23. Andrew ELiots Tagebuch 16. Oktober 1969

Gestern war der Tag des Moratoriums. Überall im Land fanden Protestkundgebungen gegen den Krieg in Vietnam statt.
Niemand überraschte es, daß es in Washington, New York und Berkeley Demonstrationen gab. Aber was eine Menge Konservative erstaunte, waren die Versammlungen an so unwahrscheinlichen Orten wie Pittsburgh, Minneapolis und Denver. Und was die Leute wirklich durcheinanderbrachte, war der Antikriegsmarsch ausgerechnet in der Wall Street.
Ich hatte hart darauf hingearbeitet, die Kollegen aus dem Finanzgeschäft dazu zu bewegen, bei unserem Mittagsmarsch für den Frieden   mitzumachen. Mehr als eine Woche lang hing ich am Telefon, rief alle möglichen Bankleute an und versuchte, sie davon zu überzeugen, daß der Krieg nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch für die Wirtschaft schlecht sei. (Das zweite Argument vor allem war sehr wirksam.) Ich bekam eine Menge Flüche zu hören, und viele Telefongespräche wurden abrupt abgebrochen, aber ich gewann auch eine Menge Mitstreiter. Aber auch in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht vorgestellt, daß wir fast zehntausend Menschen auf die Beine bringen würden. In der >Times< von heute steht, es habe noch nie eine so große Demonstration in der Wall Street gegeben. Es war ein klarer, sonniger Tag, und wir marschierten los.
Die meisten trugen schwarze Armbinden, und über uns schrieb ein Flugzeug »Für den Frieden« an den Himmel.
Unser Zug endete an der Old Trinity Church, deren Bänke überfüllt waren. Und last hundert der bedeutendsten Bankleute standen nacheinander  auf, gingen auf die steinerne Kanzel, und einer nach dem anderen rief die Namen der Soldaten auf, die in Südostasien gefallen waren.
Unter denen, die die Namen aufriefen, waren ein paar frühere Kabinettsmilglieder und eine erstaunlich große Anzahl unserer Partner in den großen Investitionsbanken. Ich fand, das waren die Tapfersten, den die Firmen, mit deren  Aktien sie handeln, sind unmittelbar am Krieg beteiligt.
Aus unerfindlichem Grund — vielleicht wegen meines Namens — wurde auch ich gebeten, Namen zu verlesen. Es war eine Ehre, die mein Herz schwer  werden ließ.

Natürlich gab es heute Nachwehen. Mein alter Wettbewerbsgeist  genoß es, der Morgenzeitung zu entnehmen, daß unser Demonstrationsmarsch in der Wall-Street mehr Leute auf die Beine Gebracht hatte als die Veranstaltungen im Central Park Ich hoffe, die Jeans- und Gitarren -Typen nehmen das zur Kenntnis und begreifen, daß die Flanell-Leute auch ein Gewissen haben.
Dann ging ich ins Büro, und schon ging es los. Die meisten Geschäftspartner von Downs, Winship waren alles andere als glücklich über meine Aktivitäten. Sie halten mir schon am Tag zuvor gesagt — einige davon gar nicht sehr wortreich —, daß ich ein unpatriotischer Bastard sei, meinem Land und ihnen gegenüber illoyal. Ich nahm ihre Beschimpfungen so höflich wie möglich entgegen und dachte mir, das würde sich nach ein paar Tagen schon geben.
Aber den Telefonanruf, der genau um neun Uhr dreißig kam, halte ich nicht erwartet. Das »Du gottverdammter Idiot!« riß mir fast das Ohr ab. Es war Dad.
Fast zwanzig Minuten lang schimpfte er weiter, fast ohne Luft zu holen. Was für ein Narr ich sei, ob ich denn nicht verstünde, welchen Schaden solcher Blödsinn wie die gestrige Demonstration anrichte. Sei ich denn des Lesens nicht mehr kundig und sähe nicht, daß mein eigenes Vermögen einige tausend Aktien von Oxyco enthalte, deren Geschäft zum größten Teil auf Verträgen mit dem Verteidigungsministerium basiere.
Ich konnte auf nichts davon antworten, denn er machte keine Pause. Schließlich aber fragte er mich etwas, das nicht rhetorisch gemeint war.
Glaubte ich nicht, daß ich dem Namen Eliot Schande gemacht habe?
Sonst schlägt er mich mit solchen Fragen zu Boden, aber dieses Mal hatte ich die richtige Antwort. War Pastor Andrew Eliot 1776 König George gegenüber illoyal gewesen? Oder folgte er nicht vielmehr dem, was sein Gewissen ihm diktierte? Das brachte Vater plötzlich zum Schweigen. Offenbar wußte er nicht, was er darauf sagen sollte. Dann erinnerte ich ihn noch daran, bei der Revolution sei es gerade darum gegangen, dann sagte ich höflich »Auf Wiederhören« und legte auf. Ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben gegen ihn zur Wehr gesetzt und das letzte Wort behalten.

Andrew war keineswegs ein Einzelfall. Der Krieg in Vietnam entzweite Amerika in jeder Beziehung. Die Falken gegen die Tauben. Reich gegen Arm, Eltern gegen ihre Kinder.
Auf die Beziehung von George Keller und Catherine Fitzgerald übte er einen fast unerträglichen Druck aus. Am 15. Oktober 1969 hatte Catherine es gewagt, den Tag freizunehmen, um an dem Protestmarsch in Washington teilzunehmen. Und als sie George am nächsten Abend traf, hatte sie »vergessen«, die schwarze Armbinde abzunehmen. Möchte die Dame nicht ablegen?« fragte der Ober, als er sie zu ihrem Tisch im >Sans Souci< brachte. »Ja«, antwortete George schnell. »Nein, danke«, überstimmte sie ihn höflich. »Es ist mir ein bißchen kühl.«
Und sie behielt den Mantel über den Schultern, wobei sie den Ärmel mit der störenden Binde so auffällig wie möglich arrangierte. »Cathy«, sagte George nervös, »weißt du eigentlich, was zum Teufel du da tust?« »Ja«, erwiderte sie. »Weißt du es denn? Sieh' mal, wenn du mit mir ausgehen willst, dann mußt du dich mit meinen Prinzipien abfinden. Sie gehören zum Gesamtpaket.« »Aber die Leute starren uns an«, flüsterte er. »Wichtige Leute.« »Sei doch nicht hysterisch, George. Ich wollte, es wären wichtige Leute. Das Restaurant hier ist auch nicht näher am Zentrum der Macht als die Tore des Weißen Hauses.«
Er schüttelte konsterniert den Kopf. »Können wir denn nicht mal beim Abendessen Waffenstillstand schließen?« »Ich bin ganz bestimmt nicht für kriegerische Auseinandersetzungen.« Sie lächelte. »Deshalb werde ich dieses Mal einen Kompromiß machen und dich aus deiner Not befreien.«
Dann nahm sie den Ärmel des Mantels und riß das schwarze Band langsam ab. Wer es vorher nicht bemerkt hatte, wußte jetzt, daß es am Ärmel gewesen war. Zumal Cathy es mit unschuldigem Lächeln George über den Tisch hinweg reichte. »Hier, Dr. Keller, tun Sie damit, was Sie wollen.« Nachdem sie ihre Einstellung klargemacht hatte, wechselte sie nachsichtig das Gesprächsthema und sprach über etwas, was beide interessierte: Würde Henry Kissinger Nancy Maginnes heiraten oder nicht?

