27. Andrew Eliots Tagebuch 3. November 1975

Heute sah ich das Bild meines früheren Mitstudenten in der >New York Times<.
George Keller wurde als Nachfolger Kissingers zum Chef des Nationalen Sicherheitsrates ernannt. Er zieht zurück in den Westflügel des Weißen Hauses, wo er, wann immer er will, an die Tür des Präsidenten klopfen und das Steuerrad der Regierung wirklich in die Hand bekommen kann.
In den Sieben-Uhr-Nachrichten spekulierten ein paar besonders Gescheite darüber, daß George für noch größere Aufgaben bestimmt sei.
Es gibt Gerüchte, wonach es Gerry Ford wohler wäre mit jemandem, den er selbst zum Außenminister gemacht hat. Es heißt, wenn er wiedergewählt wird — und es sieht ganz danach aus —, wird er eine völlig neue Regierungsmannschaft zusammenstellen, mit George an der Spitze. Was für ein Coup! Jetzt liegt ihm wirklich die Welt zu Füßen. Ruhm, Macht — und eine fabelhafte Frau. Manche Leute haben schon Glück. Ich frage mich, wenn ich George im Weißen Haus anriefe, würde er meinen Anruf wohl annehmen?

Telegramme und Briefe mit Gratulationen  zu oeorges Ernennung strömten ins Weiße Haus. Am Abend gab ihm seine Sekretärin zwei übervolle Tüten, damit er alles zusammen mit Cathy lesen konnte.
»Das wird aber etwas komisch aussehen, wenn ich damit auf den Parkplatz des Weißen Hauses marschiere«, protestierte er vorsichtig. Und dann dachte er, zum Teufel, ich werde es in vollen Zügen genießen. Immerhin ist mein Wagen jetzt auf dem Gelände des Weißen Hauses geparkt.
Cathy begrüßte ihn an der Tür. »Ich habe ein Festessen gemacht«, sagte sie und umarmte ihn. »Wen hast du eingeladen?«
»Niemand. Möchtest du etwas trinken?« »Aber natürlich.«
Sie zog ihn ins Wohnzimmer und flüsterte: »Eine Überraschung, die ich schon lange für dich aufgehoben habe. Hier...«
Sie zeigte auf den Kaffeetisch, auf dem zwei Gläser und eine Flasche standen. »Ungarischer Sekt!« staunte George. »Wo hast du denn den aufgetrieben?« »Das war ganz schön schwierig, sage ich dir.«
Sie waren bald ein wenig beschwipst, stocherten etwas im Essen herum, liebten sich im Wohnzimmer und wurden noch betrunkener.
Cathy murmelte: »Du hast ja da eine ganze Menge Post mitgebracht.« »Ich wußte auch nicht, daß ich so viele Freunde habe.«
»Keine Sorge, mein Lieber. Wo du jetzt dem Präsidenten so nahe bist, wirst du plötzlich eine Menge völlig neuer Freunde haben. Komm, wir machen ein paar Briefe auf und sehen mal nach, wer alles sich mit dir gutstellen möchte.«
Sie kicherten und fingen an zu lesen. Natürlich hatten die Gouverneure aller Bundesstaaten telegrafiert, ebenso wie die Bürgermeister der wichtigsten Städte, Demokraten und Republikaner. Jeder, der irgendwelche diplomatischen oder politischen Ambitionen hatte.
Und sogar ein paar Filmstars aus Hollywood.
Cathy grinste: »Na ja, eines ist sicher. Allein laß ich dich von jetzt an nicht mehr verreisen. Einiges von dem hier kommt unsittlichen Anträgen schon ganz schön nahe.«
George genoß das alles. Denn er wußte, das war erst der Anfang. Es sollte noch besser kommen. »He«, rief sie ihm alkoholisiert zu, »das hier sieht aber merkwürdig aus. Wer zum Teufel ist >Michael Saunders aus der guten alten Zeit<?«
George war verblüfft. »Laß mal sehen.« Er las das Telegramm, und nach und nach verstand er: »Ganz schön weiter Weg vom >Wiener Keller<, was, alter Junge? Dein erster Englischlehrer wünscht viel Erfolg. Wenn du mal nach Chicago kommst, besuch mich. Michael Saunders aus der guten alten Zeit.«
»Verstehst du, was das soll?« fragte seine Frau. »Nein, keine Ahnung«, antwortete er, zerknüllte das Papier und warf es ins Feuer.

So selig war der Gartenstand,
Eh Adam die Gefährtin fand:
Nach einem Ort so süß und rein
Welch andrer Beistand könnt noch sein!
Doch Sterblichen ward nicht verliehn,
Dort einsam wandernd hinzuziehn:
Zwei Paradiese miißtens sein,
War man im Paradies allein.

