25. Andrew Eliots Tagebuch 2. Juni 1973

Es war wirklich fabelhaft, nach so langer Zeit Jason Gilbert wiederzusehen. Und auch etwas beunruhigend. Einerseits hat sich der Kerl äußerlich kaum verändert. Er sieht noch immer wie ein zwanzigjähriger Sportsmann aus, und im Vergleich zu ihm komme ich mir noch mehr als sonst wie ein mittelalterlicher Dickwanst vor.
Und doch ist er irgendwie anders geworden. Wenn ich nach dem passenden Wort suche, fällt mir nur >ernst< ein. Obwohl er offensichtlich glücklich verheiratet ist und seine Kinder anbetet, scheint er etwas von seiner früheren Lebenslust verloren zu haben. Ich meine, er lächelt immer, wenn wir über die Eskapaden der Vergangenheit reden. Aber er lacht nie. Es scheint nichts zu geben, was ihn wirklich amüsiert.
Natürlich weiß ich, daß er in den vergangenen Jahren eine Menge durchgemacht hat — wiewohl er es weitgehend vermieden hat, darüber zu reden. Das heißt, wenn einem die Verlobte ermordet wird und man mitten in einem wirklichen Krieg gesteckt hat, dann reicht das ja sicher schon, um ernst zu werden. Aber ich spürte, daß ihn noch etwas anderes bedrückte, und versuchte mit allen Mitteln, es herauszufinden. Einmal sagte er: »Andy, ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist.«
Das hat mich irgendwie erschüttert. Denn von allen unseres Jahrgangs war Jason der einzige, von dem ich glaubte, er wisse, was er tue und warum er es tue. Ich will damit sagen, er hat sich einer Sache verschrieben und dafür auf eine Menge glitzernde Trophäen und Preise verzichtet, die ihm bestimmt zugefallen wären, wenn er hiergeblieben wäre und Karriere gemacht hätte. Schließlich war er der Beste unserer ganzen verdammten Bande. Ich bekam eine Ahnung davon, was ihm auf der Seele liegt, als ich ihm erzählte, wie sehr die Presse und auch der normale Mann auf der Straße die Leistungen der israelischen Armee im 6-Tage-Krieg bewundert hätten. Es sei so ähnlich gewesen wie der Kampf Davids gegen Goliath, und das sei es, was die Amerikaner daran fasziniere. Worauf er nur sagte, die Medien hätten das verherrlicht. Denn ganz gleich, wie sehr man an das glaube, wofür man kämpfe - es sei schrecklich, jemanden zu töten. Er könne den Gedanken schwer ertragen, daß es Kinder in der Welt gebe, die er selbst zu Waisen gemacht habe. Ich erwiderte, es müsse ganz schön schwer sein, als Soldat solche Gedanken zu haben. Er sah mich mit Trauer in den Augen an, eine Trauer, wie ich sie bei ihm früher nie gesehen hatte, und sagte leise: »Es ist unmöglich, Soldat zu sein und dabei wirklich Mensch zu bleiben.«
Bis dahin war ich überzeugt gewesen, daß ich und meine Jahrgangsgenossen durchaus die negativen Seiten des Lebens kennen würden - gescheiterte Karrieren, Hypotheken, Scheidungen, Kämpfe ums Sorgerecht, rebellierende Kinder und all das, was Krisen in den mittleren Jahren ausmacht.
Aber anders als wir, die wir noch immer auf Ruhm und Reichtum aus sind, will Jason nur ein Mensch sein.
Und er ist sich gar nicht so sicher, daß er es auch schafft.