»Wieso ertrage ich dich überhaupt?« fragte er halb im Spaß auf der Heimfahrt. »Weil du, um eines deiner Idole, Senator Goldwater, zu zitieren, in deinem Innersten weißt, daß ich recht habe.« »Aber es ist allgemein bekannt, daß ich kein Herz habe«, erwiderte er. »Ich bin da anderer Meinung. Es ist gut versteckt, aber es ist da. Und deshalb ertrage ich dich.«

Catherine Fitzgerald war nicht die einzige unter den jüngeren und älteren Mitarbeitern des Nationalen Sicherheitsrats, die die Regierung zu überreden versuchte, von ihrer selbstmörderischen Politik abzuweichen. Als der Schatten Kissingers war George natürlich nicht nur gegenteiliger Meinung, sondern er war auch direkt an der Eskalation der Feindseligkeiten beteiligt. Noch immer wollte Nixon einen Sieg, und die ihm am nächsten stehenden Berater waren entschlossen, ihm den auch zu verschaffen, ohne dabei Mühen und Bomben zu scheuen.
»Kannst du Henry nicht davon überzeugen, daß das Irrsinn ist?« fragte Cathy eines Abends.
»Kannst du den Krieg nicht wenigstens vergessen, wenn wir im Bett sind?«
»Nein, das kann ich nicht. Bitte, George. Ich weiß, er respektiert deine Meinung.« »Ich kann ihn doch nicht so einfach dazu bringen aufzuhören.« »Versuch es doch«, sagte sie leise und fügte hinzu: »Es wird noch schlimmer, oder?«
»Ich weiß es nicht.«
»Natürlich weißt du es. Aber du vertraust mir einfach nicht. Warum nur. Ich bin doch kein Geheimagent. Kannst du nicht offen mit mir sein?« »Cathy, ich schwöre, ich weiß auch nicht mehr als du.« »Würdest du es mir sagen, wenn du es wüßtest?« »Was denn sonst«, sagte er und küßte sie wieder.

Am 20. April 1970 gab Präsident Nixon bekannt, daß im folgenden Frühjahr 150 000 amerikanische Soldaten aus Südvietnam abgezogen würden. Die Tauben schöpften wieder Mut.
Zwei Tage später begann Nixon eine Reihe von Geheimbesprechungen mit Kissinger und ein paar verläßlichen Helfern. Er erwog die Möglichkeit, den Krieg auszuweiten, indem man in das neutrale Kambodscha einmarschierte, um den Nachschub des Feindes zu zerstören.
George war stolz darauf, daß Kissinger ihm genügend vertraute, ihn zu diesen strategischen Konferenzen hinzuzuziehen. Sein Stolz wurde noch größer, als er sah, daß nicht einmal der Verteidigungsminister anwesend war. Nixon war ärgerlich. »Die verdammten Nordvietnamesen tummeln sich in Kambodscha. Wir müssen energisch vorgehen und ihnen wie auch den Russen zeigen, daß wir es ernst meinen.«
»Herr Präsident, ich fürchte, nicht alle im State Department teilen Ihre Meinung«, wagte George respektvoll anzumerken.
»Dummes Zeug«, murmelte Nixon.

Am 26. April 1970 beschloß der Präsident, 52 000 Soldaten für die Invasion Kambodschas bereitzustellen. Wie er es ausdrückte: »Um sie alle zu erledigen.« Die Pläne wurden mit der militärischen Führung in Südostasien beschlossen, ohne einige wichtige Kabinettsmilglieder davon in Kenntnis zu setzen.
Am selben Nachmittag trat der Nationale Sicherheitsrat zusammen, um die Vorteile einer möglichen Invasion Kambodschas zu erörtern. Nur wenige der Sitzungsteilnehmer wußten, daß die Entscheidung bereits gefallen war. Der Angriff sollte achtundvierzig Stunden später beginnen.
Kissinger schilderte seinem Stab die Situation, wie sie sich »objektiv« darstellte: »Wir haben nur die Wahl zwischen zwei drastischen Möglichkeilen«, begann er ernst, »wir können zulassen, daß Nordvietnam Kambodscha überrennt. Oder wir können Truppen einsetzen und versuchen, sie aufzuhallen. Ein erfolgreicher Angriff könnte der erste Schritt zu einem ehrenhaften Frieden sein. Wortmeldungen dazu?«
Viele Mitarbeiter äußerten stärkste Bedenken über diese mögliche Eskalation. Obwohl sie die bei weitem jüngste Anwesende war, hob Catherine Fitzgerald tapfer die Hand. »Mit allem Respekt, aber ich glaube, wenn die Regierung diese Invasion durchführt, wird jeder Campus in Amerika explodieren.« Kissinger antwortete ihr ruhig: »Wir dürfen uns in unserer Entscheidung nicht von einer Gruppe haltloser, genußsüchtiger Jugendlicher, die keine Ahnung von der politischen Realität hat, unter Druck setzen lassen.« Catherine mußte darauf antworten: »Ist das nicht etwas hart ausgedrückt, Dr. Kissinger?«
»Vielleicht war es eine übertriebene Verallgemeinerung. Verzeihen Sie, Miss Fitzgerald.«
Die Diskussion wurde erregter und um so ergebnisloser.

»Ich bin froh, daß du Henrys Bemerkung über die Studenten widersprochen hast«, sagte George, als sie am Abend in ihrer Wohnung eine Flasche Weißwein tranken. »Aber wenn du nicht so hübsch wärst, hätte er das nicht durchgehen lassen, glaube ich.« Sie überging das Kompliment und bemerkte: »Du warst ja heute recht still.« »Ich konnte da nichts mehr beitragen, scheint mir«, antwortete er ausweichend. »Außerdem kennt jeder meinen Standpunkt.«
»Ja, du stehst voll und ganz hinter Kissinger. Aber die Frage ist, wo steht der eigentlich?« »Ich weiß es nicht«, log George.