im dritten Jahr seines neuen Junggesellenlebens kam sich Ted Lambros vor wie die Verkörperung der berühmten Verse von Andrew Marvell. Der Dichter, sagte er sich, hat unbewußt die Formel für akademischen Erfolg geprägt. Ein alleinlebender Professor konnte wirklich einiges leisten. Kurz nach seiner Rückkehr nach Canterbury hatte Ted das Haus an der Barrington Road verkauft und war in ein Appartement des Marlborough-Hauses gezogen, der besten Wohnmöglichkeit für Universitätsangehörige. Es lag mitten auf dem Campus, nur ein kurzes Stück zu Fuß von seinem Büro und ein noch kürzeres von der Hillier-Bibliolhek entfernt.
Seine drei Jahre als Leiter der Klassischen Abteilung waren äußerst erfolgreich. Die Zahl der eingeschriebenen Studenten nahm zu, die der Absolventen verdoppelte sich, und er konnte sogar seine Kollegen dazu bringen, wenigstens ein paar Worte zu publizieren. Weiter verschaffte er seinem früheren Schüler Robbie Walton, der ihn schließlich nach Canterbury gebracht hatte, eine Festanstellung. Lambros bezahlte seine beruflichen Schulden immer.
Es läßt sich darüber streiten, ob Ted in früheren Jahren ein zorniger junger Mann gewesen war, aber zweifellos war er nun ein wütender Mann in mittleren Jahren. Die Arbeitswut trieb ihn Tag und Nacht, serenas noctes vigulare, wie Lucretius sagt. Sobald er den Bürokram erledigt hatte, ging er in seine Wohnung im Marlborough-Haus, schlang ein Tiefkühlgericht zweifelhafter Konsistenz hinunter und setzte sich sofort an seinen Schreibtisch.
Nach den ersten Stunden stärkster Konzentration goß er sich einen kleinen Retsina ein. Allmählich führte der Genuß dieses neuzeitlichen griechischen Nationalgetränks zu Einsichten in die größten Dramen des alten Griechenlands. Teds wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Euripides nahm dinoysische Ausmaße an, und er war entschlossen, all die rätselhaften Geheimnisse des Dichters zu entschlüsseln.
Sein Privatleben war auf einen kaum nennenswerten Rest geschrumpft. Er lehnte alle Einladungen ab, es sei denn, er war ziemlich sicher, daß auch wichtige Persönlichkeiten der College-Leitung zu erwarten waren. Denn es ging das Gerücht, Ted Lambros würde nach dessen Emeritierung Tony Thatchers Nachfolger.
In seinem anhaltenden Zorn mied er noch immer die Frauen. Das heißt, was die Gefühle anging. Es gab biologische Notwendigkeiten — die sich in Canterbury recht leicht befriedigen ließen. Zusätzlich zum beständigen Angebot abgelegter Ehefrauen gab es die jungen attraktiven Europäerinnen, die am College Sprachunterricht gaben. Die siebziger Jahre brachten einen neuen Auftrieb reifer Frauen mit sich.
Die Regierung machte viel Lärm wegen des Anteils weiblicher Professoren, weshalb die Verwaltung nach solchen seltenen Damen suchte, um nicht die staatlichen Unterstützungen zu verlieren. In der Schar dieser neuen Professoren gab es einige, die nichts gegen eine Liaison ohne Emotionen hatten, schon gar nicht mit Ted Lambros. Und das nicht nur, weil er gut aussah. Nein, diese Frauen waren genauso ehrgeizig wie ihre männlichen Partner und genauso auf ihre Karriere bedacht.
Lambros war wichtig. Lambros saß in zahllosen Kommissionen. Und eines schönen Frühlingstages wurde Ted Lambros, wie vorhergesagt, zum Rektor des College von Canterbury ernannt.

Als Ted nach Hause kam, nachdem er diese fabelhafte Neuigkeit erfahren hatte, wollte eine Stimme in seinem Inneren plötzlich schreien: »He, Sara, ich bin Rektor geworden!« Aber natürlich war kein Mensch da. Er lebte allein, ganz bewußt allein, und er hatte geglaubt, davon überzeugt zu sein, das sei die beste Art zu leben. Und doch hatte er ein merkwürdig leeres Gefühl. Sara war immer dagewesen, wenn es schlecht stand, und hatte den Kummer mit ihm geteilt. Jetzt begriff er, daß er sie auch brauchte, um mit ihr seine Freude zu teilen. Denn so in seinem leeren Zimmer bedeutete ihm alles das gar nichts. Der Rektor des Canterbury-College wird überall auf dem Campus respektvoll gegrüßt. Aber bei sich zu Hause verliert er Zepter und Krone und wird zu einem ganz normalen Menschen mit ganz normalen Bedürfnissen. Er war einmal Ehemann und Vater gewesen. Und jetzt, im Augenblick des Triumphes, merkte er, wie sehr ihm lebendiges Fleisch und Blut fehlten.
Eines Samstags, zwei oder drei Wochen früher, hatten Rob und dessen Frau Ted gezwungen, mit ihnen zum Eislaufen zu gehen, und sie hatten gehofft, das würde seine Laune verbessern. Sie hatten nicht geahnt, daß es den gegenteiligen Effekt haben würde. Denn Ted sah auf dem Eisplatz nur Väter mit ihren schlittschuhfahrenden Kindern, Väter, die ihre Kinder an der Hand hielten, Väter, die ihren Kindern, die auf dem Eis gerutscht und hingefallen waren, wieder aufhalfen und sie trösteten. Er sehnte sich danach, die Arme um seinen Sohn zu legen, und, so weh es auch tat, das zuzugeben, er sehnte sich nach Sara.
Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf und litt sehr unter seiner Einsamkeit. Das einzige Mittel dagegen war aufzustehen, sich an den Tisch zu setzen und den Schmerz mit Arbeit zu betäuben. Seine Gefühle waren abgestorben.
Der einzige Teil von ihm, der am Leben blieb, war sein Intellekt — durch intravenöse Forschungsspritzen. Er war mit dem verdammten Buch fast fertig, das seine akademische Fahrkarte in eine schöne neue Welt werden sollte. Wenn der Preis dafür die Einsamkeit war, dann würde er das Beste daraus machen.
Während dieser langen Zeit unterlag er nur ein einziges Mal seinen Gefühlen. In seinem zweiten Semester als Rektor rief ihn eines Abends sein Bruder Alex an und teilte ihm mit, ihr Vater sei gerade gestorben.
Er stand da auf dem Friedhof, die Arme um seine Mutter und seine Schwester gelegt, und sah, wie man den Mann in die Erde senkte, den er von allen Menschen auf dieser Welt am meisten geliebt hatte. Und er weinte. Alex flüsterte ihm am offenen Grab zu: »Er war so stolz auf dich, Teddy. Du warst der Stolz seines Lebens.« Ted konnte nur nicken.