Während der ersten Woche in New York sprach Jason zu zwölf verschiedenen Gruppen, von ein paar politischen Führern bis zu mehr als tausend >Freunden lsraels< bei einem Mittagessen im Biltorme-Hotel.
Es gab auch andere als nur >Freunde< bei den Versammlungen. Bei den Diskussionen wurde er verschiedentlich von Vertretern der Neuen Linken heftig angegriffen, er repräsentiere ein imperialistisches Land. Ruhig erwiderte er, Israel wolle über niemanden herrschen, sondern wolle nur ein demokratisches Land sein wie andere auch. Und sicher würden — das sei seine persönliche Auffassung — die besetzten Gebiete wieder zurückgegeben, wenn die Araber Israels Existenzberechtigung anerkennen würden.
Noch lange nach einem dieser Vortrage war das Podium von Menschen umgeben, die mit ihm sprachen, ihm die Hand schüttelten, ihm alles Gute wünschten. Schließlich war nur noch ein Paar übrig. Er stand seinen Eltern gegenüber.
Jeder hatte Angst, das erste Wort zu sagen. Aber ihre Blicke sagten alles. Bewunderung und Zuneigung bei seinen Eltern, Erleichterung und Liebe bei ihm. Und alle drei sehnten sich nach Aussöhnung.
»Guten Tag, Mom, Dad. Wie schön ..., euch wiederzusehen.« »Du siehst gut aus, Jason«, sagte seine Mutter leise. »Nun ja«, erwiderte er, »Gefahr scheint mir eben zu bekommen. Ihr beide seht aber auch blendend aus. Wie geht's Julie?«
»Es geht ihr gut«, antwortete sein Vater, »sie lebt in Kalifornien und hat einen Rechtsanwalt aus Santa Barbara geheiratet.« »Ist sie glücklich?« »Sie und Samantha kommen diesen Sommer hierher zurück. Wenn die Scheidung vollzogen ist.« »Wieder?«
Sein Vater nickte. »Julie hat sich nicht verändert.« Dann fügte er mit rauher Stimme hinzu: »Wir.. . wir haben dich vermißt, mein Junge.« Jason stieg vom Podium und legte die Arme um seine Eltern. Für einen langen Augenblick hielten sie sich so umfaßt. »Hast du Zeit, nach Hause zu kommen?« »Natürlich«, sagte er und nickte, »das möchte ich sehr gerne.«

Am nächsten Abend zeigte er seinen Eltern beim Essen Fotos von Eva und ihren zwei Enkeln. Sie waren sehr bewegt und freuten sich, daß seine Ehe so gut war. »Können wir ein paar von den Bildern behalten?« fragte seine Mutter. »Ihr könnt alle haben«, bot Jason an und gestand dann: »Ich habe sie im Grunde extra für euch mitgebracht.«
Kurz nach elf entschuldigte sich seine Mutter, sie sei müde; Jason und sein Vater waren das erste Mal seit zehn Jahren allein. Jason sprach als erster: »Vater, ich weiß, daß ich dir und Mama sehr weh getan habe ...« »Nein«, unterbrach ihn sein Vater. »Wenn Entschuldigungen fällig sind, dann laß mich damit anfangen. Es war falsch von mir, deine Überzeugung nicht zu respektieren.« »Bitte, Vater.« »Nein, laß mich ausreden. Du hast mich etwas gelehrt über unsere Herkunft. Ich begreife jetzt, daß man ein hundertprozentiger Amerikaner sein kann und doch zugleich ein Jude.
Der 6-Tage-Krieg hat Leuten wie mir die Augen geöffnet. Plötzlich ist da ein riesiger Stolz entstanden ...« Er hielt inne. Jason wußte nicht, was er sagen sollte. Die Stimme seines Vaters senkte sich, als er fortfuhr: »Und dann wußte ich natürlich, daß du da mitten drinsteckst, und ich habe mir höllische Sorgen gemacht.« Er hob den Kopf. »Ach Gott, mein Sohn, ich bin ja so froh, daß du es überlebt hast und wir hier miteinander reden können.« Sie umarmten sich.
Eva und die Jungens erwarteten ihn am Flugplatz von Tel Aviv. Sie umarmten und küßten sich, und der kleine Ben fragte: »Papa, hast du uns etwas mitgebracht?«
»Aber klar doch, Benjy. Aber das beste Geschenk wird im Oktober hier ankommen.« »Was ist das?« »Eine Großmutter und ein Großvater.«

