26. Andrew Eliots Tagebuch 30. September 1973

Ich fürchte, es ist irgend etwas Furchtbares mit George Keller los. Er rief mich heute nachmittag an und sagte, ich kenne doch die Ehemaligen Harvards und ob ich ihm einen guten Arzt in der Umgebung Washingtons nennen könne. Ich war darüber aus zwei Gründen erstaunt. Warum fragte er mich, einen Nicht-Mediziner? Und warum hatte er sich nicht bei seinen Freunden in Washington erkundigt? Er erklärte mir, es sei eine wirklich sehr ernste Geschichte und müsse geheimgehalten werden. Natürlich sagte ich ihm, ich würde gerne versuchen zu helfen, aber ich müsse zum Beispiel wissen, welche Art Arzt er suche.
Zuerst gab er eine sehr merkwürdige Antwort. Er brauche jemanden, der »besonders vertrauenswürdig« sei. Ich vermutete erst, George hätte vielleicht eine Art Nervenzusammenbruch. Ich weiß ja, daß die hochrangigen Geheimnisträger unter wahnsinnigem Druck stehen.
Aber nein, er wollte den Namen des besten Onkologen im Umkreis von Washington. Das warf mich um. Warum brauchte er einen Krebsspezialisten? Ich fand, ich hatte kein Recht, ihn das zu fragen.
Ich sagte ihm, ich würde mich ganz diskret bei meinen Medizinerfreunden erkundigen und ihn zurückrufen. Er bestand aber darauf, daß er mich wieder anriefe. In diesem Augenblick schaltete sich die Vermittlung ein und sagte, die drei Minuten seien um. Er fütterte noch mal Münzen nach und sagte, er würde am nächsten Tag, genau zur gleichen Zeit, wieder anrufen.
Natürlich rief ich sofort die Registratur von Harvard an und bat, den Computer nach Krebsspezialisten zu befragen. Ich
erhielt die Auskunft, daß Peter Ryder, einer unserer Mitstudenten, jetzt Professor für Onkologie an der John-Hopkins-Universität in Baltimore war.
Obwohl ich mir über Georges Gesundheit Sorgen machte, beunruhigte mich noch etwas anderes. Warum hatte er von einem öffentlichen Fernsprecher aus angerufen?

Peter Ryder, Professor für Onkologie an der Medizinischen Fakultät der John-Hopkins-Universität, überraschte George mit der Begrüßung: »Kak pozhivias?« »Wie das denn? Warum sprechen Sie Russisch mit mir?«
»Sie erinnern sich also nicht mehr an mich«, sagte der große Arzt, dessen Haar bereits schütter wurde, und konnte
seine Enttäuschung nicht verbergen. »Ich habe in >Slawisch i68< direkt neben Ihnen gesessen. Aber wahrscheinlich
waren Sie damals zu sehr mit den Vorlesungen beschäftigt, um noch irgend etwas anderes um Sie herum zu bemerken.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte George abwesend. »Können wir irgendwo ungestört reden?«
»Ja, natürlich. Sie haben gesagt, Sie haben Röntgenaufnahmen mit. Wir können sie uns in meinem Büro ansehen.«
George umklammerte das braune Kuvert und folgte dem Spezialisten im weißen Kittel den Flur entlang. Auch als sie
die Tür von Ryders Büro hinter sich geschlossen hatten, wollte er die Aufnahmen noch immer nicht aus der Hand geben.
»Doktor«, sagte er in vertraulichem Ton, »ich muß Ihnen zuerst etwas dazu sagen.« »Bitte, nennen Sie mich Peter«, bat der Arzt. »Gut, Peter. Sie wissen, daß ich für das State Department arbeite. Diese Röntgenaufnahmen sind eine Geheimsache.«
»Ich verstehe Sie nicht, George.«
»Sie stammen von einem hochrangigen kommunistischen Führer und wurden unter größter Geheimhaltung herausgebracht. Ich muß sicher sein, daß es keine schriftliche AufZeichnung unseres Gesprächs geben wird. Denn ich werde auch nicht begründen können, warum ich eine Stellungnahme hierzu brauche.«
»In Ordnung«, antwortete Ryder. »Ich habe genug Grütze zu begreifen, daß es für Sie dort wichtig ist zu wissen, wie es mit der Gesundheit der hohen Tiere da drüben steht. Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.« Er klammerte die Röntgenaufnahmen vor die Leuchtscheibe und sagte sofort: »Ich verstehe nicht, warum Sie damit noch zu einem Onkologen gekommen sind.« »Was meinen Sie damit?« »Eigentlich kann schon ein Medizinstudent sehen, was da los ist. Sehen Sie diesen schwarzen Fleck im Bereich des Apex, dem oberen linken Lungenlappen? Das ist ein hochgradig bösartiges Geschwulst. Dieser Patient hat nicht mehr sehr lange zu leben, höchstens noch ein paar Monate.« Dann wandte er sich an George und fragte: »Das wollten Sie doch wahrscheinlich wissen?« George zögerte und fragte dann: »Können Sie mir noch sagen, ob der Patient... große Schmerzen hat?« »Ich kann da ziemlich genaue Schlüsse ziehen«, antwortete Ryder und wandte sich wieder dem Röntgenbild zu. »Das Karzinom scheint auf den lorachischen Nervenplexus einzuwirken. Das ruft dann starke Schmerzen hier im oberen Brustbereich hervor und strahlt in den Arm aus.«
George wußte für einen Moment nicht, was er noch fragen sollte. »Möchten Sie noch irgend etwas anderes wissen?« fragte der Arzt. »Ja —doch. Nur noch eine hypothetische Information, wenn Sie so freundlich wären, Peter. Wenn diese Person Ihr Patient wäre, wie würden Sie sie behandeln?« »Es gibt keinerlei Möglichkeit mehr, die Krankheit zu heilen, aber vielleicht ließe sich durch Bestrahlung und Chemotherapie mit neuen Zytostatika wie Adriamycin, Cisplatin und Zytoxem, zusammen oder einzeln angewandt, das Leben des Patienten etwas verlängern.«
»Würde das auch die Schmerzen lindern?« fragte George.
»In vielen Fällen, ja. Wenn nicht, gibt es dann noch eine große Bandbreite von Narkotika und Sedativa.« »Dann ist es also möglich, daß selbst jemand mit dieser Krankheit... in Frieden stirbt?« fragte George. »Ich möchte doch behaupten, daß das ein sehr wichtiger Teil meines Berufs ist«, sagte Byder freundlich.
»Haben Sie vielen Dank, Peter«, murmelte George und versuchte seine fünf Sinne zusammenzuhalten, um auch bei der Verabschiedung äußerst vorsichtig zu bleiben. »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte sein ehemaliger Kommilitone. »Aber darf ich Sie etwas fragen? Sie können sich völlig auf meine Diskretion verlassen.« »Ja, bitte?« »Ist es Breschnew?« »Bedaure«, erwiderte George leise, »das kann ich Ihnen nicht sagen.«