Obwohl es der Präsident erst am Abend des 30. April offiziell ankündigte, wurde der Nationale Sicherheitsrat am 28. April über die amerikanische Invasion Kambodschas informiert. Bei einigen Mitgliedern herrschte große Empörung, denn man begriff, daß die ganze Debatte am Sonntag davor nur eine Inszenierung gewesen war. Einige hohe Mitarbeiter stürzten in Henrys Büro und kündigten auf der Stelle.
Aber unter den jüngeren Hilfskräften war die Enttäuschung noch größer. Einige von ihnen gaben ihre vielversprechende politische Karriere auf und quittierten unter Protest ihren Dienst. Catherine Fitzgerald war unter den ersten, die gingen. Und nachdem sie einen Brief klaren Inhalts einer Sekretärin Kissingers übergeben hatte, marschierte sie den Korridor entlang zum Büro von George Keller. »Du Schwein!« explodierte sie, noch bevor er die Tür hinter ihr schließen konnte. »Du rücksichtsloses, herzloses Schwein!
Du hast vor nichts und niemandem Respekt. Du und dein fabelhafter Chef- ihr spielt mit Menschenleben!« »Cathy, bitte beruhige dich doch ...« »Nein, laß mich ausreden, George. Ich verlasse heute das Weiße Haus und dich.« »Cathy, sei doch vernünftig, ich bin doch nicht verantwortlich ...«
»Aber du hast es gewußt! Du hast mir nicht genug vertraut, es mir zu sagen.« »Damit habe ich wohl recht gehabt, wenn ich deine hysterische Reaktion hier sehe«, gab George zurück. »Das ist nicht hysterisch, verdammt noch mal. Es ist menschlich. Bei deinem fabelhaften englischen Wortschatz, George, hast du je begriffen, was das Wort >menschlich< bedeutet?«
Bevor er antworten konnte, war sie fort.
Er saß einige Minuten lang bewegungslos an seinem Schreibtisch und grübelte darüber nach, was geschehen war.
Vermutlich mußte es so kommen, überlegte er. Wir hatten sowieso nicht mehr viel länger mit unserem Privatkrieg weitermachen können. Vielleicht hatte Henry recht. Frauen sollten nur ein Hobby sein.

Nachdem sechs Tage später vier Studenten der Kent State University bei einer Protestdemonstration getötet worden waren, erschien ein Taxifahrer mit einem alten Koffer an George Kellers Wohnungstür. Im Koffer waren ein paar Hemden, Schlipse und andere Kleidungsstücke, die George in Cathys Wohnung gelassen hatte. Ebenfalls im Koffer befand sich ein Blatt Papier, auf das sie die aus der Zeitung ausgeschnittenen Fotos der vier Opfer geklebt hatte. Ihre Botschaft war einfach und direkt: »Das sind Ihre Kinder, Dr. Keller.«

Wie Alice ihr Wunderland entdeckte, indem sie durch den Spiegel trat, so sah Ted Lambros sein Wunderland zum ersten Mal durch die verdreckten Fenster eines englischen Eisenbahnwaggons kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof von Oxford.
An demselben kühlen Herbsttag machte Cameron Wylie mit dem Trio der Familie Lambros einen Spaziergang durch eine Universität, wo schon mehr als dreihundert Jahre, bevor Kolumbus Amerika fand, Vorlesungen stattgefunden hatten. In einigen der ursprünglichen Colleges, wie Merton und St. Edmunds Hall, gab es noch Bauteile aus den Jahren um 1260. Und auch in Exeter, Oriel und >New< College bestanden noch Reste aus dem Mittelalter. Das Magdalen College, eine relativ junge Institution aus dem 15. Jahrhundert, war das Juwel Oxfords. Seine wunderbaren Gärten lagen entlang der Ufer des Cherwell, und es gab dort sogar ein Wildgehege, wo sich Ted wie im Märchen vorkam. Und schließlich gab es Christ Church, überragt von dem großen, von Christopher Wren erbauten, achteckigen Tom Tower (eine Kopie davon schmückte das Dunster House in Harvard). Das war Wylies College, an dem er Ted für die Zeit seiner Gastdozentur in den Lehrkörper integriert hatte.
»Wie findest du das, mein Kleiner?« fragte Ted seinen Sohn, als sie in dem großen Geviert standen. »Es ist alles so alt, Daddy.« »Das ist die beste Atmosphäre, um neue Ideen zu bekommen«, bemerkte Sara.
»Ganz richtig«, sagte der Regius-Professor.
Dann fuhren sie in dessen kleinem Morris zu dem bescheidenen Haus mit Terrasse in Addison Crescent, wo sie für ein Jahr leben sollten. Beim Anblick der verblichenen grünen und braunen Farben und des wackeligen Mobiliars konnte Sara nur herausbringen: »Ach, Professor Wylie, es ist alles so anheimelnd.« »Das ist meiner Frau zu verdanken«, sagte er ritterlich. »Heather hat das Haus gefunden. Sie können sich nicht vorstellen, wie grottenartig viele Wohnungen hier in Oxford sind. Sie hat den Eisschrank mit dem Wichtigsten gefüllt, damit Sie etwas haben, bis sie morgen früh herüberkommt. Sie müssen mich jetzt bitte entschuldigen, aber ich habe noch einen Stapel Druckfahnen zu korrigieren.«

Sara briet ein paar Eier und Würstchen zum Abendessen, sang den kleinen Ted in den Schlaf und kam dann ins Wohnzimmer.
»Es ist verdammt kalt hier«, sagte sie. »Alle drei Heizspiralen brennen aber«, erwiderte Ted und zeigte auf den rotglühenden elektrischen Kamin.
»Das sieht aus wie ein halb kaputter Toaster«, beklagte sich Sara. »Und liefert auch etwa so viel Wärme.« »Ach, laß doch, Liebling«, neckte sie Ted, »wo bleibt denn dein Sinn für Abenteuer?« »Ist tiefgefroren«, antwortete Sara und öffnete die Sherryflasche, die Mrs. Wylie für sie mit Vorbedacht hingestellt hatte. »Hätte uns Heather nicht etwas mit Zentralheizung besorgen können?«
»Jetzt hör aber mal«, gab Ted zu bedenken, »ich gebe ja zu, daß dies hier nicht gerade der Buckingham Palast ist, aber es liegt nur ein paar Minuten von Teds Schule weg, und wir können zu Fuß in den Ort gehen.« Dann fiel ihm etwas auf.
»He, warum hast du denn immer noch Hut und Handschuhe an? Gehst du noch wohin?« »Ja, ins Bett. Ich bin schließlich kein Eisbär.«