Noch am gleichen Abend fuhr er nach Canterbury zurück und setzte sich an den Tisch, um weiterzuarbeiten. Das Telefon klingelte. Es war Sara.
»Ted«, sagte sie leise, »warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte ein Flugzeug genommen, um beim Begräbnis dabeizusein.« »Woher hast du es erfahren?« »Jemand von Harvard hat mich angerufen. Es tut mir wirklich leid. Er war ein wunderbarer Mann.« »Er hat dich auch gemocht«, antwortete Ted und fügte, die Gelegenheit nutzend, hinzu: »Schade, daß er seinen ältesten Enkel so selten gesehen hat.« »Er hat ihn Weihnachten noch gesehen«, gab Sara behutsam zurück, »und du weißt, ich schreibe deinen Eltern jeden Monat. Und schicke ihnen Fotos. Jedenfalls, wenn du angerufen hättest, wäre ich mit Ted zum Begräbnis gekommen. Ich glaube, es wäre für ihn ganz wichtig gewesen.« »Wie geht es ihm?« »Er ist ganz schön durcheinander durch die Todesnachricht, aber sonst ist er okay- In Latein ist er der Beste seiner Klasse.« Ted hatte das verzweifelte Bedürfnis, noch länger mit ihr zu telefonieren. »Und was macht deine Arbeit?« »Es macht sich. Die >HSCP< hat zum ersten Mal einen Artikel von mir angenommen.« »Gratuliere. Worüber hast du geschrieben?« »Apollonius. So eine Art Konzentrat meiner Abschlußarbeit am College.« »Wie schön. Ich bin gespannt, das zu lesen. Was macht deine Doktorarbeit?« »Mit etwas Glück werde ich Ende des Frühjahrs fertig. Cameron liest das erste Kapitel, und Francis James das zweite.«
»Das ist doch der neue Tutor im Balliol? Sag ihm bitte, ich mochte sein Buch über Properz sehr. Worüber arbeitest du eigentlich?«
»Ich fürchte, meine Augen waren größer als der Magen«, lachte Sara. »Mein Thema ist nichts weniger als >Callimachus und die lateinische Dichtung<.«
»Na dann«, scherzte Ted, »da haben sich schon viele die Zähne ausgebissen.« Er suchte krampfhaft nach Themen, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen. »Du glaubst also, im Juni fertig zu werden?« »Ich hoffe es.«
»Und dann? Kommst du dann nach Hause?«
»Ich weiß es wirklich noch nicht, Ted. Aber darüber können wir ja reden, wenn du nächsten Monat herkommst.« »Ich freue mich sehr darauf«, antwortete er.
»Teddy freut sich auch schon«, erwiderte sie leise. »Wenn ich es einrichten kann, holen wir dich am Flugplatz ab.« »Danke, daß du angerufen hast, Sara. Schön, deine Stimme zu hören.« Er legte auf und dachte, wenn ich doch dein Gesicht sehen könnte.

»Kaum zu glauben«, sagte Ted, »das Kind hat ja einen englischen Akzent.« »Was hast du denn gedacht?« fragte Sara. »Schließlich hat er hier den größten Teil seines Lebens verbracht.« Sie saßen im neu eingerichteten Wohnzimmer am Addison Crescent und tranken Eiskaffee. »Ich fand, er war auch nicht besonders freundlich zu mir«, bemerkte Ted. »Alles, was ich bekommen habe, war ein beiläufiges >Tag, Daddy<, und dann ist er verschwunden.« »Dein Sohn setzt eben Prioritäten.« Sara lächelte. »Heute nachmittag hat er ein wichtiges Kricketspiel gegen die Schule von Saint George.«
Ted mußte lachen. »Der Sohn eines in Cambridge Geborenen spielt Kricket! Da fehlt dann nur noch, daß er geadelt wird.«
»Das hat noch ein paar Jahre Zeit.«
Er trank einen Schluck Kaffee. »Hast du schon entschieden, wann du zurückkommst?« »Sicher nicht vorm nächsten Jahr.« »Scheiße.« »Bitte, Ted. Ich habe schon meine Gründe, du kannst mir glauben.« »Was zum Beispiel?« »Teddy ist last fertig mit der Schule hier. Und wenn er, wie es aussieht, seine Sache gut macht, kann er sich praktisch aussuchen, auf welches College der Welt er gehen will.« »Aber Sara, wir waren uns doch einig, daß er nach Harvard geht.«
»Das soll seine Entscheidung sein —wenn es soweit ist. Wie auch immer, du hast ja noch ein paar Jährchen, um ihm die Sache schmackhaft zu machen.«
Beide schwiegen einen Augenblick. »Aber du hast gesagt, es gäbe noch einen Grund, hierzubleiben.« »Man hat mir eine Stelle am Somerville College angeboten.« »Ich gratuliere beruflich, aber persönlich habe ich etwas dagegen«, erwiderte er.
»Seit wann hast du das Recht, gegen etwas zu sein, was ich tue«, sagte sie mehr amüsiert als ärgerlich. Er schwieg und sagte dann unter Schwierigkeiten: »Was ich damit sagen will..., du fehlst mir, und mir fehlt es, mit dir verheiratet zu sein, und ich würde gerne wissen, ob ... ob es dir vielleicht auch ein bißchen leid tut.«
»Natürlich tut es mir leid, Ted. Der Tag unserer Scheidung der schlimmste Tag in meinem Leben.«
»Und meinst du, es gäbe die Möglichkeit, daß wir es - du weißt schon - vielleicht noch einmal versuchen?« Sie sah ihn traurig an und schüttelte nur den Kopf.

Er hätte vielleicht den Verdacht schöpfen müssen, daß es da einen anderen Mann gab, als sie ihm anbot, er könne im Juli mit ihrem Sohn in Addison Crescent bleiben, während sie Ferien mache. Besonders, weil sie so vage war, was ihre Zukunftspläne anging. Das einzige, was sie mitteilte, war, sie führe nach Griechenland, um all die Orte aufzusuchen, über die ich geschrieben habe.
»Mit wem denn?« fragte er tapfer. »Oh«, antwortete sie ausweichend, »mit ein paar Millionen Griechen.« Aber es dauerte nicht lange, bis Ted herausfand, wer mit seiner früheren Frau zusammen reiste. Denn sein Sohn erwähnte in ihren Gespächen ganz offen häufig einen Francis. Das konnte nur Francis James sein, vom Balliol College. »Ich würde den gern mal kennenlernen«, sagte Ted einmal, als der Name zum x-ten Mal fiel. »Oh, du würdest ihn sicher mögen«, antwortete sein Sohn. »Er ist wirklich ein prima Knabe.«