George bat seine Sekretärin, ihn mit Stephen Webster vom Handelsministerium zu verbinden. Er war Technologie-Experte, der gerade das Massachusetts Institute of Technology absolviert und sich George auf einer Gesellschaft vorgestellt hatte, und wie alle jungen Männer, die gerade erst nach Washington gekommen sind, war er sehr darauf aus, sich bei den Oberen einzuschmeicheln. »Hallo, Dr. Keller«, sagte er fröhlich, »was für eine angenehme Überraschung, Ihre Stimme zu hören. Was kann ich für Sie tun?«
»Steve«, begann George vorsichtig, »es ist wirklich nur eine ganze Kleinigkeit. Haben Sie schon mal etwas von der RX-80-Sache gehört?« »Sie meinen den Taylor-Filter?« fragte der Wissenschaftler, eifrig bemüht, mit neuesten Kenntnissen zu glänzen. »Richtig, und könnten Sie einem Laien wie mir erklären was dieses Ding kann?« »Aber gerne. Wir benutzen den Filter bei Wettersatelliten, um schärfere Bilder zu bekommen, damit wir Leute wie Sie davor bewahren, ohne Schirm im Regen zu stehen.« »Das klingt recht harmlos«, erwiderte George. »Wir haben uns hier im State Department nämlich gewundert warum ihr das Ding nicht freigebt. Hat es vielleicht irgendeine militärische Redeutung?«
»Na ja«, antwortete Webster, »das kann man von fast allem sagen. Es hängt davon ab, wie man es einsetzt. Theoretisch kann ein klares Satellitenbild dabei helfen eine Rakete genauer ins Ziel zu bringen.« »Und was habt ihr da drüben mit diesem Ding vor?« »Hören Sie, Dr. Keller, ich stehe praktisch nur eine Stufe höher als die Rüroboten. Aber wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen, es hängt wahrscheinlich davon ab wie das State Department entscheidet.« »Sie meinen Kissinger?« »Wer denn sonst?«
»Danke, Steve. Übrigens, spielen Sie Tennis?« »Ein bißchen«, erwiderte er eifrig. »Ich rufe Sie nächste Woche an, und vielleicht schlagen wir mal ein paar Bälle.«

Diesmal lud George Yakushkin zum Essen ein. Er wählte die >Cantina d'Italia<, ein anderes elegantes Restaurant Washingtons, das von den Russen für Entspannungsessen favorisiert wurde. Sobald sie bestellt hatten, kam er zur Sache.
»Dimitri, ich habe mich mal im Wirtschaftsressort umgehört, und es sieht so aus, als könnten wir, was den kleinen Filter angeht, das Ersuchen Ihrer Regierung bald positiv entscheiden.«
»Das freut mich aber sehr«, sagte der junge Diplomat und strahlte. »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar. Und wenn ich mich irgendwie revanchieren kann...«
George versuchte auf unverdächtige Weise festzustellen, ob andere Gäste sie hören konnten.
Aber Yakushkin wußte, was ihm auf der Seele lag, und sagte sogleich: »Sie würden Ihre Geburtsstadt nicht wiedererkennen, George. In Budapest gibt es jetzt moderne Wolkenkratzer, modernste Krankenhäuser mit jeder Art von technischer Ausrüstung und den neuesten Behandlungsmethoden ...«
»Den besten?«
»Ich möchte wetten, es gibt dort alle Mittel, die es auch im Westen gibt. Stellen Sie mich ruhig auf die Probe.« Er hatte es George leichtgemacht, der sich natürlich die Namen der Medikamente gemerkt hatte. »Was ist zum Beispiel mit Adriamycin, Cisplatin und Zytoxem?« »Die sind selbstverständlich verfügbar, wenn das notwendig ist.« »Sehr beeindruckend«, sagte George. Und beide Spieler wußten, es war Zeit, das Thema zu wechseln.

In seiner Eigenschaft als Assistent des Außenministers für osteuropäische Angelegenheiten bereitete George politische Empfehlungen vor, die mit der politischen Philosophie seines Vorgesetzten übereinzustimmen hatten. George verfaßte sie selbst und gab sie am Ende jeder Woche an Kissinger weiter.
Inzwischen hatte er so viel Erfahrung darin, daß er sogar Henrys eigenwillige Ausdrücke verwandte. An jenem Freitag enthielt der Stapel von Anweisungen an verschiedene Ressorts und Büros eine kurze Notiz an einen mittleren Beamten des Wirtschaftsministeriums: »Es scheint nicht mehr erforderlich, den Verkauf von Taylor BX-80 zu untersagen. Der militärische Wert ist minimal. Man sollte es ihnen verkaufen und daran verdienen, bevor sie es stehlen. Ihr HAK.«

George unterrichtete den Außenminister über die einzelnen Vorgänge, die er ihm vorlegte. Es handelte sich zum größten Teil um politische Direktiven und Mitteilungen an verschiedene Planungsgruppen, um sicherzustellen, daß man an den jeweiligen Themen weiterarbeitete.
Dann gab es noch ein paar andere Sachen, so eine Notiz an das Verteidigungsministerium über Sicherheitsvorkehrungen für eine bevorstehende Waffenhandelsmesse und eine Notiz an das Wirtschaftsministerium über ein harmloses Kamerateil, das die Sowjets kaufen wollten.
»Bei wem hast du dich versichert, daß das Ding wirklich harmlos ist?« fragte Kissinger. »Ach, bei so einem M.I.T.-Spezialisten im Wirtschaftsministerium, heißt Webster«, erwiderte George gleichgültig. »Ich glaube nicht, daß ich ihn kenne. Ist er neu?«
George nickte. »Aber ich habe ihn abgeklopft. Offensichtlich weiß niemand mehr über diesen Filter als er.«
»Meinst Du nicht, ich sollte kurz selbst mit ihm reden?« George war am Rande der Verzweiflung. »Oh... ich glaube,
in diesem Fall ist das nicht nötig.«
»Ich nehme an, du hast recht. Du bist immer sehr gründlich, George. Okay, geh nach Hause, ich mach das hier fertig.«
»Danke, Henry.«
Sein Vorgesetzter sah auf. »Schönes Wochenende, George, und arbeit nicht zu schwer.«

Henry Kissinger verbrachte noch zweieinhalb Stunden an seinem Schreibtisch und gab fünfündsechzig verschiedene Direktiven heraus, darunter alles das, was George ihm gegeben hatte.

 

Jasons Gilberts Eltern fuhren Anfang Oktober 1973 nicht, wie geplant, nach Israel, denn als das Land den heiligen Bußtag, Yom Kippur, feierte, wurde es von den ägyptischen und syrischen Streitkräften angegriffen. Israel wurde von dem Angriff völlig überrascht und befand sich für einige Tage hart am Rand der Vernichtung. Als die Meldungen über die gleichzeitigen Angriffe an allen Fronten die Kommandozentrale erreichten, waren ägyptische Panzer bereits über den Suezkanal gesetzt und hatten die Streitkräfte der
Beobachtungsposten im äußersten Süden niedergemacht. Es sah so aus, als ob sie bis nach Tel Aviv durchstoßen würden, ohne daß Widerstand möglich war.
Im Norden stand es sogar noch schlimmer. Hunderte von syrischen Panzern waren durchgebrochen und befanden sich nur noch ein paar Stunden von den großen Städten entfernt.
Die wenigen israelischen Soldaten, die Dienst taten, gruben sich ein. um den Angriff zu verlangsamen. Sie wußten, sie würden hohe Verluste haben, es war ihnen aber auch klar, daß es keine Alternative gab.

Als die Feiertagsstille von den rasend schnell verlesenen und verschlüsselten Mobilmachungsbefehlen aus dem Radio unterbrochen wurde, erhielt Jason einen Telefonanruf im Kibbuz. »Was zum Teufel ist denn los?« fragte er besorgt. »Hör zu, Saba, stell keine Fragen. Im Hauptquartier herrscht Chaos. Wir mobilisieren wie verrückt, aber in der Zwischenzeit müssen wir die Syrer stoppen.  Such dir so
viele Leute wie möglich und verstärke unsere Stellungen auf den Golanhöhen, bis wir mehr Waffen und Gerät durchbringen. Geh sofort nach Nafa und melde dich bei General Eytan. Er wird dir ein Kommando geben.«
»Über wen denn?« fragte Jason bissig. »Wer da noch am Leben ist, verdammt! Nichts wie los.«
Jason und fünf andere Männer aus dem Kibbuz nahmen einen der Lastwagen und fuhren auf der holprigen Straße nordwärts. Alle paar Kilometer nahmen sie Soldaten mit, die auf dem Weg zur Front waren. Ein paar hatten noch Jeans und Sportjacken an und trugen nur ihre Waffen und Munition. Während der Fahrt sprach kaum jemand.

