22. Andrew Eliots Tagebuch 15. Mai 1968

Da ich praktisch im New York Harvard Club lebe, war ich wahrscheinlich der erste außerhalb von Cambridge, der ein Exemplar des Berichts gesehen hat, in dem die Entwicklung unseres Jahrgangs während der ersten zehn Jahre nach unserem Abgang verzeichnet ist. Mir ist aufgefallen, daß die weniger erfolgreichen Kerle dazu neigen, mehr über sich zu schreiben als ihre strahlenderen Kameraden. So berichtet da einer in vielen Abschnitten jede langweilige Einzelheit einer ereignislosen Karriere bei der Armee, von seiner Wahl der Ehefrau, wieviel seine zwei Kinder bei der Geburt wogen, und so weiter. Und wie verantwortungslos sein Leben in der Schuhfabrik seines Vaters ist (»wir mußten unsere Produktion von New England nach Puerto Rico verlagern und prüfen
jetzt die Möglichkeiten, die uns der Ferne Osten bietet«). Das einzige, worüber er nicht ausführlich berichtet, ist seine Scheidung. Dabei hätte ich da etwas Mitgefühl aufbringen können. Trotz des ganzen dicken Nebels seiner Geschwätzigkeit ist jedenfalls klar zu erkennen, daß er versucht, die stille Verzweiflung über sein Leben zu verbergen. Er schließt mit der philosophischen Bemerkung: »Wenn der Schuh paßt, muß man ihn auch tragen.« Anders gesagt, er hat
vier Seiten gebraucht, um uns mitzuteilen, daß er dabei ist ein erfolgreicher Versager zu werden.
Im Gegensalz dazu führt Danny Rossi nur die Daten seiner Eheschließung und der Geburtstage seiner beiden Töchter an und listet seine Kompositionen und die erhaltenen Auszeichnungen auf. Das ist alles. Er wartet noch nicht einmal mit einer markigen Schlußfolgerung auf, wie >Das Leben ist in Ordnung< oder >Ich habe Glück gehabt< oder >Das alles verdanke ich den täglichen Haferflocken< oder etwas ähnliches.
Und trotzdem hat alle Welt sein Gesicht in den Zeitungen gesehen. Man konnte mindestens ein halbes Dutzend Artikel über ihn lesen, in denen er ausschließlich vergöttert wurde. Ich wette, viele Kommilitonen, die ihn für ein Würstchen hielten, prahlen jetzt ihren Frauen und Kindern gegenüber, daß sie mit ihm auf der Universität befreundet waren. Ich muß gestehen, daß auch ich die oberflächliche Freundschaft mit ihm größer mache, als sie war.

Auch der Beitrag von Ted Lambros war kurz und sachlich. Er und Sara haben die zehn Jahre in Harvard genossen. Er ist dankbar für die guten Kritiken seines Sophokles-Buches, und er und seine Familie freuen sich auf die neue Aufgabe, in Canterbury zu leben und zu unterrichten.

Weder Jason Gilbert noch George Keller haben Beiträge eingesandt, beide aus Gründen, die ich gut verstehe.

Jason, mit dem ich noch brieflich in Verbindung stehe, hat höllisch viel durchgemacht. Und George ist immer noch derselbe paranoide, mißtrauische Idiot. Er hat sich nicht einmal herabgelassen, die mageren Informationen aufzuschreiben, die ich von ihm beim Mittagessen erfahre. Ich selbst habe anders als die meisten meines Jahrgangs versucht, bei meinem schriftlichen Konzentrat offen zu sein. Mit einem Satz habe ich die zwei Jahre bei der Marine abgehandelt, ohne etwas davon zu glorifizieren. Dann erwähne ich nur, daß ich nach sieben Jahren bei >Downs, Winship< zum Vizepräsidenten gewählt wurde. Dann erkläre ich, das größte Vergnügen sei es für mich gewesen, meine Kinder heranwachsen zu sehen, die größte Enttäuschung, daß meine Ehe nicht funktionierte.
Ich glaube nicht, daß sich viele die Mühe gemacht haben, meinen Beitrag zu lesen, aber ich habe schließlich auch nicht viel mitgeteilt.

Ich habe zum Beispiel nicht erwähnt, daß ich keineswegs sehr erfolgreich im Investitionsgeschäft bin. Ich verdanke meine Beförderung der Tatsache, daß ein paar Kumpel und ich in >Kintex< investiert haben, eine Firma, die dann zum größten Produzenten der Pille in der Welt wurde. Ein Bombengeschäft also. (Reines Glück — oder war es unbewußt Trauer darüber, daß ich Kinder mit einer so untauglichen Mutter gezeugt habe?)
Ich habe auch nicht erzählt, daß ich verzweifelt einsam bin, auch wenn an der First Avenue Tausende von Single-Bars aus dem Boden schießen, damit sogenannte erfolgreiche Männer wie ich dort einigermaßen hübsche Frauen treffen können.
Ich verbringe jedes Wochenende mit meinen Kindern (Andy ist jetzt sieben; Lizzie vier Jahre alt) und versuche Kontakt zu halten, aber ohne viel Erfolg. Faith scheint Sex zugunsten des Alkohols aufgegeben zu haben — was man ihrem Gesicht ansieht. Anscheinend ist sie nur dann nüchtern, wenn sie den Kindern sagt, was für ein Scheißkerl ich bin. Und ich habe am Wochenende nur ein paar Stunden Zeit, diese Verleumdung zu widerlegen. Mein einziger Trost scheint noch immer von Harvard zu kommen. Auch wenn ich mir eine Luxuswohnung in einem der großen Appartementhäuser im Osten an der 61. Straße gekauft habe, verbringe ich die meiste Zeit damit, Squash im Harvard Club zu spielen und meine Zeit mit den Jungs zu verbringen. Ich helfe der Auswahlkommission dabei, gute Männer für >die Welt von morgen< zu finden. Ich erwäge sogar, für den Rat der Ehemaligen zu kandidieren — das wäre ein hübscher Vorwand, hinzufahren und mal wieder im Yard spazierenzugehen.
Kurzum, ich bin auch nicht viel glücklicher als der geschwätzige Schuhverkäufer. Ich glaube aber, ich verberge es etwas besser.

Ted Lambros bereitete sich mit der für ihn typischen Begeisterung auf sein neues Leben in Canterbury vor. Er verbrachte den Sommer 1968 damit, Bücher und Notizen einzupacken und seine alten Vorlesungen zu revidieren, und, was sehr wichtig war, er nahm Tennisstunden.
Als sie sich an der North Windsor Street in dem heruntergekommenen Haus, das sie vom College gemietet hatten, einrichteten, warnte ihn Sara einmal: »Weißt du, Liebling, wenn du Bunting tatsächlich schlagen solltest, dann wird er nie für dich votieren.« »Meine Liebe«, sagte er scherzhaft, »du sprichst mit einem großen Taktiker. Ich muß gerade so gut sein, daß er mich als Sparringspartner akzeptiert — oder wie immer man das nennt.«
Aber da gab es noch mehr zu bedenken als die möglichen Folgen des Tennis, denn die Abteilung bestand noch aus drei weiteren Professoren für klassische Sprachen — und ihren einflußreichen Frauen.
Natürlich mußte mit jedem Ehepaar einmal zu Abend gegessen werden. Henry Dunster ergriff als erster die Initiative und lud sie ein. Die gegenwärtige Mrs. Dunster war Henrys dritte Frau, und alles deutete daraufhin, daß sie nicht die letzte war. Wie vorauszusehen, versuchte er sein Glück bei Sara, was ihr aber keineswegs schmeichelte. »Weißt du, er war nicht ordinär«, beklagte sie sich bei Ted auf der Heimfahrt, »er probierte es nur auf so alberne Weise. Er war nicht einmal Manns genug, um ehrlich zu flirten. Mein Gott, was für ein Würstchen.«
Ted griff nach Saras Hand: »Ende der ersten Runde — bleiben noch drei.«
Die nächste Hürde dieses Hindernisrennens in Richtung Festanstellung war ein Abendessen mit den Hendricksons — dem Historiker Digby und seiner liebenden Frau Amelia. Ihre Verbindung war wahrhaftig die von zwei gleichen Seelen denn sie empfanden wie ein Mensch. Sie liebten beide das Wandern und Bergsteigen und hegten beide dieselbe inbrünstige Furcht, jemand in der Abteilung könne Digby die Geschichtsvorlesungen stehlen.
»Ich finde es schrecklich«, kommentierte Sara, »aber in gewisser Weise ist die Eifersucht Ihrer Kollegen verständlich Schließlich bildet die  Geschichtswissenschaft  das Fundament aller klassischen Studien.«
Digby nahm den Stab auf und lief damit weiter. »Nicht nur das Fundament, Sara, es ist das ganze Gebäude. Dichtung und Literatur sind ja ganz schön, aber, wenn zum Teufel alles gesagt und getan ist, dann sind es doch nur Worte. Geschichte — das sind Tatsachen.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Ted Lambros, Spezialist in klassischer Literatur, hielt seine wahre Meinung zurück und schluckte seinen Stolz hinunter.