Am nächsten Morgen traf Ted Professor Wylie am Eingang zur Bodleian Bibliothek, und der Professor stellte ihn einem ältlichen Bibliothekar vor, der Ted dann laut den uralten >Leser-Eid< sprechen ließ: »Ich verpflichte mich hiermit, aus dieser Bibliothek kein Buch, Dokument oder anderen
Gegenstand, der im Besitz oder in Verwahrung der Bibliothek ist, zu entfernen, darin Markierungen vorzunehmen, ihn unleserlich zu machen oder in irgendeiner Weise zu beschädigen — und weiter, in die Bibliothek keinerlei offenes Feuer oder Licht hereinzubringen oder solches dort zu benutzen ...«
Natürlich durften aus diesen heiligen Hallen keine Bücher entfernt werden. Sogar Oliver Cromwell war das nicht gestattet worden, als er über das Land herrschte. So benutzte Ted für seine tägliche Arbeit die Bestände des Ashmolean-Museums. Jeden Morgen passierte er beeindruckende griechische Skulpturen auf dem Weg zu dem muffigen Zimmer, das die Klassiker der Klassiker beherbergte und tatsächlich auch einige der Männer, die sie verfaßt hatten.
An einem der Nachmittage in der ersten Woche kaufte er sich auf der Broad Street einen Schal mit den Insignien des Christ Church College. Er wollte genauso, wenn nicht noch mehr, zu Oxford gehören wie alle dort. Ein paarmal aß er mit Cameron im College zu Mittag —sie nannten sich inzwischen beim Vornamen. Dabei begegnete er nicht nur Wissenschaftlern seiner eigenen Disziplin, sondern auch Größen aus anderen Bereichen. Bald war es den >Klassikern< der anderen Colleges klar, daß dieser junge Amerikaner Wylies besonderer Protege war. Deshalb erschienen alle Dozenten am Abend seines Vortrages in der Philological Society — bereit zum Angriff.
Der Vortrag war hervorragend. Bei weitem der beste, den er je gehalten hatte. Und Wylie sprang auf und verkündete: »Ich meine, die Gesellschaft hat gerade einen ausgezeichneten Vortrag gehört. Und wenn Professor Lambros nicht zu müde sein sollte, wird er vielleicht so freundlich sein, noch einige Fragen zu beantworten.«
Vier Hände hoben sich und fuchtelten mit unsichtbaren Messern. Die >Nachfragen< versuchten herauszufinden, ob Ted als Wissenschaftler Gewicht hatte. Aber er wehrte sie, wie Horatius auf der Brücke, alle ab und enthauptete einen Tarquinius nach dem anderen. Und bei alldem behielt er immer sein gewinnendes Lächeln. Der herzliche Applaus war nur ein kleines Indiz seines Sieges. Denn anschließend warteten fast alle anwesenden Dozenten geduldig, um ihm die Hand zu schütteln — und ihn zum Mittagessen einzuladen.
Einige Stunden später gingen Ted und Sara Arm in Arm nach Hause. Sie waren berauscht von seinem Triumph. »Onoma thou Theou«, imitierte sie liebevoll seine Mutter. »Du warst unglaublich gut. Ich wollte, die Kerle von Harvard hätten dich heute abend hier gehört.« »Laß mal«, antwortete Ted mit neu erworbener Selbstsicherheit, »sie werden schon noch früh genug davon erfahren.«

Im Januar, zu Beginn des Frühjahrstrimesters, war Ted Lambros schon fast ein fester Bestandteil von Oxford. Das ging so weit, daß der Leiter der Oxford Universiry Press am High Table immer neben ihm zu sitzen versuchte, um sein nächstes Buch für den Verlag zu bekommen. Wylie, der die Oxford-Ausgabe von Euripides überarbeitete, veranstaltete ein Sonderseminar für Studenten und Doktoranden über >Alkeste< und bat Ted, mit ihm zusammenzuarbeiten. In der Bückschau lag Ironie in der Wahl ausgerechnet dieses Stückes. Denn die Heldin des Euripides opfert sich nobel für ihren Mann auf und erhält auf diese Weise ihre Ehe.
Das Seminar aber läutete das Ende der Beziehung von Sara und Ted ein. Vielleicht war es unvermeidlich. Denn sein großer Erfolg in Oxford hatte bei ihm eine Art geistige Ekstase hervorgerufen. Er fühlte sich geistig omnipotent.
Der Gegenstand seiner Zuneigung — oder wie er es unbewußt empfand, der Preis für seine Leistung; — war eine neunzehnjährige Studentin namens Felicity Hendon mit nußbraunem Haar. Sie fiel im Seminar durch zweierlei auf. Einmal durch ihre fabelhaften Griechischkenntnisse, die selbst gemessen an den hohen Ansprüchen Oxfords außergewöhnlich waren. Und dann ihr Körper, dessen schlanke Sinnlichkeit sogar unter der losen — und kurzen — Studentenrobe sichtbar war. Ted hatte Schwierigkeiten, seine Blicke von ihren Beinen zu wenden. Felicity war nach Oxford gekommen, um dort intime Bekanntschaft mit den edelsten Geistesgrößen zu machen. Eigentlich hatte sie das Seminar belegt, um den Regius-Professor selbst zu verführen.
Aber dann war da Ted. Ein Akademiker, für ihre Maßstäbe alt genug, um als Senior zu gelten, gleichzeitig aber einer, der noch das besaß, was sie als Zeichen jugendlicher Männlichkeit anerkannte. Und trotz allem glaubte Ted, er verführe sie.
Die ganze Affäre begann mit einem formlosen Beisammensein, zu dem Felicity und ihre Mitbewohnerin Jane die neun Studenten und zwei Professoren des Seminars eingeladen hatten. Wie bei den meisten Einladungen in Oxford waren Ehefrauen ausdrücklich von den Einladungen ausgenommen.
Sara hatte sich an diese Ungleichheit gewöhnt, obwohl sie weiter etwas dagegen hatte. Sie wußte, daß es Ted Spaß machte, an den Speisetafeln der Fellows in den verschiedenen Colleges zu sitzen, besonders dann, wenn es sich um ein Abendessen mit schwarzem Binder handelte. Ihm, der sich früher einmal gewunden hatte, wenn er mit Kellnerfliege im Lokal servieren mußte, machte es jetzt großes Vergnügen, ein derartiges Kleidungsstück zu tragen und zu den akade- mischen Abendessen mit seinen befrackten Kollegen zu gehen.   Und  Sara freute sich, daß Ted  Spaß daran hatte.
Außerdem wußte sie, daß er sich im nächsten Jahr, wenn sie wieder in Canberbury sein würden und sie in Harvard als Doktorandin anfangen würde, revanchieren mußte.