Aber die Syrer waren vor ihnen bis nach Nafa vorgerückt und hatten General Eytan gezwungen, sich zurückzuziehen.
Die Kibbuzniks fanden ihn in einem Behelfslager an der Straße. Jason war entsetzt über die große Zahl von Toten und Verwundeten. Nur eine kleine Anzahl Reservisten hatte sich sammeln können.
Unter dem halben Dutzend Offiziere, die von Eytan eingewiesen wurden, erkannte Jason ein weiteres Mitglied der Elitetruppe Sayaret Matkal: Yoni Netanyahu. Sie nickten sich zu, während sie den Katastrophenbericht des Kommandeurs verfolgten.
»Die Barak Armored Brigade ist fast völlig aufgerieben. Wir sind in der Minderzahl und unterlegen. Sie besitzen die neuesten T-62-Panzer. Aber wir müssen sie aufhalten, bis unsere eigenen Panzer hier sind. Versuchen Sie es, organisieren Sie Ihre Leute und drillen Sie sie mit dem panzerbrechenden Raketenabwerler. Und keine Munition verschwenden!«
»Wann sind Verstärkungen zu erwarten?« fragte Jason. »Das weiß der Himmel«, erwiderte Eytan. »Das hier ist alles, was wir haben.«
»Also, machen wir's«, sagte Yoni Netanyahu mit fast mystischer Überzeugung, »wie Gideon und sein Heer.« »Ich fürchte, selbst Gideon hatte mehr Leute als wir«, sagte Jason mit etwas, was nur Galgenhumor genannt werden konnte.
Nach dem Treffen gingen die beiden jungen Offiziere zu den wenigen Reservisten, die nervös auf ihre Befehle warteten. »Ich weiß, daß du dich ganz gut mit Motoren auskennst, Jason«, sagte Yoni. »Könntest du dich vielleicht um die weniger beschädigten Panzer kümmern?«
»Ja, gut. Aber wofür soll das gut sein? Selbst wenn ich sie instand setzen kann, sind sie uns immer noch fünfzig zu eins überlegen.«
»Gut«, sagte Yoni zuversichtlich, »damit bleibt uns nur eine einzige taktische Möglichkeit. Sie haben die Panzer — alles, was wir haben, ist das richtige Timing. Mach die Panzer für morgen sechs Uhr früh zum Angriff fertig.«
»Angriff?« erwiderte Jason ungläubig. »Yoni, du mußt wirklich an Gott glauben.« »Frag mich, wenn alles vorbei ist. Bis dahin werde ich
beten, daß du die Panzer in Gang setzen kannst.«
»Weißt du, Yoni, wo ich herkomme, sagt man in so einem Fall, Verzweiflungsschlag...« »Ich weiß«, erwiderte der junge Kommandeur. »Wenn das hier vorbei ist, gehe ich auf ein College in Amerika. Sogar auf deine Alma mater.« »Das kann nicht wahr sein«, antwortete Jason. »Ich sitze also hier in diesem Tal des Todes zusammen mit einem anderen Harvard-Mann?«
»Einem künftigen Harvard-Mann«, erwiderte Yoni. »Jetzt mach los und verschaffe mir ein paar Panzer.«
 

Das Weiße Haus erfuhr am frühen Abend vom Angriff der Araber. Nixon bat Kissinger, ihm Bericht zu erstatten. Dieser rief George an und befahl ihm, möglichst viele Geheiminformationen vom Pentagon und vom israelischen Botschafter anzufordern.
»Also, jetzt raus mit den Zahlen«, forderte der Präsident, noch bevor sich die beiden gesetzt hatten. Kissinger deutete auf George, der einen Stapel Papiere mitgebracht hatte. »Die Sache hat ganz schön erschütternde Dimensionen«, begann dieser.
»Sparen Sie sich diesen Harvard-Kommentar, George«, fuhr ihn Nixon an, »und geben Sie uns die verdammten Zahlen.«
»Also«, fuhr George fort, »die ägyptische Armee ist eine der größten der Welt. Sie verfügt über mindestens 800 000 Mann.
Wir wissen noch nicht genau, wie viele bereits über den Suezkanal sind.«
»Und was haben die Israelis dem entgegenzusetzen?« »Ich fürchte, wir gehen nicht falsch in der Annahme, daß die Ägypter bereits jeden Widerstand gebrochen haben«, sagte Kissinger ernst.
»Und im Norden?« fragte der Präsident. »Also, die Syrer haben etwa 1400 Panzer...«, begann George. »Ich weiß genug«, unterbrach Nixon ihn mit einer Handbewegung. »Wir haben es mit einem Massaker zu tun, nicht wahr? Ich meine, das ist also Alamo, oder?«
Kissinger analysierte. »George ist noch nicht zum wichtigsten Punkt gekommen. Die Russen haben Ägypten und
Syrien bis an die Zähne bewaffnet. Außer den alten SAM-Raketen besitzen sie Hunderte der neuen mobilen SAM-7.« »Das sind Flugabwehr-Raketen, die von Bodentruppen eingesetzt werden können«, fügte George hinzu.
»Ich werde hier nicht zusehen, wie die Sowjets den Mittleren Osten zu ihrem Golfplatz machen!« Nixon schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wir müssen die israelische Armee mit Waffenlieferungen unterstützen. Ich möchte, daß Sie dem Verteidigungsministerium den Auftrag geben, den Nachschub zu organisieren.«
»Herr Präsident«, warnte Kissinger, »eine massive Waffenhilfe für Israel wird bei gewissen Kongreßmitgliedern nicht gern gesehen werden.«
»Daß Breschnew in Tel Aviv Wodka trinkt aber auch nicht.
Lassen Sie die Sache anlaufen, wir können später noch darüber debattieren.«
Als sie das Oval Office verließen, konnte es sich George nicht verkneifen, Kissinger zuzuflüstern: »Ich wußte gar nicht, daß Nixon die Juden so liebt.« »Das tut er auch nicht. Aber die Russen haßt er noch mehr.«
»Also, Henry, ich fange besser gleich an zu telefonieren. Es gibt da eine ganze Menge Generäle, die noch heute früh überzeugt werden müssen.«
»Überlaß mir den Verteidigungsminister, George. Schlesinger braucht eine besondere Behandlung.« »Okay, und wenn die Sache schwierig wird, kannst du ihm ja ein paar Harvard-Lieder vorsingen.« Henry lächelte und klopfte George auf den Rücken. »Wir treffen uns um fünf Uhr im >Situation Room<. Bis dahin werden wir genauer wissen, wie es mit Israel steht.«
»Du meinst, wenn es dann noch steht«, erwiderte George.

