20. Andrew Eliots Tagebuch 23. November 1963

Nach dem, was gestern passiert ist, werde ich niemals wieder derselbe Mensch sein, glaube ich. Die Zeitungen nennen das, was in Dallas passiert ist, eine griechische Tragödie, aber für mich ist es eine amerikanische Tragödie. Ich bin wirklich so betroffen, als handle es sich um einen Todesfall in meiner eigenen Familie.
Jeder, ob reich oder arm, schwarz oder weiß, besonders aber wir, die wir uns so sehr mit ihm identifiziert haben, weil er jung war und ein Harvard-Mann — alle sind von dem Mord an Jack Kennedy zutiefst erschüttert. Da hatten wir uns gerade auf das bevorstehende Footballspiel zwischen Harvard und Yale gefreut und erwarteten eigentlich, der Präsident würde vielleicht im letzten Moment mit einem Armeehubschrauber doch noch erscheinen, und plötzlich erfährt man, er ist tot.
Nicht nur ich habe ihn wie eine Art vornehmen Ritter verehrt. Er hatte eine Ausstrahlung, die die Atmosphäre des ganzen Landes änderte. Wir fühlten uns stolz, dynamisch, und waren voller Hoffnungen. Es schien der Anfang eines neuen und ruhmreichen Kapitels unserer Geschichte.
Aber was mich am meisten erschüttert, ist, daß er ohne wirklichen Grund getötet wurde. Das Schiff dieses Mannes war im Weltkrieg torpediert worden, und er hatte das nicht nur überlebt, sondern hatte noch ein anderes Besatzungsmitglied gerettet. Wenn er bei der Verteidigung irgendeines Prinzips gestorben wäre, dann hätte das wenigstens einen Sinn gehabt.
Ich glaube, von heute ab wird sich die Lebensanschauung meiner ganzen Generation ändern, und ich zweifle, ob Erfolg für uns alle noch dasselbe wie früher bedeuten kann.
Man bedenke, Kennedy ist ein Sieger gewesen, gekrönt durch die höchsten Genüsse auf Erden. Und doch wird man ihn begraben, ohne daß er mehr als die Hälfte seines Lebens hat leben können.

Danny Rossi erfuhr in Tanglewood, daß Maria ein Mädchen geboren hatte. Er hatte natürlich bei ihr sein wollen und war nur für kaum vierundzwanzig Stunden abgeflogen, um ein einziges Konzert zu dirigieren. Aber die kleine Sylvia beschloß, etwas früher zur Welt zu kommen.
Mr. und Mrs. Pastore waren schon bei Maria, als Danny mit den Armen voller Rlumen in das Zimmer des Krankenhauses kam. Er umarmte die beiden, küßte die strahlende Mutter, flüsterte ihr ein paar zärtliche Worte ins Ohr und eilte zu der Säuglingsstation, um einen Blick durch die große Glasscheibe auf seine Tochter zu werfen. Eine hilfsbereite Schwester hob Sylvie aus ihrem Bettchen
und brachte sie an die Scheibe. In ihren Gesichtszügen erkannte er Spuren von Maria und von sich selbst.
»Schon etwas besser als Symphonien zu schreiben, nicht wahr, Mr. Rossi?« Es war ihr Geburtshelfer, der zufällig vorbeikam.
»Aber ja doch«, stimmte Danny schnell zu und schüttelte die Hand des Arztes. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Maria hat gesagt, Sie seien fabelhaft gewesen.« »Es war mir ein Vergnügen. Und machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden sich schon daran gewöhnen.«
»Woran denn?«
»Eine Tochter zu haben. Die meisten Männer wünschen sich insgeheim einen Sohn — wenigstens beim ersten Kind. Aber ich weiß, Sylvie wird Ihnen bestimmt viel Freude machen.«
Danny dachte über die Worte des Arztes nach und war erleichtert. Während des Heimflugs hatte er die Enttäuschung nicht unterdrücken können, daß Maria ihm keinen Sohn geboren hatte. Er hatte auf einen männlichen Erben gehofft, damit dieser die musikalische Tradition fortsetzen könnte, die mit ihm begonnen hatte. Schließlich gab es nur ganz wenige erstklassige Pianistinnen auf der Welt. Er hatte nicht daran gedacht, daß ein Mädchen ja eine Primaballerina werden könnte.