Obwohl Studenten am St. Hilda's College, hatten die beiden Mädchen eine kleine Wohnung in der Cresham Road. An
diesem Februarabend begannen die Festlichkeiten mit billigem Weißwein, dann gab es noch billigeren Rotwein zu dem abscheulichen Mahl, das die Gastgeberinnen für eine Feinschmeckermahlzeit hielten.
Cameron ging als erster. Sein Verhältnis mit Heather war in Oxford bekannt. Sie waren sich auf altmodische Weise treu. Deshalb ging er immer so früh nach Hause, wie es die Höflichkeit zuließ. Die Studenten verschwanden nach und nach - um zu lernen, anderer Aufgaben wegen, um Hasch zu rauchen oder um einfach schlafen zu gehen. Kurz nach zehn erschien ein Kerl in Motorradkleidung. TedsBesorgnis wurde schnell zur Erleichterung, als er sah, daß es Janes Freund Nick war, ein Medizinstudent im dritten Jahr, vom Trinity- College. Sie griff sich in aller Eile ihren Helm, und beide brausten davon, um im >The Perch< schnell etwas zu trinken und um sich dann auf sein Zimmer zu begeben. Ted und Felicity waren allein. Er sah sie an und fragte sich, ob sie seine Lust auf ihren jugendlichen Körper wohl spürte. »Ich helfe beim Abspülen«, bot er ritterlich an. »Danke.«
Für einen Augenblick hatte er Angst und war unsicher. Ted begriff plötzlich, daß er fast zehn Jahre lang keine andere Frau angerührt hatte. Wie fing man das nur an? Als sie die schmutzigen Teller in den Ausguß stellte, trat er hinter sie und legte die Arme versuchsweise um ihre Hüften. Sie nahm seine Hände und zog sie zu ihren ßrüsten. Dann drehte sie sich ohne ein Wort um und umarmte ihn feurig.

Ted kam nach Mitternacht nach Hause. Als er ins Bett schlüpfte, rührte sich Sara und murmelte: »Na, wie war's, Liebling?« »Ganz schön«, antwortete er ruhig. Sie schlief wieder ein. Er blieb noch lange wach und dachte über die Bedeutung dessen nach, was er an diesem Abend angefangen hatte.

Am nächsten Morgen beim Frühstück — und bei vielen anderen Mahlzeiten danach — fragte sich Ted, ob man es sehen konnte. Konnte Sara, die ihn so gut kannte, es in seinem Gesicht sehen und die Hieroglyphen seiner Schuld entziffern? Er fühlte sich verpflichtet, ihr seine Liebe zu beweisen, und versuchte, sie mit zunehmender Intensität zu lieben. Aber allmählich wurde er ärgerlich über diese Selbstverpflichtung
ehelicher Zuneigung.
Natürlich verdiente Sara Rücksicht. Sie war eine treue Ehefrau. Die Mutter seines Sohnes. Und ein wirklich echter Freund. Aber sie war nicht aufregend. Und das nicht erst seit neuestem, nachdem sie etwas dicker geworden war. Nein, soweit er sich erinnerte, war sie nie besonders sinnlich gewesen. Vielleicht hatte ihn das so zu Felicity hingezogen. Sie erweckte in ihm schlummernde Gefühle, an die er längst nicht mehr geglaubt hatte. Sie war dynamisch. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Und dann kam da noch etwas hinzu, auch wenn Ted das zunächst nicht realisierte. Der größte Reiz bestand darin, daß es... verboten war.

Nach einer Weile redete er sich ein, daß Sara nichts bemerkt habe. Aber schon ihre reine Anwesenheit war störend. Er konnte sich mit Felicity nur nachmittags oder am frühen Abend treffen. Nur sehr selten konnten sie sich nachts sehen.
Einmal erfand er irgendein offizielles College-Essen, und Sara, gutgläubig vertrauend (langweilig), prüfte nie etwas nach. Selbst ihre naive Passivität begann ihn zu ärgern. Felicity drängte ihn wieder und wieder, mit ihr ein Wochenende zu verbringen. Aber welchen Vorwand konnte er finden? In Oxford schienen an den Samstagen und Sonntagen alle offiziellen Aktivitäten automatisch aufzuhören. Aber dann gab ihm das Schicksal grünes Licht. Philip Harrison, '55, zur Zeit leitender Direktor der U.S. International Banking Commission, kam im Auftrag der Regierung für zehn Tage nach London. Großzügig wie immer mietete er eine zweite Suite neben der seinen im >Claridge's<, damit seine Tochter, sein Schwiegersohn und der geliebte Enkel sich einmal fern von allen akademischen Mühen ausspannen konnten.
Sobald ihr Vater seinen Besuch angekündigt hatte, begann Sara die Theaterspielpläne in der >Times< zu studieren. Ihr Mann dagegen suchte nach einer überzeugenden Entschuldigung, um freizukommen und am Wochenende durch die romantischen Dörfer von Gloucestershire zu fahren. Dann könnten er und Felicity Abende und Nächte in einem der historischen Cotswold-Gasthöfe verbringen, und dabei selbst Geschichte machen.

Sara Lambros war glücklich, im >CJaridge's< wohnen zu können. Nicht, daß sie elegante Hotels besonders mochte. Sie genoß ganz einfach die Zentralheizung. Und die Wärme ihres liebevollen Vaters. Philip Harrison konnte nicht umhin, seiner Tochter zu sagen, daß sie blaß aussehe. Sie war in keiner guten Verfassung, fand er. Sara schob es auf das Wetter in Oxford. Aber wie kam es, daß Ted so strahlend aussah?
Sie meinte, die harte Arbeit bekomme ihm offensichtlich gut, und sie erzählte von seinem triumphalen Auftritt vor der Philological Society und vom Erfolg ihres Sohnes in der Volksschule. Er hatte jetzt sogar angefangen, Fußball zu spielen.
»Du bist schon ein richtiger kleiner Sportler«, sagte sein Großvater und lächelte liebevoll. »Und auch in Latein ist er recht gut«, fügte Sara stolz hinzu. »Hier in England fangen sie schön früh damit an.« »Wahrscheinlich ist man hier kulturell doch noch weiter als bei uns«, sagte ihr Vater, »das Theater hier jedenfalls bestimmt. Ich mußte die Botschaft bemühen, um für uns noch vier Plätze für >Othello< mit Olivier zu bekommen.« »Wie schön, Vater, das habe ich mir schon immer gewünscht. Wann gehen wir hin?«
»Ich konnte nur noch Plätze für die Matinee am Samstag bekommen.« »Ach du je«, reagierte Ted besorgt, »Samstag wird aber schwierig für mich. Ich habe doch die erste Fassung meines Euripides-Buches fast fertig...« »Ja, Sara hat davon erzählt. Gratuliere.« »Und Cameron Wylie hat gestern abend angerufen und möchte das Manuskript mit mir über das Wochenende durchgehen. Ich konnte das Sara noch gar nicht sagen.«
»Ach schade, Papa«, klagte der kleine Ted, »es ist doch so schön in London.«
»Du kannst ja hierbleiben mit Mama und Großvater«, versicherte er seinem Sohn und wandte sich dann an Mr. Harrison. »Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich muß diese Gelegenheit wahrnehmen. Das findest du doch auch, Liebling?«
Obwohl tief verletzt, mußte sie zögernd den Bundesgenossen spielen. »Ich glaube, Ted hat recht«, sagte sie loyal, »wie lange wirst du fort sein?«
»Keine Sorge, zum Abendessen am Sonnlag bin ich wieder in London.«