Jason hatte die Mechaniker erbarmungslos angetrieben und Yoni mit einem Dutzend Panzer versorgt, die sich zumindest bewegten. Der junge Offizier der Fallschirmjäger begann sofort einen Gegenangriff auf die syrischen Panzer. Inzwischen versuchte Jason mit einer kleinen Truppe junger und ängstlicher Soldaten, das Lager Nafa wiedereinzunehmen. Als sie herankamen, erschienen drei riesige Iljushin-Hubschrauber russischer Herkunft voller feindlicher Soldaten am Horizont. »Hört mal her, Jungs«, schrie Jason eilig, »das entscheidende ist das Überraschungsmoment. Wir müssen sie erwischen, bevor sie sich orientieren können. Sobald sie landen,
nehmt sie unter Feuer, bis sie die Hosen voll haben.« Die Männer nickten stumm.
Als der erste Helikopter den Boden berührte, schrie Jason: »Mir nach!« und führte den Angriff an. Die ersten Syrer, die gelandet waren, erwiderten das Feuer und töteten einige Israelis. Aber Jason stieß weiter vor. Im Laufen zog er eine Handgranate aus dem Gürtel und warf sie gegen die landenden Truppen. Sie explodierte nahe dem Helikopter und rief eine Panik hervor. Der Feind lief in alle Richtungen auseinander. Aber es Waren syrische Elitetruppen, einige leisteten Widerstand und machten sich zum Kampf Mann gegen
Mann bereit. Jason hatte diese Kampfart lange trainiert. Aber dies war das erste Mal, daß es um sein Leben ging. Zum ersten Mal sah er die Gesichter der Männer, die entweder seine Opfer sein würden - oder seine Mörder.
Schließlich behielten die Israelis die Überhand. Die anderen zwei Helikopter waren gar nicht erst gelandet. Der Boden war übersät mit Toten und Sterbenden beider Seiten.
Jason sah, daß sich sein Hemd rot gefärbt hatte, und dachte erst, er sei verwundet. Dann begriff er, es war Blut von Männern, gegen die er gekämpft hatte — und die er abgewehrt hatte.
Einer der Soldaten kam zu ihm und sagte: »Wir haben dreißig von ihnen erledigt, Saba. Ich glaube nicht, daß sie noch einmal versuchen, Nafa einzunehmen.« »Wie hoch sind unsere Verluste?« »Vier«, erwiderte der Soldat, »und zwei oder drei sind ziemlich schlimm zugerichtet. Ich habe per Funk Sanitäter angefordert.« Jason nickte benommen und sah zum Horizont. Langsam wendete sich das Blatt. Endlich füllten sich die Reihen mit mobilisierten Truppen. Die Israelis drangen nach Syrien ein und sammelten sich schließlich vor Damaskus, das in Schußweite ihrer Artillerie lag.
Am Samstag, den 13. Oktober, eine Woche nach Yom Kippur, war es an der syrischen Front ruhig genug geworden, um einige israelische Truppen abzuziehen und in den Sinai zu verlegen, wo die Schlacht unvermindert andauerte.
Jason bestieg einen Hubschrauber, sah Yoni und setzte sich neben ihn.
»He«, witzelte er müde, »ich wette um ein Bier mit dir, daß ich in der letzten Woche weniger Schlaf als du hatte.« »Ich habe überhaupt nicht geschlafen«, erwiderte der jüngere Offizier. »Tut mir leid, daß ich's gesagt habe«, sagte Jason. »Ich hatte in der letzten Nacht zwei wunderbare Stunden. Ich schulde dir ein Bier.« »Ich werde dich daran erinnern«, lächelte Yoni.
Und sie flogen los, um im Sinai mitzukämpfen. Sie hatten noch Mut genug. Was ihnen ausging, war Munition.

 

i\ichard Nixon hatte George Keller gebeten, sofort in sein Büro zu kommen. »Verdammt noch mal«, schäumte er, »die Russen bringen haufenweise Waffen nach Ägypten und Syrien. Was ist mit unserer Luftbrücke?« »Anscheinend überlegt das Pentagon noch, ob wir zivile Flugzeuge oder Militärmaschinen einsetzen sollen. Eine Protokollfrage, Herr Präsident.«
Der Präsident stand auf und lehnte sich wütend über den Tisch: »Hören Sie, Keller, Sie gehen sofort zum Telefon und sagen denen da, sie sollen alle verdammten Flugzeuge benutzen, die wir haben. Ich will das Zeug in der Luft sehen, und zwar sofort!«
In den Elf-Uhr-Abendnachrichten erklärte der Sprecher des State Department, Dr. George Keller, auf einer kurzen Pressekonferenz, daß die ersten Transportflugzeuge mit Waffen für Israel unterwegs nach Tel Aviv seien.
Fünfzehn Tage nach Beginn des Krieges flogen Henry Kissinger und George Keller nach Moskau, um einen Waffenstillstand zwischen Israel und Ägypten auszuhandeln, der am Tag darauf in Kraft trat. Der ägyptische Präsident Sadat zeigte seine Dankbarkeit für diese Bemühungen, indem er neue und direkte Beziehungen zu Washington aufnahm. Historiker werden sich lange mit der Frage beschäftigen, welche Seite den Yom-Kippur-Krieg gewonnen hat. Aber ohne Frage war Henry Kissinger Sieger im Kampf um den Weltruhm.

Lreorge Keller drückte das Gewissen. Was ursprünglich nur eine kleine List war, wuchs sich in seiner Vorstellung zu Hochverrat aus. Er hatte zuviel Angst, um mit irgend jemandem darüber zu sprechen. Auch nicht mit Cathy.
Obwohl er alle wissenschaftlich-technischen Veröffentlichungen durchging, fand er nirgends einen Hinweis darauf, daß RX-80 militärisch wichtig war. Dennoch lebte er in ständiger Angst, daß die Sache herauskäme. Und er wußte genau, es würde ihm dann nichts helfen, humanitäre Gründe anzuführen. Wenn man ein hoher Regierungsbeamter war, dann mußte man seinen Vater, wenn der auf der falschen Seite lebte, einfach sterben lassen.
Er hatte nichts weiter über Istvän Kolozsdis Schicksal erfahren und hatte auch mit Yakushkin keine Verbindung mehr aufgenommen, weil er befürchtete, Beobachter könnten vermuten, sie seien etwas zu intim.
George versuchte, seine Schuldgefühle damit zu beschwichtigen, daß er sich einredete, er habe eigentlich nichts Illegales getan, und bei der Unmenge von Papieren, die zwischen dem State Department, dem Pentagon, dem Wirtschaftsministerium und dem Weißen Haus kursierten, sei die Chance der Entdeckung gleich null. Nur so konnte er gelegentlich nachts Schlaf finden. Aber die internationalen Ereignisse riefen bei ihm immer wieder neue Ängste hervor. Kein Geringerer als Willy Brandt, der Bundeskanzler Westdeutschlands, mußte im Mai 1974 zurücktreten, weil einer seiner engsten Mitarbeiter als kommunistischer Spion entlarvt worden war.

