24. Andrew Eliots Tagebuch 6. August 1970

Ted rief mich heute an und teilte mir mit, daß er und Sara sich trennen.
Mein Gott, die Institution der Ehe hat keine Chance mehr, wenn es nicht einmal die beiden schaffen. Er hat mir am Telefon keine Einzelheiten erzählt, aber wahrscheinlich werde ich genaueres erfahren, wenn er am nächsten Wochenende hierherkommt (ich mußte den armen Kerl einfach einladen, er klang so einsam).
Ted hat keine Ahnung von der Qual, die ihn erwartet. Eine Scheidung ist auf jeden Fall übel. Auch wenn behauptet wird, es sei für die Kinder am schlimmsten, glaube ich persönlich, daß die Väter am meisten leiden. Außer an den Wochenenden, die man mir eingeräumt hat und die jetzt ziemlich sinnlos sind, denn beide sind im Internat—, kann ich eigentlich nur in den Sommermonaten mit meinem Sohn und meiner Tochter Zusammensein. Und wie ich herausgefunden habe, ist Vater zu sein einfach kein Teilzeitjob. Es ist mehr wie bei einem Trapezkünstler. Wenn man erst mal losgelassen hat, dann fällt man und kann nicht wieder zurück. Während der Wintermonate versuche ich, jeden einzelnen Sommertag so zu planen, daß es für Andy und Lizzy interessant wird. Ich arbeite Ausflüge aus - wie zum Beispiel nach Canada - und setze mich mit anderen Eltern der Umgebung in Verbindung, deren Kinder wir dann einladen können. Aber im besten Fall bin ich letztlich nur ein Oberaufseher mit dem Ehrentitel >Dad<.

Obwohl er noch jung ist, erklärt mir Andrew schon daß seine Altersgenossen angewidert sind von unserem Engagement in Vietnam, und aus irgendwelchen Gründen scheint er mir die Schuld dafür zu geben. Man könnte glauben, ich würde eigenhändig unschuldige Zivilisten mit Napalm bombardieren.
»An der Schule sagen meine Freunde alle, es ist ein Wall-Street-Krieg«, sagt er. Als ob ich die Wall Street bin und nicht nur ein kleiner Bankbeamter. Ich versuche ihm klarzumachen, daß ich auf seiner Seite stehe, daß ich sogar eine wichtige Antikriegsdemonstration mitorganisiert habe. Aber darauf sagt er nur: »Das ist alles Scheiße.« Und wenn ich ihn bitte, nicht solche Ausdrücke zu benutzen, dann gibt er zurück, ich benützte sie ja auch und ich sei genauso verlogen wie meine ganze Generation. (Jetzt bin ich sogar eine ganze Generation!)
Ich glaube, in seinem Innersten vermißt er mich, und er spielt nur den starken Mann, um vorzugeben, daß er eigentlich gar keinen Vater braucht. Ich versuche alles, um seinen Panzer der Feindseligkeit zu knacken, aber ein Sommermonat in Maine reicht dazu einfach nicht aus. Ich kann ihn nicht davon überzeugen, daß ich ihn liebe.
Lizzy ist auch ein Problem. Sie sitzt oft traurig da, verschwindet und macht lange Spaziergänge, auf denen ich sie nicht begleiten darf. Dann und wann versuche ich, mich mit ihr zu unterhallen, aber auch sie lehnt mich ab. Wenigstens sind ihre Gründe persönlicher Natur und weniger politisch als die von Andy.
»Wenn ihr uns wirklich geliebt hättet, dann haltet ihr euch nicht getrennt. Ich hasse das Internat. Es ist wie in einem Waisenhaus da, nur trägt man schicke Schuluniformen. Kaum mehr als fünf Mädchen in meiner Klasse haben noch beide Eltern.« Nach ein paar Gesprächen dieser Art habe ich wie verrückt
mit Faith um das Sorgerecht für Lizzy gekämpft, damit sie so etwas wie ein Zuhause bekommt und nur tagsüber zur Schule muß.
Aber wie immer bei Faith — sie hat nicht nachgegeben. Ich begreife nicht, warum sie so feindselig ist. Schließlich ist sie mit irgendeinem reichen Kerl aus San Francisco verlobt (dem armen Kerl wünsche ich viel Glück).
Ich würde die Kinder so gern wiederhaben, weshalb ich auch schon erwogen habe, wieder zu heiraten. Aber ich bin niemandem begegnet, der mich so sicher macht, daß ich diesen Sprung zum zweiten Mal riskieren möchte.