In diesem Juli versuchte Ted, ein Vater zu sein. Er sah unzähligen Kricketspielen zu, kaufte jede Menge Kinokarten und versuchte immer wieder, sich beim Essen mit seinem Sohn zu unterhalten. Doch eine Kluft trennte sie, so tief und weit wie der Atlantik.
Der Junge war höflich, ausgeglichen und freundlich. Aber sie konnten eigentlich nur über ferne Pläne in bezug auf das Studium miteinander reden. Ted versuchte, seinen Sohn von Harvard zu überzeugen.
»Teddie, da ist etwas, das muß ich dir erklären. Nach Harvard zu gehen, das ist eine Erfahrung, die dein Leben verändert. Ich mein', Harvard hat mein Leben ganz sicher verändert.« Der Junge sah seinen Vater an und sagte: »Offen gesagt, ich mag mein Leben, so wie es ist.«
Ted Lambros hatte diesen Monat mit jemandem verbracht, der seinen Namen trug, aber sonst in jeder Hinsicht das Kind eines anderen war.
Ende Juli kam Sara sonnengebräunt mit dem ebenfalls gebräunten  Francis James aus Griechenland zurück und erklärte, sie hätten beschlossen zu heiraten.
Zu Teds Ärger kam der erste Glückwunsch in Form eines  »Super!« von seinem Sohn, der zu dem großen, eine Brille tragenden Dozenten lief und ihn umarmte. Ted versuchte, seinen Ärger zu verbergen, und gratulierte Francis. »Ich danke Ihnen«, erwiderte der Engländer und fügte mit warmherziger Aufrichtigkeit hinzu: »Ich habe Sie immer schon sehr verehrt. Nach den Aufsätzen, die Sie veröffentlicht haben, zu urteilen, wird Ihr Euripides-Buch bestimmt großartig werden. Wann werden Sie es abschließen?«
»Ich  habe das  Manuskript letzte Woche nach Harvard geschickt« sagte Ted und fühlte sich merkwürdig leer. »Mama sagt, es sei ganz fantastisch«, warf der junge Ted dazwischen. Sieh mal an, dachte sein Vater, wenigstens respektiert mich der Junge. Und dann fügte sein Sohn hinzu: »Ich bin wahnsinnig neuglerlg, was du davon hältst, Francis«
Ted wurde bewußt, daß es jetzt nichts mehr gab, das ihn in Oxford hielt. Er nahm am nächsten Morgen ein Flugzeug nach Boston, fuhr nach Canterbury und wartete auf die Beurteilung seines Manuskriptes durch den Unversitätsverlag in Harvard.
Er mußte nicht lange warten, denn schon am nächsten Wochenende rief ihn Cedric Whitman an und platzte fast vor Begeisterung. Er war als erster vom Verlag um ein Gutachten gebeten worden, und er konnte weder seine Anonymität bewahren noch seine Bewunderung zurückhalten. »Cedric«, fragte Ted vorsichtig, »wenn wir hier schon so Vertrauliches behandeln, können Sie mir vielleicht auch sagen, wer das zweite Gutachten erstellt?« »Jemand, der Sie fast so sehr bewundert wie ich — der Regius-Professoi für Griechisch, der gerade in Oxford emeritiert wurde.« »Cameron Wylie?« fragte Ted, und seine Begeisterung
verflog. »Genau der«, antwortete Whitman, »und ich kann mir kaum vorstellen, daß sein Gutachten weniger gut ausfällt als meines.«
Aber ich kann es mir vorstellen, dachte Ted und legte den Hörer auf. Die folgende Woche spielte er von früh bis spät Tennis mit jedem Professor, Studenten oder Platzwart, den er erwischte. Er konnte die Spannung kaum ertragen. Dann endlich kam ein von Hand adressierter Brief, abgestempelt in Oxford. Er traute sich nicht, ihn in Gegenwart der Sekretärin zu öffnen, sondern lief in die Herrentoilette und schloß sich dort ein. Er las den Inhalt mehrere Male, dann fing er jubelnd an zu schreien. Wenig später kam Robbie Walton, den die Sekretärin zu Hilfe gerufen hatte, und sah nach, was passiert war.
»Rob«, schrie Ted, immer noch im Klo eingeschlossen »ich habe gewonnen, Cameron Wylie hält mich zwar immer noch für ein Schwein, aber er findet mein Euripides-Buch gut!«
»Hör mal«, sagte Rob amüsiert, »wenn du dann mal da rauskommst, gebe ich einen aus.«

Danny Rossi wurde es leid — nicht die Musik und gewiß nicht den Applaus, der ihn nicht nur auf der Bühne von allen Seiten zu umgeben schien. Auch nicht die endlose Parade der Weiblichkeit, die sich seiner sexuellen Fingerfertigkeit aussetzte. Er war im wahrsten Sinn des Wortes erschöpft. Sein vierzigjähriger Körper war müde. Schon bei der kleinsten physischen Anstrengung kam er außer Atem.
Danny war nie ein Sportler gewesen, aber wenn er bei seinen Aufenthalten in Hollywood einmal aufgefordert wurde, einen Sprung in den Pool zu machen, dann merkte er daß er kaum eine Länge schaffte. Wäre er noch in Harvard sagte er sich im Spaß, würde er nicht mal mehr die verlangten fünfzig Yards schaffen. Immer öfter ging er ins Bett, nur um zu schlafen. Endlich beschloß er, einen bekannten Internisten in Beverly Hills aufzusuchen.
Nach der Generaluntersuchung, in der jeder Zentimeter seines Körpers getestet wurde und alle Körpersäfte untersucht worden waren, saß er Dr. Standish Whitney an dessen Glastisch gegenüber. »Jetzt raus mit der Sprache, Stan.« Danny lächelte etwas unsicher. »Werde ich sterben?« »Ja«, erwiderte der Arzt mit unbewegtem Gesicht und fügte hinzu: »Aber sicher erst in dreißig oder vierzig Jahren.« »Aber warum bin ich denn immer so verdammt müde?« iragte Danny.
»Zunächst mal, Danny, jeder Mensch mit einem so aktiven Liebesleben, wie Sie es führen, wäre erschöpft. Auch wenn ich hier gleich sagen muß, es ist noch nie jemand an zu viel Sex gestorben. Im übrigen gehen Sie ja noch einer anderen Beschäftigung nach. Sie komponieren, Sie dirigieren, Sie spielen Klavier und müssen vermutlich auch mal üben.
Außerdem: Einem Flugkapitän, der so viel unterwegs wäre wie Sie, würde man die Lizenz entziehen. Verstehen Sie mich?«
»Ja, Stan.«
»Sie verlangen von Ihrem Körper eine ganze Menge. Glauben Sie, Sie könnten ein paar Ihrer Aktivitäten ein wenig zurückschrauben?« »Nein«, antwortete Danny ehrlich. »Nicht nur will ich alles das tun, was ich tue, ich muß es auch. Ich weiß, es mag komisch klingen ...« »Ganz und gar nicht«, unterbrach ihn der Arzt. »Wir sind hier in Los Angeles, einem Paradies für die Menschen, die unter Zwang stehen. Sie sind nicht mein erster Patient, der jung sterben und einen schönen Leichnam abgeben möchte.« »Falsch«, erwiderte Danny, »ich möchte nicht jung sterben. Ich möchte nur weiter >jung< leben. Was verschreiben Sie einem zwanghaften Typen wie mir denn normalerweise? Vermutlich lassen es meine Kollegen doch auch nicht langsamer angehen?«
»Nein«, antwortete Dr. Whitney, »aber sie kommen mindestens einmal in der Woche und lassen sich eine kleine Aufmöbelungsspritze geben.« »Und was ist da drin?« »Ach, zum größten Teil hochdosierte Vitamine. Und noch ein paar andere Sachen zur Aufmunterung und zur Beruhigung. Wenn Sie wollen, versuchen wir es mal damit, und dann sehen wir, ob es Ihnen hilft.«
Danny kam sich vor wie Ponce de Leon angesichts des Jungbrunnens. »Können wir gleich damit anfangen?« »Aber natürlich«, sagte Dr. Whitney lächelnd, stand auf und mischte den Zaubersaft.
Danny verfiel seiner Arbeit wie ehedem. Im nächsten Monat fühlte er sich um zwanzig Jahre jünger.
Er segelte gleichsam durch sein wahnsinniges Pensum an Arbeit und Vergnügen. Ohne Schwierigkeiten ging es wieder vom Dirigieren eines Abendkonzertes zu einem amourösen Rendezvous und dann zurück in sein Haus in Bel-Air, um ein paar Stunden Klavier zu üben.

