben waren nur ein paar alte und verwirrte Einwohner. Die Israelis durchsuchten eilig die Häuser und trieben die ängstlichen Dorfbewohner den Hang hinunter.
Eine Leuchtrakete wurde abgeschossen: Samua war jetzt leer. Blitzschnell brachten Jason und die Sprengexperten scharfe Ladungen an den Häusern an. Zehn Minuten später hatte sich der israelische Stoßtrupp zweihundertfünfzig Meter unterhalb der Anhöhe gesammelt. Einer löste die erste Explosion aus. Nacheinander flogen die Häuser des Dorfes in die Luft. Siebzehn Minuten später waren sie alle wieder diesseits der Grenze. Jason saß zusammen mit seinem Kommandeur Yoram Zahair in einem Geländewagen. »Also, die Operation Samua war ein voller Erfolg.« Jason wandte sich ihm zu und sagte bitter: »Versuch Avis Eltern das zu sagen.«
Der Offizier nickte, schüttelte dann den Kopf und antwortete Jason leise: »Hör mal, Saba, der Krieg ist schließlich kein Fußballspiel.«

Es gab weitere Operationen wie die von Samua, aber noch immer konnten die Israeli die terroristische Infiltration nicht stoppen.
Im Gegenteil, vom Frühjahr 1967 an wurden die Guerillaangriffe sogar immer noch kühner und wüster. Der Beschuß der Kibbuze im Huleh-Tal von den Golan-Höhen aus wurde so stark wie nie zuvor. An der Südfront übertrug Radio Kairo die schrille Stimme des ägyptischen Führers Nasser: »Einhundert Millionen Araber warten auf den Tag, an dem die israelischen Imperialisten ins Meer getrieben
werden.«

Ende Mai 1967 war Captain Jason Gilbert zu Hause und feierte mit Eva die Geburt ihres ersten Kindes - ein Sohn, den sie in Gedenken an Evas Vater Joshua nannten. Da wurde im Radio die allgemeine Mobilmachung verkündet, alle Reserveeinheiten wurden einberufen.
Während der nächsten vierundzwanzig Stunden sendete die Stimme Israels einen Strom scheinbar unsinniger Sätze: »Schokoladeeis muß auf den Geburtstagskuchen« - »Giraffen mögen Wassermelonen« - »Mickey-Maus kann nicht schwimmen.« Mit diesen Codes wurde den Reservisten mitgeteilt, wo sie sich mit ihren Waffen einzufinden hatten.
Nasser hatte auf der Sinai-Halbinsel an Israels Südgrenze einhunderttausend Mann mit russischer Bewaffnung sowie tausend Panzer zusammengezogen. Der Krieg war unvermeidlich. Die Frage war, ob Israel ihn überleben würde. Seit 1956 waren Ägypten und Israel durch kleine, symbolische Einheiten der Vereinten Nationen entlang der Grenze voneinander getrennt gehalten worden. Nasser befahl den UNO-Einheiten abzuziehen. Jetzt gab es nur noch Sand zwischen den beiden Ländern.
Der König von Jordanien unterstellte seine Armee dem ägyptischen Oberkommando, und Truppenkontingente anderer arabischer Staaten trafen ein. Gegen Israel standen damit über zweihundertfünzigtausend Soldaten, zweihundert Panzer und siebenhundert Flugzeuge. Das Land war an drei seiner Grenzen bedroht. Seine vierte Grenze war das Meer. Und da hinein wollten die Araber sie jagen. Israel war völlig auf sich gestellt, während alle Länder der Welt Zurückhaltung predigten, aber nichts taten, diese auch zu erzwingen.
Jason Gilberts Regiment des 54. Fallschirmjäger-Bataillons war schon vor einer Woche mobil gemacht worden und lagerte in einem Olivenhain bei Tel Shahar. Auf Befehl der Bataillonskommandantur übten sie immer wieder mit den Tragbahren, um sich auf die schnelle Evakuierung der Verwundeten vorzubereiten — kein sehr aufbauendes Training. Nicht gerade ermutigend waren auch die aus den zahlreichen Kofferradios der Soldaten dringenden zunehmend schlechteren Nachrichten. Die Botschaften Englands und Amerikas wurden angewiesen, ihr Personal aus Israel zu evakuieren.
Jeden Abend, bei Anbruch der Dunkelheit, versuchte Jason, seinen Männern Mut zu machen. Aber je mehr Tage verstrichen und je stärker die Spannung wuchs, desto weniger wirkten seine Versuche überzeugend, besonders, da auch er kaum wußte, was tatsächlich geschah.
Am Abend des 4.Juni erhielt er endlich den Befehl: »Abmarsch für morgen sechs Uhr vorbereiten.« Wohin wurde nicht gesagt. Als er das dem Regiment mitteilte, waren die Männer tatsächlich ermutigt. Endlich würde es etwas zu tun geben, statt nur darauf zu warten, von der Erdoberfläche weggebomt zu werden.
»Geht jetzt schlafen«, sagte Jason, »morgen haben wir Arbeit.«
Während die Männer sich in ihre Schlafsäcke legten, kam ein junger Reservist mit Käppchen zu Jason, zog ein kleines, in blaues Leder gebundenes Buch aus der Brusttasche und fragte höflich: »Saba, darf ich beten, statt zu schlafen?«
»Okay, Baruch«, sagte Jason. »Vielleicht hört dich Gott heute nacht. Aber welche Gebete kann man in der Nacht vor einem ... einem Angriff sprechen?«
»Die Psalmen passen immer, Saba. Du weißt doch: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, höre meine Stimme ...«
»In Ordnung«, lächelte Jason traurig, »aber bitte unbedingt um eine mehrfache Erhörung.« Der junge Soldat nickte und ging in eine ruhige Ecke, um seine schlafenden Kameraden nicht zu stören, und sang leise die Psalmen, immer wieder und wieder. Jason legte sich in seinen Schlafsack und fragte sich, ob er seine Frau und seinen Sohn jemals wiedersehen würde.
Im Morgengrauen des 5. Juni, einem Montag, trafen die Busse ein. Es waren dieselben heruntergekommenen Fahrzeuge, mit denen manche der Männer in Tel Aviv zur Arbeit gefahren waren. Heute fuhren sie mit ihnen Richtung Sinai zu einem Militärflughafen tief in der Negev-Wüste, wo sie eine Flotte von Sikorsky-Hubschraubern erwartete. Als sie ausstiegen, blickten die Soldaten nervös zum Himmel, denn sie spürten instinktiv, daß die Feindseligkeiten begonnen hatten, und so nahe der Grenze fürchteten sie einen Angriff der ägyptischen Luftwaffe.
Jason war gerade dabei, seine Leute zu versammeln und sie für die Hubschrauber in Gruppen von acht einzuteilen, als ihn ein vorgesetzter Offizier für einen Augenblick zu sich bat. Er kam zurückgelaufen und sein Gesicht strahlte.
»Ich habe eine sehr interessante Mitteilung zu machen«, rief er laut. »Unsere Luftwaffe hat heute morgen 7 Uhr 45 einen Präventivschlag gegen die feindlichen Flugplätze geführt. Die ägyptische Luftwaffe existiert nicht mehr. Der Himmel gehört Israel. Jetzt ist es unsere Aufgabe, den Boden zu gewinnen.«
Bevor die Soldaten in Jubel ausbrechen konnten, hob ein junger Soldat die Hand. Es war Baruch. Er zeigte auf das kleine Gebetbuch und rief voll Freude: »Sehen Sie, Saba, Gott hat zugehört.«
An diesem Morgen gab es keine Ungläubigen in der israelischen Armee.
»Okay«, sagte Jason, »hier ist unser Zeitplan. Wir marschieren los. Die Panzer, die Infanterie, alle. Wir überschreiten den Kanal und statten den Pyramiden einen Besuch ab. Davor müssen wir aber zuerst noch eine Kleinigkeit erledigen. Die Ägypter haben sich in Um Katef, der Tür zum Sinai, fest eingegraben. Die Panzer können nicht nahe genug heran, deshalb haben wir die Aufgabe, einzugreifen und sie da rauszufegen. Es gibt nicht genügend Platz für alle, deshalb brauche ich Freiwillige.«
Alle Hände flogen hoch. Und auch noch, als er seine Truppe zusammengestellt hatte, drängten weitere Männer in die Hubschrauber.