Ted sagte mir am Telefon, es schmerze zwar, aber es sei wahrscheinlich besser so. Er weiß nicht, wie sehr er sich täuscht. Er hat nicht nur seine Frau und nicht nur seinen Sohn verloren - und ich weiß, wovon ich rede. Er hat das verloren, was allen anderen Dingen des Lebens erst einen Sinn gibt.

Ende Januar 1973 stand George Keller auf den Stufen zum Georgetown Law Center. Um zwölf Uhr mittags strömten die Studenten aus dem Gebäude, unter ihnen Catherine Fitzgerald, auf die er verlegen zuging.
»Cathy...«
»Auf Wiedersehen, George«, antwortete sie und wandte sich ab. »Bitte, warte doch. Können wir nicht ein paar Minuten miteinander reden?« »Ich habe nicht einmal Lust, Ihren Ausflüchten auch nur eine Minute zu opfern, Dr. Keller.«
Sie ging entschlossen weiter. Er lief ihr nach. »Bitte, Cathy«, sagte er drängend, »wenn sogar Amerika und Nordvietnam Frieden schließen, können wir das nicht
auch?« Sie wandte sich um und sagte entschieden: »George, jetzt habt ihr, Henry und du, euren Waffenstillstand und seid internationale Helden. Warum bemühst du dich gerade um den einzigen Menschen in der Welt, der dich noch immer für einen Wurm hält?« »Genau deshalb, weil du der einzige Mensch bist, der mir etwas bedeutet.« »Erwartest du wirklich, daß ich diesen Mist glaube?« »Ich wollte, du würdest mir wenigstens eine Chance geben, dich davon zu überzeugen. Ich meine, du bist schließlich sozusagen ein Rechtsanwalt. Sogar Verbrecher haben das Recht, sich zu verteidigen. Gehst du mit mir Kaffee trinken?« Sie seufzte. »Also gut, aber nur eine Tasse.«
»Wie hast du mich ausfindig gemacht?« fragte sie. »Läßt du mein Telefon abhören?« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Mach mal Pause, Cathy. Iclh habe mich bei einem deiner alten Freunde beim Sicherheilsrat erkundigt.«
»Falls das wirklich ein Freund von mir gewesen ist, hätte  er dir auch sagen müssen, daß ich dich nicht mehr sehen will.«
Wie sein diplomatischer Mentor war auch George ein unermüdlicher Unterhändler. »Sieh doch, Cathy.« Er versuchte es mit einer neuen Strategie. »Ich weiß, ich bin gefühllos gewesen. Ja, sogar unehrlich. Aber ich habe es eingesehen, wirklich. In all den einsamen Monaten habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich dir
nicht vertraut habe.«
»In Wirklichkeit«, erwiderte sie zum ersten Mal in einem Ton, der nicht feindselig war, »vertraust du dir ja selbst kaum. Das ist doch dein Problem.« »Kannst du denn nicht glauben, daß ein Mensch sich in drei Jahren ändern kann?«
»Das möchte ich erst mal sehen«, erwiderte sie. »Darf ich wenigstens versuchen, es dir zu beweisen?« bat er.
Sie trank ihren Kaffee schnell aus und stand auf. »Hör zu, ich muß für ein paar wichtige Prüfungen lernen. Wenn es dir wirklich ernst ist, ruf mich Anfang Februar an, dann treffen wir uns, ohne daß ich an Schadenersatzansprüche und Verträge denken muß.«
»Ist in Ordnung«, antwortete er. »Darf ich dich zur Bibliothek bringen?«
»Ich glaube, das tust du besser nicht. Du und Henry, ihr seid auf dem Campus noch immer sehr ungern gesehen.«
die hätten
Sie sahen sich wieder. Zuerst nur einmal in der Woche — denn   beide wachten  über  ihre  Gefühle.  Aber allmählich mußte Cathy sich eingestehen, daß George wirklich bemüht war, die Probleme ihrer früheren Beziehung zu überwinden.
Zum ersten Mal redete er offen über seine Kindheit, darüber, was es bedeutet hatte, ein Land zu verlassen, das er geliebt hatte, in ein fremdes, neues Land zu kommen, ohne Verwandte oder Freunde und zu Beginn nicht einmal zehn Worte in der fremden Sprache sagen zu können, und über seine verzweifelten Bemühungen, sich anzupassen. Aber es waren sorgfältig ausgewählte Geschichten, denn er erwähnte nur kurz, er habe »ein ziemlich schlechtes Verhältnis« zu
seinem Vater gehabt. Und Aniko erwähnte er überhaupt nicht.