>George lnn< in Winchcombe — siebenhundert Jahre alt — wurde früher einmal von Pilgern benutzt, die zum Grab des Heiligen Kenelm zogen. An diesem Wochenende beherbergte er ein Paar des zwanzigsten Jahrhunderts, das auf einer äußerst weltlichen Reise war.
Wie findest du es?« fragte Fehcity, packte eine kleine Flasche Wodka aus und goß etwas in die Hotelgläser. »Es ist so etwas wie die mittelalterliche Version eines Motels«, antwortete er.
Ted war entschieden nervös. Winchcombe war nicht sehr weit von Oxford entfernt, und sie konnten durchaus von jemandem gesehen werden. Dazu kam noch, daß seine Gewissensbisse mittlerweile zu ausgewachsenen Zweifeln geworden waren. Er konnte die Stimme in seinem Inneren nicht zum Verstummen bringen, die ihm wieder und wieder sagte: Lambros, was du hier tust, nennt man Ehebruch. Und es ist Sünde. Du hast Frau und Kind. Und wie ist es mit den heiligen Gelübden, die du einmal abgelegt hast? Ja, schon, aber das war lange her und in einem anderen Land. Außerdem haben sich die Mädchen geändert, und die Zeiten zum Teufel auch.
»Ted, wo bist du?«                i
Felicitys Stimme zerbrach seine ethischen Frömmeleien. Und jetzt erst merkte er, daß ihr Hände intime Bereiche seiner Anatomie erforschten.
»Hast du es dir anders überlegt - oder hast du Angst?« fragte sie kokett. »Weder noch«, erwiderte er, um sie, nicht um sich zu überzeugen. »Vielleicht ziehst du dich dann mal aus und beweist mir deine Begeisterung ein wenig.« Reißverschlüsse öffneten sich. Sie stand verführerisch vor
ihm, Aphrodite in einem mittelalterlichen Gasthof. Er konnte an nichts anderes mehr denken, als sie ihn zum Bett lockte.

Sie fuhren am Sonntagnachmittag zurück und erreichten Oxford kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Und er bat sie ganz bewußt, ihn an der Folly Bridge abzusetzen, damit er ungese- hen in der Dämmerung nach Hause gehen konnte. Denn während des ganzen wüst-sinnlichen Wochenendes konnte Ted, immer wenn die Ekstase nachließ, einfach nicht die Dämonen der Reue abwehren. Obwohl er sich innerlich auf die >Neue Moral< berief, war sein Gewissen fest in den fünfziger Jahren verwurzelt. Und er spürte schon, er würde einen hohen Preis für dieses kurze Abenteuer zu zahlen haben. Aber er hätte nicht im Traum vermutet, wie bald das schon der Fall sein würde.

Als er die Tür zu ihrem Haus in Addison Crescent öffnete, warteten bereits die Furien auf ihn.
»Sie haben das Haus nicht abgeschlossen«, sagte Cameron Wylie, dessen Gesicht halb im Dunkeln war. »Ah ja?« sagte Ted abwesend. »Ach, es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen, aber ich wußte nicht, daß Sie kommen würden ...« »Ich auch nicht«, antwortete der Regius-Professor in ungehaltenem Ion. »Ich habe Sie telephonisch zu erreichen versucht, dann bin ich hergekommen, um Ihnen eine Nachricht zu hinterlassen. Aber dann sah ich, daß die Tür offen war, und ich nahm an, Sie würden um diese Zeit kommen. Deshalb habe ich gewartet.« Es war plötzlich still. Dann brach der Ärger aus Wylie heraus. »Sie Idiot. Sie Riesenidiot.« »Entschuldigen Sie, Professor, ich verstehe Sie nicht«, stammelte Ted, der instinktiv wieder in die Rolle eines Schülers schlüpfte.
»Ihre Moralauffassungen sind mir egal, Lambros. Ich hatte von Ihnen nur etwas mehr gesunden Menschenverstand erwartet. Wahrscheinlich ist Ehebruch in Oxford genauso populär wie überall auf der Welt. Aber die meisten, die so etwas betreiben, spielen nicht mit Studenten herum. Das Mädchen ist halb so alt wie Sie.« Diese scheinheilige Standpauke begann Ted zu ärgern. Er nahm seinen Mut für eine ruhige Gegenattacke zusammen. »Sind Sie deshalb hierhergekommen?«
»Nein«, erwiderte Wylie, »das war nur die Vorrede. Sara hat mich angerufen und wollte Sie sprechen.« Scheiße, dachte er. Ich weiß, ich hätte anrufen sollen. »Sie hat sich sehr entschuldigt,« fuhr Wylie fort, »aber es handelt sich um einen Notfall.« Ted war plötzlich sehr besorgt. »Ist etwas mit ihrem Vater?«
»Nein«, erwiderte Cameron, »mit Ihrem Sohn. Er ist plötzlich schwer krank geworden. Er mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Als Sara anrief, war sie am Ende ihrer Kräfte.« Ted überlief es eiskalt. »Lebt er noch?« Er sah Wylie flehend an. »Ja, ja, er wird bald wieder gesund sein. Sie haben das Schlimmste nicht miterlebt. Glücklicherweise war Saras Vater da.« »Wo ist er jetzt? Wo ist mein Sohn?« »Im Kinderkrankenhaus in Paddington Green.« Auch wenn Ted am liebsten aus dem Raum gestürzt wäre, blieb er doch noch wie angenagelt stehen. »Weiß Sara, wo
ich gewesen bin?« »Nein«, antwortete der Professor. »Ich fand es nicht gerade passend, ihr das zu sagen.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Das überlasse ich Ihnen.«