Sylvie wurde drei Wochen später getauft, und die Rossis luden zweihundert Leute zu einem Champagner-Branch ein.
Die Zeitungen von Philadelphia brachten ein großes Foto ihres bekannten Dirigenten mit seiner hübschen Frau und dem neugeborenen Kind. Danny war überglücklich. Die Vaterschaft schien ihm einen neuen Rang zu verleihen.
Aber etwas erstaunte ihn. Maria wollte kein Kindermäd- chen. Sie war allenfalls mit einer Kinderschwester für die ersten paar Wochen einverstanden. Danach wollte sie Sylvie allein aufziehen.
»Danny, ich habe neun Monate lang Bücher über Kinderpflege gelesen, und ich will mir nicht von irgendeiner dummen Person in gestärkter Schürze vorschreiben lassen, was ich als Mutter zu tun habe.« »Aber du wirst erschöpft sein.« »Nicht, wenn du mithilfst.«
»Klar«, er lächelte, »aber ich habe verdammt viele Konzerte in nächster Zeit.« »Du tust so, als seist du ein Opfer deines eigenen Lebens. Mußt du denn wirklich so viele Gastspiele in der ganzen Welt geben?«
Was konnte er tun, damit sie begriff?
»Maria, mein Liebling, du kennst doch den alten Spruch, daß die Musik eine internationale Sprache ist. Nun, heutzutage ist sie ein internationales Geschäft. Ich muß einfach diese Reisen machen, schon, um meine Kontakte aufrechtzuerhalten.«
Maria sah ihn an, und ihr Gesicht rötete sich. »Danny, ich habe gedacht, die Ehe würde dich ändern. Und als das nicht geschah, hoffte ich, es würde wenigstens dann anders, wenn du Vater würdest. Warum wirst du eigentlich nie erwachsen?«
»Was meinst du damit?«
»Warum fährst du denn dauernd in der Weltgeschichte herum? Brauchst du denn immer noch die ganzen Lobeshymnen? Falls ich Dir nicht genüge, hier gibt es noch viele andere Frauen, die dich anbeten.«
Danny wollte jetzt nicht versuchen, das Leben eines Künstlers zu rechtfertigen. »Maria, wahrscheinlich ist alles das, was du verspürst, nur eine postnatale Depression.«
Dann sah er, daß er sie verletzt hatte, ging zu ihr und kniete sich neben sie. »Bitte, verzeih mir, das war wirklich nicht schön von mir. Ich liebe dich doch, Maria. Glaubst du mir?« Sie nickte. »Ich wollte nur, ich wäre die einzige.«
Kaum fünf Monate später war Maria wieder schwanger und gebar im darauffolgenden Jahr eine zweite Tochter. Diesmal war Danny in New York, als die Wehen einsetzten und sie ins Krankenhaus kam.
 

Im Januar 1964 hatte Jason sechs Monate Sprachunterricht hinter sich. Mit äußerster Selbstdisziplin hatte er Englisch nur noch in den wöchentlichen Briefen an seine Eltern verwendet und sprach inzwischen recht flüssig Hebräisch.
Seine Eltern hatten in ihren Briefen versucht, ihn dazu zu bringen, zu Weihnachten nach Hause zu kommen. Jason hatte dagegengehalten, in seinem Sprachkurs gäbe es keine Unterbrechung außer für die jüdischen Feiertage im September. Jetzt wich er wieder der Entscheidung aus, in die Staaten zurückzukehren, und erklärte, er würde in Kürze mit einer außerordentlich wichtigen Sache beginnen.
Er besprach es mit Eva und Yossi — in Hebräisch — bei seinem ersten Besuch im Kibbuz seit dem Sommer. »Ich gehe in die Armee«, verkündete er. »Das ist gut«, sagte der Sekretär des Kibbuz, »einen erfahrenen Mann wie dich kann man da gebrauchen.«
Eva sagte nichts.