Sobald es völlig dunkel war, landeten sie in den Dünen nördlich der ägyptischen Befestigung. Die Helikopter flogen hin und her und transportierten die Truppen an. Die letzte Landung geriet unter schweres Feuer. Wie geplant, teilten sich die Soldaten, eine Gruppe für den Angriff, und eine gab Feuerschutz. Jason führte seine Leute gegen die ägyptischen Maschinengewehre. Sie griffen mit Uzis und Panzerfäusten an.
Plötzlich traf eine ihrer Raketen einen Munitionszug, der in die Luft flog und beim Gegner wie in den eigenen Reihen Verheerungen anrichtete. Im Licht des Feuers zählte Jason fünf bewegungslose Körper und Dutzende von verwundeten Kameraden. Er befahl, den Angriff zu stoppen und auf die Tragbahren zu warten. Dann wurde im Ernstfall das getan, was so oft geübt worden war.
Schließlich griff er sich wieder ein  Gewehr und kehrte zurück zum unmenschlichen Geschäft des Tötens. Des Friedens willen.

Am Ende des ersten Tages bestand die Bedrohung der totalen Vernichtung nicht mehr. Denn die jordanische und die syrische Luftwaffe hatten das gleiche Schicksal erlitten wie die ägyptische. Die südliche Armee befand sich auf dem Weg zum Suezkanal, kaum behindert.
Obwohl Israel an drei Fronten Krieg führte, besaß es keine drei Armeen. Sobald das erschöpfte 54. Fallschirmjäger-Bataillon den Weg zur Besetzung des Sinai freigekämpft hatte, mußte es in den Norden, wo der Kampf um die Golan-Höhen tobte. Und während sie sich auf dem Weg dorthin befanden, gab es einen wüsten Kampf Mann gegen Mann um das höchste Ziel - um Jerusalem.
Als sie am Mittwochmorgen die Golan-Höhen erreichten, erhielten sie die Nachricht, daß Fallschirmtruppen die Altstadt Jerusalem eingenommen und das größte israelische Heiligtum erreicht hatten - die Tempelmauer.
Jasons Bataillon eroberte den syrischen Stützpunkt östlich von Dar Bashiya. Endlich waren die großen Geschütze, die jahrelang die Kibuzze im Norden beschossen hatten, zum Schweigen gebracht worden.

Sechs Tage nach Beginn war der Krieg vorüber. Und die Umrisse Israels hatten sich verändert. Im Süden besaß es als Schutzzone den gesamten Sinai. Im Westen kontrollierte es das gesamte Territorium bis zum Jordan, der die Verteidigungslinie darstellte. Und im Norden stand Israel jetzt auf den Golan-Höhen und bedrohte Syrien, statt von Syrien bedroht zu werden. Es war in jeder Beziehung ein Erfolg, bis auf einen Punkt. Der Krieg brachte keinen Frieden.
Am 1. September verabschiedete die arabische Gipfelkonferenz in Khartum drei Resolutionen: keine Verhandlungen mit Israel, keine Anerkennung Israels, kein Friede mit Israel.

Jason Gilbert, der seinen Sohn in den Armen wiegte, sagte zu seiner Frau: »Sie hätten auch noch hinzufügen können: keine Ruhe für Israel.«
Die schockierten, geschlagenen Araber planten bereits eine neue Art von Krieg gegen ihren Feind: eine Kampagne von Terror und Sabotage. Sie gründeten die PLO, die sich die »nationale Befreiung« des Volkes, das nie eine Nation gewesen war, zum Ziel setzte.

Es schien keine Maßnahme zu geben, die neuen Terroristen davon abzuhalten, israelisches Territorium zu betreten. Sie konnten über den Jordan setzen, sich in Höhlen verstecken, ihre Verbrechen durchführen, und dann entweder zurück über den Jordan gehen oder nach Norden ausweichen und über die libanesische Grenze verschwinden. Zuerst versuchte die israelische Armee es noch mit Vergeltungsangriffen, wie sie vor dem Krieg einigermaßen wirksam gewesen waren. Jetzt nutzte auch das nichts mehr.
Der Jordan wurde durch Minenfelder abgeriegelt. Sogar die Wege wurden glaltgerecht, so daß die Patrouillen am frühen Morgen sehen konnten, ob jemand in der Nacht durchgekommen war. Aber wie bei der Hydra in der griechischen Mythologie schienen für jeden abgeschlagenen Kopf jedesmal zwei neue Köpfe nachzuwachsen.
Um mit diesem Problem fertig zu werden, wurden aus jeder Einheit die besten Männer zu einer erstklassigen Antiterrorismus-Truppe, der >Sayaret Matkah<, zusammengefaßt.
Jason war entschlossen, in diese Truppe zu kommen. Er fuhr ins Hauptquartier, bereit, wieder den Kampf gegen das »Sie sind zu alt« aufzunehmen, den er schon fünf Jahre früher ausgefochten hatte.
Aber als er den Offizier sah, der die Rekrutierung durchführte, wußte er, das war nicht nötig. Denn es war Zvi Doron, den er damals im Rekrutierungszelt der Fallschirmtruppe so wirksam >überzeugt< hatte. Diesmal lachten die beiden Männer eine Weile, und dann machte Zvi den einzigen Einwand, den er gegen Jasons Bewerbung vorzubringen halte: »Hör mal, Saba, ich weiß, daß du der Aufgabe körperlich gewachsen bist. Aber du bist jetzt Vater und Ehemann. Und diese Sache hier ist nichts für glückliche Ehen. Erstens wirst du oft weg sein, und zweitens wirst du mit deiner Frau über unsere Operationen nicht mal sprechen dürfen. Glaub mir, ich hab' hier schon genug Scheidungen erlebt.«
»Ich bin nicht in Israel, um Orangen zu pflücken«, antwortete Jason, »solange ich noch nützlich bin, nehme ich jedes notwendige Risiko auf mich. Also nehmt ihr mich?«
»Nur wenn du versprichst, es erst mit deiner Frau zu besprechen.«
»Abgemacht.«

Eva verstand ihn viel zu gut, um mit irgendwelchen Argumenten zu kommen. Sie wußte, sie war mit einem Mann verheiratet, in dem ein Feuer brannte. Und in gewisser Weise wärmte dieses Feuer auch ihre Ehe. Sie wollte ihm nicht im Weg stehen. Sie entlockte ihm nur das nutzlose Versprechen, sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben. Schließlich war er Familienvater mit Frau und Kind, und einem zweiten Kind, das in vier Monaten zur Welt kommen sollte.