Das einzige Problem bestand darin, daß er zu angeregt war wenn er wirklich einmal schlafen wollte. Aber dagegen verschrieb der gute Dr. Whitney freundlicherweise ein paar Mittelchen.

Im Laufe des letzten Jahres hatte sich seine Beziehung zu Maria allmählich von stummer Feindschaft zu einer Art Entente cordiale, einer herzlichen Beziehung, entwickelt. Wenn er in Philadelphia war, spielten sie der Welt das glückliche Ehepaar und ihren Töchtern die liebenden Eltern vor. Natürlich wurde nie darüber gesprochen, was in seiner Jungesellenabsteige auf den Hügeln von Hollywood passierte.
Die Mädchen waren inzwischen im Internat, und Maria beschloß, ihr eigenes Leben zu führen und hinter der Fassade ihrer nur auf dem Papier existierenden Ehe etwas Wirkliches zu tun.
Für eine achtunddreißigjährige ehemalige Tanzlehrerin waren die Türen der Schulen fest verschlossen. Es gab keine Möglichkeit, da wieder anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatte. Und es wurde ihr schmerzlich bewußt, daß sie keine besonderen Fähigkeiten besaß, mit denen sie auf dem Arbeitsmarkt etwas anfangen konnte, obwohl sie gescheit war und eine gute Ausbildung genossen hatte. Ein paar Freunde die in der Nähe wohnten, arbeiteten für Wohlfahrtsorganisationen. Das aber war für Maria eine zu stark nach außen gerichtete Tätigkeit, die ihr keine wirkliche Befriedigung bieten konnte.
Sie erklärte sich bereit, bei der jährlichen Auktion zur Unterstützung der örtlichen nichtkommerziellen Fernsehstation mitzuwirken. Schließlich war sie so oft mit Danny in Fernsehstudios gewesen, daß sie glaubte, einiges darüber gelernt zu haben, wie es beim Fernsehen zuging. Zumindest mußte sie ein paar Anregungen geben können.
Als Frau des Dirigenten des Städtischen Symphonieorchesters war Maria so etwas wie eine örtliche Berühmtheit. Und die leitenden Vertreter der Fernsehstation versuchten sie zu überreden, selbst in der Sendung vor der Kamera zu stehen, um dadurch noch mehr Zuschauerspenden zu erhalten.
Terence Moran, dem charmanten, vorzeitig weißhaarig gewordenen Direktor des Sender, gelang es, sie zu überreden. »Das kann ich nicht«, protestierte sie, »dazu bin ich viel zu nervös.« »Bitte, Mrs. Rossi«, bestand er, »Sie müssen doch nur da vor einem der Tische stehen und ein paar Worte über die Dinge, die daraufliegen, sagen.« »Es tut mir leid, Mr. Moran. Bestimmt bleibt mir die Stimme weg. Sie müssen entweder einen Dialog darüberlegen oder währenddessen selbst etwas sagen.« Der jugendliche Direktor lächelte. »Ich akzeptiere das als Kompromiß«, sagte er.
»Wirklich?« sagte Maria überrascht. »Natürlich. Sie stehen einfach da und deuten auf die Sachen, und ich beschreibe sie, ohne im Bild zu sein. Einverstanden?«
»Nein, noch nicht«, erwiderte Maria eifrig. »Ich muß noch das Skript Ihres Regisseurs sehen.« »Mrs. Rossi«, erwiderte Moran freundlich, »mir liegt so viel daran, Sie wenigstens einen Moment lang im Bild zu haben, daß Sie meinetwegen sogar die Einstellung festlegen können.«
»Okay«, stimmte sie zu. »Wahrscheinlich komme ich da jetzt nicht mehr heraus. Wenn Sie mich schon im Bild haben müssen, dann nur vor dem Tisch in einer Totalen. Und ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Sie in dem Augenblick, in dem Sie mit der Beschreibung der Sachen anfangen, näher heranfahren und ich nicht mehr im Bild bin.« »In  Ordnung«,  erwiderte Moran,   »Ich bin sehr beeindruckt.« »Wovon? Von meinem Eigensinn?« »Nein, aber Sie scheinen mehr Karneraerfahrung zu haben als meine Regisseure.« »Sie brauchen mir keine Komplimente mehr zu machen Mr. Moran. Ich habe Ihnen doch schon zugesagt. Außerdem war ich schon unendlich oft mit Danny in Fernsehstudios. Um nicht andauernd nur Kaffee trinken zu müssen, habe ich mich meist in die Bildregie geschlichen und nach und nach wie durch Osmose mitbekommen, was die einzelnen Tasten und Knöpfe bedeuten.«
»Nun ja«, spaßte er, »wie Platon sagt, >Osmose ist der beste Lehrer<. Oder war das Aristoteles?« »Ich glaube, es war Terry Moran«, lächelte Maria Rossi.