Zur Erklärung seiner instinktiven Vorsicht im Umgang mit anderen erzählte er von den ersten verwirrenden Tagen in Amerika, in denen er dauernd Angst gehabt habe und die noch immer vorhandene fixe Vorstellung, überall gäbe es Spione. Er sagte die Wahrheit - wenn auch nicht die ganze. Und seine teilweise Offenheit brachte Cathy dazu, ihn wieder zu mögen.
»Wer ist dein bester Freund, George?« fragte sie während eines Sonntagsspaziergangs. »Ich weiß es nicht«, antwortete er leichthin. »Ich glaube, ich hatte nie wirklich einen Freund.« »Nicht mal als Kind?«
»Nein, ich war immer ein Einzelgänger. Ich bin einfach ungesellig.«
Sie machte eine Pause und sagte dann sanft: »Weißt du, es ist wirklich paradox. Wir lieben uns jetzt schon recht lange, aber wir sind noch immer keine Freunde. Wenigstens bin ich für dich kein Freund.« »Natürlich bist du das.«
»Sie wären ein miserabler Zeuge, Dr. Keller. Sie haben soeben im Kreuzverhör zwei verschiedene Aussagen gemacht. Sie haben zuerst gesagt, Sie hätten keinen wirklichen Freund.«
»Was bin ich eigentlich?« fragte er gutgelaunt, »etwa ein Versuchskaninchen für deine Verhörtechniken vor Gericht?« »Nein, George, du bist mein Freund. Und ich möchte dein Freund sein.« »Cathy, du bist das wunderbarste Mädchen, das ich je getroffen habe. Ich kann nur nicht begreifen, warum du einen Eisberg wie mich überhaupt magst.« »Erst einmal hast du einen aufregenden Verstand. Dann bist du zufällig ein sehr attraktiver Mann. Vor allem aber, du weckst in mir etwas, das dich glücklich machen möchte.«
Er blieb stehen und legte die Arme um sie. »Cathy«, sagte er herzlich, »ich liebe dich.« »Nein«, flüsterte sie, »du liebst mich noch nicht. Aber du wirst es.«

Cathy beendete ihr Jurastudium im Juni und bekam eine Zulassung als Rechtsanwalt in Maryland. Das hieß, sie konnte sechs Monate danach in Washington, D. C, als Anwalt anfangen. Trotz lukrativer und interessanter Angebote, für die Regierung oder die Privatindustrie zu arbeiten (1973 waren Frauen in solchen Berufen sehr gesucht), beschloß sie, sich dem Verbraucherverband anzuschließen, Nader und seinen Leuten.
»Warum willst du nur mit so einer verrückten Organisation arbeiten?« fragte George halb amüsiert und halb erstaunt. »Du könntest ohne weiteres einen Job im Büro des Generalstaatsanwalts bekommen.« »Sieh mal, George«, erklärte sie, »obwohl ich in Washington geboren und aufgewachsen bin, bleibe ich Optimist. Aber ich bin nicht mehr verrückt genug zu glauben, daß ich die Weltpolitik verbessern kann. Meine Don-Quichote-Zeit ist mit meinem Ausscheiden aus dem Sicherheitsrat zu Ende gegangen.
Mit Ralph Nader und seinen Leuten läßt sich etwas Konkretes machen, und manchmal bekomme ich sogar die Gesichter der Menschen zu sehen, denen ich helfe.«
»Es ist erstaunlich«, sagte er in liebender Bewunderung, »du bist wirklich der idealistischste Mensch, den ich kenne.« »Na, und du bist der sachlichste.«
»Deshalb passen wir auch so gut zusammen.« »Und eines Morgens wirst du aufwachen und begreifen, wie nützlich ich für deine Karriere bin, und dann wirst du um meine Hand anhalten«, sagte sie lachend. »Du glaubst also, daß alle meine Entscheidungen mit meiner Karriere zusammenhängen?«
»Ja. Und wahrscheinlich hält nur eines dich davon ab, mich zu heiraten.« »Und was wäre das?« »Die Talsache, daß ich weiß, was bei dir hinter allem steckt.«
 

Der Erfolg umstrahlte Danny Rossi wie ein Glorienschein. Er war reich und berühmt. Sein Leben bestand nur aus Lobeshymnen, sein Haus war voller Trophäen, und sein Bett voller Schönheiten. Er hatte alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte. Außer einer Ehe.