George hatte manchmal das Gefühl, beschattet zu werden — und längst schon hatte er den Verdacht, sein privates Telefon würde abgehört. Sogar während er Kissinger auf dessen Pendelreisen im Mittleren Osten begleitete, fühlte er sich nicht sicher. Er traute weder dem Telefon im >King-David-Hotel< in Jerusalem noch dem im >Nile Hilton< in Kairo.
An einem Spätnachmittag, nach einem langen, ergebnislosen Verhandlungstag mit der syrischen Regierung, flog der Außenminister zurück nach Israel. Kissinger winkte George auf den Sitz neben sich: »Hör mal, mein Junge, im Vertrauen gesagt, ich komme zu Hause ganz schön unter Druck. Gewisse Gruppen in Washington sind der Meinung, daß ich hier zuviel Zeit verbringe und andere Dinge vernachlässige. Man will nicht begreifen, daß ich nicht an zwanzig Orten gleichzeitig sein kann. Deshalb will ich etwas mehr Verantwortung auf deine jugendlichen Schultern legen.« »Woran denkst du dabei?« »Wie du weißt, plant der Präsident eine Reise in den Mittleren Osten und dann nach Rußland. Ich könnte einen vertrauenswürdigen Mann gebrauchen, der schon mal in Moskau die Grundlagen schafft. Und dir vertraue ich am meisten, George.«
»Sehr schmeichelhaft für mich, Henry.«
»Ich muß dir schmeicheln«, spaßte der Minister, »sonst würdest du nicht für mich arbeiten. Die Bezahlung ist zu schlecht. Ich möchte, daß du morgen früh nach Paris fliegst. Brent Scowcroft und AI Haig treffen dich dort in drei Tagen, und ihr könnt dann zusammen nach Moskau fliegen.« »Gut«, erwiderte George und war wirklich erfreut, eine derart ehrenvolle Aufgabe übertragen zu bekommen. »Aber Henry, was soll ich in den drei Tagen machen, die ich warten muß?«
Kissingers Antwort erschütterte George so, als wäre das Flugzeug in eine Turbulenz geraten:
»Fahr nach Budapest«
Er wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte.
»Hör mal«, fuhr der Außenminister mit leiser Stimme fort, »dein Vater hat nicht mehr lange zu leben. Ich finde, du solltest dich mit ihm aussöhnen.« »Woher weißt du das?« fragte er. (Und wieviel? dachte er.) »Das gehört zu meinem Beruf. Du kannst dieselbe Methode anwenden, die ich auf meiner ersten Reise nach Peking benutzt habe. Nimm ein Zimmer im >Crillon<, gib vor, du seist erkältet, und fahr heimlich zum Flugplatz. Es ist nur ein zweistündiger Flug. Du kannst hinfliegen und wieder zurückkommen, und keiner merkt es.«
George fand noch immer keine Worte. Er konnte gerade nur stammeln: »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.« »Sag nichts«, sagte Kissinger und griff ihn am Arm. »Das ist das Mindeste, das ich dir schulde, nach den vielen Jahren, in denen du mir geholfen hast.«
Als das Flugzeug der US-Luftwaffe den Landeanflug auf den Ben-Gurion-Flughafen begann, dachte George, wie kann ich ihm nur beibringen, daß ich nicht fahren will? Wie kann ich ihm erklären, daß ich meinem Vater vor seinem Tod nichts zu sagen habe. Ich kann es nicht. Weil es nicht stimmt.
Ich möchte ihn noch einmal sehen. Ich muß ihn sehen.
Die Paß- und Zollkontrolle in Budapest war oberflächlich, nur, daß der Beamte Georges roten Diplomatenpaß lange studierte und dann sagte: »Willkommen zu Hause, Dr. Keller.«
Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder in seiner Geburtsstadt zu sein. Obwohl die Stadt heller war und die Geschäfte voller waren als in den Tagen seiner Flucht, schien alles relativ unverändert. Die Räkoczi-Straße war so, wie sie immer gewesen war. Hier und da stand ein moderner Bau gemütlich neben den alten Gebäuden.
Von der Terrasse des >Hilton< — ein >Hilton< in Budapest! — sah man auf die alten Türme von St. Stephan. Das riesige >Duna Intercontinental, in dem George wohnte, war die genaue Kopie eines modernen amerikanischen Hotels.
Er erledigte schnell die Anmeldeformalitäten, wusch sich, wechselte das Hemd und bereitete sich auf die Begegnung vor, deretwegen er gekommen war. Bevor George Jerusalem verlassen hatte, hatte ihm Kissinger genau gesagt, wo sein Vater behandelt wurde — sogar die Telefonnummer. Soll ich das Krankenhaus anrufen und sagen, daß ich hier bin, fragte er sich. Oder soll ich einfach da auftauchen? Aber von dem Schrecken könnte er sterben. Nein, es ist sicher besser, zuerst einen der Arzte anzurufen, ihn von meiner
Anwesenheit zu unterrichten und um Rat zu fragen.
Nach wenigen Augenblicken schon sprach er mit Dr. Tamäs Rözsa, Chefarzt des Städtischen Volkskrankenhauses. Nachdem der Arzt zum dritten Mal versichert hatte, es sei ihm eine Ehre, gelang es George schließlich, genaue Einzelheiten über den Zustand von Istvän Kolozsdi zu erfahren.
»Ach, was kann man schon sagen«, antwortete Rözsa nachdenklich. »In solchen Fällen wie dem Ihres Vaters kann man nur wenig tun...«
»Behandeln Sie ihn mit Medikamenten?« unterbrach ihn George energisch.
»Ja. Ja, natürlich. Die neuesten Pharmaka — direkt aus der Schweiz.«
»Hat er Schmerzen?« fragte George.
»Mal hat er Schmerzen, mal nicht.«
»Können Sie mir das bitte näher erklären?«
»Es ist ganz einfach, Dr. Keller. Wenn wir ihn so stark unter Drogen setzen, daß er nichts spürt, dann ist er komatös und nimmt seine Umwelt nicht mehr wahr. Natürlich sorgen wir dafür, daß er nachts gut schlafen kann.«
»Mit anderen Worten, wenn er reden will, dann werden die schmerzstillenden Mittel abgesetzt?«
»Ich bin sicher, Ihr Vater wird das so wollen«, sagte Dr. Rözsa. »Wenn er aufwacht, werde ich ihm mitteilen, daß Sie hier sind, und Sie dann wieder anrufen. Das dürfte um fünf Uhr heute nachmittag sein.«
»Ist jetzt jemand bei ihm?« fragte George.
»Natürlich, Frau Donath lebt praktisch hier im Krankenhaus.« »Wer ist das?« »Die Tochter des Genossen. Kolozsdi. Ihre Schwester, Dr.
Keller.«
»Ach so«, sagte George, legte langsam den Hörer auf und dachte: Ich werde noch ein zweites Wiedersehen hier in
Budapest durchstehen müssen. Es war noch ein paar Stunden Zeit bis dahin, und George entschloß sich, seine Geburtsstadt zu besichtigen und all die Plätze aufzusuchen, wo er noch als György Kolozsdi gewesen war.
Als er auf die Straße trat, kam er sich vor wie ein Schwimmer, der in eiskaltes Wasser springt. Aber als er dann im Wasser und in Bewegung war, fühlte er sich warm, gut und angeregt. Er genoß es, vom Klang seiner Muttersprache umgeben zu sein. O Gott, dachte er, es ist ungefähr fünfzigtausend Worte Englisch her, daß ich mich so zu Hause gefühlt habe. Aber seine Hochstimmung fand ihr Ende, als es auf fünf Uhr zuging. Er kehrte ins Hotel zurück, um Dr. Rözsas Telefonanruf zu erwarten. Der Anruf kam um Viertel vor sechs.
»Er ist jetzt aufgewacht, und ich habe ihm mitgeteilt, daß Sie da sind«, sagte der Arzt.
»Und?«
»Er möchte Sie sehen. Nehmen Sie ein Taxi und kommen Sie sofort her.«
George griff sich seinen Regenmantel, lief hinunter, suchte ein Taxi. Es war Stoßzeit, und selbst die neue Unterführung
an der Kossuth-Lajos-Straße entlastete den Verkehr nicht wesentlich. Die Fahrt schien endlos.