Greorge Keller hätte genausogut im Museum of Modern Art arbeiten können. Während der letzten vier Jahre, seit dem September 1963, war er jeden Morgen in die Nummer 30, Rockefeller Plaza, in New York gekommen, hatte verschiedene Sicherheitsvorkehrungen passiert und war schließlich im Lift zum 65. Stockwerk hinaufgefahren, wo er dann durch eine Tür ging, auf der schlicht >Raum 5600< stand. Auf dem Weg zu seinem luxuriös eingerichteten Büro kam er durch Korridore, deren Wände gepflastert waren mit Renoirs, Picassos, Cezannes und van Goghs, ganz zu schweigen von den ähnlich unbezahlbaren Skulpturen. Denn er befand sich in der Welt einer einzigartigen privaten Kunstsammlung. Auf dieser exklusiven Höhe hatten Gouverneur Nelson Rockefeiler und seine Brüder ihr Operationszentrum, wo jeder von ihnen in einem gesonderten Flügel ihren verschiedenartigen Interessen nachging: Schirmherrschaften, Philantropie, Politik und alle denkbaren Kombinationen davon.
Auf Henry Kissingers Empfehlung hin war George angestellt worden für den Stab, der für den Gouverneur Memoranden zur internationalen Politik verfaßte. Wie Henry es ausdrückte: »Du wirst dort die Grundlagen für die Außenpolitik des künftigen Präsidenten Rockefeller legen.«
Falls er noch Zweifel gehabt halte, ob er Harvard verlassen sollte, so wurden sie durch die Tatsache zerstreut, daß er schon ein Jahr nach Abschluß der Promotion soviel verdiente wie dort ein festangestellter Professor.
Es hatte nicht an attraktiven Angeboten gefehlt. Mit jedem Sommer, den er mithalf, das Harvard-Internalional-Seminar zu organisieren, hatten seine Aufgaben im gleichen Verhältnis zugenommen wie Kissingers Wertschätzung für ihn. Als er seinen Doktor in Politikwissenschaften machte, war er Mitherausgeber von >Confluence<, der repräsentativen Publikation des Seminars.
Henry stand ganz hinter seinen Schützlingen und hatte George immer in die Strategien des eigenen Aufstiegs mit einbezogen. Das geschah nicht etwa aus unkritischer Zuneigung. George war ohne Frage ein Gewinn, sowohl was seine akademische Brillanz anging als auch durch sein natürliches Gespür für diplomatische Angelegenheiten. Wenn nicht die Verbindung zweier Ebenbürtiger, so war es zumindest eine wirkliche Partnerschaft.
Natürlich hatte man George in Harvard halten wollen. Der Dekan hatte sogar Kissinger zu sich gebeten, um mit ihm zu besprechen, wie man den jungen Wissenschaftler dazu überreden könne, an der Universität zu bleiben. Sein Mentor bemerkte dabei, George hätte einen ausgeprägten Willen.
»Ich habe das Gefühl, seine Zukunftspläne liegen in Richtung Washington und nicht in Cambridge«, gab Henry zu
bedenken, »aber ich will mein Bestes tun.« Kissinger übte keinen übermäßigen Druck auf George aus, in Harvard zu bleiben. Denn er selbst brauchte immer mehr Soldaten für den Vortrupp seiner eigenen Karriere. Deshalb plazierte er George im Büro seiner alten Förderer, der Rockefellers, und hatte so einen Verbündeten, auf den er »in der Realität« zählen konnte.
Im Juni 1963 erwarb George Keller nicht nur seinen Doktorgrad, sondern — und das war vielleicht noch wichtiger- er schwor einen Eid auf die amerikanische Verfassung und wurde so zu einem stolzen und patriotischen amerikanischen Bürger. Seine neue Ungar  war für ihn so etwas wie eine spät ausgestellte Geburtsurkunde. Jetzt war nicht nur seine Zukunft gesichert, sondern auch seine Vergangenheit völlig verdrängt. Es war fast so, als sei er nie Ungar gewesen, hätte nie einen Vater oder eine Mutter, eine Schwester oder eine Verlobte namens Aniko gehabt. Nur ganz selten einmal hatte er den schlimmen Traum, er hätte sich in einem grellen
Schneesturm verlaufen und fände nicht mehr nach Hause. Er hatte es sogar sorgfältig vermieden, ungarische Zeitungen zu lesen, außer wenn es für seine Seminararbeiten unbedingt erforderlich war. Wie Athene in der griechischen Mythologie, war er völlig ausgewachsen der Stirn des Zeus entsprungen, nur daß in Georges Fall Henry Kissinger der Erzeuger war.
So begab sich George Keller nach New York — für manche die großartigste Stadt der Welt, für George aber nur ein Vorort von Washington. Seine Philosophie beim Erwerb einer neuen Garderobe fußte auf der persönlichen Theorie, ein maßgeschneiderter Anzug sei das einzig mögliche. Er fand den Schneider des — inzwischen ermordeten — Präsidenten Kennedy heraus und bestellte einige neue Anzüge, wie es sich gehörte in gedeckten Farben.
Er wurde sogar zu einer Art Kleidungsapostel und tadelte Andrew, den er gelegentlich im New Yorker Harvard Club zum Mittagessen oder für ein Squashmatch traf: »Eliot, ich kann wirklich nicht begreifen, daß du deine Sachen von der Stange kaufst. Schließlich bist du doch auf dem Weg, ein großer Bankier zu werden.«
»Ich bin immer noch in der Ausbildung«, antwortete sein früherer Kommilitone dann freundlich, »außerdem sind wir Neuengländer aus Überzeugung geizig.«
Weder er noch George mit seinem untrüglichen Taktgefühl erwähnten, daß Andrew vor zwei Jahren, als er fünfundzwanzig geworden war, ein Vermögen von einigen Millionen Dollar übertragen bekommen hatte.
Die Arbeit für die Rockefellers hatte noch andere Vorteile, so zum Beispiel den Zugang zu sonst schwer erhältlichen Konzert- und Theaterkarten und zu den intelligenten, hübsch aussehenden jungen Damen, die ebenfalls im >Raum 5600< arbeiteten.
George nutzte begeistert alle diese Gelegenheiten. Er genoß die Premieren in der Oper und die großen Theaterereignisse. Als Fonteyn und Nurejew zum erstenmal in Amerika >Schwanensee< in der Choreographie des jungen Russen tanzten, saß er im Parkett. Und als Danny Rossi das zweite Klavierkonzert von Bartok mit den New Yorker Philharmonikern spielte, saß George in der Rockefeller-Loge zusammen mit Sally Bates, des Gouverneurs bezaubernd schöner Assistentin für Stadtfragen.
Als Danny auf die Bühne kam, konnte sich George nicht zurückhalten und flüsterte Sally zu: »Das ist für mich wie zu Hause. Bartok ist Ungar, und Rossi ist ein Kommilitone. Er und ich gehören zum selben Harvard-Jahrgang.«
»Kennst du ihn persönlich?« fragte sie sehr beeindruckt. »Wir haben beide im Eliot-Haus gewohnt«, erwiderte George ausweichend.
»Ach, das ist aufregend. Können wir nach dem Konzert nicht ins Künstlerzimmer und ihn begrüßen!«
»Ach - nein, ich glaube, das sollten wir nicht tun«, nahm er sich so höflich wie möglich zurück. »Weißt du, Danny ist nach den Auftritten immer sehr erschöpft. Ein andermal vielleicht.«

Im Jahr 1964 schien die sonst gesetzte Atmosphäre im >Raum 5600< wie elektrisiert, als Nelson Rockefeller die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten anstrebte. Kissinger war so oft da, daß George sich fragte, ob er seine Vorlesungen überhaupt noch hielt. Nominell war Henry als außenpolitischer Berater im Stab Rockefellers. Aber er delegierte die Entwürfe der Positionspapiere an George, während er selbst sich im innersten Heiligtum verkroch und mit Rocky die Strategie der Wahlkampagne diskutierte.
George fuhr mit der Begleitung Rockefellers nach San Francisco zum Parteikonvent der Republikaner. Und als ihr Arbeitgeber die Nominierung gegen Barry Goldwater verlor, blieb er sogar noch und half Kissinger, für die Partei die Grundzüge der Außenpolitik auszuarbeiten. In der Wahlnacht selbst standen George und Henry in der Ecke eines Ballsaales und sahen, wie jedes neu übermittelte Wahlergebnis die verheerende Niederlage des republikanischen Kandidaten zugunsten Lyndon Johnsons vergrößerte. »Also, das ist wohl das Ende des Lieds, Henry.«
»Keineswegs, George, keineswegs.« »Wie meinst du das? Wir werden beinahe zwei zu eins geschlagen.«
»Wir nicht«, erwiderte Kissinger. »Nur Senator Goldwater. Denk daran, auch die Demokraten werden den Rat von Experten brauchen.«
Bei sich dachte George, sein alter Lehrer würde nur so tapfer tun. Kissinger würde genauso in seinen Hörsaal zurückkehren müssen wie er in den >Raum 5000<.
Drei Jahre später aber, als Lyndon Johnson hilflos im bösartigen Sumpf des Vietnamkrieges steckte, meldete sich ein untersetzter, bebrillter Harvard-Professor für Politikwissenschaften im Büro des Verteidigungsministers Robert McNamara. Der Akademiker bot an, durch französische Kanäle Geheimbotschaften an den nordvietnamesischen Führer Ho Chi Minh zu übermitteln. Das Pentagon war beeindruckt. Und so machte man ihn zur Überraschung vieler, aber gewiß nicht zur Überraschung des Professors selbst, zum geheimen Unterhändler.
Natürlich zog George dann doch seine Schlüsse über das Spiel, das der Meisterstratege da spielte, und zwar aus den beiläufigen Bemerkungen Kissingers während ihrer Gespräche. Als sie einmal über Essen plauderten, sagte Henry: »Neulich abend habe ich ganz vorzügliche Coqiulles bei >Prunier< gegessen.« »Wo ist das?« fragte George. »Ach, in Paris«, antwortete er obenhin. »Ich war für ein
paar Stunden drüben um ... einen Vortrag zu halten.«
George versuchte seine Schlüsse daraus zu ziehen. Offensichtlich war Kissinger in irgendwelche Geheimverhandlungen der amerikanischen Regierung involviert. Aber er konnte dennoch nicht begreifen, warum sich eine demokratische Regierung dazu eines relativ unbekannten Professors bediente, der in der letzten Präsidentschaftswahl sogar gegen sie gearbeitet hatte. Besaßen sie denn keine eigenen Kontakte? Warum ausgerechnet Henry?
Als Kissingers Rolle schließlich in der Öffentlichkeit bekannt wurde, wagte es George, ihn zu fragen, was ihn veranlaßt hatte anzunehmen, daß man sein kühnes Angebot ernst nehmen würde.
»Ich könnte einfach mit einem Zitat aus Clausewitz: >Über den Krieg< antworten. Aber wenn du die ungeschminkte Wahrheit wissen willst: Ich dachte, ich versuche es einfach mal. Es gab nur zwei mögliche Antworten. Ich hatte also eine Chance von fünfzig zu fünfzig«, erwiderte Henry.
»Ach«, sagte George Keller in einsilbigem Staunen und dachte, dieser Mann ist ein Genie.