»Kommen Sie doch auch«, rief Richard Nixon George Keller zu. »Ein bißchen Schwimmen tut Ihnen gut.« Es war ein heißer Augusttag, 1973, im >Weißen Haus des Westens<, in San Clemente, Kalifornien. Der Präsident beriet sich mit Kissinger, beide hockten sie auf der flachen Seite des Swimming Pools bis zum Bauch im Wasser. George Keller saß an einem Tisch und notierte, was Kissinger ihm zurief: »Mich daran erinnern, Pompidou um sieben Greenwich
Mean Time anrufen.« Nixon wiederholte seine Aufforderung an George. »Ich fürchte, das geht nicht, Herr Präsident, danke sehr«, erwiderte George verlegen. »Aber ich habe nicht mal eine Badehose mit.«
Worauf sich Nixon an Kissinger wandte und scherzte: »Sagen Sie nur nicht, daß Ihr Junge da nicht schwimmen kann.«
»Oh, doch, natürlich kann er schwimmen, Herr Präsident. Er hätte sein College-Diplom gar nicht bekommen, wenn er nicht fünfzig Meter hätte schwimmen können.«
Dr. K. vermied es immer gewissenhaft, das Wort >Harvard< zu benutzen, außer, wenn es unumgänglich war. Nixon hatte eine Phobie, was diese Einrichtung betraf. Sie stammte noch aus der Zeit, als er Mitglied von Joe McCarthys Untersuchungsausschuß gegen kommunistische Umtriebe war (und
zudem stand der gegenwärtige Präsident Harvards, Derek
Bok, auf der Liste von Gegnern des Weißen Hauses). »Na schön«, erwiderte der Präsident. »Aber George, Sie müssen mir versprechen, vor dem Abendessen noch ein paar  Längen zu schwimmen. Ich will, daß mein Team in guter Kondition ist.«
»Ja, Herr Präsident«, antwortete er. »Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich muß einige dieser Notizen ins reine schreiben.« George sammelte pflichtschuldig seine Papiere ein, schob sie in eine Mappe und schlenderte zu einem der Gästehäuser, in denen die verschiedenen Assistenten aus dem Weißen Haus untergebracht waren.
Er saß noch keine fünf Minuten an seinem Tisch, als Kissinger im Bademantel hereinkam, ohne anzuklopfen. »George«, sagte er aufgeregt, »du wirst nicht glauben, was der Präsident gerade getan hat.« »Was Gutes oder was Schlechtes?«
»Na ja, das kommt darauf an, wie man es sieht, mein Junge«, sagte Kissinger und lächelte. »Er hat mich aufgefordert, Außenminister zu werden.«
»Fabelhaft, Henry, ich gratuliere.«
»Darf ich mal dein Telefon benutzen? Ich möchte meine Eltern anrufen und es ihnen mitteilen.«

Am 22. September um sechs Minuten nach elf legte Dr. Kissinger im Ostzimmer des Weißen Hauses den Eid als 56. Außenminister der Vereinigten Staaten ab. George Keller durfte als einer der wenigen Leute, die nicht der Presse angehörten, bei der Zeremonie anwesend sein. Denn er war zum persönlichen Assistenten des neuen Außenministers ernannt worden.
Kissingers wenige Dankesworte kamen von Herzen: »In keinem anderen Land der Welt wäre es möglich, was hier vor sich geht, daß ein Mann meiner Herkunft hier neben dem Präsidenten der Vereinigten Staaten steht...«
George gab die Hoffnung nicht auf, daß Amerika auch einem Mann seiner Herkunft unbeschränkte Möglichkeiten bieten würde.

»Henry, hast du einen Moment Zeil?« Der neue Außenminister blickte vom Tisch auf und antwortete freundlich: »Natürlich, George. Von welcher unlösbaren Krise willst du mir berichten?«
»Es ist eigentlich keine Krise, sondern mehr ein Rätsel. Du weißt, ich hatte immer guten Kontakt zu Andrejew von der russischen Botschaft...« »Natürlich. Unser bester Freund beim Feind.« »Er hat mich zum Essen ins >Sans Souci< eingeladen.« »Gut.« Kissinger lächelte. »Wenigstens springen bei dem, was von der Entspannung übrig ist, noch ein paar Mahlzeiten heraus.« »Im Ernst, Henry«, antwortete George, »er möchte mir ihren neuen Kulturattache vorstellen.« »Ah ja«, antwortete Kissinger mit seinem phänomenalen Gedächtnis, »Yakushkin heißt er.« George nickte: »Was wird er wohl wollen?« »Ich erwarte von dir, daß du genau das herausbekommst. Aber darf dir dein alter Professor einen Rat geben?« »Aber natürlich«, sagte George. »Probier Aiguillettes de canard. Die werden dort in Cassis gekocht.«