Yossi sah ihren ernsten Gesichtsausdruck und fragte: »Was ist denn los? Hast du was gegen seine Entscheidung?« »Ich bin froh, daß er bleibt«, erwiderte sie, »aber ich habe das Gefühl, er tut es aus dem falschen Grund.« »Und der wäre?« fragte Jason. »Aus einer Art persönlicher Blutrache — um Fannys Tod zu rächen.«
»Mir ist es gleichgültig, aus welchen Gründen«, antwortete Yossi abwehrend. »Außerdem, die Bibel spricht doch auch von >Auge um Auge< oder?« »Das ist primitiv, und du weißt es«, entgegnete Eva. »Es ist eine Metapher und soll nicht wörtlich genommen werden.«
»Die Araber nehmen es aber wörtlich«, warf Yossi ein. »Hört doch auf, euch zu streiten. Habe ich euren Segen, mich zur Armee zu melden, oder nicht?« fragte Jason. »Meinen nicht«, stellte Eva hart fest. »Also meinen Segen hast du«, sagte Yossi, »und den deines
ganzen Kibbuz.« »Aber ich bin doch gar nicht Mitglied des Kibbuz«, antwortete Jason.
»Du wirst es aber nach der Versammlung diese Woche sein«, antwortete der Sekretär. »Das heißt, wenn du möchtest.«
»Ja, ich möchte sehr gern zu euch gehören«, erwiderte Jason.
Obwohl es Winter war, verbrachte Jason die nächsten Wochen damit, durch ein körperliches Training, das er sich selbst verschrieb, in Form zu kommen. Er stand früh auf zum Dauerlauf im eiskalten Regen, dann machte er Gewichtheben im primitiven Turnschuppen des Kibbuz und vor dem Abendessen noch einmal Dauerlauf.
Er redete viel mit Eva und versuchte, sie davon zu überzeugen, daß er es ernst meinte. Außerdem bat er sie, ihm mehr über die Geschichte des Landes zu erzählen. Manchmal kamen sie in ihren Abendunterhaltungen auch auf Persönliches zu sprechen. Er fragte sie über ihre Kindheit aus, wie es während des Krieges bei Fannys Familie gewesen war und wie sie das Trauma des Holocaust und die Ermordung ihrer Eltern überwunden hatte.
Sie erzählte ihm, wie sehr sie das Schicksal ihrer Eltern erschüttert hatte. Dennoch hatte sie mehr Glück gehabt als viele andere. Während des Krieges war sie von den van der Posts liebevoll beschützt worden, und nach dem Krieg hatte sie zu der Überzeugung gefunden, der Bestand Israels garantiere, daß ihre Kinder nicht mehr so leiden müßten wie sie selbst.
Weil sie von Kindern sprach, fragte Jason sie zögernd, warum sie nicht verheiratet sei. Zuerst erzählte sie ihm, als der Holocaust vorüber gewesen sei, seien, wie bei so vielen anderen, ihre Emotionen abgestorben gewesen. Jason spürte, daß sie etwas verschwieg. Und eines Abends erzählte ihm Eva die Wahrheit.
Als sie in der Armee gewesen war, hatte sie einen jungen Offizier mit Namen Mordechai kennengelernt. Sie waren enge Freunde geworden. Er wurde im letzten Monat seiner Militärzeit getötet, nicht durch ein feindliches Geschoß, sondern während eines Manövers mit scharfer Munition. »Ich komme bestimmt wieder«, versicherte ihr Jason und beschwichtigte ihre Furcht, die sie nicht einmal auszusprechen gewagt hatte.
»Ich weiß, das wirst du«, sagte sie ohne Überzeugung. »Wenn man in der Kleiderkammer arbeitet, wird man nicht getötet.« »Wieso glaubst du, daß ich in der Zeugmeisterei arbeiten werde?« fragte er. »Ich habe dir doch gesagt, ich war in der Armee«, antwortete sie. »Die meisten Rekruten sind achtzehn Jahre alt. Ein Mann wie du wird praktisch für senil gehalten. Wenn du Pech hast, lassen sie dich im Kino die Handtaschen kontrollieren.«
»Ich war bei der US-Marine«, sagte er lächelnd. »Und ich habe als Fünftbester meines Bataillons abgeschlossen. Wollen wir eine Wette machen?« »Die würdest du verlieren«, lächelte sie, »denn du wirst bald das Beste erleben, was Israel hat: seine Armee. Und das
Schlimmste: seine Bürokratie.«
An einem rauhen Februartag stieg Jason am Kelet, dem Aufnahmelager der Armee außerhalb Tel Avivs, aus dem Bus. Das Lager war groß und bestand aus Baracken mit Wellblechdächern, einigen Zelten, und da und dort stand ein Eukalyptusbaum. Als er sich im Norden des Landes beim örtlichen Armeebüro für den Winter einschrieb, hatte man ihn schon einer Reihe von medizinischen Untersuchungen und Intelligenztests unterzogen.