In direktem Gegensatz zur raffinierten Realpolitik von Georges Gönner stand die naive Sentimentalität seines ersten Mitbewohners in Harvard. Beim Mittagessen erbat Andrew von George oft die Diagnose der Krankheit, von der die Nation befallen war. Im Juli 1968 war er völlig verzweifelt. »George, was geschieht nur mit diesem Land? Hat uns denn der Krieg völlig den Verstand geraubt? Warum bringen wir uns nur gegenseitig um? Es ist noch keine zwei Monate her, da wurde Martin Luther King erschossen - und jetzt Bobby Kennedy. Kannst du mir diesen Wahnsinn erklären?«
George erwiderte mit kühler akademischer Überlegenheit: »Ich glaube, das alles sind sichere Anzeichen dafür, daß die Republikaner im November gewinnen werden.«
Was immer Kissinger auf diesen geheimen Reisen nach Paris auch tat, es war offensichtlich nicht genug. Die Situation in Vietnam verschlechterte sich. Unter den Opfern dieses Krieges war Präsident Lyndon Johnson selbst, der, durch die Übermacht der Proteste ausgelaugt, sich nicht noch einmal zur Wahl stellte und dadurch die Bombenangriffe einem noch nicht angeschlagenen und weniger herzkranken Präsidenten überließ.
Johnson übergab die Präsidentschaft Richard Nixon Dieser listige Politiker hatte den Rat brillanter Strategen wie Kissinger und seines jungen Assistenten Keller nicht nötig. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, das einfache Versprechen, den Krieg zu beenden, würde ihn in das Amt des Präsidenten tragen. Und so war es auch.
Und es trug George aus dem Rockefelier Center. Sein Bedauern darüber, nun nicht mehr allmorgendlich die Renoirs und van Goghs zu sehen, wurde ein wenig gelindert durch die Tatsache, daß sein neuer Arbeitsplatz zwar etwas eng und ungelüftet, aber gut gelegen war, nämlich im Keller des Weißen Hauses, fünfzig Meter entfernt von Henry Kissinger, dem Sicherheitsberater des Präsidenten.

Broadway-Musicals sind niemals besser als am ersten Probentag. Das ist der Moment, in dem die Autoren selbst das Stück vorlesen und die Texte in ihrer frischen, unverfälschten Fassung singen.
Als Stuart und Danny mit ihrem Doppelauftritt fertig waren, klatschte das Ensemble begeistert. Der Regisseur, Sir John Chalcott, erhob sich und machte ein paar eröffnende Bemerkungen. »Ich meine, wir alle hier wissen, daß wir gerade ein fabelhaftes Stück gehört haben. Es ist unsere Pflicht, daß wir als Profis den Intentionen der Autoren gerecht werden. Alle unsere Bemühungen werden in den nächsten sechs Wochen dieses Ziel vor Augen haben!«
Höflicher Applaus.
Da stand Zero Mostel auf. »Das ist nicht der übliche Broadway-Mist. Ich bin ehrlich davon überzeugt, James Joyce hätte anerkannt, was Stuart und Danny gemacht haben. Und Freunde, ihr könnt sicher sein, wir werden uns für euch die Beine ausreißen.«
Wieder Applaus.
Sir John wandte sich an die weibliche Hauptdarstellerin: »Miss Hamilton, möchten Sie nicht auch etwas sagen?« Das tat sie. Um dem Regisseur die Ehre zu geben, bemerkte sie mit einem Akzent, den sie für britisches Englisch hielt: »Kann mir Mr. Kingsley oder der gefeierte Mr. Rossi erklären, warum man Mr. Mostel die Schlußnummer zu singen gegeben hat?« Das hatte Sir John bestimmt nicht erwartet. Aber das Ensemble war in keiner Weise überrascht und wartete nun auf die Erklärung der Autoren.
Danny stand vom Flügel auf und ging zu dem Tisch, um den das Ensemble saß. »Also, Miss Hamilton, das entspricht genau unserem Plan. Stuart und ich wollen das Thema von Joyce hervorheben, wonach Stephan nach seinem verlorenen Vater und Bloom nach seinem toten Sohn sucht. Wir finden, daß die eigentliche emotionale Beziehung zwischen ihnen beiden besteht.«
»Aber Mr. Rossi, der Roman endet schließlich mit dem inneren Monolog von Molly. Warum verstümmeln Sie einen Klassiker, und zwar nur, wie ich annehme, wegen Mr. Zeros Eitelkeit?«
Bevor Danny antworten konnte, kommentierte die männliche Hauptrolle lakonisch: »Bockmist.«
In einem Akzent, der noch aristokratischer war als schon zuvor, wandte sich Miss Hamilton an ihren Star-Kollegen und sagte streng: »Mr. Mostel, diese vulgäre Sprache gehört sich nicht für einen Professionellen, der Sie doch sein möchten.«
Worauf Zero schlicht erwiderte: »Bockmist.«
Wieder erhob sich Sir John Chalcott: »Miss Hamilton, meine Damen und Herren, wir alle hier kennen das Meisterwerk von Joyce. Und eben deshalb müssen wir anerkennen, wie genial unsere Autoren dessen Essenz verarbeitet haben. Und schließlich haben Sie, Miss Hamilton, selbst in der vorletzten Szene mit >Rosen und Feuer und Sonnenuntergang< die musikalische Version des Monologs zu singen. Ich meine, die kleine Veränderung, das Duett von Zero an den Schluß zu stellen, ist bühnenwirksamer. Man könnte es auch
als künstlerische Freiheit bezeichnen.« »Ich finde aber doch, ich sollte, kurz bevor der Vorhang fällt, eine Reprise singen«, erwiderte sie. »Denn weshalb strömen denn die Zuschauer in die Aufführung? Doch um Theora Hamilton zu sehen.«
Worauf Zero Mostel antwortete: »Nein, wegen Zero Mostel.«

Die First Lady des amerikanischen Musicals wandte sich wieder an ihren Star-Kollegen und sagte mit einem ganz und gar nicht englischen Akzent: »Bockmist.«
Die Proben hatten begonnen.