George ging langsam die Treppen des Krankenhauses hinauf und versuchte, sein heftig schlagendes Herz zu beruhigen. Das Gebäude entsprach der Vorstellung von Modernität irgendeines Architekten: Glas und bräunlicher Stein. Es schien nicht so lebendig wie ein amerikanisches Krankenhaus.
Er ging auf eine alte, beleibte Dame zu, die hinter einem Tisch saß, und erklärte ihr leise, was er wollte. Sie reagierte schnell, nahm den Telefonhörer, und wenige Augenblicke später erschien Dr. Tamäs Rözsa, ein rundlicher kleiner Mann, der George unterwürfig begrüßte.
Während sie eilig durch die Gänge zum Privatzimmer seines Vaters (»Sehr selten in sozialistischen Ländern, kann ich Ihnen versichern«) gingen, berichtete Dr. Rözsa wortreich, das Hospital sei erst zum Teil fertiggestellt, und er beneide den Westen sehr um all die neuentwickelte medizinische Technologie.
Was zum Teufel will der Kerl, dachte George, etwa eine milde Gabe? Denkt er vielleicht, ich könnte dem Kongreß einfach sagen, man solle medizinische Geräte im Wert von ein paar Millionen Dollar hierherschicken?
Als sie in einen engen, schwach erleuchteten Gang einbogen, sah George in einiger Entfernung die Umrisse einer sitzenden Frau. Instinktiv sagte er sich, das sei seine Schwester Marika. Aber die war drei Jahre jünger als er. Die Frau, die dort saß, sah wesentlich älter aus. Als sie näher kamen, blickte sie George an. Die Augen, dachte er. Das sind die Augen meiner Schwester, im Gesicht einer alten Frau.
»Marika«, sagte er fragend. »Ich bin Gyuri.« Die Frau sah ihn durchdringend an, ohne etwas zu sagen. »Marika, willst du nicht mit mir sprechen?«
Sie blieben beide eine Zeitlang stumm. Schließlich antwortete sie in unterdrücktem Zorn: »Du hättest nicht kommen sollen. Du gehörst nicht mehr hierher. Ich habe den Ärzten gesagt, sie sollten dich nicht hereinlassen.«
George sah Dr. Rözsa an, der bestätigend nickte. »Frau Donath war ganz und gar dagegen. Aber Ihr Vater hat darauf bestanden.« Marika wandte das Gesicht ab. »Sollen wir jetzt hineingehen?« fragte Dr. Rözsa. George nickte nur, denn seine Stimme war wie gelähmt.
Sie betraten das Zimmer, und er blieb einen Moment lang stehen und sah die zarte, weißgekleidete Gestalt in einem Haufen Kissen.
Der alte Mann spürte seine Gegenwart und krächzte: »Bist du es, Gyuri?« Die Frage wurde durch einen quälen- den Hustenanfall beendet. »Ja, ich bin es«, sagte George unbeweglich. »Komm näher an mein Bett. Keine Angst, der Tod ist nicht ansteckend.«
George ging nervös weiter. »Ich lasse Sie allein«, sagte Dr. Rözsa und zog sich zurück.
»Setz dich«, befahl der Patriarch und wies mit einem knochigen Finger auf den Holzstuhl neben dem Bett. George gehorchte schweigend. Er traute sich zunächst nicht, seinem Vater ins Gesicht zu sehen. Dann aber trafen sich ihre Blicke und blieben aneinander haften. Istvän Kolozsdi hatte immer noch das gleiche strenge Gesicht, auch wenn es ausgemergelt und sehr bleich war. George starrte ihn an und dachte, das also ist der Dämon, vor dem ich mich mein ganzes Leben gefürchtet habe. Sieh ihn an, so klein und so gebrechlich. Er sah, daß sein Vater Schwierigkeiten hatte zu atmen. »Gyuri, hast du Kinder?« fragte er. »Nein, Vater.« »Wer wird dann kommen und dich trösten, wenn du erst einmal hier liegst wie ich?«
»Wahrscheinlich werde ich irgendwann einmal heiraten«, erwiderte George und fragte sich, will er mich deshalb sehen, um sicher zu sein, daß ich eine Frau bekomme?
Ein peinliches Schweigen trat ein.
»Wie fühlst du dich, Vater?« »Nicht so gut, wie es mir gehen wird, wenn die ganze Sache vorbei ist«, antwortete der alte Mann und lachte, was ihn vor Schmerzen zusammenzucken ließ. »Hör mal, Gyuri«, fuhr er dann fort, »ich bin froh, daß ich mit dir sprechen kann. Denn ich möchte dir etwas sagen ...« Er brach ab, um zu Luft und zu Kräften zu kommen. »Aber eigentlich«, widersprach er sich, »muß ich es dir gar nicht sagen. Mach die Schublade da auf.« Er deutete auf den grauen Nachttisch. »Mach sie auf, Gyuri.« George lehnte sich hinüber und befolgte den Wunsch seines Vaters. In der Schublade befand sich ein unordentliches Bündel von vergilbten und ziemlich zerfledderten Zeitungsausschnitten in verschiedenen Sprachen.
»Sieh es dir an«, drängte der alte Mann. Es waren Artikel aus der Weltpresse über ihn, George. Darunter war sogar — weiß Gott, wie das hierhergelangt war — das Porträt aus der international Herald Tribune< vom letzten Jahr. Er war sprachlos.
»Und was siehst du da?« fragte der alte Patriarch. »Ich sehe einen Haufen überflüssiges Zeug, Vater«, antwortete George und versuchte zu verstehen, was vorging.
»Und was siehst du darin?« Mit großer Anstrengung stützte sich der alte Mann auf die Ellenbogen und lehnte sich zu George hinüber. »Ich sehe dich, Gyuri. Ich sehe dein Gesicht in allen Zeitungen der Welt. Weißt du, was du mir da angetan hast?« George hatte diese Frage schon erwartet. »Vater, ich ... ich ...« »Nein«, unterbrach ihn der alte Mann, »du verstehst überhaupt nichts. Du gehörst zu den Großen dieser Welt.«
»Auf der falschen Seite«, sagte George abwertend. »Mein Junge, in der Politik gibt es keine falsche Seite. Es gibt nur die Gewinnerseite. Du hast das Format eines großen Politikers, Gyuri. Kissinger wird irgendwann einmal stolpern, und dann wirst du Außenminister!«
»Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens«, lächelte George und versuchte, Haltung zu bewahren. Er konnte es kaum glauben, daß Istvan Kolozsdi ihn das erste Mal in seinem Leben gelobt hatte. »Du bist doppelt so gescheit wie Kissinger«, gestand der alte Mann. »Und was noch wichtiger ist, du bist kein Jude. Aber leider werde ich das alles nicht mehr miterleben.«
George traten Tränen in die Augen. Er versuchte, sie zurückzudrängen, indem er scherzhaft sagte: »Ich dachte, du wärst ein eingeschworener Sozialist.«
Der Alte gab ein rauhes Lachen von sich. »Weißt du, Gyuri, es gibt nur eine einzige Philosophie in der Welt, und das ist der Erfolg.«
Er sah George lange an und sagte dann strahlend: »Willkommen zu Hause, mein Sohn.«
Zwanzig Minuten später verließ George Keller das Zimmer seines Vaters und schloß vorsichtig die Tür hinter sich.
Marika saß noch immer unbeweglich da. Er setzte sich neben sie.
»Ich weiß, du hast alles Recht der Welt, auf mich wütend zu sein«, sagte er nervös. »Ich müßte vieles erklären. Ich hätte schreiben sollen ...« »Du hättest noch einiges andere machen sollen«, sagte sie mechanisch. »Ich weiß, ich weiß.« »Weißt du das wirklich, Gyuri? Hast du jemals darüber nachgedacht, was du uns angetan hast, als du weggegangen bist? Hast du jemals versucht zu erfahren, wie es Vater geht?
Oder mir, oder gar Aniko?«
Plötzlich wurde ihm so kalt wie an dem winterlichen Tag vor so vielen Jahren. Die ganzen Jahre über hatte er ein durchdringendes Schamgefühl empfunden, wenn er an jene Augenblicke dachte oder ihn Träume daran erinnerten. Der einzige Trost war es gewesen, daß es sein persönliches Geheimnis war. Aber jetzt begriff er, daß davon auch andere Menschen wußten. Wieso?
»Ich habe versucht, sie ausfindig zu machen«, protestierte George hilflos.
»Du hast sie im Stich gelassen! Du hast sie blutend zurückgelassen.«
»Wo ... wo liegt sie begraben?«
»In einer schäbigen Stadtwohnung.«
George war erschüttert und glaubte nicht, was er hörte.
»Willst du damit sagen, daß sie noch lebt?«
»Gerade noch, Gyuri, kaum noch.«
»Was tut sie denn?«
»Sie sitzt«, antwortete Marika. »Nur das kann sie noch.«
»Wo finde ich sie?«
»Nein, Gyuri, du hast ihr genug angetan. Und ich werde nicht zulassen, daß du sie noch mehr verletzt.« »Bitte, Marika, ich muß sie sehen. Ich muß. Ich will ihr helfen.« Sie schüttelte den Kopf und beendete die Unterhaltung ruhig: »Das hättest du vor achtzehn Jahren tun sollen.« Sie wandte ihm den Rücken zu und sprach nicht mehr mit ihm.
Als George am nächsten Morgen ins Krankenhaus kam, teilte man ihm mit, daß sein Vater während der Nacht friedlich gestorben sei.
Er nahm das nächste Flugzeug. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt.
Als George den Zoll auf dem Dulles Airport in Washington hinter sich gebracht hatte, rief er Catherine Fitzgerald im Büro von Nader an.»Hallo, wie war die Reise? In den Zeitungen steht, daß du es in Moskau ganz gut gemacht hast.« »Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte George. »Im Moment mußt du mir unbedingt einen Gefallen tun.«
»Das klingt ja sehr merkwürdig, Dr. Keller. Sie tun doch nie etwas ohne Hintergedanken. Also, was wollen Sie denn wirklich?«
»Eine Frau«, erwiderte George.
Am anderen Ende der Leitung war es plötzlich still.
»Soll das ein Witz sein?«
»Du weißt, daß ich keinen Humor habe. Also, willst du mich heiraten?«
»>Ja< antworte ich erst, wenn du mir genau sagst, wann und wo.«
»Was hältst du von Freitagmittag im Standesamt der E-Street?«
»Wenn du eine Minute zu spät kommst«, warnte sie scherzhaft, »dann gehe ich wieder. Da kannst du sicher sein.«
»Und falls du zu spät kommst«, erwiderte er, »dann werde ich warten. Da kannst du sicher sein. Abgemacht?«
»Sagen wir mal, die Verhandlungen waren erfolgreich«, antwortete sie und fügte, bevor sie auflegte, plötzlich zärtlich hinzu: »George, ich liebe dich.«
Nach der Trauung ließ Gathy ihre Eltern einen kleinen Empfang in deren Haus in McLean, Virginia, geben. Es kamen ein paar alte Schulfreunde von Gathy, ein paar ihrer Arbeitskollegen sowie einige Geschäftspartner ihres Vaters mit ihren Frauen. George hatte nur ein Ehepaar eingeladen — Henry und Nancy Kissinger.
Der Außenminister hielt eine witzige Rede, von der die Braut völlig entwaffnet und bezaubert war, obwohl der Gedanke, ihren alten Widersacher zu sehen, sie die ganze vorherige Nacht ziemlich beschäftigt hatte.