Sara hatte schon den Kampf an der weiblichen Front aufgenommen. Ihre >Freundschaft< mit Ken Buntings Frau war zu einem wöchentlichen Mittagessen mit Suppe und Sandwich im >Huntsman< erblüht. Dotty hatte sich selbst zur oesellschaftichen Schiedsrichterin ernannt und die Frauen Canterburys in zwei Kategorien eingeteilt: »wirkliche Klasse« oder »keine Klasse«. Und Sara Lambros, die der Familie der New Yorker Bankiers Harrison entstammte, gehörte ganz ohne Frage zur Creme der Gesellschaft, war keine von der billigen Sorte. Und da Dotty, wie sie sich darstellte, ein Blaublut aus Seattle war, betrachtete sie Sara als verwandte Seele.
Der einzige Unterschied lag in ihren Ehen. »Sagen Sie mir doch«, fragte Dotty mit heimlichtuender Stimme, »wie ist es eigentlich, mit so einem, Sie wissen schon, romanischen Typ verheiratet zu sein?« Sara versuchte krampfhaft, ernst zu bleiben, und erklärte geduldig, daß Griechen, wenn auch schwarzhaarig und für manche Leute vielleicht ein wenig dunkelhäutig, eigentlich nicht romanisch seien. Sie begriff aber die inquisitorische Anspielung und erwiderte, sie glaube doch, alle Männer seien im Grunde gleich.
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben viele gekannt?« fragte Dotty Bunting erregt und fasziniert. »Nein«, antwortete Sara ruhig, »was ich meine, ist, daß sie
von Natur aus alle die gleiche Ausstattung haben, wissen Sie.«
Dotty Bunting wurde brennend rot.
Sara wechselte schnell das Thema und fragte Dotty nach dem besten Kinderzahnarzt »für unsereinen« in der Gegend.
Eines war klar. Falls Mrs. Bunting eine Stimme hatte, dann hatte Sara sie gewonnen. Man mußte nur noch abwarten, welchen Einfluß sie auf ihren Mann hatte. Und das ließ sich nur feststellen, wenn sich die beiden Ehepaare zum Abendessen treffen würden. Und wieder, entsprechend der traditionellen Kollegialität, luden die Buntings die Neuankömmlinge zunächst zu sich ein.
Wie vorherzusehen, drehte sich die Unterhaltung um Tennis. Bunting warf Ted scherzhaft vor, seinen zahlreichen Einladungen, »auf den Platz zu kommen und ein paar Bälle zu schlagen«, ausgewichen zu sein. Ted gab zurück, er sei so sehr damit beschäftigt gewesen, sich einzurichten und seine Veranstaltungen vorzubereiten, daß sein Tennis viel zu eingerostet sei, als daß er auch nur symbolisch für Bunting als Partner in Frage komme.
»Ach, ich bin sicher, er ist nur zu bescheiden, Sara«, schwärmte Dotty Bunting. »Ich wette, er hat sogar im College-Team gespielt.«
»Nein, keineswegs«, protestierte Ted, »dazu hat es wirklich auch nicht annähernd gereicht. Tennis ist eine der wenigen Sportarten, in denen Harvard tatsächlich recht gut ist.« »Ja«, gab Ken zu, »es war auch einer von Harvard, der mich 1956 im Endspiel des Herreneinzels beim Universitätsturnier geschlagen hat...« Unwissentlich hatte Ted die schmerzhafteste Wunde in Buntings sportlicher Vergangenheit wieder aufgerissen. Und schon begann es, aus Ken förmlich herauszubluten: »Eigentlich hätte ich gewinnen müssen. Aber dieser Jason Gilbert damals war so ein durchtriebener Typ aus New York. Er beherrschte alle möglichen hinterhältigen Bälle.«
»Ich habe Leute aus New York nie für besonders durchtrieben gehalten«, sagte Sara arglos. »Ich bin übrigens auch aus Manhattan.« »Natürlich, Sara«, sagte Bunting schnell entschuldigend. »Aber Gilbert — so hieß er wahrscheinlich auch noch nicht Jange — war so ein, Sie wissen schon, jüdischer Typ.«
Es entstand eine peinliche Pause. Sara hielt sich zurück, um Ted seinen Freund von Harvard verteidigen zu lassen. Als sie aber merkte, daß Ted Schwierigkeiten hatte, eine passende Antwort zu finden, erwähnte sie gelassen: »Jason war Jahrgang '58, wie Ted und ich.«
»Ach«, sagte Dotty Bunting, »haben Sie ihn gekannt?« »Nicht sehr gut«, erwiderte Sara, »aber er ging mit ein paar Mädchen aus meinem Wohnheim aus. Er sah sehr gut aus.« »Ach«, sagte Dotty und wollte mehr erfahren. Ken unterbrach: »Sagen Sie, was ist mit Jason passiert? Sein Name erscheint gar nicht mehr auf den Seiten der >Tennis World<.« »Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, ist er nach Israel gegangen«, antwortete Ted. »Ach wirklich?« lächelte Bunting. »Da ist er bestimmt sehr glücklich.« Ted sah Sara an, und sein Blick schien sie um Rat zu bitten, was er jetzt sagen sollte. Diesmal war auch sie am Ende ihrer
Weisheit. Alles, was sie herausbrachte, war: »Der Nachtisch ist wunderbar. Sie müssen mir das Rezept dafür geben.«

Zuletzt kam die Reihe an Foley, den Archäologen mit dem versteinerten Gesicht, und seine ebenso undurchdringliche Frau, da sie wohl die härtesten Nüsse waren. Sara versuchte unzählige Male, mit ihnen einen Abend auszumachen. Aber jedesmal schienen sie schon eine Verabredung zu haben. Schließlich meinte Sara: »Bitte sagen Sie mir irgendeinen Abend, an dem Sie frei sind, wir richten uns dann nach Ihnen.« »Es tut mir leid, meine Liebe«, sagte Mrs. Foley frohgemut, »da sind wir auch schon besetzt.«
Sara legte höflich den Hörer auf und sagte zu Ted. »Was soll's, wir haben drei von vieren. Das sollte genügen.«