Jetzt stand er zusammen mit einem anderen Mitglied des Kibbuz in der Reihe, mit dem achtzehnjährigen Tuvia Ben-Ami, der offensichtlich nervös war. Nicht so sehr der Armee wegen, sondern weil er das erste Mal von zu Hause weg war.
»Nur ruhig, Tuvi«, sagte Jason und zeigte auf die lange Reihe von Jugendlichen, die darauf warteten, dranzukommen. »In diesem Kindergarten wirst du bestimmt viele neue Freunde finden.«
Als die Rekruten in kleine Gruppen aufgeteilt wurden, hielt sich der junge Kibbuznik praktisch an Jasons Gürtel fest, nur um nicht von ihm getrennt zu werden. Dann mußten sie alle in die >Fleischerei<, wo man ihnen gnadenlos die Haare absäbelte. Für einige Casanovas aus der Stadt war das das Schlimmste, was ihnen geschehen konnte. Jason mußte lachen, als er sah, wie sie ihre Tränen
unterdrückten, als ihr Elvis-Kopfschmuck zu Boden fiel.
Als er dran war, setzte er sich und ließ den militärischen Rasenmäher seine Locken zurechtstutzen. Dann kamen die Erkennungsmarken. Der Offizier, der sie ausgab, schlug Jason vor, seinen Namen etwas mehr biblisch und patriotisch zu gestalten.
»In den Zeiten des Hellenismus, als die Juden wie gebildete Griechen sein wollten, änderten alle, die Jakob hießen, ihren Namen in Jason. Denken Sie darüber nach, Soldat.«
Nachdem sie ihre Khakisachen angezogen hatten, führte sie ihr Corporal zu den Zelten, wo sie die nächsten drei Tage schlafen mußten. Tuvia flüsterte Jason zu: »Den Unterschied zwischen den Kibbuzniks und den Weichlingen aus der Stadt kann man daran sehen, wie sie sich die Schlafsäcke ansehen. Ich habe das Gefühl, ein paar von denen haben Federbetten erwartet.«
Nach dem Abendessen schlenderten sie durchs Lager und besahen die einzelnen Baracken, in denen sie für die Spezialeinheiten geprüft werden würden. An einem Zelt stand: >Die Tapferen zu den Fallschirmspringern^
»Da werde ich morgen früh sein«, sagte Jason. »Du und tausend andere«, erwiderte Tuvia, »mich eingeschlossen. Einfach jeder möchte das rote Barett tragen. Und so dumm es klingt, ich habe eine bessere Chance als du.« »Ach wirklich? Was hast du denn im vorigen Monat bei den Eignungstests bekommen?« »Einundneunzig«, sagte Tuvia stolz. »Schön, und ich siebenundneunzig«, erwiderte Jason zuversichtlich. »Mehr kann man nicht bekommen. Und als ich sie fragte, wie das mit den letzten drei Punkten sei, sagten sie, daß Superman kein Jude ist.« »Hör mal, selbst wenn er es wäre, käme er nicht zu den israelischen Fallschirmspringern, weil er zu alt ist.«
Schon sieben Uhr morgens hatten sich lange Reihen vor den Baracken der Elite-Einheiten gebildet. Jason nutzte die Zeit und machte Streckübungen. Schließlich trat er in das Zelt des Rekrutierungsoffiziers der Fallschirmjäger, der ein drahtiger, dunkelhaariger Mann in den Dreißigern war. Und dessen erste Worte waren nicht gerade ermutigend: »Verschwinden Sie, Yankee. Ich bewundere Ihre Initiative,
aber Sie sind längst hinüber.« »Ich bin erst siebenundzwanzig und habe zwei Jahre Militärerfahrung.«
»Siebenundzwanzig bedeutet, daß schon zehn Ihrer Jahre für uns verloren sind. Schicken Sie den nächsten herein.« Jason verschränkte die Arme. »Mit allem Respekt, aber ich gehe nicht, bevor Sie mich nicht einem körperlichen Test unterzogen haben.«