Sechs Wochen später, bevor man nach Boston aufbrach, wurde das Stück einmal ganz durchgespielt. Edgar Waldorf berichtete danach, die eingeladenen Künstler hätten alle das Stück gelobt. Einige hatten sogar gestanden, sie seien von dem schönen Duett am Ende des Stückes zu Tränen gerührt gewesen. Danny und Stuart umarmten sich herzlich. »Denk doch«, schwärmte der Dichter, »wir werden unseren Triumphzug im Schatten des Harvard Yard beginnen. Gibt das der Sache nicht noch etwas Besonderes?«
»Ja, das stimmt.«
»Maria und du, wollt ihr nicht mit Nina und mir per Zug hinfahren? Wir könnten uns gegenseitig Mut machen.« »Danke, aber das wird nicht gehen. Maria bleibt in Philadelphia. Sie ist bei solchen Sachen zu nervös. Ich fahre über das Wochenende nach Hause, dirigiere zwei Konzerte und fliege am Sonntagabend nach Boston. Wir können dann in meiner Suite im Ritz zusammen etwas trinken.«
»Sehr schön. Danny, ich weiß, ich habe das schon mal gesagt, aber wie Hamlet sagt, ich möchte es in die Tafeln deines Gedächtnisses eingraben. Ich werde dir ewig dankbar sein, daß du mich zu deinem Mitarbeiter gemacht hast.« »Stuart, du bist außerordentlich begabt.«
»Aber Danny, du hättest jeden Librettisten haben können aber du hast es mit jemandem versucht, der noch überhaupt nichts vorzuweisen hatte. Du sollst nur wissen, ich werde deine Großzügigkeit nie vergessen.« »Hör mal, jetzt bin ich aber dran. Die ganze Sache hat viel Freude gemacht. Wir sind nicht mehr nur Partner, wir sind fast Brüder geworden.«

Es ist eine unumstößliche Regel am Theater, daß Musicals niemals geschrieben werden. Sie werden umgeschrieben. »Dafür sind Städte wie New Haven und Boston da«, erklärte Edgar. »Die Bostoner sind zwar genauso anspruchsvoll wie die New Yorker - aber sie sind toleranter. Sie begreifen, daß wir da sind, um zu kürzen, zu trimmen und zu polieren. Sogar die Kritiker geben einem manchmal ein paar brauchbare Tips.«
»Wenn aber ein Stück perfekt ist?« fragte Stuart ironisch. »Dann machen wir es eben noch perfekter. Sogar >My Fair Lady< hat alle seine Edelsteine unterwegs aufpoliert. Und ich will euch eines sagen, meine Lieben, diese Show ist tausendmal besser.«
>Manhattan-Odyssee< hatte in Boston am 12. Februar 1968 Premiere. Die ersten Besprechungen waren nicht so überschwenglich, wie Edgar Waldorf vorausgesagt hatte. Eigentlich waren sie nicht besonders gut. Um genauer zu sein, sie waren verheerend.
Der >Boston Globe< hatte als einzigen nützlichen Tip anzubieten: »Diese komplette Katastrophe sollte schnellstens die Zelte abbrechen und sich im Schutz der Dunkelheit davonstehlen.« Der Kritiker fand den Text prätentiös und die Musik unangemessen. Die anderen Zeitungen waren sogar noch geringschätziger.
Danny war tief erschrocken. Das waren die ersten feindlichen Kritiken, die er bekommen hatte, seit der >Crimson< sein Ballett >Arcadia< in die Pfanne gehauen hatte. Als sie von der katastrophalen Reaktion hörte, bot Maria ihm an, zu kommen und ihm beizustehen. »Nein«, sagte er ihr am Telefon, »wir werden jetzt Tag und Nacht arbeiten müssen. Du bleibst besser außerhalb des Kampfgebietes.«
»Danny«, versicherte sie ihm, »das ist schon mit vielen Stücken außerhalb New Yorks passiert. Du hast noch viel Zeit, alles in Ordnung zu bringen.« »Ja, ja, außerdem halte ich die Kritiker in Boston für etwas versnobt. Ich warte darauf, was >Variety< zu sagen hat. Das ist
die einzige Zeitschrift, der ich glaube.«