»Sie haben wunderbar ausgesehen, Mrs. Rossi, auch in dieser superkurzen Totalen. Und wir haben für alles auf Ihrem Tisch besonders gute Preise erzielt«, sagte der Direktor, als sie im Aufenthaltsraum gesüßten Tee aus Pappbechern tranken. »Ich bin immer noch froh, daß es vorbei ist«, sagte sie seufzend, »ich hasse es, vor der Kamera zu stehen.« »Aber die Bildregie macht Ihnen Spaß, nicht wahr?« »Ja. das ist etwas anderes. Ich beobachte all die Monitore mit großem Vergnügen und versuche mir vorzustellen, welche Kamera ich einsetzen würde, wenn ich der Regisseur wäre. Solange es nur ein Spiel ist, ist das schön und ja auch ganz ungefährlich.«
»Haben Sie schon mal daran gedacht, Regie zu führen?« »Oh, ja, ich denke manchmal an so etwas. Aber ich stelle mir ja auch vor, einmal ein Pas de deux mit Nurejew zu tanzen. Vielen Dank jedenfalls, daß Sie meine Eigenheiten ertragen haben.«
Sie stand auf, um den Mantel anzuziehen, aber Moran bat sie, sich wieder zu setzen. »Mrs. Rossi, für Rudolf Nurejew kann ich nicht sprechen, obwohl ich sicher bin, er wäre von Ihrem Interesse entzückt. Aber ich kann für diese Fernsehstation sprechen. Möchten Sie einen Job bei uns?«
»Meinen Sie, einen richtigen Job?« »Was anderes haben wir hier nicht anzubieten. Ich kann Ihnen keinen Direktorposten offerieren, aber wir können einen zusätzlichen Regieassistenten immer brauchen. Und dafür reichen Ihre Kenntnisse allemal.« Maria war in großer Versuchung, aber ängstlich. »Ich bin aber nicht in der Gewerkschaft«, protestierte sie schwach. »Dieser Sender auch nicht.« Moran lächelte. »Also, wollen Sie?« »Sie tun das sicher nur, weil ich Danny Rossis Frau bin.« »Das ist offen gestanden die einzige Schwierigkeit für mich. Denn wenn es nicht klappt, muß ich Ihnen kündigen. Und dann gibt's wahrscheinlich Schwierigkeiten, oder?« »Nein«, antwortete Maria froh. »Also, wenn ich abends rechtzeitig zu Hause sein kann, um mit den Mädchen zu essen, dann versuche ich es ...« »Kein Problem«, erwiderte er. »Oh, aber nun noch die schlechte Nachricht: Das Gehalt ist ziemlich lachhaft.« »Das macht nichts, Mr. Moran. ich kann etwas Lachen gebrauchen.«

Eines Nachts wurde Ted von Walter Hewlett, Professor in Texas und die bestinformierte Klatschbase in der Welt der Klassik, angerufen. »Lambros, gerade habe ich etwas Sensationelles gehört, und Sie sollen es als erster erfahren.« »Ach Walter, ist es wirklich so wichtig, daß Sie mich um zwei Uhr morgens rausklingeln.
■»Es geht um Dieter Hartshorn ...« »Und was ist mit diesem deutschen Pedanten?« »Dann wissen Sie es wohl schon...« »Ja. Das ist der Kerl, der gerade einen Ruf für griechische Klassik nach Harvard bekommen hat.« »Dann wissen Sie es also noch nicht — hören Sie zu. Rudi Richter hat mich gerade aus München angerufen. Hartshorn ist bei einem Autounfall umgekommen. Das wissen selbst die Zeitungen noch nicht, mein Lieber.« »Mensch, Walter, Sie klingen ja nicht gerade wie ein Mensch.«
»Na, Lambros, muß ich es Ihnen wirklich erklären? Harvard hat jetzt wieder niemanden mehr für die Eliot-Professur für Griechisch. Und wenn Sie vorsichtig vorgehen, stehen Ihre Chancen gut, den Job zu bekommen. In diesem Sinne schlafen Sie wohl, Amigo.«
Als Ted auflegte, dachte er, das ist überhaupt keine gute Nachricht, sie ist einfach fantastisch.

Eine angemessene Zeit nach dem tragischen Tod von Dieter Hartshorn machte Harvards Abteilung für Klassische Sprachen bekannt, man erbäte Bewerbungen um die Eliot-Professur für Griechisch. In früheren Zeiten hätte man einfach ein paar Telefongespräche geführt,  vielleicht ein  paar Briefe geschrieben und sich dann hingesetzt und über den Nachfolger abgestimmt. Jetzt aber gab es ein Gesetz, nach dem die Universitäten alle offenen Positionen öffentlich ausschreiben mußten, mit gleichen Chancen für Männer und Frauen jeder Rasse und Religion. Bei einer solch angesehenen Professur war die Veröffentlichung der Ausschreibung natürlich nur eine Formalität, mit der man den Vorschriften aus Washington entsprach. In Wirklichkeit ging die Sache wie eh und je vor sich. Die Professoren trafen sich und machten eine Aufstellung mit den Namen der bekanntesten Graecisten der Welt. Und da sein Buch schon als Manuskript Aufsehen erregt hatte, stand der Name Theodore Lambros auf einem der ersten Plätze. In Übereinstimmung mit den Vorschriften, die Gleichberechtigung betreffend, bat man ihn, wie alle anderen Kandidaten, nach Harvard zu kommen und eine Probevorlesung zu halten.
»Ich weiß, es ist eigentlich lächerlich«, entschuldigte sich Cedric Whitman am Telefon. »Schließlich kennen wir Sie schon viele Jahre und haben Ihre Vorlesungen gehört. Aber um das Gesetz Wort für Wort zu erfüllen, ist es eben notwendig, daß Sie diese Pflichtübung absolvieren.« »Macht nichts«, erwiderte Ted und packte bereits im Geist die Koffer für seine triumphale Rückkehr nach Cambridge. Der Termin wurde festgelegt, und, wenn es auch offiziell eine Probevorlesung war, so würde es, dachte Ted, seine Antrittsvorlesung werden.