Der Interviewer stand auf und stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte. »Hören Sie mal, Sie würden ja schon tot umfallen, wenn Sie nur unseren Ausbildungsplan sähen. Also, muß ich Sie jetzt etwa selbst hinauswerfen?« »Ich fürchte, ja.«
»Also gut«, antwortete er und griff blitzschnell mit überkreuzten Armen über den Tisch und nach Jasons Kragen. Als ehemaliges Mitglied der Marines löste Jason instinktiv den Griff mit einer Aufwärtsbewegung der verschränkten Hände und nagelte dann den Offizier auf der Tischplatte fest. »Ich bitte Sie«, sagte Jason außerordentlich höflich, »überlegen Sie es sich noch mal.« »Also gut«, keuchte der, »Sie können es versuchen.«
Nachdem Jason gegangen war, rieb sich der Offizier die schmerzenden Stellen und überlegte, ob er die Militärpolizei rufen sollte. Nein, dachte er, der arrogante Kerl soll draußen im Gelände zusammenbrechen.
»Der nächste!« schrie er etwas heiser. Jason ging langsam zum Ubungsgelände und hörte hinter sich Schritte. Er drehte sich um und sah Tuvia. »Na«, lächelte Jason, »du hast es also auch geschafft. War er sehr grob?« »Ganz und gar nicht. Er warf nur einen Blick auf meine Papiere, sah, daß wir aus demselben Kibbuz kommen, und schrieb mich ein. Was war denn das für ein Lärm vorhin da drinnen?« »Ach, nur zwei Juden, die eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten«, grinste Jason bescheiden.
Es waren nur zwei Kilometer, aber alles bergauf. Die Kandi- daten mußten in Vierergruppen laufen und — Telefonmasten tragen. Tuvia brachte es fertig, mit Jason in derselben Gruppe zu sein. Aber als sie die letzte Steigung hinaufkamen, brach einer von ihnen zusammen. Die anderen drei blieben angewurzelt stehen und konnten kaum mehr den Telefonmast halten. »Los, weiter«, redete ihm Jason zu, »du schaffst das. Nur noch vierhundert Meter.« »Ich kann nicht mehr«, keuchte der Rekrut. »Du mußt aber«, bellte Jason, »du ruinierst unsere Chancen. Verdammt noch mal, auf!« Der Ton seiner Stimme — die eines kommandierenden Offiziers — erschreckte den Jungen so, daß er aufstand.
Sie kamen ans Ziel und ließen ihre schwere Last fallen, die sich in den Morast bohrte. Jason und Tuvia hatten für die anderen mit das meiste Gewicht geschleppt, rangen nach Atem und rieben sich die Armmuskeln. Einer der Rekrutierungsoffiziere kam auf sie zu. »Nicht schlecht«, sagte er. Dann deutete er auf den Jungen, der gestürzt war, und sagte: »Mein Kleiner, du gehst am besten zur Infanterie. Die anderen machen weiter.«
Er sah Jason an. »Okay, Großvater«, grinste er, »sind Sie fertig zum Weitermachen?« »Jetzt gleich?« fragte Jason ungläubig und versuchte sofort, sein Zögern zu überspielen. »Klar doch, sofort. Dasselbe noch mal?« »Ja, dasselbe noch mal, mit demselben Telefonmast. Diesmal aber mit mir oben drauf.« Nach weiteren zwei Stunden waren sie eine kleine, aber ausgesuchte Gruppe, wie Gideons Armee. »Also gut«, bellte der Offizier. »Wenn ihr glaubt, der heutige Tag war schwer, dann schlage ich vor, ihr sucht euch
eine andere Rrigade aus. Das war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was noch kommt. Denkt darüber nach. Ihr könnt euch einen Nervenzusammenbruch ersparen.