Es war Sonntag, und die Züge nach London krochen wie fromme Schlangen dahin. Die ganze Fahrt über dachte Ted, was ist nur, wenn er stirbt, bevor ich hinkomme.
Er, der zwischen Ostern und Ostern niemals an Christus dachte, redete und verhandelte jetzt mit Gott um Teds Überleben. Bitte, mein Gott, ich bezahle auch dafür. Nimm mir alles, aber laß ihn leben.
Seine Todesgedanken verließen ihn nicht, als er durch die Eingangstür des Krankenhauses eilte. Die kahlen und schlecht erleuchteten Räume schienen Ted von drohender Leere zu sein. Er fand Sara und ihren Vater im zweiten Stock vor der >Lewis Carroll-Abteilung.
»Geht es ihm besser?« fragte Ted schnell. »Ja«, antwortete sie. »Hat dir Wylie nicht alles erzählt?« »Nein«, erwiderte er. Sara erzählte ihm alles so hastig, als müsse sie es so schnell wie möglich loswerden, ihrer eigenen Katharsis wegen. »Er wachte vergangene Nacht mit schrecklich hohem Fieber auf...« »Über einundvierzig Grad«, fügte ihr Vater hinzu, der die furchtbaren Momente auch noch einmal durchlebte. »Als wir ihn herbrachten, wußte die diensthabende Arztin Gott sei Dank gleich genau, was es war.« »Eine Ärztin?« unterbrach ihn Ted mit atavistischer Mißbilligung, fügte aber sogleich hinzu: »Entschuldigung, ich habe dich unterbrochen. Bitte sag mir, was hat er denn?« »Eine Lungenentzündung, ein Virus«, erklärte Philip Harrison. »Beruhige dich, Ted. Die Krise ist vorbei.«
Verdammt, warf er sich innerlich vor, und ich war nicht hier.
Frau Dr. Rama Chatterjee erschien am Ende des Flurs. »Da ist sie«, sagte Sara, »vielleicht können wir Teddie jetzt sehen.«
Teds Zutrauen zu Ärztinnen wurde dadurch nicht stärker, daß es sich hier um eine Inderin handelte. »Er schläft ganz ruhig«, sagte die Arztin lächelnd beim Näherkommen und wandte sich dann an den neuen Besucher. »Sie sind sicher Professor Lambros. Er hat nach Ihnen gefragt.«
»Ich möchte ihn gerne jetzt sehen«, verlangte Ted. »Und dann möchte ich bitte mit dem Chef Ihrer Abteilung sprechen.«
»Das können Sie beides solort«, sagte Dr. Chatterjee freundlich. »Ich bin der Chef der Kinderabteilung.«

Sara ließ in den darauffolgenden Tagen ihren Sohn kaum allein. Sie schlief sogar auf einem vom Krankenhaus bereitgestellten Klappbett mit ihm im Zimmer. Auch Ted verbrachte die meisten Stunden des Tages im Krankenhaus. Er und Sara saßen in dem Glaskubus und unterhielten sich abwechselnd mit ihrem Sohn. Miteinander redeten sie selten.
Sara schien gefühllos. Aber Ted glaubte, das sei ihr Mittel, die Angst um das kranke Kind zu verbergen. Er hatte sich schon selbst dazu überredet zu glauben, sie sei so mit allem beschäftigt, daß sie bereits vergessen habe, welche Schwierigkeiten sie gehabt hatte, ihn am vergangenen Sonntag zu erreichen.
Wenn um sieben Uhr abends die Besuchszeit zu Ende war, aßen Ted und sein Schwiegervater zusammen etwas und gingen anschließend ein wenig im Hyde Park spazieren. Bald waren die Gesprächsthemen erschöpft. Eines Abends monologisierte Ted darüber, wie man ihm in Harvard das Messer in den Rücken gestoßen hatte, ein Ereignis, das in seiner Phantasie die mythische Bedeutung des Mordes an Julius Caesar angenommen hatte. Mr. Harrison zeigte sein Interesse nur durch ein gelegentliches »Ach?« und »Wirklich?«. Sobald sie wieder im >Claridge's< waren, sagte der Harvard-Financier »Gute Nacht« und eilte auf sein Zimmer.

Am frühen Freitag morgen kam ein großer Daimler für Mr. Philip Harrison. Es würde für ihn ein langer Tag werden. Er und Ted wollten Sara und seinen Enkel in Paddington Green abholen und in die John-Radcliffe-Klinik in Oxford bringen. Dann mußte er schnell zum Flughafen Heathrow, um das letzte Flugzeug nach Genf zu erwischen.Schließlich war er in offizieller Mission der amerikanischen Regierung unterwegs und konnte seine Verpflichtungen nicht länger hinausschieben.
Im Radcliffe-Krankenhaus erwartete sie schon Dr. Vivian Stone und sorgte dafür, daß der kleine Patient so schnell wie möglich in einem bequemen Bett untergebracht wurde. Als die Kinderärztin das erschöpfte Gesicht Saras sah, sagte sie: »Rama Chatterjee hat mir schon gesagt, daß Sie die ganze Woche bei Ihrem kleinen Ted verbracht haben. Ich würde vorschlagen, Sie gehen jetzt nach Hause und schlafen sich erst einmal aus, Mrs. Lambros. Wir wollen uns nicht noch um einen weiteren Patienten kümmern müssen.«
Als sie im Addison Crescent ankamen, realisierte Ted, daß er und Sara noch nicht wirklich miteinander geredet hatten, seit die Geschichte passiert war. Er hatte ihr Schweigen auf die Erschöpfung und die Sorgen zurückgeführt, er hatte aber immer noch das Bedürfnis, so wie früher mit ihr zu reden.
»Gott sei Dank, daß er wieder in Ordnung ist«, bemerkte er und hoffte, daß mit dieser allgemeinen Bemerkung das Gespräch beginnen würde.
Sara antwortete nicht. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und packte die Koffer aus.
»Es muß furchtbar für dich gewesen sein, ich meine, so allein zu sein. Wie gut, daß Vater in London war.« Sie wirbelte herum. Ihr Gesicht war rot vor Zorn. »Er ist nicht dein Vater, verdammt noch mal!« fuhr sie ihn an. »Und ich bin es satt, dich nur seinetwegen so zu behandeln, als wäre nichts gewesen. Ich gehe jetzt ins Krankenhaus. Wenn ich zurückkomme, will ich dich hier nicht mehr sehen. Und ich meine nicht nur dich, ich meine deine Sachen und all deine Bücher. Aber nimm ja keines von meinen mit.«
»Sara, was soll das denn?« »Hör mal zu«, sagte sie verbittert, »zwölf Jahre habe ich zu dir gestanden. Ich habe dich geliebt, habe die Hälfte deiner   wissenschaftlichen   Arbeiten   gemacht,   habe   dein zerbrechliches Selbstvertrauen zusammengehalten. Ich habe dir zugehört, habe Mitleid mit dir gehabt. Ja, ich bin praktisch zu einem menschlichen Taschentuch geworden, in das du hineinheulen konntest. . .«
»Sara ...«
»Verdammt noch mal, Lambros, laß mich ausreden. Es hat mir nichts ausgemacht. Es machte mir sogar auch nichts aus, dich sozusagen auch noch bei unserem Sohn zu ersetzen — solange ich glaubte, ich würde dir etwas bedeuten. Aber dann mußtest du mir ausgerechnet hier in Oxford - in der größten Kleinstadt der Welt - ins Gesicht schlagen. Mein Gott, alle wissen, daß du es mit dieser kleinen Schlampe treibst! Und als ob das nicht schon beschämend genug wäre, du mußtest es auch noch vor meinem Vater zur Schau stellen.«
Ted hatte sie noch nie derart wütend erlebt.
»Sara, bitte übertreibe die Sache doch nicht. Außer diesem einen ... Fehltritt bin ich dir immer treu gewesen. Ich meine, das Mädchen hat mir wirklich überhaupt nichts bedeutet. Gut, ich habe unrecht, ich habe einen Fehler gemacht. Das kann doch jedem mal passieren.« »Ted, ich hätte diesen Fehltritt, wie du es so gewählt nennst, vielleicht akzeptiert, wenn unsere Ehe wirklich in Ordnung gewesen wäre. Aber du liebst mich einfach nicht mehr. Hören wir doch damit auf, uns etwas vorzumachen. Schon lange führen wir keine wirkliche Ehe mehr.« »Willst du damit sagen, du willst dich scheiden lassen?«
»Ja, je eher, desto besser.« »Und was wird aus dem Kind? Wir können ihm das nicht antun.« »Er ist nicht mehr so klein, Ted. Und er spürt, was mit uns los ist. Also verschone mich mit Sprüchen wie, wir sollten des Kindes wegen zusammenbleiben.« »Sara«, erwiderte er mit Nachdruck, »ich lasse es nicht zu, daß du das tust.« »Du läßt es nicht zu?« Sie sah ihn mit kalter Wut an. »Es ist mir gleich, was du davon hältst. Ich bin weder deine Puppe noch dein Schoßtier. Also, um es in der Sprache des Gelehrten zu sagen: >Apage te, tuas res habeto!<«
Sie wußte, sie hatte ihn getroffen. Der endgültige Schlag war es, die lateinische Formel für Scheidung anzuführen, die, wie sie beide wußten, der Mann zur Frau zu sagen hatte.
»Sara, das wird dir noch leid tun.«
»Nein, Ted. Es tut mir nur leid, daß ich es nicht schon eher gesagt habe.«