>Variety<, die anerkannte Zeitschrift der Welt des Show-Geschäfts, sagte die unverhüllte Wahrheit in dem ihr eigenen Stil. Und schon die Überschrift »Kein Grund zur Freude« bewies, es war ein kompletter Verriß. Schnell überflog Danny die negativen Bemerkungen über Stuarts Libretto, über Sir Johns Regie und über das heldenhafte Bemühen der Stars den schwächlichen Stoff zu überspielen, und kam dann zu dem Absatz, der sich seiner eigenen Arbeit widmete. »Was die Vertonung angeht, so ist Rossi ganz klar nicht in seinem Element. Er scheint Geräusche, aber keine Melodien komponiert zu haben. Sein Zeugs läßt sich überhaupt nicht mitsingen. Er scheint gegen Melodien allergisch zu sein, was in seiner langhaarigen Umgebung schick sein mag, was den durchschnittlichen Theaterbesucher aber kaum zu Begeisterungsstürmen veranlassen wird. Kurz gesagt: An >Manhattan-Odyssee< wird noch gearbeitet werden müssen, wenn das Stück auf der Bühne bleiben soll.«
Da saß er in der stillen Pracht seiner Suite im Ritz und unfähig, seinen Augen zu trauen, las er immer wieder die Kritik. Warum waren die Kritiker so bösartig? Es war die beste Musik, die er je komponiert hatte, zumindest bis zu diesem Augenblick, das wußte er.
Es klopfte. Er blickte auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht. Aber wie ihm seine New Yorker Freunde oft versichert hatten, wenn ein Stück außerhalb New Yorks ausprobiert wird, geht es zu wie in einer Gebärklinik. Tag und Nacht gibt es nicht.
Sein nächtlicher Besucher war Edgar Waldorf, der gar nicht mehr so überschwengliche Produzent. »Habe ich Sie aufgeweckt, Dan?«
»Nein, ich war gerade im Begriff, aus dem Fenster zu springen.«
»Dann haben Sie >Variety< gesehen?«
»Ja.. .«
Edgar warf sich auf ein Sofa und seufzte theatralisch. »Dan, Sie wissen also, wir haben Probleme.« »Edgar, mir ist klar, daß wir Probleme haben. Aber deshalb gibt es doch die Probeaufführungen außerhalb New Yorks.« »Stuart muß ausgetauscht werden«, erwiderte er schnell. »Ich weiß, er ist begabt, riesig begabt. Aber er hat zuwenig Erfahrung. Er hat noch nie unter solchem Druck gearbeitet.« Danny wußte nicht, wie reagieren. Sein Freund und Mitstudent — ein guter und intelligenter Schriftsteller wurde einfach so gefeuert.
Er war eine Weile tief in Gedanken, dann sagte er leise: »Er ist sensibel, das bringt ihn um ...«
»Nein«, sagte der Produzent, »er ist schließlich schon wer, er wird überleben und weiterschreiben, Und wenn wir die Show retten, dann bezieht er genügend Tantiemen, um gut zu leben. Aber wir müssen hier und jetzt einen Arzt finden — jemanden, der gut, komisch und schnell schreiben kann.« »Hm, an wen denken Sie?« fragte Danny und fürchtete schon um Stuarts elegante Dialoge. »Meine Frau ruft in New York an und versucht jemanden zu finden.«
»Aber Stuarts Texte für die Liednummern bleiben doch ...«
»Auch daran müssen wir weiß Gott noch arbeiten«, bemerkte Edgar mit einem deutlich verlegenen Ton in der Stimme. Dann fügte er schnell hinzu: »Stuart ist wieder in New York. Ich will ihn auch nicht mehr für die Liedtexte.« »Verdammt noch mal. Edgar, das mindeste, wofür Sie hätten sorgen können, ist, daß ich es ihm sage! Sie sind ganz schön brutal.« »Nicht ich bin brutal, Dan, das Geschäft ist es. Am Broadway gibt es nur Absaufen oder Oben-Bleiben, ein einziger Abend oder zehn Jahre Spielzeit. Es ist nichts anderes als ein verdammter Krieg zwischen den Künstlern und der >New YorkTimes<!« »Schon gut, schon gut, ich verstehe«, beruhigte ihn Danny.
»Aber mit wem soll ich denn an den Texten arbeiten?«
Edgar holte jetzt besonders tief Luft, als wäre die Hotelsuite zu einem einzigen Sauerstoffzelt geworden. Er wand sich, griff sich ans Herz und sagte in dem mildesten Ton, über den er verfügte: »Daniel, wir müssen auch über die Musik sprechen.« »Was ist damit?«
»Sie ist fantastisch, sensationell, brillant. Nur ist sie vielleicht ein wenig zu brillant.« »Was soll das heißen?« »Na ja, es ist nicht jedermanns Sache, die Qualität der Musik zu begreifen. Ich meine, Sie haben doch die Kritiken gelesen, oder?«
Nein, dachte Danny Rossi, das kann nicht wahr sein. Er will doch nicht etwa auch mich feuern!
»Wir brauchen ein paar Lieder«, erklärte Edgar, »wissen Sie? So Melodien.«
»Ich habe >Variety< gelesen. Ich werde das Ding vereinfachen. Ich werde eingängige Melodien komponieren.« Panik hatte ihn erfaßt und seine Stimme klang unwillkürlich flehentlich.
»Danny, Sie sind Komponist von klassischer Musik. Weiß der Himmel, vielleicht sind Sie ein moderner Mozart!« Er griff das matte Kompliment auf, um es als Waffe zum eigenen Überleben zu benutzen. »Das ist es ja gerade, Edgar. Mozart konnte in jedem Stil schreiben - vom Requiem bis zum Schlager.« »Ja, schon«, erwiderte der Produzent, »aber er ist nicht verfügbar. Und hören Sie, mein Guter, Sie brauchen auch Hilfe.«
Es gab eine schreckliche Pause. Was würde der Dummkopf ihm vorschlagen?
»Bitte verstehen Sie doch, das alles ist nicht persönlich gemeint, Dan. Es geht nur um unser Stück. Wir müssen das tun, um das Stück zu retten.« »Was tun, verdammt noch mal?« »Haben Sie schon mal etwas von Leon Tashkenian gehört?« Das hatte Danny in der Tat, zu seinem unaussprechlichen Kummer. Ein Nichtskönner der billigsten Sorte! »Der komponiert Scheiße, Edgar, reine, unverfälschte
Scheiße.« »Mir ist es völlig egal, wie Sie es nennen«, erwiderte Edgar. »Leon hat, was wir brauchen. Verstehen Sie? Können Sie mit
Ihrem strahlenden Selbstbewußtsein denn überhaupt die Realität begreifen? So wie ein Acker Jauche braucht, so braucht unsere Show eben diese Scheiße!«
Daniel Rossi erstickte fast vor Wut und Erniedrigung. »Edgar, ich kenne meine Rechte als Autor. Ohne meine Einwilligung können Sie keinen anderen Komponisten hinzuziehen. Und ich verweigere hiermit meine Zustimmung.«
»Okay, Mr. Rossi«, sagte Waldorf' ruhig, »auch ich kenne meine Rechte. Dieses Stück stinkt. Ihre Musik ist saumäßig. Die Leute finden es gräßlich. Wenn Sie also Herrn Leon Tashkenian nicht wollen, gibt es nur eine Alternative. Sie können in Boston verrecken und sich in Ihrem geliebten Harvard Yard begraben lassen. Denn wenn Sie sagen, >nein, Leon<, dann gehe ich sofort zum Theater hinüber und mache der Sache ein Ende.«
Edgar stürmte melodramatisch beleidigt aus dem Zimmer und wußte, daß Danny bereits geschlagen war. Er ging direkt zum Telephon in der Hotelhalle und rief Leon Tashkenian an, der schon seit dem frühen Morgen in seiner Suite des Statler Hotels an der Arbeit war. Danny schluckte ein Beruhigungsmittel, das keine Wirkung zu haben schien. Dann suchte er Trost, wo immer er zu finden war. Zuerst sein Agent, Harvey Madison, der seinen Anruf schon erwartet hatte. Er versicherte seinem verehrten Klienten sofort, daß während einer langen Auseinandersetzung mit Edgar Waldorf am selben Abend die Integrität Dannys in jeder Beziehung gewahrt worden war. Leon Tashkenian würde nirgendwo als Komponist genannt werden.
»Hören Sie, Dan«, gab Harvey zu bedenken, »so ist es doch mit allen Broadway-Shows. Sie sind zusammengestückelt aus einem Dutzend verschiedener Knüller, die von einem Dutzend verschiedener Leute stammen. Und wenn man besonders großes Glück hat, dann entscheidet ein Kritiker, es sei jetzt Seide und kein Klopapier mehr.«
Danny schäumte, daß er so hintergangen worden war. »Harvey, Sie haben nicht den geringsten Anstand!« schrie er.
»Danny, wachen Sie endlich auf. Beim Theater kommt man mit Anstand nicht sehr weit. Hören Sie auf, den Naiven zu spielen, und seien Sie dankbar, daß Tashkenian damit einverstanden ist, Ihr Ghostwriter zu sein. Wir müssen darüber reden. Sobald das neue Material hier ist, fliege ich nach Boston, dann essen wir zusammen und sprechen uns mal aus.
Locker bleiben ...«
Danny warf den Hörer hin und wollte sich betrinken, doch dann fiel ihm plötzlich ein, daß er bei aller seiner moralischen Empörung den ihm so ergebenen Stuart Kingsley vergessen hatte, den man jetzt brutal in die Wüste geschickt hatte. Er rief in New York an. Nina sagte, ihr Mann könne nicht ans Telefon kommen. »Danny, Sie sind ein rücksichtsloser, kaltherziger Hund«, zischte sie. »Gibt es irgendwen oder
irgend etwas, was Sie respektieren? Er dachte, Sie seien sein Freund, und weiß Gott, er hätte sich hinter Sie gestellt— « »Nina...«
»Ich hoffe, das Stück geht den Bach hinunter und ihr alle mit. Da gehört ihr hin.«
»Bitte, Nina, lassen Sie mich mit Stuart sprechen. Bitte.«
Eine kurze Pause entstand. Dann erwiderte sie mit unterdrückter Wut: »Er ist in Hartford, Danny.« »Was macht er denn da...?« Bevor er den Satz beenden konnte, dämmerte es ihm. »Meinen Sie das Sanatorium?« »Ja.« »Was ist denn passiert?« »Er ist von einem Freund rücklings gemeuchelt worden.« »Ich meine, was hat er gemacht?« »Er hat mit einer Flasche Whisky ein paar Dutzend Pillen heruntergespült. Glücklicherweise kam ich früh nach Hause...«
»Gott sei Dank. Nina, ich ...«
»Ach, trösten Sie sich, Daniel. Die Ärzte sind sich über seinen Fall im klaren ...« »Gut«, sagte Danny und war wirklich erleichtert. »Sie meinen, das nächste Mal wird er wahrscheinlich Erfolg haben.«