Abtreten!«Jason und Tuvia stolperten zu ihrem Zelt zurück und ließen sich auf die Matrazen fallen. »Du hast da draußen am meisten Pep gehabt«, sagte Tuvia. »Ich habe gesehen, wie dich die Offiziere beobachtethaben. Sie haben sich ganz schön amüsiert. Du warst so prima, daß ich dir jetzt was von meiner größten Kostbarkeit abgebe.« Jason spürte, wie etwas in seine Hand geschoben wurde.
Dann sah er, es war ein halber Riegel Schweizer Schokolade.
Vierundzwanzig Stunden später wurden die Bewerber für die Fallschirmjäger-Brigade in einen Bus geladen, der sie zu dem Lager bei Tel Noff bringen sollte. Während der Fahrt kam ein Mann den Zwischengang entlang und blieb vor Jason stehen. Es war sein Rekrutierungsoffizier. »Hallo, Großvater«, sagte er. »Erstaunlich, daß Sie noch immer unter uns weilen. Aber ich warne Sie, Sie werden
noch sechs Monate lang nichts als rennen müssen.« »In Ordnung, Sir«, antwortete Jason. »Und noch etwas, nenn mich nicht Sir. Ich heiße Zvi.« Er war sogar noch im Traum gerannt, das war alles von den nächsten sechs Monaten, an das sich Jason erinnerte. Während seines ersten 24-Stunden-Urlaubs fuhr Jason per Anhalter nach Vered Ha-Galil. Er war froh, Eva wiederzusehen, die sofort begriff, daß er nichts dringender als Schlaf brauchte.
Als er endlich aufwachte, hatte sie eine Nachricht für ihn. »Dein Vater hat angerufen. Ich habe ihm gesagt, wo du bist, und er klang sehr aufgeregt. Ich mußte ihm versprechen, daß du anrufst, sobald ich dich sehe.« Jason stand auf, ging zum Kibbuz-Telefon und rief seinen Vater an, >Gebühren zu Lasten des Empfängers<. »Hör gut zu, mein Sohn«, polterte Gilbert, »ich habe viel Geduld mit dir gehabt, aber diese Armeegeschichte geht wirklich zu weit. Ich wünsche, daß du hierher zurückkommst, wo du hingehörst. Das ist ein Befehl.«
»Befehle nehme ich nur von meinem Kommandeur entgegen, Vater. Und was die Frage angeht, wohin ich gehöre, so ist das meine private Angelegenheit.« »Und was ist mit deiner Karriere? Mit all dem, was du in Harvard gelernt hast?«
»Vater, wenn ich in Harvard eines gelernt habe, dann meine eigenen Wertmaßstäbe zu finden. Ich werde hier gebraucht. Ich kann mich hier nützlich machen. Ich fühle mich gut. Was kann man sich sonst im Leben wünschen?« »Jason, versprich mir, daß du einen Psychiater aufsuchst.« »Ich will dir etwas sagen, Vater. Ich werde einen Irrenarzt aufsuchen, wenn du nach Israel kommst. Dann werden wir uns erst mal zusammensetzen und entscheiden, wer von uns verrückt ist.«
»Also gut, Jason. Ich will nicht mehr mit dir streiten. Versprich mir nur, daß du anrufst, wenn du kannst.«
»Klar, Vater, ich verspreche es. Alles Liebe für Mutter.« »Du fehlst uns, mein Sohn. Du fehlst uns wirklich.« »Ihr mir auch«, sagte er leise.
Jason war unter den fünfzig Prozent der Bewerber, die die Torturen überstanden und ihre Fallschirm-Flügel und die roten Barette bekamen. Er machte sofort mit dem Fortgeschrittenenkurs weiter, lernte die Technik von Hubschrauberangriffen beherrschen und jeden Zentimeter der Topographie Israels kennen. Und nicht nur auf der Karte. Während der nächsten sechs Monate ging er das gesamte Heilige Land zu Fuß ab. Es machte ihm Spaß, im Freien zu schlafen.
Danach brachte er eine Woche im Kibbuz zu, machte lange Spaziergänge mit Eva und schrieb einen längeren Brief an seine Eltern. Dann trat er in die Offiziersschule bei Petach Tikva ein. Das einzige Neue, was er dort lernte, war das israelische Führungsprinzip, das sich in zwei Worten zusammenfassen ließ: »Mir nach!« Offiziere führten selbst alle militärischen Operationen an.