Von seinen Kollegen abgesehen, mochte Ted das Leben in Canterbury immer mehr. Er war froh, daß Sara sich an das Ländliche zu gewöhnen schien und die reichausgestattete Klassikerabteilung der Hillier-Bibliothek schätzen lernte. Sie las alle neu erscheinenden Zeitschriften von Anfang bis Ende durch und unterrichtete ihn sogar während des Essens von den Neuigkeiten aus der antiken Welt.
Die Studenten waren von Ted begeistert, und er war es von ihnen. Und natürlich tat es seinem Ego keinen Abbruch, daß seine Vorlesung über das griechische Drama die meisten Zuhörer aller Veranstaltungen der Abteilung hatte. Begeistertes Lob über seinen Unterricht drang auch bald bis zum Büro des Dekans. Und Tony Thatcher hielt es jetzt für angebracht, die Meinung aller Professoren der Abteilung zu Teds Anstellung zu erfragen. Er erhielt bestätigende Antworten vom Hellenisten, vom Latinisten und vom Historiker. Und vom Archäologen erhielt er sogar ein Nicken. Alles wäre ohne die geringste Schwierigkeit abgelaufen, wäre da nicht die Sache mit dem jungen Chris Jastrow gewesen.
Unter gewissen Umständen hätte das ein rührender Anblick sein können — ein muskulöser Adonis in orangefarbenem Pullover mit einem schreienden C darauf, der wie ein mächtiger Löwe in der Sonne schlief. Unglücklicherweise aber schlief der Löwe in Teds Lateinseminar. Und Ted war alles andere als gerührt.
»Aufwachen, Jastrow!« fuhr er ihn an. Christopher Jastrow hob langsam den hübschen Kopf und sah Ted mit halboffenen Augen an. »Jawohl, Herr Professor«, murmelte er mit übertriebener Ehrerbietung und nahm die Füße vom Tisch. »Es tut mir leid, Ihre Siesta unterbrechen zu müssen. Aber wären Sie vielleicht so freundlich, das Präsens Passiv von vocare zu konjugieren?«
»Vocare?«
»Ja, vocare«, wiederholte Ted. »Wie Sie sich vielleicht erinnern, ist das die erste Konjugation. Und ich hätte gerne, daß Sie das Präsens Passiv bilden.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Ich fürchte, ich weiß nicht, was für heute aufgegeben war, Sir.« »Sie wollen damit wahrscheinlich sagen, daß Sie das letzte Mal nicht da waren und sich auch nicht die Mühe gemacht haben, einen Kommilitonen zu fragen, was vorzubereiten war.« »Also...« »Mr. Jastrow. ich möchte Sie heute zwischen vier und fünf
in meinem Büro sehen.« »Es tut mir leid, aber ich kann nicht kommen, Sir«, antwortete er höflich. »Da habe ich Training.«
»I lören Sie«, warnte Ted streng, »meinetwegen können Sie mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten verabredet sein. Sie werden zwischen vier und fünf da sein, sonst...« Und obwohl es noch zehn Minuten bis zum Schluß des Seminars waren, konnte er nicht mehr weiterunterrichten. Sie können gehen«, sagte er schäumend.
Während die Studenten langsam den Raum verließen, kam Tom Hermann an Teds Tisch und sagte voller Mitgefühl: »Entschuldigen Sie, Professor Lambros, würden Sie es mir übelnehmen, wenn ich etwas sage?« »Tom«, antwortete Ted, »nichts, was Sie sagen, nähme ich so übel wie Jastrows Einstellung!«
»Das ist es ja gerade, Sir«, erwiderte Tom, »vielleicht wissen Sie nicht, wer er ist.« »Ich lese die College-Zeitung, und ich weiß, daß Jastrow Mitglied des Footbaliteams und unser bester Quarterback ist«, erwiderte Ted. »Trotzdem werde ich ihn hier herausschmeißen, wenn er nicht bald anfängt zu arbeiten.«
»Sir, wenn Sie die Bemerkung erlauben, das können Sie nicht tun. Ohne ihn können wir die Uni-Meisterschaft nicht gewinnen.«
Nach diesen tapferen Worten drehte er sich um und verließ schnell den Raum.

An diesem Nachmittag saß Ted von vier bis halb sechs in seinem Büro. Ein paar Studenten kamen, einige, um Dinge anzusprechen, die sie wirklich nicht verstanden hatten, andere nur. um bei ihm gut angeschrieben zu sein. Aber Chris Jastrow war nicht darunter. Ted warf sich seinen (Harvard-) Schal und den Mantel um und ging den Flur entlang. Er sah, daß das Büro der Abteilung noch offen war. Leona, die Sekretärin, saß an der Schreibmaschine. Er steckte den Kopf durch die Tür. »Tag, Lee, haben Sie Zeit, für mich eine kurze Notiz zu schreiben?«
»Gerne«, lächelte sie, spannte ein neues Blatt Papier in die Maschine und sagte: »Schießen Sie los.«
»An Anthony Thatcher, Dekan, Geisteswissenschaften: Christopher Jastrow, '69, vernachlässigt gegenwärtig Latein, Mittelstufe. Er hat eine gleichgültige und an Arroganz grenzende Einstellung. Falls nicht noch ein unvorhersehbares Wunder geschieht, sehe ich keine Möglichkeit, ihn länger als  bis zur Mitte des Semesters im Kurs zu behalten. Ihr ergebener etc. etc....«
Ted diktierte das in einem befreienden Zug, den Kopf in die Hände gestützt. Als er aufsah, bemerkte er, daß Leona unruhig war.
»Ja, ich weiß, wer er ist. Aber das ist hier nicht irgendein College, und wir müssen ein gewisses Niveau halten.« Und während sie das Kuvert adressierte, fügte er hinzu, als wollte er sie von der Mittäterschaft freisprechen: »Ich schiebe es selbst dem Dekan unter der Türe durch.«
Am nächsten Tag hatte er keine Veranstaltungen und nutzte deshalb die reichen Bestände der Bibliothek für die eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. Fast acht Stunden lang ackerte er den gesamten Foundation-Hardt-Band über Euripides durch, dann verließ er die Bibliothek wieder, die grüne Büchertasche voller teurer europäischer Fachzeitschriften, die er — und Sara — über das Wochenende verschlingen würden. Irgend etwas ließ ihn zum Canterbury-Hügel hinaufsehen. Es brannte kein Licht mehr im Büro. Was soll's, dachte er, ich sehe noch nach meiner Post. Außer der üblichen Korrespondez gab es noch einen handgeschriebenen Brief von der Abteilung für Sport. »Lieber Ted, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sobald wie möglich vorbeikommen würden. Ich bin gewöhnlich mindestens bis halb acht Uhr abends in meinem Büro. Ihr Freund Chet Bigelow, Chef-Coach Football.«
Das hatte er last erwartet. Beim Blick auf die Uhr sah er, daß es noch früh genug war, den anmaßenden Kerl auf seinen Platz zu verweisen. Er machte sich auf den Weg zur Sporthalle.

Die kantigen Gesichtszüge von Chet Bigelow sahen aus, als seien sie das Modell für die Phalanx der Trophäen, die auf dem Tisch zwischen den Männern aufgereiht waren.
»Nun denn, Professor«, begann er, »wie ich höre, hat unser Jastrow Schwierigkeiten in Ihrem Latein-Seminar. Sie wissen vielleicht nicht, unter welchem Druck unsere Leute während der Saison stehen.« »Offen gesagt, Mr. Bigelow, ist das nicht mein Problem. Was ich mich frage, ist, warum Jastrow überhaupt >Latein 20< belegt hat.« »Aber Professor, Sie kennen doch die College-Regeln mindestens so gut wie ich. Um einen Abschluß zu bekommen, muß man irgendeine Fremdsprache erfolgreich studiert haben. Richtig?«
»Aber warum denn Latein? Warum in aller Welt haben Sie Ihren kostbaren Footballspieler eine alte Sprache belegen lassen, die wahrscheinlich zweimal so schwer ist wie jede moderne?«
»Es ist nicht schwer, wenn man den richtigen Lehrer hat«, erklärte Bigelow.
»Was sagen Sie da?«
»Die meisten der Kollegen in Ihrer Abteilung haben uns immer großartig behandelt«, erinnerte sich Chet. »Ich meine, Henry Dunster ist einfach fabelhaft. Und natürlich haben wir uns auch erkenntlich gezeigt.« »Coach Bigelow, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.« »Also gut, Teddy, lassen Sie es mich anders sagen. Wenn man plötzlich eine große Zahl Studenten hat, die Latein machen wollen, dann muß man entsprechend viele Lehrer engagieren. Hab' ich recht?«
»Ich schätze diese Anspielungen ganz und gar nicht«, sagte Ted angewidert. »Und worauf spiele ich Ihrer Meinung nach an, Professor?« »Natürlich bin ich nur ein Halbidiot von Harvard. Aber anscheinend sind Sie der Meinung, daß, wenn das Footballteam die Anzahl unserer Studenten vermehrt, indem Sie uns
derartige Lebewesen schicken, wir Ihnen dafür so dankbar sein müssen, daß wir sie, ohne daß sie etwas tun müssen, durchkommen lassen.«
Es gab eine Pause. Der Trainer starrte Ted schweigend an. Dann lächelte er: »Wie ich sehe, kennen Sie die Spielregeln, Professor. Darf ich vorschlagen, Sie gehen wieder raus auf's Feld und spielen den Regeln entsprechend. Denn, wie ich höre, haben Sie hier noch keine Festanstellung. Und so, wie wir eine gute Saison brauchen, brauchen auch Sie eine gute Saison!«
Ted stand auf. »Wenn Sie Krieg wollen, Coach«, flüsterte er, »den können Sie haben. Morgen sind Zwischenprüfungen. Wenn Jastrow nicht besteht, fliegt er raus.« »Machen Sie, was Sie wollen, Teddy. Aber vergessen Sie nicht, Sie haben es mit einem Mann zu tun, der mittlerweile in der sechsten Saison ungeschlagen ist.«