Eines Abends im Frühling 1975 drängte Danny den Chauffeur, der ihn am Flugplatz abgeholt hatte, so schnell es ging nach Bryn Mawr zu fahren. Er stürzte ins Haus und verkündete den neuesten Coup: Man hatte ihm die Leitung des Philharmonischen Orchesters von Los Angeles angeboten. Das Orchester wollte ihn unbedingt, und man war sogar damit einverstanden, daß er seine Stelle in Philadelphia behielt. Er wäre dann ein >transkontinentaler< Dirigent.
»Das ist aber prima, Papa«, schrie Sylvie. »Dann werden wir sicher nach Kalifornien ziehen?«
»Wäre ja nicht schlecht, aus diesem Schnee und Eis wegzukommen. Aber das muß deine Mutter entscheiden.« Er sah Maria an. Ihr Gesicht war versteinert, und sie sagte nichts.
»Sag mal, was ist denn los, Liebling?« fragte er beim Abendessen, nachdem die Kinder fort waren. »Danny«, sagte sie langsam, »wir müssen miteinander reden.« »Meinst du über Kalifornien?« »Nein. Über Miss Rona.« »Über wen?«

»Bitte, Danny, spiel nicht den Unschuldigen. Ihre Artikel sind sogar in so einer Provinzstadt wie Philadelphia zu lesen.« »Was für schmierige Gerüchte verbreitet sie denn jetzt wieder?« »Ach, nichts besonders Skandalöses«, erwiderte Maria ironisch, »nur etwas von einem berühmten Komponisten und Pianisten, der Raquel Welch in einem Restaurant in Malibu Zärtlichkeiten ins Ohr flüstert.« »Und du glaubst diese Scheiße? Wirklich?« »Das einzige, was ich nicht sicher weiß — kam das von ihrem Publicity-Mann oder von deinem?«
»Augenblick mal...«
»Nein. Maestro«, erwiderte sie, »jetzt hörst du mir zu. Jahrelang habe ich versucht wegzusehen, weil ich das Gefühl hatte, es war irgendwie meine Schuld. Ich glaubte, du müßtest deine kleinen Affären haben, weil ich unerfahren war und dich nicht befriedigt habe. Aber warum mußt du es in aller Öffentlichkeit treiben? Du hast deine Männlichkeit schon der ganzen Welt bewiesen — aber anscheinend dir selbst noch nicht.«
Es gab eine Pause. Dann fragte Danny ruhig: »Wie kommt denn das so plötzlich?« »Nicht plötzlich. Ich habe nur endlich das Ende meines sehr langen Geduldsfadens erreicht.« »Maria, wir hatten das schon mal. Ich habe nie behauptet,ein Pfadfinder zu sein. Aber ich glaube, ich bin ein guter Ehemann. Ich sorge doch für dich und die Kinder, oder?« »Ja, in jeder Beziehung, nur nicht, was das Gefühl angeht. Deine Töchter sehnen sich nach Zuwendung, was du vermutlich gar nicht gemerkt hast, wie ich nur vermuten kann.
Und ich fürchte mich vor dem Moment, wenn sie deinen Namen in einer Klatschspalte lesen.«

Danny hatte am nächsten Tag zwei Konzerte zu dirigieren. Deshalb versuchte er, sie zu besänftigen. »Liebling, es gibt nur einen einzigen Menschen auf der Welt, den ich wirklich liebe. Das weißt du doch.« »Natürlich«, erwiderte sie, »nämlich dich selbst.« Und sie
fügte traurig hinzu: »Begreife es doch endlich, ich halte es nicht mehr aus.«
Wieder entstand eine Pause. »Willst du etwa die Scheidung?«
Sie wurde wieder wütend. »Jede Frau mit einem Funken Vernunft müßte die Scheidung einreichen, nicht wahr? Aber wir sind Katholiken — wenigstens ich bin es noch. Außerdem würde es die Mädchen kaputtmachen.«
»Also, was willst du dann?«
»Getrennte Schlafzimmer«, erwiderte sie. Er sah sie ungläubig an. »Das ist doch nicht dein Ernst? Also kein Liebesleben mehr?«
»Jedenfalls nicht wir miteinander.«
Ihre Andeutungen brachten Danny aus dem Gleichge- wicht. »Willst du damit sagen, daß du vorhast, mit anderen Männern ...«
»Nenne mir einen überzeugenden Grund, warum ich es nicht tun sollte.« Er wollte schon sagen: Du bist Ehefrau und Mutter. Aber er
war ja auch Ehemann und Vater. Trotzdem war er wütend. »Maria, das kannst du mir nicht antun. Nein, das nicht.« »Danny, du hast kein Recht, mir zu sagen, was ich kann oder was ich nicht kann. Und, ob ich es tue oder nicht, geht dich nichts an.«

Bis zum Frühling 1972 hatte Jason Gilbert an so zahlreichen Operationen von Sayaret Matkal teilgenommen, daß Zvi darauf bestand, er müsse eine Pause machen, um wieder zu lernen, was ein normales Leben ist. Er kehrte in den Kibbuz zurück und kam endlich seinen beiden Söhnen, dem jetzt fünf Jahre alten Joshua und dem dreijährigen Ben, näher. Er entdeckte, welche Freude ihm das Familienleben machte — und auch das Herumbasteln in der Garage.