Das Schicksal war ihm gnädig - Danny mußte Boston für ein paar Tage verlassen. Nachdem er zwei Konzerte in Los Angeles dirigiert hatte, flog er sofort nach New York, wo er um sechs Uhr früh eintraf, etwas schlief, zwei >Allegro Vivace< schluckte und drei Stunden lang probte. Am selben Abend spielte er Schönbergs schwieriges Klavierkonzert und bekam so großen Applaus, daß er eine Zugabe geben mußte. Danny wählte als starken Kontrast Mozarts Variationen in C-Dur (KV 265), auch bekannt als >Twinkle, Twinkle, Little Star< - Boston lag ihm also durchaus auf der Seele.
Fünfundzwanzig vor eins kam er schließlich nach Boston zurück. Als er die Suite im Ritz betrat, klingelte das Telefon. »Ja?« sagte er und seufzte müde. »Willkommen zu Hause, Danny. Sind Sie frei?« fragte Edgar.
»Hören Sie, ich bin hundemüde. Können wir es nicht auf morgen vertagen?« »Nein, wir haben für elf Uhr eine Probe angesetzt, und ich
möchte die Stimmen kopieren lassen.« »Welche Stimmen?« »Leons neues Material. Können wir raufkommen?«
Nein, das nicht auch noch, mußte er tatsächlich seinem Schicksal in Person begegnen? »Sie brauchen mein Einverständnis nicht mehr, Edgar.
Ich habe bereits kapituliert. Auch ohne es zu hören, weiß ich, es ist schrecklich ...«
»Dann lassen Sie Leon es vorspielen, vielleicht ändern Sie Ihre Meinung doch noch. Vielleicht haben Sie auch noch ein paar Vorschläge zu machen.«
Daniel Rossi hatte längst begriffen. Er kannte schon jetzt das Ergebnis. Obwohl er sein Vetorecht gegen die zusätzliche Musik von Leon Tashkenian aufgegeben hatte, war ihm noch eine Möglichkeit geblieben, auch wenn das eigentlich nur eine leere Geste war. Dem Vertrag nach konnte er immer noch seinen Namen zurückziehen. Und das war dann schon etwas, denn verlieh sein Name der Show nicht erst ihren Rang? Würde sein Name als ernsthafter Musiker bei dem Scharfrichter der >New York Times< nicht für etwas Respekt gut sein? Edgar würde schon noch kämpfen müssen.
»Also gut. Aber so kurz es eben geht.« »Es wird ein Ein-Minuten-Walzer«, platzte Edgar heraus und legte sofort auf. Danny hatte gerade Zeit, ein >Allegro< zu schlucken, dann hörte er Klopfen. Er öffnete nervös die Tür. Da stand ein groteskes Paar: der elegante, melonenförmige Edgar Waldorf und ein junger, gebräunter Mann mit Brillantine im Haar, in schwarzen Samt gekleidet und mit einem weißen Hemd, dessen Kragen weit genug geöffnet war, um einen ungehinderten Blick auf ein goldenes Medaillon zu werfen, das in maskulinem Brusthaar ruhte.
»Tag«, lächelte Leon Tashkenian und streckte die Hand aus. »Bollinger«, sagte Edgar Waldorf und hob eine Magnum-Flasche Champagner hoch.
Danny sagte nichts. Nur keine Munition verschwenden bei einer Belagerung. Als die zwei ins Zimmer traten, erschien plötzlich ein Kellner hinter ihnen mit einem Tablett und drei gekühlten Gläsern. Er nahm die Flasche, entkorkte sie und füllte die Gläser.
»Sie haben heute abend wirklich fabelhaft gespielt«, bemerkte Tashkenian. »Danke«, murmelte Danny sarkastisch und empfand das
als typische Showgeschäftscheiße. »Waren Sie heute in New York?« »Nein. Aber Ihr Konzert wurde live übertragen.« »Ach so.«
»Lassen Sie uns etwas trinken«, unterbrach Edgar, gab den Komponisten die Champagnergläser in die Hand, und dann hob er seinen eigenen Kelch zu einem gefühlvollen Toast: »Auf unsere Show.« Leon hob das Glas, trank aber nicht.
Danny trank es in einem Zug aus und setzte sich. »Okay, lassen Sie mich sehen, was Sie gemacht haben«, sagte er und griff nach Tashkenians Papierbündel. »Lassen Sie ihn vorspielen«, bestand Edgar. »Ich kann Noten lesen«, sagte Danny bissig. »Das würde ich von einem Harvard-Absolventen auch erwarten, Daniel«, erwiderte Edgar. »Aber unglücklicherweise habe ich nicht eine solche Erziehung genossen. Außerdem mag ich es, wenn Leon vorspielt. Also komm, Leon, leg los«, und an Danny gewandt leitartikelte er: »Es ist fa-bel-
haft! Fa-bel-haft!«
Bumm, bamm, bumm, bumm, bamm — Leon spielte wie ein wahnsinnig gewordener Holzhacker, der sich heftig mühte, einen Steinway zu fällen. Danny hob die Hand. »Okay, ich habe genug gehört.« »Warten Sie«, protestierte Edgar, »er spielt sich doch erst ein.«
Danny ergab sich in sein Schicksal und füllte sein Glas nach. Allmählich konnte man in dem Gedonner ein paar Töne erkennen. Die Tonika, die kleine Terz, die Sekunde, die Septdominante — hatte er etwas Besseres erwartet als völlig abgedroschene Akkordfolgen aus der Popmusik? Es hatte in Dannys Leben Augenblicke gegeben, da hatte er davon geträumt, ein Beethoven zu werden. Jetzt sehnte er sich nur noch danach, taub zu sein. Denn neben seinen vielen Talenten hatte Leon Tashkenian auch noch die Stimme einer Hyäne.
Dann und wann konnte Danny ein paar Worte des Textes verstehen. Da war etwas mit >Sterne<, und vermutlich würde der Reim >gerne< gleich folgen. So war es auch, ebenso wie >weinen< auf >scheinen< folgte. Kurz vor einem stimmlichen Orgasmus stehend, krächzte Leon das Wort >Triebe<, komponiert mit einer E-Dur-Septime. Das Ende war nah und so genau vorhersagbar, daß Danny sich sehr zusammennehmen mußte, um nicht das unausweichliche abschließende Wörtchen >Liebe< zu stöhnen.
Zu diesem Zeitpunkt tanzte Edgar durchs Zimmer. Er stürzte auf Tashkenian zu, küßte ihn auf die Wange und verkündete: »Er mag es, Danny mag es!« Schwitzend und nach Atem ringend, sah Leon den Großen der modernen Musik an. »Was sagen Sie, Mister Rossi?« fragte er wie ein nervöser Anfänger. »Leon, das Wort Scheiße erhält hier eine neue Dimension.« »Er scherzt, er scherzt«, lachte Edgar nervös. »Das tut er nicht«, sagte der junge Mann am Flügel ruhig, aber weit weniger schüchtern als bisher. Dann wandte er sich
an Danny und fragte: »Dürfte ich Sie um eine etwas genauere Kritik bitten?«
»Um genau zu sein, Leon, ich habe etwas gegen das Klischee von eins-sechs-vier-fünf-eins.«
»Sie sind es, der ein Klischee daraus macht, Mister Rossi«, erwiderte Leon. »Richard Rogers hat es in >Blue Moon< sehr schön eingesetzt.« »Sie sind aber nicht Richard Rogers - und diese geistlose Notenfolge ist keine Musik.«
Tashkenian war jung, wußte aber, was er wert war, und das besonders in diesem Augenblick. Nach dieser letzten geballten Ladung von Beleidigungen war er dem Meister keine Achtung mehr schuldig.
»Hören Sie, Rossi, ich habe etwas Besseres zu tun, als mich von einem aufgeblasenen, überschätzten Arschloch, wie Sie es sind, beschimpfen zu lassen. Ich weiß durchaus, daß meine Akkorde bekannt sind. Aber so ist das eben. Bei solchen Klischees meinen die Leute, das hätten sie schon einmal gehört. Sie erinnern sich schon halb daran, bevor sie es hören. Und das heißt, sie können es während der Pause vor sich hin summen. Und das ist es, was beim Musical den Erfolg ausmacht. Und gegen Erfolg haben Sie doch sicher nichts?« Hier sah sich Edgar Waldorf angerufen, den Star zu verteidigen, der seine Show mit Licht, wenn nicht gar Hitze versehen hatte.
»Mr. Rossi ist einer der größten Komponisten der Gegenwart«, sagte er.
Aber Tashkenian war schon zu weit gegangen, um wieder umkehren zu können. »Der was?« feixte er und wandte sich wieder an Danny: »Sie taugen auch in der ernsten Musik nicht viel. An der Juillard-Musikhochschule haben wir den letzten Satz Ihres Pseudo-Strawinsky-Balletts >Savanarola< studiert - als ein Beispiel unbeholfener Orchestrierung. Sie sind nichts als ein Hochstapler.« So plötzlich, wie er begonnen hatte, hielt Leon ein, entsetzt darüber, was er sich da zu sagen erdreistet hatte. Danny brachte kein Wort heraus, denn einige Körner Wahrheit des wüsten Schrotschusses von Leon hatten getroffen. Sie standen nur da und starrten sich an, beide voller Angst davor, wer von ihnen als nächster explodieren würde.
Merkwürdigerweise war es Leon Tashkenian. Er begann zu weinen, holte ein Taschentuch heraus, wischte sich die Augen und sagte dann ruhig: »Entschuldigen Sie, Mr. Rossi, ich habe die Nerven verloren.«
Danny wußte nicht, wie darauf antworten.
»Kommen Sie«, bat Edgar, »er hat gesagt, es täte ihm leid.« »Ich habe es wirklich nicht so gemeint«, fügte Tashkenian demütig hinzu.
Danny begriff, daß er nur durch Großherzigkeit sein Gesicht wahren konnte. »Ist schon gut, Leon. Wir müssen uns jetzt um die Show hier kümmern.«
Wie ein Phönix erhob sich Edgar Waldorf vom Sofa seiner Verzweiflung. »Mein Gott, wie ich euch liebe. Ihr seid zwei wunderbare Menschen.«
Durch ein Wunder konnten beide Männer sich seiner leidenschaftlichen Umarmung entziehen. Dann nahm er Leons Notenblätter und gab sie Danny. »Hier, und jetzt buttern Sie das noch etwas klassisch auf.«
»Wie bitte?«
»Sie müssen die Melodie morgen früh dem Ensemble vorspielen.«
Welche neue Erniedrigung war das jetzt wieder? Mußte er wirklich Leons musikalische Fäkalien >aufbuttern<, und der Schmierer da sah dem allem mit stolzgeschwellter Brust zu? »Warum soll ich das vorspielen?«
»Weil es von Ihnen sein muß, Danny.« »Von Leon weiß niemand etwas?« Edgar schüttelte nachdrücklich den Kopf: »Und niemand
wird etwas davon erfahren.« Danny war sprachlos. Er wandte sich an den jungen Mann, dessen Augen noch immer tränengerötet waren, und fragte: »Sie wollen wirklich überhaupt nicht genannt werden?« Leon lächelte scheu. »So ist das in diesem Geschäft, Mr. Rossi. Sie würden für mich sicher dasselbe tun.«
»Sie summen die Melodien nach? Hören Sie mich, Danny? Sie summen wirklich!« Edgar Waldorf telefonierte aus dem Büro des Managers vom Schubert-Theater aus. Es war die erste Pause der Aufführung, nachdem Leons Nummern in das Stück eingefügt worden waren. Man hatte sogar noch eine Reprise von >The Stars Are Not Enough< eingebaut, die Theora Hamilton jetzt sang, bevor der Vorhang fiel. Sir John Chalcott, der damit gedroht hatte zurückzutreten, falls man diese Änderung vornähme, saß in diesem Augenblick im Flugzeug nach London.
Danny hatte es nicht über sich gebracht, ins Theater zu gehen, aus Furcht vor - er wußte nicht, wovor. Davor, daß die neuen Lieder kein Erfolg werden würden? Oder, was noch schlimmer wäre, daß sie ein Erfolg würden?
»Und Danny«, fuhr Edgar begeistert fort, »ich rieche den Erfolg. Wir sind auf dem Weg zum Erfolg! Glauben Sie Edgar Waldorf, wir haben einen Riesenhit!«