Zu den schriftlichen Prüfungen am nächsten Morgen erschien Jastrow überhaupt nicht. Sobald sie vorbei waren, stürmte Ted Lambros zur Barnes Hall und bat um ein Gespräch mit dem Dekan der Geisteswissenschaften. »Tony, es tut mir leid, Sie so überfallen zu müssen.« »Das macht doch überhaupt nichts«, erwiderte der Dekan, »man kann sagen, Ihr Besuch wurde mir schon angekündigt.« »Coach Bigelow?« Er nickte. »Ja. Chet stellt sich ein bißchen zu sehr vor seine Jungens. Aber setzen Sie sich und erzählen Sie.« Thatcher hörte zu, während Ted ihm wie ein Staatsanwalt die Sache vortrug. Nach und nach verfinsterte sich sein Blick.
Dann sagte er: »Sehen Sie, Ted, ich halte es nicht für die klügste Lösung, Jastrow durchfallen zu lassen.« »Sehen Sie eine Alternative dazu?« Der Dekan drehte sich in seinem Stuhl herum und sah aus dem Fenster. »Nun ja«, sagte er nachdenklich, »wie Milton es so beredt ausgedrückt hat: >Auch die, die stehen und warten, dienen<.« Dann drehte er sich zurück und sah Ted an. »Milton war blind, als er das schrieb. Ich bin es aber nicht«, kam es zurück.
Dekan Thatcher dachte über die Antwort lange nach, dann lächelte er gütig. »Ted, lassen Sie uns für einen Moment privat miteinander sprechen. Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze. Und ich glaube, Sie stehen am Anfang einer außerordentlichen Universitätskarriere.« »Was kann das hier auch nur entfernt mit meiner beruflichen Zukunft zu tun haben?«
Der Administrator antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Alles.« »Könnten Sie mir das bitte erklären?« »Hören Sie zu«, erwiderte der Dekan geduldig. »Sie scheinen mich nicht zu verstehen. Wenn Jastrow nicht spielen kann, dann liegt mein Kopf zusammen mit Ihrem auf dem Schaffott.« »Wie das? Sie sind ordentlicher Professor. Sie sind fest angestellt.« »Ich habe aber auch drei Kinder und eine Hypothek abzuzahlen. Man kann mir auf ewig jede Gehaltserhöhung streichen. Sie müssen wissen, daß die Ehemaligen von Canterbury sehr mächtig und hier ganz schön stark finanziell engagiert sind.«
»Auch beim Footballteam«, fügte Ted ironisch hinzu. »Ja, verdammt, auch beim Footballteam!« gab der Dekan ärgerlich zurück. »Begreifen Sie denn nicht, daß jedesmal, wenn wir Yale oder Dartmouth schlagen, unsere Ehemaligen das so auslegen, als seien wir auch auf allen anderen Gebieten überlegen. Und ich sage Ihnen, am Montag nach einem solchen Sieg, da kommen die Schecks wie Manna vom Himmel. Eine Saison ohne Niederlagen — das kann tatsächlich mehrere Millionen Dollar bedeuten. Und ich werde nicht einfach dasitzen und zusehen, wie ein pathetischer Anfänger wie Sie das ganze System durcheinander-
bringt. Sie scheinen nicht besonders dankbar dafür zu sein, daß Sie hier sind.« »Warum sollte  ich denn auch  dankbar sein, verdammt noch mal?« erwiderte Ted. »Ich habe schon mehr veröffentlicht als die ganze Abteilung zusammen.«
Der Dekan schüttelte den Kopf: »Ich bin wirklich erstaunt, Sie haben noch keinen Begriff davon, wie man in der akademischen Welt vorankommt.« »Ich bin ein guter Lehrer, und ich habe ein wichtiges Buch geschrieben. Ich meine, das sollte genügen.« Tony Thatcher grinste. »Für Harvard hat es anscheinend nicht genügt, oder? Man wollte wohl keinen Professor, der aus Cambridge stammt. Und offen gesagt, hier wollen das ein paar Leute auch nicht.«
Ted hatte als Junge Straßenkämpfe mitgemacht. Er war getreten, geschlagen und verwundet worden. Jetzt aber fühlte er sich innerlich verletzt. Obwohl er begriffen hatte, daß man ihn in einem provinziellen Ort wie Canterbury nach gesellschaftlichen Maßstäben einschätzte, würde er sich niemals eingestehen, daß für die Ablehnung durch Harvard etwas anderes als akademische Kriterien maßgebend gewesen waren. Aber plötzlich war er vollkommen verunsichert. Er
wußte nicht mehr, sollte er bleiben oder gehen. Deshalb blieb er wie angewachsen in seinem Sessel sitzen und wartete, ja fürchtete, was Thatcher noch zu sagen hatte. Schließlich sprach der Dekan in leisem väterlichen Ton zu ihm. »Ted, ich werde Ihnen jetzt sagen, was geschieht. Sie lassen Chris Jastrow durch. Er wird dafür unzählige Touchdowns möglich machen — zum Entzücken unserer großzügigen Gönner. Natürlich wissen Sie und ich, daß der Junge in Latein überhaupt nichts kann. Aber wir wissen auch, daß dies im größeren Zusammenhang nicht so wichtig ist. Entscheidend bleibt, daß niemand das Gleichgewicht stört. So ist jedem geholfen - auch Ihnen.« Er erhob sich und streckte ihm die Hand zu gütlichem Lebewohl hin. »Es tut mir leid«, sagte Ted ruhig, »aber ich bin noch immer nicht überzeugt.«
»Professor Lombros« anwortete der Dekan herzlich, »noch ein kleiner Hinweis. Wenn wir Ihnen die Festanstellung Ende dieses Jahres verweigern sollten, dann dürften Sie woanders wohl kaum einen Lehrauftrag bekommen.« »Das ist Erpressung.« »Nein, das ist eine Tatsache. Denn gleichgültig, wieviel Sie
veröffentlicht haben, der jeweilige Dekan wird sich an uns wenden und um eine Persönlichkeitsbeurteilung bitten. Sie wissen schon — um zu erfahren, ob Sie sich kollegial verhalten.« Er hielt ein und fügte dann fast flüsternd hinzu: »Muß ich noch mehr sagen?« »Nein«, antwortete Ted und konnte die eigene Stimme kaum hören.

Sara wurde blaß. »Das können sie doch mit dir nicht machen. Das ist grausam, das ist barbarisch — und es ist ganz und gar unmoralisch.«
»Du hast recht. Aber es ist erschreckenderweise möglich.« Er saß ohne auch nur einen Rest von Zutrauen auf der schäbigen Couch. Sara hatte ihn noch nie derartig erschüttert erlebt. Sie setzte sich und legte den Arm um ihn. »Ted, Canterbury ist nicht das Ende der Welt. Es gibt noch andere Colleges, die sich umbringen würden, um dich zu bekommen, auch wenn die Schweine hier erklären, du seist ein Scheißkerl.«
Er senkte den Kopf. Schließlich sagte er: »Aber wenn sie nun nicht bluffen? Angenommen Tony Thatcher kann mich wirklich kaltstellen? Was dann?« Sara Lambros dachte einen Augenblick nach und wählte sorgfältig jedes Wort: »Ted, ich liebe dich, weil du gut und ehrlich bist. Und ich stehe zu dir, ganz gleich, was geschieht. Ist das nicht genug?« Er hob den Kopf und sah sie an. »Ich kann dich nicht belügen, Sara. Ich habe noch nie im Leben solche Angst gehabt.«
Bevor sie weiterreden konnten, kam ihr kleiner Sohn fröhlich ins Zimmer gerannt. »Papa, Papa«, zwitscherte er und ief in die Arme des Vaters. »Jamie Emerson hat wieder versucht, mich zu verprügeln.«
»Wieder?« fragte Ted verwirrt und hielt seinen Sohn fest. »Ja, aber diesmal habe ich gemacht, was du gesagt hast«, sagte der Junge. »Ich habe ihn in den Bauch geboxt, und dann hat er geheult.«
Ted lächelte und dachte, wenigstens einen Kämpfer gibt es in der Familie.