»Was machst du da mit dem Lastwagen, Papa? Ist er kaputt?« Jason sah unter der Motorhaube vor und antwortete seinem Ältesten: »Nein, der ist ganz und gar nicht kaputt, Josh. Ich mache, was man in Amerika >frisieren< nennt.«
Der Kleine lachte. »Das klingt so komisch — einem Motor die Haare kämmen.«
»Nein, Chabibi. Das ist der Ausdruck dafür, daß man das Auto schneller macht. Willst du etwas lernen?« »Ja, bitte.« Jason hob den Jungen hoch und hielt ihn über den Motor- block. »Siehst du das da? Das nennt man einen Vergaser. Da drin wird Luft und Benzin vermischt...«
An den folgenden drei Nachmittagen führte Jason seinen ältesten Sohn liebevoll in die Geheimnisse der Autotechnik ein. Wie er zu Eva scherzhaft sagte: »Er wird der jüngste Tuning-Experte in Galiläa.«
Wie ihm in seiner Jugend eine Vielzahl von Menschen alles mögliche erklärt hatte, fand nun auch er selbst besonderen Spaß daran, seinen Sohn in die verschiedensten Dinge einzuweihen. Joshua wurde zum >Assistenten< befördert, und sie brachten dem jüngeren Bruder das Schwimmen im öffentlichen Schwimmbad bei. »Mach weiter so, Ben, sehr gut machst du das. Bald wirst du ein richtiger Fisch sein.« »Ich bin kein Fisch, Papa, ich bin ein kleiner Junge.«

Eva saß im Schatten eines Baumes, sie lächelte froh und wünschte, dieser idyllische Sommer ginge nie zu Ende. Manchmal kochte sie in ihrem Bungalow ein einfaches Abendessen für sie beide, dazu tranken sie dann den Rotwein, den Yossi von einem nahegelegenen Weingut gegen Orangen eingetauscht hatte.

Verheiratet und Mutter zu sein, hatte Eva völlig verändert. Sie war ruhiger als je in ihrem Leben zuvor. Sie lächelte. Sie wagte sogar, sich glücklich zu fühlen.
Mitte Juli kam der Geigensolist Isaac Stern nach Vered Ha-Galil und gab im Eßsaal ein Konzert. Er spendierte der Kibbuz-Bibliothek sogar ein paar neue Langspielplatten. Als sich Eva eine dieser Platten auslieh, bemerkte Jason, daß es eine Aufnahme — es handelte sich um ein Violinkonzert von Mendelssohn — mit dem Philadelphia-Orchester war, unter der Leitung von Daniel Rossi. Das rief bei ihm eine Flut von Erinnerungen an seine College-Zeit wach. Eva griff nach seiner Hand: »Du hast wohl ein bißchen Heimweh, Liebling?«
»Ja, schon, gelegentlich«, gab er zu. »Nach so dummen Sachen wie Football und dem Super Bowl — und sogar nach dem Spiel Harvard gegen Yale. Eines Tages werde ich dich zu so etwas mitnehmen, Eva. Das wäre einmal eine schöne Abwechslung — ein tödlicher Kampf ohne Tote.« »Wann fahren wir? Ich habe in fünfzehn Minuten gepackt.« »Wenn Frieden ist«, erwiderte er, »dann fahren wir alle vier und besuchen Harvard ...« »Und Disneyland, hoffe ich.«
»Natürlich. Wir sehen uns alles an, was es nur gibt.« Und er wiederholte seinen Vorbehalt: »Wenn Frieden ist.«
»Ich fürchte, dann werden wir zu alt zum Reisen sein, Jason.«
»Du bist ein Pessimist, Liebling.« »Nein, ich bin Realist. Deswegen will ich, daß du mir wenigstens einen ungefähren Zeitpunkt nennst.«
»Okay. Okay. Ich bin der erste Marshal meines Jahrgangs und muß deshalb zum 25. Jubiläumstreffen.« »Und wann ist das?«
»Ach, erst in elf Jahren.« »Gut.« Sie lächelte. Es überraschte ihn, daß da überhaupt keine Ironie mitschwang.