Das ist das Paradoxe an Washington. Unter anderen Bedingungen würde man es Hilfe und Tröstung — und hier Haute cuisine — für den Gegner nennen. Aber in Amerikas Hauptstadt nennt man so etwas »gastronomische Diplomatie«. Einige Vertraute des Präsidenten, wie Haldemann und Ehrlichman, aßen regelmäßig im >Sans Souci<, dem bei weitem besten Restaurant, das vom Weißen Haus aus zu Fuß erreichbar war. Und man war es dort gewohnt, hohe Regierungsbeamte (wie auch mittlere Chargen im Range Georges ) beim Essen mit Vertretern des Landes zu sehen, das man angeblich als Todfeind betrachtete.
Es war nicht das erste Essen dieser Art für George. Obwohl er sich nicht erklären konnte, warum, schien die russische Botschaft ihn besonders gern zu haben. Anfangs hatte er angenommen, es sei wegen seines perfekten Russisch. Aber alle Unterhaltungen wurden auf Englisch geführt. Und nicht einmal mit gesenkter Stimme. Wie vorgeschrieben, schickte er immer ein >Gedächtnisprotokoll der Gespräche mit detaillierten Angaben über die Themen an das FBI.
Die Tatsache, daß die Sowjets ihn besonders schätzten, rief keinerlei Verdacht hervor, sondern trug tatsächlich noch zur Stärkung von Georges Ruf bei. Denn es gab beim State Department und beim CIA Strategen, die glaubten, vielleicht würde er eines Tages nützlich werden, wenn es darum ging, einen potentiellen Überläufer auszumachen.
Es war ein schöner Tag, und George ging zu Fuß über die Pennsylvania Avenue und die 17. Straße entlang zum Restaurant. Andrejew, in mittleren Jahren und kahlköpfig, trug den für die Russen typischen, schlecht geschnittenen grauen Anzug und winkte ihn zu seinem Tisch, wo sich ein jüngerer
Mann mit blauem Blazer und gestreifter Krawatte zur Begrüßung erhob.
»Dimitri Yakushkin, das ist George Keller«, sagte Andrejew und fügte scherzhaft hinzu: »Stellen Sie sich gut mit ihm. Er weiß mehr über Osteuropa als wir.«
»Ich werde mich so gut wie eben möglich benehmen«, sagte der Diplomat in fehlerlosem Englisch.
George dachte unwillkürlich: Mein Gott, er hat eine fast so gute Aussprache wie ich.
»Was möchten Sie trinken?« fragte Andrejew, »Bloody Mary oder Champagner-Cocktail?« »Hier gibt es vorzüglichen russischen Wodka, eine Bloody
Mary bitte.« Andrejew machte dem Maitre ein Zeichen mit drei Fingern, und der nickte nur, ohne weitere Erklärungen zu benötigen.

Die Unterhaltung war besonders herzlich und außergewöhnlich oberflächlich, und George wartete auf versteckte Anspielungen. Als die Creme brulee kam, fragte Yakushkin ihn, ob er denn nicht wieder einmal nach Ungarn gefahren sei, was für ihn als amerikanischen Staatsbürger doch jetzt möglich sein müsse, und andere Trivialitäten. George ließ sich oberflächlich — aber nicht allzu chauvinistisch - über die Vorzüge des Lebens in einer kapitalistischen Gesellschaft aus und darüber, wie sehr er das gesellschaftliche Leben Washingtons mit den vielen schönen Frauen genieße. Dimitri werde das schon auch noch herausfinden. Bei dieser Bemerkung glaubte er, ein Funkeln in den Augen des jungen Mannes zu erkennen. Vielleicht ist er ein Kandidat für uns, überlegte George. Vielleicht will er nur irgendwie erfahren, wie gut man als Überläufer hier leben kann.
Das war der einzige Schluß, den er in dem Gedächtnisprotokoll, das er seiner Sekretärin später diktierte, anzubieten hatte.
Nach drei Uhr steckte der Außenminister den Kopf durch Georges Tür und fragte: »Na?« »Du hast recht gehabt, Henry. Die Ente war phantastisch.«

Fünf Tage später rief Yakushkin in Georges Büro an, »nur um in Verbindung zu bleiben«, und um zu bekräftigen, wie sehr er über ihre Begegnung erfreut gewesen sei. Tatsächlich wollte er George zum Abendessen einladen. Man einigte sich auf Zeit und Ort — das bei den Russen besonders beliebte Restaurant mit dem passend >linken< Namen >La Bive Gau- che< an der Wisconsin Avenue. Den Kantinengesprächen des State Departments zufolge war es der exklusivste Ort in Washington. Denn danach bestanden die Gäste fast ausschließlich aus CIA- und KGB-Agenten, die sich gegenseitig dabei beobachteten, wie sie andere Leute beobachteten. Wieder war  das  Gespräch  oberflächlich.  aber diesmal trank man Bordeaux — und eine ganze Menge. Beide gaben sich lässig und versuchten, betrunkener zu erscheinen, als sie es wirklich waren.