»Unter den zahlreichen Publikationen des Redners am heutigen Abend sind zwei besonders hervorzuheben: >Tlemosyne<, eine glänzende Studie über den tragischen Helden bei Sophokles, und >Der Dichter des Paradoxem, die in Vorbereitung befindliche Analyse der Dramen des Euripides, die ich bereits mit großem Vergnügen im Manuskript habe lesen können. Heute wird der Redner uns die Komplexität des letzten Dramas des Euripides, >Iphigenie in Aulis< entwickeln. Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen Professor Theodore Lambros vorzustellen.«
Ted erhob sich, schüttelte Whitmans Hand und legte seine Notizen auf das Rednerpult. Während er das Mikrophon zurechtbog, sah er sich die Zuhörer an und dachte, so voll habe ich die Boylston Hall noch nie erlebt.
War ihm sein wissenschaftlicher Ruf vorausgeeilt? Oder wußte man einfach schon, daß man heute Abend als Zuhörer schon heimlich einen ersten Blick auf den nächsten Inhaber der Eliot-Professur für Griechisch werfen konnte?
Er war außergewöhnlich gelassen in dieser eigentlich aufregenden Situation. Er halte dieses Ereignis schon so oft in seinen Träumen durchexerziert, daß es schon fast zu seiner zweiten Natur geworden war.
Je länger er sprach, desto weniger mußte er seine Notizen zu Hilfe nehmen. Er sah seine Zuhörer an und trat mit den wichtigen Leuten im Publikum geschickt in Augenkontakt, darunter auch mit niemand geringerem als Derek Bok, dem Präsidenten der Harvard-Universität.

Gerade kam er auf den kühnen visuellen Symbolismus beim Auftritt der Klvtemnestra, die das Kind Orestes trägt, zu sprechen, als ihm der Atem stockte. Vielleicht merkten es die von seiner dramatischen Darstellung gefesselten Zuschauer nicht. Aber Ted selbst sah etwas, was ihn erschütterte. War es möglich oder bildete er sich nur ein, daß seine frühere Frau Sara dort hinten an einem Pfeiler lehnte?
Obwohl sehr erschrocken, ließ ihn sein starker Überlebenswille die richtige Stelle im Manuskript finden, und er fuhr mit seinem Vortrag fort, wenn auch mit etwas gedämpfterer Stimme. Aber er spürte deutlich, daß durch die plötzliche Veränderung in Stil und Ton die bis dahin intensive Atmosphäre gestört war. Und jetzt mußte er ganz einfach den verdammten Vortrag zu Ende bringen. Er dachte, vielleicht komme ich wieder hinein, wenn ich mich davon überzeuge, daß sie nicht wirklich hier ist. Deshalb sah er, auf der letzten Seite seines Manuskriptes angekommen, wieder zum Pfeiler hin. Und Sara war da und sah schöner aus als je zuvor. Aber warum nur? Warum zum Teufel ist meine Ex-Frau hier in der Boylston Hall statt in Oxford?
Dann aber riß er sich wie ein Held Homers blitzschnell aus diesen Gedanken heraus. Lambros, laß das, verdammt noch mal. Nimm dich zusammen. Das hier ist die letzte Chance, alles das zu erreichen, was du dir je im Leben gewünscht hast. Und er schaffte es. Er holte tief Luft, sprach langsamer, las nicht mehr die letzten Absätze seines Manuskriptes, sondern hob den Kopf und formulierte sie neu. Auf seine Schlußworte folgte bewundernder Applaus.
Der Präsident und die Dekane schüttelten ihm die Hand, bevor sie gingen. Die Professoren der Klassischen Abteilung warteten diskret am hinteren Ende des Auditoriums. Da kam Sara zum Podium, um ihren früheren Mann zu begrüßen. »Das war großartig, Ted«, sagte sie herzlich, »du hast ja den letzten Teil noch mal fabelhaft überarbeitet.« »Sag mal, ich versteh das nicht«, erwiderte er und versuchte, gelassen zu sein. »Mußt du denn nicht in England sein und unterrichten?«
»Doch schon«, antwortete sie und fügte in einer merkwürdigen Mischung aus Stolz und Scheu hinzu: »Aber Harvard hat mich aufgefordert, mich um die Professur zu bewerben. Morgen früh halte ich ein Seminar über hellenistische Dichtung.«
Er traute seinen Ohren nicht. »Man hat dich aufgefordert, dich für den Eliot-Stuhl zu bewerben?« Sie nickte. »Ich weiß, das ist ein bißchen albern. Natürlich wirst du das Rennen machen, schon wegen deiner Veröffentlichungen!«
»Sie haben dir nur auf Grund deiner drei Aufsätze die Flugreise bezahlt?« »Es sind vier, und wegen meines Buches.«
»Buch?« »Ja, Oxford mochte meine Doktorarbeit, und der Universitätsverlag veröffentlicht sie in diesem Frühjahr. Anscheinend hat die Berufungskommission hier ein Exemplar in die Hände bekommen.« »Ach«, sagte Ted, dem damit aller Wind aus den Segeln genommen worden war. »Gratuliere.« »Ich glaube, du mußt gehen«, sagte sie sanft, »die hohen Herren wollen dich zum Essen führen.« »Ja«, sagte er abwesend. »Schön, dich gesehen zu haben.«

Der Empfang nach dem Vortrag fand in einem Privatzimmer des Faculty Club statt. Er wußte, das war eine Art Spießrutenlaufen, der er nicht aus dem Wege konnte und wenn es nur dazu diente, seine Freunde daran zu erinnern und um alle die, die ihn seinerzeit abgelehnt hatten, davon zu überzeugen, daß er charmant, gebildet und kollegial war.
Später am selben Abend wollte sich Norris Carpenter der führende Latinist, auf Kosten des Kandidaten etwas amüsieren. »Sagen Sie, Professor Lambros«, fragte er mit hämischem Grinsen, »was halten Sie eigentlich von dem neuen Buch von Dr. James?« »Meinen Sie F. K. James über Proportius?« »Nein, nein. Ich meine die frühere Mrs. Lambros über Callimachos.« »Das kenne ich noch nicht, Professor Carpenter. Es gibt ja auch wohl erst die Druckfahnen, oder?« »Ja, schon«, fuhr der Latinist bösartig fort. »Aber bei einem so grundlegenden Werk müssen jahrelange Forschungen vorausgegangen sein. Sie hat damit sicher schon unter Ihrem Prinzipat angefangen. Jedenfalls arbeitet sie völlig neue Aspekte der Beziehung hellenistischer und früher lateinischer Dichtung heraus.« »Ich bin gespannt auf die Lektüre«, sagte Ted höflich und wand sich innerlich unter den sadistischen, verbalen Messerstichen Carpenters.