Beim Essen redeten sie kaum etwas. Sara nahm an, ihr Mann sei einfach erschöpft und deshalb dankbar für eine Pause. Sie war etwas erstaunt, als er aufstand und nach der Windjacke griff.
»Wohin gehst du?« fragte sie.
»Ich weiß noch nicht. Vielleicht gehe ich zur Canterbury Hall. Es ist ganz schön dort, wenn niemand da ist. Ich möchte die Prüfungsarbeiten korrigieren — damit ich die ganze Sache loswerde.«
»Gute Idee«, antwortete sie und spürte, daß er wieder etwas Mut gefaßt hatte. »Dann kann ich inzwischen zwei oder drei Passagen aus >Wege zu Euripides< durcharbeiten.« Er küßte sie auf die Stirn. »Sara, du bist die zehnte Muse.« »Danke, mein Lieber, aber es genügt mir, einfach Mrs. Lambros zu sein. Geh jetzt, mach die Schulaufgaben und komm bald in meine liebenden Arme zurück.«

Er saß in seinem kleinen Büro und sah aus dem Fenster. Von einem ersten Schneeschauer weiß überzogen, schimmerte die weite Fläche im Mondlicht. Dann und wann kamen ein paar Studenten vorbei, und die Luft war so still, daß er ihr Lachen noch von weitem hörte. Die Turmuhr schlug zehn und mahnte ihn, mit der Arbeil fertig zu werden. Er nahm sich den Stapel der Examenshefte  vor und übertrug die Noten in die Liste für das Dekanat. Die Prüfung war ganz gut ausgefallen, ein paar Einser, zwei Dreier und der Rest mehr oder weniger gute Zweier. Alles in allem ein Resultat, auf das ein Sprachlehrer stolz sein konnte.
Und dann war da die Sache mit dem nicht erschienenen Footballspieler. Aber das war etwas völlig anderes. In wenigen Minuten hatte er die Noten in die Liste eingetragen. Jetzt war nur noch der Platz nach dem Namen Christopher Jastrow, '69, frei — unberührt und sauber wie der frische Schnee vor dem Fenster.
Was also sollte da hin? Durchgefallen? Nicht an der Prüfung teilgenommen? Beides würde das Ende der Footballkarriere dieses kleinen Scheißkerls bedeuten.
Er saß da und starrte auf die Liste, ohne etwas einzutragen.
Zuerst wußte er nicht, was er tun sollte. Dann aber wurde ihm langsam klar, daß er aus einem ganz bestimmten Grund das Haus verlassen hatte und in sein einsames, nicht ausreichend geheiztes kleines Büro gekommen war, nämlich um von Sara wegzukommen. Um aus der Reichweite ihres Gewissens zu sein.
Sara konnte diese Art von Angst nicht verstehen. Ihre Familie besaß Ansehen, Gewicht und Sicherheit. Er kam sich immer noch wie ein Einwanderer vor, der unbedingt im neuen Land Wurzeln schlagen mußte. Vielleicht hatten ihre Vorfahren vor vielen Generationen auch Kompromisse machen müssen. Wenn ja, dann waren diese jetzt tief eingemauert in das unerschütterliche Fundament von Saras Ehrgefühl.
Es war doch nur eine Kleinigkeit. In den kommenden Jahren würde er nicht mehr aus falschem Draufgängertum heraus handeln. Dies hier war nicht das alte Athen, und er war schließlich kein Sokrates. Warum sollte er den Giftbecher leeren, nur wegen eines kurzlebigen Footballstars. Welchem fadenscheinigen Prinzip war damit gedient, wenn Jastrow durchfiel?
Nein, sagte er sich. Unsere Zukunft steht auf dem Spiel. Es geht um Selbsterhaltung. Er nahm den Kugelschreiber und schrieb hastig eine Drei an die leere Stelle hinter Jastrows Namen. Und auf dem Weg nach Hause steckte er die Liste mit den Noten in Barnes Hall ein.

Ais er ins Haus kam, hörte er, daß Sara im Schlafzimmer am Telefon war. Um diese Zeit noch? Er kam an die offene Tür. Sie war so ins Gespräch vertieft, daß sie ihn nicht bemerkte. »Ich weiß einfach nicht, was ich sonst tun soll«, sagte sie traurig. »Das ist wirklich ein Schlag für Ted, und ich scheine ihm nicht helfen zu können ...« Sie brach ab und hörte, was ihr Gesprächspartner sagte. Ted machte sich noch immer nicht bemerkbar. »Das willst du tun? Ich glaube, das wäre eine große Hilfe«, sagte sie dann erfreut.
Mit wem spricht sie? Wem erzählt sie von unseren intimsten Geheimnissen? »Ich bin wieder da, Sara«, sagte er ruhig. Sie sah auf, lächelte und beendete schnell das Telefongespräch. »Aha, der Herr des Hauses ist gerade gekommen. Dank für alles. Ich rufe dich morgen wieder an.« Sie legte auf, kam schnell zu
ihm und küßte ihn. »Wie geht es dir, Liebling? Soll ich dir noch etwas zu essen machen?« »Ich hätte ganz gerne ein Bier«, sagte er kurz und bündig. Auf dem Weg zur Küche fragte er ruhig, aber unmißverständlich mit dem Ton der Mißbilligung: »Welches Gemeindemitglied weihst du in unser kleines moralisches Problem ein?«
»Ach Ted, ich bin so froh, daß ich es dir gleich sagen kann. Ich habe gerade lange mit meinem Vater gesprochen.« Sie machte den Eisschrank auf, nahm zwei Flaschen Bier heraus und gab ihm eine davon. »Warum muß er das erfahren?« fragte Ted. »Weil ich dachte, er könnte helfen. Und er kann. Er kennt Whitney Vanderbilt — den wichtigsten Ehemaligen von Canterbury. Papa ist sicher, daß er ihn dazu bringen kann, einzugreifen und uns da herauszuhelfen. Ist doch prima, findest du nicht?«
Teds Wut nahm zu.
»Du bist also mit unserem Problem zu deinem Vater gerannt. Mit meinem Problem, um genau zu sein. Ich finde das, gelinde gesagt, ganz schön illoyal.«
Sie war baß erstaunt. »Illoyal? Aber Ted, um Gottes willen, du warst in selbstmörderischer Stimmung, als du hier weg bist. Ich hätte alles getan, um dir zu helfen, sogar Tony Thatcher hätte ich mit bloßen Händen erwürgt. Ich begreife überhaupt nicht, warum du dich nicht darüber freust, daß mein Vater uns tatsächlich helfen kann ...« Sie hielt ein, als sie merkte, wie wütend er war.
»Sara, du hättest mich wirklich erst fragen sollen, bevor du das tust. Bin ich eigentlich der Mann im Haus oder nicht?« »Was zum Teufel hat das denn damit zu tun? Du willst anscheinend in Schutt und Asche versinken, nur wegen deines männlichen Stolzes.«
Ted explodierte. »Ach geh zum Teufel, Sara!« und schlug die Bierflasche mit solcher Gewalt auf den Küchentisch, daß sie in Stücke ging. Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, kamen ängstliches Schluchzen und »Mama«-Rufe aus dem kleinen Kinderzimmer. Sie starrten sich an, dann flüsterte sie: »Ich sehe mal
nach ihm.«
Sara brauchte fast zwanzig Minuten, bis ihr ängstlicher sechsjähriger Sohn wieder eingeschlafen war. Als sie in die Küche zurückkam, sah sie, daß Ted saubergemacht und die Glasscherben weggeräumt hatte. Sie ging ins Wohnzimmer.
Er saß mit einem Glas Whisky in der Hand vor dem Feuer. Er drehte sich nicht um, als er sie kommen hörte.
»Willst du reden?« fragte sie ruhig.
Er wandte ihr weiter den Rücken zu und sagte kurz: »Ich habe Jastrow eine Drei gegeben.«
Das hatte sie inzwischen schon vermutet. Und sie wußte, sie mußte ihren Ärger unterdrücken. »Ted«, begann sie leise, »du mußtest das selbst entscheiden. Ich wünsche mir nur, du hättest mir genug vertraut, um mich an diesem schmerzhaften Kompromiß teilnehmen zu lassen.«
Er saß wie versteinert da und gab keine Antwort. »Ich habe dir doch gesagt, ich stehe zu dir. Und wenn es dir so viel bedeutet, in Canterbury zu bleiben, dann werden wir alles tun, das zu erreichen. Wir können überall glücklich sein, solange wir nur zusammen sind.« »Du hältst mich für einen Feigling, ja?« murmelte er.
»Nein, Ted«, antwortete sie. »Ich habe genau solche Angst gehabt wie du. Ich hätte dich nicht zu einem Helden von Sophokles machen sollen. Ich finde, das Leben besteht aus lauter Kompromissen, und was du gemacht hast, ist, im großen Zusammenhang gesehen, völlig unwichtig.« Noch immer drehte er sich nicht um. Sie stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hände sanft auf den Nacken. Die Berührung tröstete und beruhigte ihn. »Sara«, flüsterte er, »den ganzen Abend habe ich dagesessen und überlegt, was zum Teufel ich tun soll. Und dann sagte ich mir, sich gegen dieses System zu stellen, würde bedeuten, wie König Lear gegen die Stürme zu wüten. Ich hätte alles das auf's Spiel gesetzt, wofür wir gearbeitet haben und was wir noch tun wollen ...« »Es ist vorbei, Ted«, sagte sie leise, »also vergiß es jetzt einfach.« »Du weißt genau, das kann ich nicht. Und ich werde es niemals vergessen.« Er hielt ein und sagte dann: »Und du wirst es auch nicht vergessen.« Und sie wußte, er hatte recht.