Eva und Yossi kamen zu den Abschlußfeierlichkeiten und sahen Jason vor dem Staatsoberhaupt paradieren und salutieren. Unmittelbar neben dem Kommandeur stand Zvi, sein früherer Rekrutierungsoffizier. Als Jason vorbeidefilierte, flüsterte er dem General etwas ins Ohr. »Wahrscheinlich wird mir der Spitzname bleiben«, sagte Jason, als er später dazukam. »Jetzt nennen mich alle Saba — Großvater.«
Auf der Fahrt zum Kibbuz fragte Yossi, was Jason in den zehn Tagen Freiheit machen wollte, bevor er den aktiven Dienst antreten mußte.
»Ich möchte noch einmal jeden Zentimeter Boden sehen, über den ich marschiert bin«, antwortete er. »Nur will ich es diesmal mit einem Auto — und einem Führer machen.« »Die Bibel ist der beste Führer für so etwas«, meinte Yossi. »Ich weiß«, sagte Jason und fügte scheu hinzu, »aber ich hatte gehofft, Eva wäre mein Reiseleiter.«
In den folgenden Tagen absolvierten sie viertausend Jahre Geschichte. Von den Bergwerken König Salomos tief im Sinai durch die verlassene Wüste des Negev nach Beersheba, die Heimat von Abraham, Isaak und Jakob. Dann nach Ein Gedi, dem niedrigsten Punkt der Erde, wo sie auf dem Salzwasser des Toten Meeres trieben, dann durch Qumram, in dessen Höhlen man die Schriftrollen des Toten Meeres gefunden hatte, nach Jericho, deren Mauern unter den Trompeten Joshuas zusammengestürzt waren und deren Balsamgärten Kleopatra von Antonius geschenkt worden waren. Und schließlich Jerusalem, die Stadt, die König David zehn Jahrhunderte vor Christus erobert hatte, noch immer die geistige Hauptstadt der Welt. Die Steine der Stadt atmeten eine heilige Tradition, die selbst Jason zu spüren glaubte. Die Reste des heiligen Tempels Salomos konnten sie nicht aufsuchen, da er auf der jordanischen Seite der geteilten Stadt lag.
»Wir werden ihn eines Tages sehen, dann, wenn Frieden ist«, sagte Eva.
»Werden wir das noch erleben?« fragte Jason.
»Ich habe es jedenfalls vor«, antwortete Eva und fügte hinzu: »Und selbst wenn ich es nicht erlebe, meine Kinder werden es erleben.«

Während der ganzen Fahrt hatten Jason und Eva nur wenige Meter voneinander entfernt geschlafen. Erst im Freien in der Negev, jetzt in einer billigen Herberge. Körperlichen Kontakt hatten sie nur, wenn er ihr half, auf einen Felsen oder ein Monument zu steigen.
Gegen Ende ihres ersten Tages in Jerusalem sagte Jason zu Eva, er würde zum Christlichen Verein junger Männer in der King-George-Straße gehen und versuchen, einen Tennispartner zu finden. Sie sagte, sie würde noch etwas Spazierengehen und ihn dann später zum Essen treffen.
Es war ihr nicht aufgefallen, daß er keinen Tennisschläger bei sich hatte, denn sie war zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, einen privaten Besuch zu machen.
Die Nachmittagsschatten wurden länger, als sie den Friedhof am Emek Refaim betrat und langsam zur letzten Ruhestätte ihrer Jugendfreundin ging. Einhundert Meter davon entfernt blieb sie plötzlich stehen.
Jason war schon dort und stand bewegungslos mit gesenktem Kopf vor dem Grab. Trotz der Entfernung konnte sie sehen, daß er weinte. Sie wandte sich um und ging still fort.

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>Jahrgangsnotizen< in der Zeitschrift für ehemalige Harvard-Studenten im Oktober 1965:
1958: Theodore Lambros und Sara Harrison-Lambros
(Radcliffe '58) haben einen Sohn bekommen, Theodore
Jr., am 6. September 1965. Lambros wurde kürzlich zum
Assistenzprofessor für Klassische Sprachen in Harvard
ernannt.