»Du willst wirklich noch so lange warten?« »Ja. Das ist gerade richtig. Ein Jahr, bevor Josh zum Militär kommt.« »So weit planst du schon im voraus?« Sie nickte. »Alle israelischen Mütter überlegen sich das am Tag der Geburt ihrer Söhne. Bei Ben sind es noch vierzehn Jahre.«
Beide schwiegen und versuchten, mit der schrecklichen Tatsache fertig zu werden, daß sie schon wußten, wann ihre beiden kleinen Kinder in den Krieg ziehen mußten. Jason stand auf und schloß sie sanft in die Arme. »Liebling, wenn ich wieder zum Sayaret zurück muß, dann erinnere mich an dieses Gespräch. Ich möchte gern, daß unsere beiden Jungs einmal mit Tennisschlägern spielen können — und nicht mit Gewehren.«
»Ich wollte, mein Mann würde das auch tun.«
Zvi hatte ihm kein Datum genannt, und Jason wollte sechs Monate vom aktiven Dienst fernbleiben. Aber die idyllische Zeit währte weniger als neunzig Tage.
Am Morgen des 5. September 1972 stürmten acht Terroristen der Organisation >Schwarzer September< das Quartier des israelischen Teams im Olympischen Dorf in München, töteten zwei Sportler und nahmen neun weitere als Geiseln.
Schon bei den ersten spärlichen Nachrichten aus dem Radio raste Jason zurück zu seiner Einheit. Er wußte, das war eine Situation, in der die Erfahrung von Sayaret benötigt wurde. Eine Truppe wurde zusammengestellt und bereitete sich auf den Abflug vor. Aber Moshe Dayans Ersuchen, die Landsleute durch ein israelisches Kommando befreien zu lassen, wurde von den deutschen Behörden abgelehnt. Die Deutschen könnten und würden die Sache selbst in die Hand nehmen.
Als die Nachricht kam, daß der deutsche Befreiungsversuch fehlgeschlagen war und alle israelischen Geiseln getötet worden waren, gab es nur Wut und Verzweiflung bei der Sayaret. Nur durch seine außerordentliche Selbstkontrolle konnte Zvi ruhig sprechen: »Wir werden herausbekommen, welche Terroristen das geplant haben. Und wir werden an jedem einzelnen von ihnen Rache üben.«
Worauf Jason einfach antwortete: »Ich trete den Dienst wieder an.«

Der Geheimdienst brauchte nicht lange, um die Identität der Leute festzustellen, die das Massaker von München geplant hatten. Einer der Hauptschuldigen war Abu Youssef, der Leiter des El-Fatah-Geheimdienstes und ein enger Vertrauter Yassir Arafats. Man hatte sogar das Appartement in Beirut identifiziert, von wo aus er gegenwärtig operierte. Zvi und seine Offizierskollegen entwarfen einen Plan, wie man ihn erwischen konnte. Die Einheit sollte die kurze Anwesenheit in der libanesischen Hauptstadt auch dazu nutzen, um noch ein paar andere offene Rechnungen mit den Terroristen, die schon so viele israelische Bürger getötet hatten, zu begleichen.
Am Abend des 10. April war Jason unter den paar Dutzend Männern, die an Bord eines Patrouillenboots gingen, entlang der Mittelmeerküste nordwärts fuhren und vor der Küste Beiruts Anker warfen. Sie waren genau wie Touristen gekleidet, die den Abend an der >Riviera< des Mittleren Ostens verbrachten. Sie kletterten in Schlauchboote und fuhren leise zu einem unbeleuchteten Strandclub, bei dem der Geheimdienst für sie gemietete Autos bereitgestellt hatte. Von dort aus fuhren sie zu ihren verschiedenen Einsatzorten.
Jason fuhr zur Rue Khaled Ben AI Walid. Er parkte nahe dem Gebäude, das man auf Photographien als Abu Youssefs Wohnung identifiziert hatte. Die fünf Männer stiegen aus dem Wagen und gingen hinein. Das Appartement war im dritten Stock und wurde von zwei Bewaffneten bewacht, die von Jason und Uri erledigt werden mußten, bevor sie Lärm machen konnten. Aber sie waren nicht schnell genug.