Der Nationale Sicherheitsrat hatte zumindest dem Namen nach seit 1947 bestanden. Aber erst nach 1969 — als Henry A. Kissinger von Richard Nixon an die Spitze dieses Beraterstabes berufen wurde — begann der Sicherheitsrat, auf die Regierung einzuwirken und nach und nach einige Macht an sich zu ziehen. Das meiste davon war der Intelligenz Kissingers und seinen Kenntnissen zuzuschreiben. Aber er profitierte auch von der Möglichkeit, unmittelbaren Zugang zum Präsidenten zu haben — geopolilisch hätte man es >Erstschlagfähigkeit< nennen können.
Der Außenminister sitzt in einem imponierenden Gebäude in der 2 1. Straße, Ecke Virginia Avenue, aber der Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrates arbeitet von einem fensterlosen Kaninchenstall in den Eingeweiden des Weißen Hauses aus. William Rogers hatte zwar den Kabinettsposten und die Ehre seines Amtes, Henry Kissinger aber fand Gehör beim Präsidenten.
Um Hilfe dabei zu haben, die Machtposition des Nationalen Sicherheitsrates auszubauen, hatte Henry einige seiner Harvard-Studenten mitgebracht, von denen er viele schon lange Zeit auf derartige Aufgaben vorbereitet hatte. Unter ihnen war George Keller, der bei weitem Begabteste. Und bei ihm hatte der Geheimdienst die meisten Schwierigkeiten gemacht.
Keines der Opfer bei Kafka wurde so unbarmherzig befragt wie George vom FBI. Natürlich ging das alles außerordentlich höflich vor sich. Aber wie die Agenten immer wieder betonten: Wenn jemand für den höchsten Geheimnisbereich  geprüft wird, dann liegt das Schicksal der Nation in der Gründlichkeit dieser Prüfung.
Zuerst mußte er einen umfassenden Fragebogen ausfüllen. Seinen Namen, alle früheren Namen und alle Adressen, unter denen er seit seiner Geburt gelebt hatte, mußten angegeben werden, weiter wurde nach Herkunft jedes Dollars, den er je verdient hatte, gefragt. Darüber hinaus verlangte man so viele Namen wie möglich von Amerikanern, die seine Loyalität bezeugen konnten. George nannte Kissinger, Professor Finley und Andrew Eliot. Wie er später erfuhr, wurden alle drei persönlich vom FBI befragt.
Als bei den Gesprächen immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden, wurde er ärgerlich. »Meine Herren, ich habe Ihnen schon hundertmal gesagt, ich weiß nicht sicher, ob ich im Alter von zwei Jahren nicht noch woanders gewohnt habe. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Durchaus, Sir«, sagte der hochrangige FBI-Mann tonlos, »aber ich hoffe, Sie begreifen auch, in welcher wichtigen Position Sie sich befinden.« »Ich bin doch bestimmt nicht der erste Kandidat für diesen Posten, der in einem kommunistischen Land geboren wurde?« »Natürlich nicht. Aber wenn ein Kandidat noch Verwandte dort drüben hat, dann läßt sich die Möglichkeit von Erpressung nicht ausschließen. Und Sie haben doch noch einen Vater, Dr. Keller...?«
»Und eine Schwester«, wiederholte George zum x-ten Mal, »aber wie ich Ihnen schon gesagt habe, Gentlemen, habe ich beide seit dem Oktober 1956 nicht mehr gesehen.« »Sie wissen aber auch, daß Ihr Vater ein hoher Beamter in der ungarischen Volksregierung ist.«
»Ich weiß nur, was in der Zeitung steht«, erwiderte George. »Und die zu lesen, ist Teil meiner Aufgaben als Experte für Osteuropa. Ja, es ist richtig, daß Istvän Kolozsdi« (er konnte die Worte »mein Vater« nicht über die Lippen bringen) »die Treppe hinaufgefallen ist, wie man es nennen könnte. Aber seine verschiedenen Positionen sind völlig bedeutungslos.«
»Aber immerhin ist er der Stellvertreter eines stellvertretenden Parteisekretärs«, hielt der Agent dagegen. George lachte spöttisch. »Das könnten Sie auch sein. In Ungarn werden diese Titel wie Bonbons verteilt.« »Damit wollen Sie also sagen, daß Ihr Vater keine besonders bedeutende Position hat. Stimmt das, Dr. Keller?« »Genau. Man könnte ihn einen erfolgreichen Versager nennen.«

Einige der Fragen kamen nicht unerwartet. »Was halten Sie vom Kommunismus?« gab George die Gelegenheit, eine beredte Erklärung gegen die verschiedenen marxistischen Regime in Osteuropa abzugeben. Eine Rede, die seine Befrager doch recht beeindruckte, wie er bemerkte.
Doch dann, selbst nach diesem ganzen Tag des Redens, überraschte ihn die Frage: »Lieben Sie Ihren Vater, Dr. Keller?«
George wurde plötzlich nervös. Unerklärlicherweise fehlten ihm plötzlich die Worte.
»Lieben Sie Ihren Vater?« wiederholte der Agent. George suchte nach einer passenden Antwort. »Er repräsentiert ein unterdrückerisches politisches System, das zu bekämpfen ich als meine Lebensaufgabe ansehe. So ein Individuum kann ich nur verachten.« Die FBI-Leute rückten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Der oberste Beamte sagte dann: »Dr. Keller, wir haben Ihnen eine persönliche Frage gestellt, und Sie haben uns eine politische Antwort gegeben. Ich weiß, es ist schon spät, und wir haben hier schon viel Zeit zugebracht. Aber wenn Sie nichts dagegeben haben, würde ich Sie doch bitten, sich dieser Frage noch einmal zuzuwenden. Lieben Sie Ihren Vater?«
Warum fiel es ihm nur so schwer, einfach mit »nein« zu antworten?
»Hören Sie«, sagte er in vertraulichem Ton, »darf ich etwas sagen, das nicht für die Akten bestimmt ist?«
»Natürlich, gerne.«
»In Wirklichkeit hasse ich diesen Mann. Er hat mich von meiner Geburt an wie einen Hund behandelt. Ich verab- scheue Istvän Kolozsdi als Menschen. Und jetzt für die Akten: Ich empfinde gar nichts für meinen Vater. Reicht Ihnen das, Gentlemen?«
»Ja, Dr. Keller. Ich glaube, damit sind wir am Ende. Wir danken Ihnen für Ihre Geduld.«

Nachdem sie gegangen waren, verfiel George in eine plötzliche Depression. Nicht, daß er sich um seine Zulassung zur höchsten Geheimhaltungsstufe Sorgen machte, Kissinger hatte ihn vorher schon gewarnt, das FBI sei besonders streng mit im Ausland geborenen Kandidaten.
Nein, es war diese letzte Frage. Er hatte geglaubt, überhaupt nichts mehr für seinen Vater zu empfinden. Aber noch nie hatte er aktenkundig werden lassen: »Ich beschwöre es, ich liebe meinen Vater nicht.« War das tatsächlich wahr? Eine lang vergessene Kindheitserinnerung tauchte plötzlich auf und überkam ihn völlig unerwartet.
»Warum weinst du, Vater? Wegen Mama?« »Ja, mein Junge. Es ist schrecklich, jemanden zu lieben. Es bringt so viele Schmerzen mit sich.« »Aber Vater, ich liebe dich doch.« »Dann bist du dumm, mein Kleiner. Geh raus, und laß mich in Ruhe.«