George«, sagte Dimitri beiläufig, »diese Stadt ist ganz schön teuer. Bekommen Sie eigentlich ein hohes Gehalt bei der Regierung?« »Es ist nicht schlecht«, sagte George und fügte nachträglich hinzu: »Sechsunddreißigtausend jährlich.« »Wieviel Rubel sind das?« fragte der junge Russe. »Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete George lächelnd. »Offen gesagt«, lachte der Diplomat, »ich weiß es auch nicht. Jedenfalls, unter uns, ich würde mein Gehalt auch lieber in Dollars bekommen.« »Man kann ja auch in Amerika nur mit Dollars einkaufen«, erwiderte George und merkte, daß man sich langsam einem wichtigen Thema näherte. Er schob den Ball lässig in die russische Spielhälfte. »Sagen Sie, Dimitri, kommen Sie eigentlich mit Ihrem Gehalt aus?« Es entstand eine Pause. Die beiden Spieler sahen sich an, und der Russe sagte offen: »Das wollte ich Sie auch gerade fragen.« Und George dachte: Dieser Irre versucht, mich anzuwerben. Halten mich die Russen wirklich für einen solchen Schwächling? Trotzdem mußte er ruhig bleiben. »Ich komme gut aus, Dimitri«, antwortete er gelassen. »Ich habe keine besonderen Ansprüche.« »Ja«, stimmte der Sowjetrusse mit etwas geheimnisvoller Stimme zu, »es scheint Ihnen wirklich an nichts zu fehlen. Wir können Ihnen also ... nicht behilflich sein?« George wußte, er mußte mitspielen. »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte er fast scherzhaft, »aber warum sollte Ihre Botschaft jemandem wie mir behilflich sein wollen?«
»Weil Sie als Marxist aufgewachsen sind, und weil Sie vielleicht manchmal ein wenig Heimweh ...«
»Noch nie.«
»Ich meine ja nicht das System, sondern Ihr Heimatland ... Kommen Sie sich nicht manchmal ein bißchen entwurzelt vor?«
»Ich bin Amerikaner«, antwortete George bestimmt. Dimitri schien einen Augenblick über diese Reaktion nachzudenken, dann zog er zwei schmale silberne Etuis aus der Tasche. »Zigarre?« fragte er. »Das sind I lavannas. Wir bekommen sie durch Kurier. Ich wette, Sie haben noch nie eine geraucht, oder?« »Nein danke«, sagte George höflich. »Ich rauche nicht.« Er wollte, daß die FBI-Agenten sahen, daß er von den Kommunisten nicht mal eine Zigarre annahm. Yakushkin zündete sich die seine an und blies kleine Ringe. »Dr. Keller«, sagte er bewußt langsam, »ich habe eine Information, die Sie interessieren wird.«
Der plötzliche Tonwechsel war George unbehaglich. »Ich freue mich immer, wenn ich von der russischen Botschaft Informationen erhalte«, sagte er mit nervösem Humor. »Es dreht sich um das Befinden Ihres Vaters«, sagte der Diplomat. »Ich dachte, Sie würden gerne wissen ...« »Ich weiß, daß mein Vater in der Partei aufgestiegen ist«, unterbrach ihn George ärgerlich. »Ich meine sein gesundheitliches Befinden.« »Ist er krank?« »Er hat Lungenkrebs.« »Ach«, sagte George ernst, »das tut mir leid.« »Das ist zweifellos mit großen Schmerzen verbunden«, fügte der Russe hinzu. »Was meinen Sie mit großen Schmerzen?« »Sehen Sie«, begann Dimitri in väterlich tröstendem Ton, »Sie sind doch Experte für osteuropäische Fragen und kennen den Zustand der Krankenhäuser in Ungarn. Wir verfügen nicht über derart viele Medikamente wie Sie hier im Westen. Deshalb ist es nicht sicher, wie lange er noch lebt.
Vielleicht noch ein Jahr, vielleicht ein paar Monate...« Yakushkin seufzte wie ein weltmüder Arzt. »George, dieses gräßliche Wettrüsten läßt die humanitären Dinge manchmal sekundär erscheinen. Wenn Ihr Vater in Amerika wäre, ginge es ihm sicher viel besser. Sie sind uns weit voraus bei den —wie heißt es doch gleich? —Schmerzmitteln.«
»Ich bin sicher, daß Parteifunktionäre keinen Mangel an westlichen Medikamenten haben, Dimitri.« »Das stimmt«, gab der Russe zu. »Aber wie Sie und ich wissen, hat Ihr Vater keinen besonders hohen Rang...« Er brach ab und blies wieder einen kubanischen Rauchring in die Luft. »Ich begreife nicht, was das alles mit mir zu tun hat« erwiderte George ruhig. »Nun ja«, sagte Dimitri und lächelte ein wenig, »ein Vater ist ein Vater. Ich meine, wenn ich Sie wäre, würde ich ihm helfen wollen, wenigstens ihm einen friedlichen Tod ermöglichen. Vielleicht läßt es sich machen, daß ich ihm helfen kann.« »Dann tun Sie das.«
Wie zwischen zwei Runden eines Boxkampfes entstand eine Pause. Yakushkin erwiderte nur: »So einfach geht das nicht.«
»Was zum Teufel wollen Sie eigentlich?« Dimitri füllte Georges Weinglas nach und sagte dann in freundlichem, ruhigem Ton: »Hören Sie, Keller, falls Sie glauben, ich will Sie zur Spionage überreden, dann haben Sie sich getäuscht.« »Aber Sie wollen doch, daß ich etwas tue?« beharrte George. »Ja. Etwas völlig Legales. Es geht nur darum, einen Riegel Ihrer Staatsbürokratie zurückzuschieben. Seit Monaten schon versuchen wir ein Gerät zu bekommen ...«
»Das ich wohl für Sie entwenden soll«, unterbrach George. »Nein, nein. Es geht da um eine kleine Vorrichtung, die wir zu kaufen versuchen. Verstehen Sie, zu kaufen. Es ist ein kleines Gerät zum Vergrößern photographischer Bilder von Wettersatelliten. Keine Heimlichtuerei, sondern Ihr Wirtschaftsministerium erteilt einfach nicht die Exporterlaubnis.« »Und Sie möchten, daß ich da nachhelfe?« »Nachhelfen ist zuviel gesagt«, erwiderte der Diplomat. »Ich würde lieber sagen, etwas Einfluß nehmen. Ich möchte Sie nur darum bitten, sich davon zu überzeugen, daß dieses > Taylor RX-80<, wie es heißt, militärisch wertlos ist. Lassen Sie sich ruhig Zeit und rufen Sie mich an, wenn Sie es nachgeprüft haben. Wie auch immer, es war jedenfalls ein sehr angenehmer Abend.«
George versuchte, sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren, und antwortete: »Vielen Dank.«