Gegen Mitternacht klopfte es gefühlvoll an der Tür seines Holelzimmers. Es war die berühmte und bis dahin kühl distanzierte weibliche Hauptrolle. Miss Theora Hamilton hatte eine Flasche Soda des Showgeschäfts, sonst als Champagner bekannt, bei sich. »Mr. Rossi«, gurrte sie, »ich komme, um auf das Wohl eines Genies zu trinken. Das neue Lied, das Sie für mich geschrieben haben, ist ein Klassiker. Ich sah Tränen in den Augen der Zuschauer, als der Vorhang fiel.«
Danny hatte nie viel auf ihre Meinung gegeben, aber er war immer recht interessiert an ihren Brüsten gewesen. Er war erfreut, daß sie sie mitgebracht hatte. »Also, darf ich hereinkommen, oder müssen wir das hier auf dem Flur trinken?« »Madame«, sagte Danny und verbeugte sich ritterlich, »je vous enprie«.
Und so segelte die legendäre Theora herein. Erst die Flasche, dann die Brüste, und dann das leidenschaftliche Herz, das dahinter verborgen war. Und dies alles gehörte ihm in dieser Nacht.
Musik kann bezaubern, selbst wenn sie von Leon Tashkenian ist.

Am Abend der New Yorker Premiere hatte Danny von seinem Fahrer Maria direkt von Philadelphia zum Theater bringen lassen. Während sie in der Aufführung saß, gingen Danny und Edgar nervös in der leeren Lobby auf und ab. Jedesmal, wenn sie Gelächter oder Applaus hörten, wechselten sie Blicke und murmelten so etwas wie: »Glauben Sie, es kommt an?«
Während der Fahrt zur Premierenfeier fragte Danny besorgt, was Maria davon hielt. »Na ja, offen gestanden war die ursprüngliche Fassung mehr nach meinem Geschmack. Aber den Leuten hat es anscheinend gefallen, und ich denke, das ist am wichtigsten.«
»Nein, nur was die Kritiker denken, zählt.«
»Ich habe überall herumgesehen«, sagte sie, »aber ich habe Stuart und Nina nirgends entdecken können.« »Sie waren beide zu nervös«, improvisierte Danny, »ich glaube auch nicht, daß sie zum Empfang kommen. Sie sitzen wahrscheinlich zu Hause und sehen, was das Fernsehen darüber sagt.«
Um halb zwölf waren alle wichtigen Kritiken erschienen. Die Fernseh- und Rundfunksender waren einhellig positiv. Allgemein wurde Stuart Kingsleys literarisches Libretto gelobt (Edgars Frau, die eingesprungen war, als Neil Simon es abgelehnt hatte, irgend etwas umzuschreiben, wurde vornehmerweise nirgends erwähnt). Und alle Kritiker hoben Danny Rossis »kraftvolle, melodische Musik« (Originalton CBS) hervor. Es schien jetzt nur selbstverständlich, daß auch die >Times< sich begeistert äußern würde. Was sie auch tat.
Edgar selbst stand in diesem Augenblick auf dem Podium und las unter Tränen die Worte, die für sie alle Ruhm und Reichtum bedeuteten.
»Eine Liebeserklärung!« schrie er und schwenkte ein gelbes Blatt Papier über dem Kopf, »die reinste Liebeserklärung! Hier schon die Überschrift: >Die Melodie feiert ihre glorreiche Rückkehr zum Broadway<.«
Schauspieler, Finanziers und die Schickeria brachen in Jubel aus. Edgar hob die Stimme und bat um Ruhe. Nur das Klirren der Gläser war zu hören, begleitet von vereinzelten weiblichen melodramatischen Seufzern und von begeistertem Flüstern.
Edgar las das heilige Dokument vor: »Heute abend bestätigte Daniel Rossi im Schubert-Theater erneut, daß er zweifellos ein Meister jeder musikalischen Form ist. Wie läßt sich besser die enorme Schaffensbreite eines Komponisten beweisen, als wenn man sein komplexes, wirkungsvolles, fast atonales Ballett >Savanarola< mit den süßen und schamlos einfachen Melodien von >Manhatlan-Odyssee< vergleicht. >This Evening, Like All the Other Evenings< und besonders >The Stars Are Not Enough< werden ohne Frage zu Standardhits werden. Auch der Dichter Stuart Kingsley hat bewiesen, daß er eine geradezu magische Begabung für das Theater besitzt. ..«
Unmittelbar nach der abschließenden Fanfare des Kritikers — »Ich hoffe, das Stück läuft ewig!« - begann die Kapelle >The Stars Are Not Enough< zu spielen. Und Alt und Jung, nüchtern und betrunken, stimmten mit ein. Außer Danny Rossi. Während die Gäste ein Lied nach dem anderen sangen, lehnte sich Maria zu ihrem Mann hinüber und flüstert ihm ins Ohr: »Es ist wirklich sehr schön, Danny.« Er küßte sie auf die Wange. Nicht um ihr für das Kompliment zu danken, das sie ihm naiverweise zugedacht hatte, sondern weil Fotografen in der Nähe waren.

Im folgenden März wurde >Manhattan-Odyssee< vom Tony Award zum besten Musical des Jahres gewählt und, wie erwartet, Danny Rossi zum besten Komponisten des Jahres.
Als Edgar Waldorf den Preis für Stuart Kingsley als besten Textdichter entgegennahm, hielt er eine ergreifende, kurze Rede, in der er sagte, daß es die Lehrverpflichtungen Stuart unmöglich machten, anwesend zu sein.
Den wüsten Kampf um die Kinorechte gewann MGM für fast sieben Millionen Dollar. Nur wenig später erschien Danny Rossi auf der Vorderseite von >Time<.
Lange schämte sich Danny über die heimliche Demütigung mit >Manhattan-Odyssee<. Obwohl davon nur zwei Menschen auf der ganzen Welt etwas wußten, wurde er das Gefühl des Versagens nicht los. Er war sich schmerzlich bewußt, daß er keineswegs so gut war, wie alle dachten.
Die Seele aber besitzt beachtliche Regenerierungskräfte. Mit den Jahren und den fast zweihundert verschiedenen Schallplaltenfassungen glaubte Danny allmählich selbst daran, daß eigentlich er >The Stars Are Not Enough< komponiert hatte.
Und hol's der Teufel, hätte man ihm nur dazu Gelegenheit gegeben, er hätte es wahrscheinlich wirklich getan.