Die meisten Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates waren in großen, luftigen Räumen im zweiten Stock des Bürogebäudes untergebracht, einem Haus im Kolonialstil auf dem Gelände des Weißen Hauses. (»Es ist fast so, als wäre man wieder auf der Universität«, sagte George zu einem  Assistenten.) In den kleinen Büros entlang des Korridors saßen intelligente junge Spezialisten für Diplomatie, Verteidigung und verschiedene geographische Gebiete der Erde. Sie arbeiteten endlose Stunden für ihr Land und ihre Karriere. George aber wurde von Anfang an ausgesondert. Es wurde ihm ein kleines Büro direkt im Keller des Weißen Hauses zugewiesen, von wo ihn sein Boß zu jeder Tageszeit und bis weit in die Nacht hinein zu Besprechungen zu sich zitieren konnte.
Auch war er nur ein paar Schritte von den zwei bedeutendsten Orten der Regierungstätigkeit entfernt — dem >Oval Office< und dem >Situation Boom<, einem luftlosen Kubus, der manchmal als »Sauna für Weltkrisen« bezeichnet wurde.
Obwohl die fünfundzwanzigtausend Dollar Jahresgehalt weniger waren, als George in New York verdient hatte, konnte er doch ein kleines Appartement in den Town Square Towers mieten, die nur ein paar Minuten Autofahrt vom Weißen Haus entfernt lagen — das war besonders günstig um sieben Uhr früh, der Zeit, zu der er gewöhnlich ins Büro kam.
Selbst Kissingers Einfluß reichte nicht bis zu den Parkplätzen. Obwohl Assistent, mußte George deshalb seinen Wagen auf dem Regierungsparkplatz am Washington Monument abstellen und dann die Constitution Avenue entlang zum Eingang des Weißen Hauses laufen.
Während des langen und arbeitsreichen Tages sah er nur selten die Mitarbeiter, die in dem Gebäude auf der anderen Seite arbeiteten. Denn Henry stellte an sein Team enorme Anforderungen. Er hatte einen so unersättlichen Appetit auf jede Art von Information, daß man kaum jemals den Schreibtisch verlassen konnte, etwa um unten in der Cafeteria zu Mittag zu essen.
Am allerlängsten arbeitete Kissinger selbst. Und George achtele darauf, daß er nie sein Büro verließ, bevor Henry vorbeigekommen war und ihm eine gute Nacht gewünscht  hatte. Privatleben hatte George keins. Auch die anderen Mitarbeiter arbeiteten täglich bis zur vollständigen Erschöpfung, so daß sie kaum mehr Kraft hatten, nach Hause zu fahren. Es gab einige Ausfälle, selbst unter den Senkrechtstartern, die gerade Mitte Zwanzig waren.
Eine der Aufgaben von George war es, Kissinger dabei zu helfen, intelligente neue Gesichter (die dann sehr schnell zu bleichen und müden Gesichtern wurden) für den Arbeitsstab des Nationalen Sicherheitsrates zu engagieren.
In diesem ersten Frühjahr interviewte er eine junge College-Absolventin aus Georgetown, die sich um einen Job in der Südamerika-Abteilung beworben hatte. Sie war hervorragend qualifiziert: außer Diplomen in Spanisch und Portugiesisch hatte sie einige Empfehlungsschreiben von Mitgliedern der republikanischen Partei, in denen man die Kerle im Weißen Haus darauf hinwies, daß der Vater des Mädchens ein bedeutender Rechtsanwalt in Washington war. Dennoch war George entschlossen, sie sehr genau unter die Lupe zu nehmen. Er war Kissinger gegenüber viel zu loyal, um Parteipolitik Einfluß auf ihre wichtige Arbeit nehmen zu
lassen. Wenn dieses Mädchen nur so eine flatterhafte Gesellschaftszicke war, dann würde man sie in das Büro irgendeines Senators verfrachten.
Catherine Fitzgerald war blond und sah gut aus, und das bestätigte ihn in seinem Vorurteil, man versuche, ihnen eine törichte Anfängerin aufzuhalsen. Aber dann beeindruckte sie ihn wirklich. Nicht nur mit ihren Qualifikationen und ihrer offensichtlichen Intelligenz, sondern auch durch ihre Erfahrung. Sie hatte zwei Jahre im Peace Corps in Südamerika gearbeitet und während ihrer Zeit im College drei Sommer hintereinander in einer Bank in Säo Paulo gearbeitet, um ihr Portugiesisch zu vervollkommnen. Georges Beurteilung war positiv, und Catherine Fitzgerald wurde beim Nationalen Sicherheitsrat eingestellt.
Danach begegnete er ihr gelegentlich in den Gängen der anderen Gebäude, wenn er dort irgend etwas für Henry zu erledigen hatte. Sonst aber dachte er nicht mehr an sie. Er war zu sehr damit beschäftigt, Kissinger dabei zu helfen, das Puzzle der Weltpolitik zusammenzusetzen. Bis auf einen eiskalten Winterabend, an dem er den Westflügel des Weißen Hauses verließ und auf das Tor zuging. Er blickte zum Bürogebäude hinüber, um festzustellen, in welchen Büros
noch Licht brannte, da sah er sie aus dem Eingang kommen. »Miss Fitzgerald«, sagte er scherzhaft, »Sie gehen doch nicht etwa schon nach Hause?«
»Ah, guten Abend, Dr. Keller.« Sie stöhnte müde. »Spaß beiseite. Heute gehe ich das erste Mal vor Mitternacht nach Hause.« »Ich werde das dem Boß berichten«, sagte George. »Das können Sie lassen. Ich bin auf Beförderung nicht scharf«, erwiderte sie. »Ich wollte, er würde noch ein oder zwei Hilfskräfte für meine Abteilung engagieren. Es gibt hier Leute, die halten Südamerika nur für einen Vorort von Mexiko.«
George lächelte. »Steht Ihr Wagen am Washington Monument?« Sie nickte. »Meiner auch. Ich bringe Sie hin. Wir können uns gegenseitig vor den Gangstern beschützen.«
Als sie die Constitution Avenue überquerten, sah sich George Cathy an, und er hatte einen überraschenden Gedanken. Dieser Mensch ist ein Mädchen. Sie sieht nicht schlecht aus. Nein, eigentlich ist sie sogar ganz hübsch. Seit ich in Washington bin, habe ich mich nicht mehr privat unterhalten. Nach all den vielen Stunden harter Arbeit gestattete er sich, sie zu fragen, ob sie mit ihm etwas trinken wolle. »Gerne«, erwiderte sie, »aber nur wenn es Kaffee ist.« George schlug verschiedene Lokale im vornehmen Georgetown vor, von denen er gehört hatte und die er ausprobieren wollte.
»Ach nein«, antwortete sie freundlich, »ich habe keine große Lust auf die Jeunesse dorèe von Washington. Lassen Sie uns zu mir fahren und da einen Kaffee trinken.«
»Einverslanden«, sagte George. »Sie fahren vor, und ich folge Ihnen.«
Sie wohnte allein in der South Royal Street in Old Town Alexandria — eine hübsche Dreizimmer-Wohnung. Während sie eine Espressomaschine in Gang setzte, sah sich George die Plakate an den Wänden an. Das meiste waren farbenprächtige Erinnerungsstücke von ihren Reisen in Südamerika. Außer einem, das seine Neugier erregle. »Sagen Sie, Cathy«, sagte er und zeigte auf das große weißblaue Plakat, das prominent über ihrer Couch hing, »ist das hier ein Witz?« »Meinen Sie mein antiatomares Kunstwerk?« erwiderte sie munter. »Nein, ich war wirklich aktiv in der Antikriegsbewegung meines Colleges. Ich habe sogar an ein paar Protestmärschen teilgenommen.« »Dann verstehe ich aber nicht...« »Was denn? Wie ich den Job beim Nationalen Sicherheitsrat bekommen habe? Oder warum ich ihn wollte?« »Na ja, beides.«
Sie setzte sich neben ihn und gab ihm eine Tasse. »Erst mal: Dies ist ein freies Land, und ich habe keine Hemmungen zu erklären, daß ich es für falsch halte, daß wir in Vietnam sind. Andererseits bin ich nicht für die gewaltsame Abschaffung der Regierung, sonst hätte ich wohl auch nicht die Sicherheitsprüfungen bestanden. Daraus folgt, man könnte sagen, ich bin ein Idealist, der innerhalb des Systems auf Veränderung hinarbeiten möchte.« »Sehr edel«, erwiderte George. »Gibt es noch andere wie Sie in den Korridoren des Rürogebäudes da?« »Noch ein oder zwei.« Sie lächelte. »Aber dem Schatten Kissingers werde ich bestimmt keine Namen nennen.« Sie schwieg geniert.
»So nennt man mich also — der Schatten Kissingers?« »Na ja, Sie zwei sind doch ziemlich unzertrennlich. Vermutlich sagen wir das nur aus Eifersucht, weil wir im Gebäude gegenüber arbeiten. Jemand hat mal gesagt, Sie seien wahrscheinlich der Jüngste mit einem Büro im Weißen Haus.« »Was erzählt man sich noch?« fragte George neugierig. »Sie wollen mich festnageln. Können wir nicht das Thema wechseln?«
»Ja, aber nur, wenn Sie mich raten lassen, was die anderen Mitarbeiter von mir denken. Vermutlich halten sie mich für eingebildet, arrogant und rücksichtslos.«
Er sah sie erwartungsvoll an. »Kein Kommentar«, sagte sie flehentlich.
»Ist auch nicht nötig, denn es ist wahr. Das bin ich alles.« »Das glaube ich Ihnen nicht.« Cathy lächelte. »Ich bin überzeugt, daß irgendwo unter Ihrem Panzer das Herz eines Weihnachtsmannes schlägt.« »Danke für dieses plötzliche Vertrauen.« »Ich glaube, beim Boß ist es ebenso. Henry spielt gerne den harten Mann. Deshalb kommen Sie so gut miteinander aus. Wahrscheinlich liegt das an Ihrer gemeinsamen europäischen Herkunft.« »Was wissen Sie über meine Herkunft?«
»Das, was jeder weiß, wahrscheinlich. Wir sind nun mal alle zur Geheimhaltung verpflichtet worden, also worüber können wir denn sonst klatschen als über das Privatleben der Kollegen.«
»Aber ich habe gar kein Privatleben«, erwiderte George. »Sehr schade. Sie könnten wahrscheinlich eine Frau sehr glücklich machen.« »Da habe ich meine Zweiiel, ich bin der am wenigsten romantische Mensch in Washington.« »Aber wahrscheinlich der gescheiteste. Ich habe Ihre Artikel in >Foreign Affairs< gelesen, und obwohl ich mit den  meisten Ihrer Schlußfolgerungen nicht übereinstimme, sind sie erstaunlich scharfsinnig.« »Ich bin geschmeichelt.« Er berührte sanft ihre Schulter und fragte: »Haben Sie jemanden, der Sie glücklich macht?« »Im Augenblick nicht. Nein.«
»Kann ich mich um die Stelle bewerben?« »Das können Sie«, lächelte sie. »Aber dann müssen wir noch ein Einstellungsgespräch führen.«
»Wie wär's mit einem Abendessen am Freitag?« Sie nickte. »Sehr schön. Ich versuche, um neun Uhr fertig zu sein. Ist das in Ordnung?«
»Sehr gut«, sagte George. »Das ist etwas früh für mich, aber ich freue mich sehr darauf.«