In seinem Gedächtnisprotokoll für das FBI über das zweite Treffen mit Dimitri Yakushkin, dem Kulturattache der sowjetischen Botschaft, schrieb George Keller kurz und bündig: »Ich versuchte, ihn anzuwerben. Er versuchte, mich anzuwerben. Das Spiel endete torlos, unentschieden. G.K.«
Tatsächlich aber verfolgten George in den Tagen danach die Gedanken an seinen verhaßten Vater. Der Gedanke ließ ihn nicht los, daß sein Vater in einem Budapester Krankenhaus im Sterben lag. Er konnte ihn nicht mehr länger hassen.
Nach drei Tagen und Nächten war er noch immer in dieser schmerzlichen Lage. Er überlegte sich sogar, ob der Russe vielleicht nur bluffte. Denn es war durchaus denkbar, daß sein Vater irgendwo in einem eleganten Heim für Parteifunktionäre lag. Wie konnte er seiner Sache sicher sein?
Dimitri Yakushkin hatte das vorausgesehen. Als George am vierten Morgen hinunterging, um die Post zu holen, fand er ein großes braunes Kuvert, das durch Boten gebracht worden war.
Es enthielt zwei Röntgenaufnahmen vom Thorax und eine kurze Notiz des Diplomaten: »Lieber George, dies wird Sie vielleicht interessieren. D.«