Einer der Wachmänner gab einen Schuß ab, bevor er fiel.
Als das Kommando die Wohnungstür einschlug, hatte sich der Terroristenführer bereits im Schlafzimmer verbarrikadiert. Jason und die anderen Männer durchsiebten die Tür mit ihren Maschinenpistolen. Als sie in das Zimmer eindrangen, sahen sie, daß die Geschosse Abu Youssef getötet und seine Frau lebensgefährlich verletzt hatten. Jason hatte diesen Anblick noch kaum registriert, als Uri rief: »Polizei!«
»Gut«, erwiderte er, durchsuchte schnell den Tisch des Terroristenführers und griff sich an Papieren, was er zusammenraffen konnte. »Jetzt aber nichts wie raus hier.« Als sie die Treppe hinunterstürzten, steckte eine alte Frau den Kopf aus einer Wohnungstür. Erschreckt schoß einer von ihnen, und sie fiel zu Boden. Auf der Straße warfen sie ein paar Handgranaten, um die eintreffende Polizei abzulenken, sprangen ins Auto und rasten zurück an die Küste.
Die anderen Kommandos waren schon zurück. Als sie Jason und seine Leute erblickten, winkten sie, rannten zum Wasser und kletterten in die Schlauchboote. Jason und sein Trupp folgten ihnen und ruderten mit aller Kraft so schnell es ging aufs Meer hinaus.
Ein paar Stunden später waren sie wieder im Hauptquartier mitten in Israel. Einer der Kommandoführer berichtete, sie hätten einen Teil des Hauptquartiers der Terroristen in die Luft gejagt und dabei ein paar Verteidiger getötet. Ein zweites Kommando hatte noch andere PLO-Gebäude gesprengt, darunter auch eine Werkstatt, in der Bomben hergestellt worden waren. Aber das Ergebnis von Jasons Auftrag interessierte sie am meisten.
»Na, Saba«, fragte er neugierig, »wie ging's bei dir?« Jason erwiderte langsam und entschieden: »Wir haben den Kerl getötet, der das Massaker in München geplant hat.«
»Ich gratuliere ...«
»Aber wir haben auch ein paar unschuldige Zivilisten getötet.« Dann schwieg er. »Saba, wir sind im Krieg. Wenn die Luftwaffe ein militärisches Objekt bombardiert, ist es selbst, wenn sie einen direkten Treffer erzielt, unvermeidlich, daß auch Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen werden.« »Ja schon, aber die Bomber sind ein paar tausend Meter über den Wolken. Sie müssen keine Gesichter sehen.«
Zvi nahm ihn bei den Schultern und sagte entschieden: »Jetzt hör mir mal zu. Du bist ein Soldat, der sein Land verteidigt. Diese Leute haben Israelis getötet und hatten vor, noch viele mehr umzubringen. Wahrscheinlich hast du Hunderte von Leben gerettet. Vielleicht Tausende. Darauf solltest du stolz sein.«
Jason schüttelte nur den Kopf, verließ das Gebäude, bestieg seinen Wagen und fuhr nordwärts in den Kibbuz. Er traf am frühen Morgen ein, und die Kinder waren auf dem Weg zur Schule. Seine kleinen Söhne sahen ihn, kamen auf ihn zugelaufen und umarmten ihn. Während er sie eng umfing und sie küßte, dachte er, ihr zwei seid die einzige Rechtfertigung für dieses Töten. Vielleicht ist die Welt endlich zur Vernunft gekommen, wenn ihr erwachsen seid.
Zwei Wochen später rief Zvi Jason zu sich. Er war entspannt und lächelte. »Wir haben eine Operation geplant, die dir Spaß machen wird.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Jason ironisch. »Nein, wirklich. Das ist bestimmt etwas für dich alten Harvard-Mann. Es geht nach Amerika. Unsere Regierung ist besorgt über das schlechter werdende Image Israels, besonders bei den jungen Leuten — die sogenannte Neue Linke.