Kurz nach vier Uhr klingelte Ted an der Gresham Road. Felicity freute sich, ihn zu sehen, war aber über seine Koffer etwas überrascht. »Das sieht ja aus, als ob du abreist?« »Nein«, sagte Ted verlegen, »ich fürchte, Sara hat mich hinausgeworfen. Kann ich bei dir übernachten?« »Ja«, grinste sie, »es wird sich schon ein Platz finden für dich und deine Bücher.«
Aber als er hereingekommen war, machte sie ihm sogleich klar, daß er nicht ewig bleiben könne. »Hör mal, Ted, ich helfe dir ja gerne aus deinen kleinen Schwierigkeiten heraus. Aber hoffentlich hast du nicht vor, dich hier häuslich einzurichten.« »Glaubst du, du kannst mich, sagen wir, ein paar Wochen ertragen?« fragte er und setzte sein charmantestes Lächeln auf.
»Bitte, Ted«, erwiderte sie, »höchstens zwei oder drei Tage.«
»Das ist ja nicht gerade ein herzlicher Empfang. Ich meine, wo doch Jane und ihr Motorradfahrer...« »Ja, aber das ist etwas anderes«, erklärte Felicity. »Warum?« »Weil ich unklare Verhältnisse hasse ...«
Im Krankenhaus, am nächsten Morgen, vermieden Sara und Ted etwas zu sagen, was ihren Sohn, dem es besser ging, beunruhigen konnte. Aber als sie um die Mittagszeit sein Zimmer verließen, sagte Sara kühl: »Laß uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört reden können.«
In seiner kurzsichtigen Verzweiflung glaubte er, es gäbe noch eine Möglichkeit zur Versöhnung. Aber er wurde schnell eines Besseren belehrt. Sie wollte nur noch die Bedingungen der Scheidung festlegen. Nur, weil er ziemlich durcheinander war - und müde von der Nacht auf Felicitys Couch-, wehrte er sich nicht dagegen, daß sie auf ihn einredete, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. Denn sie verhandelte oder diskutierte nicht. Sie diktierte die Bedingungen.
Sara wollte keinen Unterhalt. Sie meinte, er solle einen fairen Anteil für die Erziehung des Kindes übernehmen. Auch das würde nicht besonders viel sein, denn es war kein Schulgeld zu zahlen, da sie ihn im nächsten Jahr auf der staatlichen Schule lassen wollte.
»Du bleibst also in Oxford?« »Ja«, erwiderte sie kühl. »Aber das geht dich nichts mehr an.«
»Du mußt schon entschuldigen, Sara«, sagte er ärgerlich, »ich will nicht durch einen Ozean von meinem Sohn getrennt sein. Außerdem, was der Teufel willst du hier denn tun?« »Dasselbe, was die meisten Leute in Oxford machen, wenn sie nicht gerade in der Automobilindustrie arbeiten«, erwiderte sie ironisch. »Du magst es ja unerhört finden, aber ich werde meinen Doktor machen. Du erinnerst dich vielleicht, ich habe in grauer Vorzeit ein Magna cum laude in Radcliffe geschafft. Du kannst Ted an Weihnachten und im Sommer besuchen.«
»Weißt du. was ein Rückflugticket von Amerika hierher kostet?«
»Nur die Ruhe. Weihnachten werde ich mit meiner Familie in Connecticut verbringen. Und bevor wir weiterreden, will ich dir eines ganz klar sagen. Ich werde nicht zulassen, daß Ted wegen dieser Sache zu einem psychologischen Krüppel wird. Ich werde nie ein häßliches Wort über dich verlieren, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort. Und ich werde dafür sorgen, daß ihr soviel Zeit wie möglich zusammen seid.« »Und wenn ich vor Gericht um das Kind kämpfe?« fragte er und versuchte, ein wenig zu pokern. »Spar dir die Mühe«, antwortete sie emotionslos. »Die Anwälte meines Vaters werden Moussaka aus dir machen.«

Ted Lambros soff sich zurück über den Atlantik. Das Motto für seinen Rausch war intellektueller Natur. Es basierte auf dem berühmten Vers Vergils: »Valium et mutabile semper femina«. Oder, wie er es frei übersetzte: Alle Weiber sind unberechenbar.