»Ich hoffe, wir werden jetzt gute Freunde«, lächelte Henry und küßte Cathy. »Verdammt noch mal«, erwiderte sie glücklich, »es stimmt, was von Ihnen erzählt wird, Henry. Ihr Charme ist unwiderstehlich.« »Hoffentlich hast du das gehört, Nancy«, bemerkte der Minister zu seiner eigenen neuen Frau.
Für einen Republikaner, der in Washington arbeitete, war der Juli 1974 nicht gerade die Zeit für Flitterwochen. Obwohl Cathy gleich nach der Trauung zu George in dessen Haus in der Stadt zog, bekam sie ihn kaum zu Gesicht, und wenn, dann erst sehr spät abends. Denn es wurde immer klarer, daß Nixon wegen des Watergate Skandals zurücktreten mußte.

Während Henry Kissinger dem gequälten Präsidenten im übertragenen Sinn — und gelegentlich auch in des Wortes eigentlicher Bedeutung — die Hand hielt, half George AI Haig, das Weiße Haus in Ordnung zu bringen.
Auf seiner Hochzeit hatte es kein Konfetti gegeben, aber das wurde mehr als aufgewogen durch die Unmengen von Papierfetzen, die George in späten Abendstunden mit dem Reißwolf aus den Akten produzierte, die ihm von den verschiedenen Palastwachen des Weißen Hauses übergeben wurden. George vernichtete die Unterlagen so schnell, daß ihm keine Zeit blieb festzustellen, was man ihm da gab.
Schließlich stopfte er das Zeug einfach in die Verbrennungssäcke.
Als er eines Morgens um drei Uhr früh nach Hause kam, war Cathy wach. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich dir einen Schlaftrunk oder Frühstück anbieten soll«, scherzte sie. »Wenn ich es nicht besser wüßte, könnte man meinen, du hast ein Verhältnis.«
»Du, das da drüben ist wie eine Totenwache, Cathy. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«
»Warum hört er nicht einfach auf und befreit uns alle — und besonders das Land —von diesem Elend?« George sah sie an. »Es ist schon eine wahnsinnige Entscheidung«, sagte er ruhig. »Ja, schon, aber er hat auch wahnsinnig viel Dreck am Stecken.«
»Das ist bei allen Politikern so«, erwiderte George, »jeder von uns hat eine Leiche im Keller.«
»Du nicht, George«, sagte sie und umarmte ihn. »Du bist immer noch ein idealistischer Staatsdiener, oder etwa nicht?«
»Selbstverständlich«, antwortete er und versuchte, komisch zu wirken.
»Und warum quittierst du dann nicht den Dienst, solange du oben bist. Wenn Nixon geht, gehen wir auch.« »Dummes Zeug, Cathy. Gerade jetzt werde ich in der Verwaltung gebraucht.«
Er sagte nicht, daß dies eine einmalige Gelegenheit für ihn war, in seiner Karriere einen riesigen Sprung vorwärts zu machen.
»Ach, du mein patriotischer Ehemann«, sagte sie und küßte ihn auf die Wange.

Am 9.. August, morgens eil Uhr dreißig, rief Henry Kissinger George in sein Büro. Der Stabschef des Weißen Hauses war ebenfalls anwesend.
»Morgen, AI«, sagte George und versuchte im Spaß einen militärischen Gruß. Haig nickte nur ernst in Richtung des Außenministers, der am Tisch saß und ein kleines Stück Papier in Händen hielt. »Ach, ist es das jetzt?« sagte George feierlich.
Kissinger nickte und gab George das Papier, auf dem nur stand:

»Verehrter Herr Außenminister, hiermit trete ich von
meinem Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten
zurück.
Ihr Richard M. Nixon.«

George las die wenigen Zeilen ein paar Mal und sah dann Haig an. »Wo ist der Präsident jetzt?« fragte er. »Genau genommen«, erwiderte Kissinger, »gibt es im Augenblick keinen Präsidenten.« Haig stimmte zu. »So ist es. Stellen Sie sich vor, George, in diesem Augenblick befinden sich die drei mächtigsten Männer der Vereinigten Staaten — und folgerichtig damit auch der Welt — im selben Zimmer. Gutes Gefühl, was?« »Da bin ich nicht so sicher«, erwiderte er unverbindlich.
Aber tatsächlich war es ein sehr gutes Gefühl.
Kissinger stand auf. »Jedenfalls ist es besser, wenn wir jetzt zu Gerry gehen, es sei denn, wir wollen als Triumvirat die Macht übernehmen.«
Gerald Ford hatte den größten Teil seines Lebens als zufriedener Kongreßabgeordneter Michigans verbracht. Er hatte nie die Präsidentschaft angestrebt. Dennoch war er jetzt zum mächtigsten Mann der westlichen Welt geworden, und das in einer angespannten Atmosphäre, die ihm gar nicht behagte. Die Verantwortung des Amtes beschwerte Ford nicht allzusehr. Dem war er gewachsen. Was er nicht ertrug, war der halsabschneiderische Wettkampf seiner Berater, bei ihm Gehör zu finden. Als alter Footballspieler erkannte er früh, wenn ein Spieler durchzubrennen versuchte. Und er wußte, er hatte das Spielfeld erst einmal freizumachen, um sich selbst Platz zu schaffen.
Natürlich mußte Kissinger im Amt bleiben, der Kontinuität wegen und um dem Bild des Landes in der Welt nicht zu schaden. Aber obwohl Haig darauf bestand, daß der neue Präsident ihn dringend brauchte, wollte Ford zumindest diesen Höfling Nixons aus Washington entfernen. Glücklicherweise fand er einen glänzenden Vorwand. Er ernannte Haig zum Obersten Befehlshaber der NATO und versetzte ihn nach Brüssel. Er würde nur noch so lange im Weißen Haus sein, wie er bei den Verhandlungen über die Straffreiheit Nixons gebraucht wurde.
Dann machte sich Ford mit Kissinger zu einem Gipfeltreffen mit Breschnew auf, um selbst internationales Profil zu gewinnen. Natürlich war George Keller mit von der Partie. Er war so offensichtlich tüchtig, daß der Präsident ihn auf dem langen Rückflug in der Air Force One zu sich bat. »Worüber habt ihr gesprochen?« fragte Kissinger mit einem leichten Anflug von Eifersucht in der Stimme, als George zurückkam.
»Du wirst es nicht glauben, Henry«, erwiderte er, »wir haben über Football geredet.« »Aber davon verstehst du doch überhaupt nichts, George?« »Hör mal, Henry, wenn ich eines in Harvard gelernt habe, dann dies: Immer so zu tun, als verstünde ich alles von dem, worüber ich rede.«