Wir brauchen ein paar beredte Leute, die zu den Universitäten fahren und vielleicht auch zu jüdischen Gruppen sprechen, um deren Moral etwas zu heben.« »Ich bin kein großer Redner«, erwiderte Jason. »Aber du hast immer noch so einen schönen amerikanischen Akzent, und schon das wäre ganz nützlich. Von unserer ersten Begegnung her erinnere ich mich außerdem, daß du auch mal einen gewissen Charme hattest.«
»>Hattest< ist richtig.«
»Jedenfalls kannst du Eva für die eine Woche mit nach Jerusalem nehmen, die das Auswärtige Amt braucht, um dich ins Bild zu setzen. Betrachte es als Ferien, Saba. Vielleicht kommt in ein paar Ferientagen mit deiner Frau der längst vergangene Charme wieder.«

Bei ihren Spaziergängen durch Jerusalem erinnerte sich Eva, daß sie nur die eine Hälfte der Stadt hatten sehen können, als Jason nach Israel kam. »Das könntest du doch drüben erzählen«, schlug sie vor. »Als Jordanien noch die Alte Stadt besetzt hatte, konnten die Juden ihre heiligen Stätten nicht aufsuchen, und unsere Synagogen wurden sogar als Ställe benutzt.
Die Welt muß uns dafür dankbar sein, daß wir hier die Religionsfreiheit wieder möglich gemacht haben.«
»Eva, die Welt ist uns für nichts dankbar.«
»Also, ich bin jedenfalls stolz darauf«, beharrte sie. »Gut.« Er lächelte. »Vielleicht kannst du dann auch für mich die Reden halten.«

Jason traf Ende Mai in New York ein. Nach fast zehn Jahren betrat er wieder amerikanischen Boden. Und das tat gut. Zumindest etwas davon. Er war im Land seiner Geburt, nach dem er sich manchmal verzweifelt gesehnt hatte. Aber es war auch die Heimat seiner Eltern, die jetzt nur noch ein Ortsgespräch weit entfernt waren. Während der letzten Tage in Israel hatte er sich abgequält mit Überlegungen, was er mit ihnen tun sollte, und war zu keiner befriedigenden Lösung gekommen. Eva fand, er sollte nach Long Island fahren und sie besuchen. Wenn man erst zusammen war, würde sich vieles von selbst ergeben. Sie würden in seinen Augen die
Verpflichtung Israel gegenüber erkennen können. Und das konnte alles ändern.
Aber es war leichter für sie, das zu sagen, als für ihn, es auch zu tun. Er wußte, daß er seinen Eltern Kummer gemacht hatte. Und ganz gleich, ob er falsch oder richtig gehandelt hatte, er hatte immer noch Schuldgefühle.
Aber etwas, was Eva gesagt hatte, blieb ihm schmerzlich bewußt: »Du wirst nie mit dir selbst ins reine kommen, solange du dich nicht mit ihnen ausgesöhnt hast. So oder so mußt du das loswerden, sonst wirst du nie erwachsen werden.«
«Aber ich bin immerhin schon vierzig«, hatte er protestiert.
»Ein Grund mehr, endlich ganz erwachsen zu werden«, hatte sie geantwortet.
Dennoch, Jason saß an diesem Nachmittag in seinem Hotelzimmer und brachte es nicht über sich, zum Telefon zu greifen. Statt dessen zog er den neu erworbenen, leichten Sommeranzug an und ging spazieren. Er sagte sich, er schlendere die Fifth Avenue nur entlang, um in den Auslagen all die Prächtigkeiten zu betrachten, die sich kein Israeli leisten konnte. Aber als er zur 44. Straße kam, wußte er, es war eigentlich der Harvard-Club, zu dem es ihn zog.
Er hatte jahrelang keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlt, aber kam trotzdem hinein, weil er vorgab, er sei mit Andrew Eliot oben in den Sporträumen verabredet. Er fuhr mit dem Lift in den fünften Stock und sah die Buchungen für Squash durch. Natürlich, für fünf Uhr nachmittags war heute »A. Eliot, '58« eingetragen. Er sah auf die Uhr — nur noch zwanzig Minuten.

Andrew traute seinen Augen nicht. Er war außer sich vor Freude. »Mein Gott, Gilbert! Du hast dich überhaupt nicht verändert. Ich meine, unsereinem gehen die Haare aus und man legt sich einen Bauch zu, und du siehst wie ein verdammtes Erstsemester aus. Wie machst du das nur?« »Probier es mal mit zehn Jahren Militärdienst, Eliot.« »Nein danke. Da bin ich lieber in Sicherheit und werde fett.
Wie wär's mit ein wenig Squash? Du kannst gern meinen Platz und meinen Gegner haben, einen Börsenmakler mit Übergewicht.«
»Ja, danke, gerne — aber ich brauche Schuhe und Schläger.« »Kein Problem, alter Freund«, erwiderte Andrew munter, »und danach gehen wir zum Essen, ja?«
»Wirst du denn nicht von deiner Frau erwartet?« fragte Jason.
»Nicht eigentlich. Aber das ist eine andere Geschichte.«