»Kala Christouyina! Fröhliche Weihnachten.
« Für den Lambros-Clan gab es im Dezember 1968 viel zu feiern, als sich alle um den festlichen Tisch in Cambridge geschart hatten. Eine Woche zuvor war Ted offiziell mitgeteilt worden, er werde zum 1. Juli des kommenden Jahres (est angestellt. Es war unglaublich, der Beschluß der Abteilung war einstimmig gewesen. Tatsächlich war Ted so offensichtlich erfolgreich mit seinen Lehrveranstaltungen gewesen, daß im Wintersemester eine Unmenge Studenten seine Vorlesungen und Übungen belegen wollten. Und wenn sich dieser Trend fortsetzte, konnte es durchaus sein, daß das Dekanat noch eine weitere Stelle einrichtete, damit die Abteilung wachsen konnte. Der kleine Ted hatte den Schulwechsel völlig überstanden und begann sich sogar im Hockey der Kleinen auszuzeichnen. Außerdem hatte Sara noch Evelyn Ungar, die Leiterin von Harvard University Press, überredet, sie freiberuflich an der Herausgabe von Klassikern mitarbeiten zu
lassen.
Die Spenden der Ehemaligen erreichten neue Rekorde, was in der Hauptsache auf die fabelhaften Ergebnisse des ungeschlagenen Footballteams von Canterbury zurückzuführen war. Chris Jastrow war der beste Spieler aller namhaften Universitäten geworden, und es sah so aus, als würde er Profi werden. Und außerdem hatte Tony Thatcher die Leitung des Colleges übernommen. Ted hatte also hochrangige Freunde.

»O du fröhliche, o du seelige ...«
Sobald Ted und Sara wieder in Canterbury waren, sahen sie sich nach einem Haus um — und nahmen Unterricht im Skilanglauf. Das immerwährende Weiß des Schnees verlieh dem Campus eine verzauberte Atmosphäre. Nach ein paar Wochen Suche fanden sie ein solides altes Haus an der Barrington Road mit einem wunderbaren Blick auf die Berge. Es mußte renoviert werden, und dabei würde, wie Ted sich überlegte, seine Frau ihre kreativen Energien einsetzen können. Denn obwohl sie sich nie beklagte, fand Sara Lambros das Stolpern und Rutschen auf den vereisten Wegen nicht besonders interessant. Sie erwog, ihr Studium fortzusetzen, und versuchte anhand des Vorlesungsverzeichnisses von Harvard einen Studienplan zu entwerfen, den sie durch einen wöchentlichen Aufenthalt von zwei Tagen in Cambridge bewältigen konnte.
Ted redete ihr das nicht aus, verschwieg aber nicht seine Bedenken, ihre Abwesenheit, auch wenn es nur zwei Tage seien, könnte sich bei ihrem Sohn negativ auswirken. Zunächst aber war Sara schwer damit beschäftigt, das Haus wieder herzurichten. Bei all diesem Nestbauen und Überwintern war es nur natürlich, daß die beiden sich vermehren und vervielfältigen wollten (»Teddy hätte sicher viel Spaß mit einer kleinen Schwester, meinst du nicht?«). Aber immer wieder wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. »Verdammt«, rief Sara. »Es tut mir ja so leid, Ted.« »Ach, laß mal, vielleicht haben wir uns nur verrechnet. Nur die Ruhe. Geduld. Liebling.« »Hab' ich ja«, antwortete sie mit gezwungenem Lächeln. »Versprich mir, daß du nicht ungeduldig mit mir wirst.« Er nahm sie in die Arme. »Hör mal, ein zweites Kind wie Teddv— darauf warte ich gerne noch ein Dutzend Jahre lang.« Seine Worte trösteten sie, aber mit jedem ergebnislosen Monat klangen sie immer weniger überzeugend.

Als Ted an Cameron Wylie schrieb und ihm von  seiner Anstellung   berichtete,   schrieb ihm der Regius-Professor zurück, er solle doch endlich nach Oxford kommen. Obwohl er erst kürzlich bestätigt worden war, hatte Ted den Mut, das College um ein Jahr Urlaub zu bitten. Wie er in seinem Brief begründete, könne er in dem Jahr seine Forschungen über Euripides abschließen. Das würde auch dem College zur Ehre gereichen, wie er behutsam andeutete. Die Antwort des Ausschusses, der seine Eingabe behandelte, fiel unerwartet aus.
»Lambros«, sagte der Provost während der offiziellen Befragung, »wir sind bereit, Ihrem Antrag vorzeitig stattzugeben, wenn Sie uns dafür etwas versprechen.«
»Natürlich doch, alles«, sagte Ted und war sich sicher, daß er, mit der festen Zusage der ordentlichen Professur, auch dann keine Schwierigkeiten haben würde, wenn er sein Versprechen nicht würde halten können.
»Wenn wir Sie nach Oxford lassen«, sagte ein älteres Mitglied des Ausschusses, »erwarten wir, daß Sie bei Ihrer Rückkehr auf wenigstens fünf Jahre die Leitung der Abteilung für Klassische Sprachen übernehmen.« Ted konnte kaum glauben, was er da hörte. Wurde ihm wirklich die Leitung der Abteilung so angetragen, als tue er dem College einen Gefällen? Wie plötzlich jetzt doch die akademischen Auszeichnungen auf ihn zukamen. Aber er hatte mittlerweile genügend Erfahrung, um keine übertriebene Begeisterung zu zeigen. »Also gut, ich verpflichte mich dazu auf drei Jahre«, antwortete er lächelnd. »Und danach können wir noch einmal
verhandeln.« »Also, Professor Lambros, das Geschäft ist gemacht«, sagte der Provost. »Ich glaube, das College hat in Ihnen den kommenden Mann.«