George und Cathy Keller wurden sehr bald zum populärsten jungen Paar in der Washingtoner Gesellschaft. Und George fand bald heraus, daß seine Frau ein bemerkenswertes Talent für Party-Politik hatte. Sie arrangierte für ihn Gespräche mit jedem, auf den es ihm ankam, und war besonders geschickt im Umgang mit der Vierten Macht im Staate, der Presse. Die entdeckte den vielversprechenden Dr. Keller und schrieb voller Bewunderung über ihn.
Es gab da nur ein Problem. George konnte sich nicht an die Ehe gewöhnen. Nicht jeden Abend gab es gesellschaftliche Verpflichtungen, und manchmal kam er abends vom Büro nach Hause, und da gab es nur Cathy, mit der er reden konnte. Dann erzählte er fachmännisch von den Problemen des Tages, aber er monologisierte.
Die Hochzeitsgelübde hatten seine Vorsicht in Gefühlsdingen nicht kleiner werden lassen. Er konnte geben, aber er konnte nicht teilen. Er konnte lieben, aber schaffte es nicht, daß seine Frau sich geliebt fühlte. Dennoch war sie unverzagt und wartete geduldig. Bestimmt würde er letztendlich auch die Kunst des Vertrauens erlernen, so wie er alle anderen Herausforderungen seines Lebens gemeistert hatte.
Währenddessen aber lebte sie ihr eigenes Leben weiter. George hatte seine Karriere, aber Cathy hatte eine Sache, für die sie sich einsetzte.
Drei Jahre zuvor hatte der Kongreß dem 27. Zusatz zur Verfassung zugestimmt, nach dem die Diskriminierung der Frau verboten wurde. Falls zwei Drittel der Bundesstaaten diesen Verfassungszusatz ratifizierten, würde die Gleichberechtigung von Mann und Frau für das ganze Land gesetzlich verankert werden. Cathy hatte vor, die Koffer zu packen und in den Bundesstaaten, in denen noch keine Entscheidung gefallen war, an Kampagnen für die Ratifizierung teilzunehmen.
»Das ist einfach lächerlich, Catherine«, beschwerte sich George, »du bist wirklich die letzte Frau in der Welt, die dieses Gesetz zur Gleichberechtigung nötig hat. Du bist stark, du bist unabhängig und eine begabte Rechtsanwältin. Mein Gott, wenn du dich darum bemühen würdest, könntest du Richterin am Obersten Gerichtshof werden.«
»Aber George, gibt es in deinem riesigen Wortschatz eigentlich das Wort >Altruismus< nicht? Ich mache das doch nicht meinetwegen. Ich will etwas für Millionen Frauen tun, die Männerarbeit leisten, aber dafür Frauenlohn erhalten.«
»Cathy, du redest schon wie ein Flugblatt.« »Na ja, ich ziehe nur gleich, George. Deine Erzählungen beim Abendessen hören sich auch eher an wie interministerielle Memos. Glaubst du vielleicht, es ist besonders interessant, nur weil es um ein Land wie Afghanistan
geht?«
»Wirfst du mir vor, ich sei langweilig?« »Nein. Ich werfe dir nur vor, daß du anscheinend glaubst, nur was in deinem Büro passiert, sei auf dieser Welt wichtig.« Sie stöhnte wütend. »Kannst du denn nicht das politische Engagement eines anderen Menschen respektieren?«
George zog die Sache mehr ins Private: »Was mich daran eigentlich am meisten stört, ist, daß wir dann getrennt sind.« »Da hast du völlig recht«, sagte sie und fügte ironisch hinzu: »Warum nimmst du dir nicht Urlaub und machst mit?«
Sie ließ sich auch durch seine besten Argumente nicht davon abbringen. Am Ende erreichte sie sogar, daß er sie
zum Flughafen fuhr.
Cathy wußte nicht mehr, wie viele Reden sie gehalten hatte. Paradoxerweise waren die Frauen oft schwerer zu überzeugen als die Männer. Die meisten Frauen fürchteten tatsächlich um ihren zweitrangigen< Status. Aber sie konnte diese Furcht nachempfinden, denn es war den Frauen derart eingeimpft worden, sich unterzuordnen, daß sie sich vor der Selbständigkeit fürchteten. Ihnen Mut zu machen, den eigenen Wert zu erkennen, das war Cathys Aufgabe. Und das war verdammt ermüdend.
Drei Monate lang redeten und diskutierten sie und ihre Mitarbeiter in Illinois, Oklahoma und Florida — heldenhaft, aber leider vergebens.
Sie telefonierte regelmäßig mit George, aber die beiden sahen sich erst Anfang September wieder, als sie von Andrew in das Sommerhaus der Eliots nach Maine eingeladen wurden.
Auf dem Rückflug nach Washington bemerkte Cathy: »Dein alter College-Freund ist reizend. Warum heiratet er eigentlich nicht wieder?«
»Ich glaube, er hat kein Selbstvertrauen mehr«, erwiderte George.
»Den Eindruck habe ich auch. Aber warum eigentlich? Er ist so freundlich und aufmerksam. Und er hat Humor. Ich finde, er braucht eine gute Frau; die würde ihn schon wieder hinkriegen.«
»Das wäre eine ganz schöne Aufgabe, Cathy. Kennst du jemanden, der dafür in Frage käme?« »Es muß Dutzende von solchen Frauen geben«, erwiderte sie. »Ich könnte das auch.« Sie lächelte ihn an. »Aber natürlich bin ich nicht zu haben.«
»Mein Glück«, sagte er, lächelte zurück und nahm ihre Hand. »Da hast du recht, Liebling. Ich freue mich, daß du das endlich einsiehst.«

Im November 1975 war George eines Nachmittags noch spät alleine im Büro und diktierte seine Kommentare zu einem Regionalbericht. Kissinger öffnete die Tür. »Was gibt's, Henry? Du siehst so aus, als hättest du Ärger.« »Na ja, um ehrlich zu sein«, sagte der Minister und setzte sich in einen Sessel, »ich bin etwas deprimiert.« »Warum denn?«
»Mr. Ford meint, daß ein Mann nicht gleichzeitig Außenminister und Sicherheitsberater sein sollte.« »Aber du hast doch beides fabelhaft gemacht.« »Ja, der Meinung war ich auch. Aber er will, daß ich als Sicherheitsberater zurücktrete. Offen gesagt glaube ich, daß es meine Position schwächen wird.« »Das tut mir sehr leid, Henry«, sagte George mit echtem Mitgefühl.
»Aber immerhin bedeutet das ja nicht einen völligen Machtverlust, oder?« »Nein, das ist richtig. Es könnte mir bei meinen Operationen sogar helfen, da ich ein besonders gutes Verhältnis zu meinem Nachfolger habe.«
»Und wer ist der neue Sicherheitsberater?« Kissinger sah seinen ehemaligen Harvard-Zögling an, ohne eine Miene zu verziehen, und antwortete: »Du.«