Am nächsten Tag wanderte er nur ziellos in Cambridge umher. Den Harvard Square hatte man seit seiner Zeit hier so zuzementiert, daß er nicht wiederzuerkennen war. Aber der Harvard Yard hatte immer noch dieselbe magische Ausstrahlung. Um vier Uhr nachmittags rief ihn Cedric im Haus seiner Eltern an. Er kam unverzüglich zur Sache. »Man hat Sara den Lehrstuhl angeboten.« »Ach«, sagte Ted, dem das Blut in den Adern stockte. »Ist ihr Buch wirklich so gut?«
»Ja«, bestätigte Cedric, »es ist eine fabelhafte Arbeit. Aber genauso wichtig war es, daß sie die Bichtige im richtigen Augenblick ist.«
»Sie meinen, weil sie eine Frau ist.« »Sehen Sie, Ted«, erklärte der Ordinarius, »selbstverständlich will der Dekan dem Gesetz zur Gleichbehandlung von Frauen entsprechen. Aber, offen gesagt, es war mehr eine Frage der Entscheidung zwischen zwei gleichermaßen begabten Kandidaten -« »Bitte, Cedric«, beschwor ihn Ted, »Sie müssen mir das nicht erklären. Unter dem Strich heißt das, sie ist drin und ich bin draußen.« »Es tut mir leid, Ted. Ich kann verstehen, daß es für Sie ein Schlag sein muß«, sagte Whitman leise und legte auf.
Kannst du das wirklich, Cedric. Begreifst du, was es heißt, vierzig Jahre lang nur mit dem einen Ziel vor Augen geschuftet zu haben? Alles aufgegeben zu haben, allen menschlichen Beziehungen widerstanden zu haben, die von der Arbeit abgelenkt hätten? Begreifst du, was es heißt, seine Jugend für nichts und wieder nichts geopfert zu haben? Und wirst du dir jemals vorstellen können, was es heißt, seit der Kindheit darauf gewartet zu haben, daß sich die Tore Harvards öffnen? Und jetzt zu wissen, sie werden sich nicht öffnen?

Ted wollte sich nur noch sinnlos betrinken. Er saß allein an einem Tisch in der hintersten Ecke des >Marathon<, und ein Kellner sorgte dafür, daß sein Glas immer wieder nachgefüllt wurde.
Gelegentlich kam sein Bruder Alex herüber und beschwor ihn: »Teddy, komm doch, es wird dir schlecht, wenn du nichts ißt.« »Aber darum geht es ja, Lexi. Es soll mir ja übel werden. Seele und Körper sollen im gleichen Zustand sein.«
Um neun Uhr abends war er angenehm betrunken, als eine Stimme in seinen tränenreichen Rausch drang. »Darf ich mich zu dir setzen, Ted?« Es war der Mensch, den er jetzt am allerwenigsten sehen wollte: Sara. »Oho, ich gratuliere zu Ihrer neuen Berufung, Dr. James.
Also jetzt ist der Beste Sieger, nicht wahr?« Sie setzte sich und sagte leise: »Nimm dich bitte zusammen und hör mir zu, Ted.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich nehme die Berufung nicht an.« »Was?«
»Ich habe gerade den Vorsitzenden der ßerufungskommission angerufen und ihm mitgeteilt, daß ich die Berufung nach reiflicher Überlegung nicht annehmen kann.« »Aber warum denn nur, Sara?« fragte Ted mit ausladenden Bewegungen. »Jetzt bist du doch in der akademischen Welt ganz oben, ganz an der verdammten Spitze.« »Deinetwegen«, antwortete sie sanft. »Als ich dich gestern abend da oben stehen sah, wußte ich, du bist in deinem ganz eigenen Himmel,  und  den  will   und  kann  ich  dir  nicht nehmen.«
»Entweder bist du verrückt geworden, oder du machst aus Rache einen grausamen Witz mit mir. Kein Mensch würde die Eliot-Professur in Harvard ablehnen.«
»Ich habe es gerade getan«, erwiderte sie, ohne die Stimme zu heben. »Warum zum Teufel hast du dann den ganzen Zirkus
überhaupt mitgemacht, wenn es dir nicht ernst war?« »Offen gesagt, das habe ich mich auch den ganzen Tag gefragt.« »Und...?«
»Ich glaube, ich mußte mir einfach beweisen, daß ich als Wissenschaftler wirklich etwas tauge. Ich habe auch meinen Stolz, und ich wollte ausprobieren, ob ich es bis ganz oben schaffe.« »Und das hast du ja in der Tat geschafft, mein Kind, und mit aller Macht. Ich verstehe aber immer noch nicht, warum du die Kronjuwelen zurückgibst.« »Weil ich begriffen habe, nachdem die erste Begeisterung nachgelassen hatte, daß ich nicht das Richtige täte. Sieh mal, meine berufliche Karriere ist nicht ein und alles in meinem Leben. Die Bibliotheken schließen um zehn Uhr abends, aber die Ehe dauert vierundzwanzig Stunden jeden Tag. Besonders, wenn es eine gute Ehe ist. Und ich möchte gerne, daß mein zweiter Versuch, verheiratet zu sein, Erfolg hat.« Er sagte nichts, jedenfalls nicht sofort. Er versuchte, in seinem leicht benebelten Zustand nach und nach herauszukriegen, was das alles bedeutete. »He, Lambros, Kopf hoch«, flüsterte sie freundlich. »Ich bin sicher, man wird dir die Professur anbieten.« Er sah seine Ex-Frau auf der anderen Seite des Tisches an. »Weißt du, ich glaube dir sogar, daß du glücklich wärst, wenn ich sie bekäme, Sara. Aber, wenn ich bedenke, was für ein Scheißkerl ich gewesen bin, dann begreife ich nicht, wie du glücklich darüber sein kannst.« »Ich bin nur ein bißchen traurig«, sagte sie leise, »ich meine, wir waren doch ein paar Jahre lang sehr glücklich miteinander.«
Teds Magen zog sich zusammen: »Das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens.« Sie nickte in melancholischem Mitgefühl, als ob sie um einen gemeinsamen Freund trauerten. So saßen sie eine Weile schweigend da. Dann wurde Sara unruhig und wollte aufstehen. »Es ist schon spät. Ich muß gehen ...« »Nein, bleib noch einen Moment«, bat er und forderte sie wieder zum Sitzen auf. Er mußte ihr etwas Wichtiges sagen und wenn er ihr es jetzt nicht sagte, dann würde er es ihr nie mehr sagen können. »Sara, es tut mir wirklich leid, was ich uns angetan habe. Und ich möchte, daß du mir glaubst. Ich würde alles dafür hergeben, auch Harvard, wenn wir noch zusammen sein könnten.« Er sah sie sehnsüchtig an und wartete auf ihre Antwort. Zuerst sagte sie nichts. »Glaubst du mir das?« fragte er wieder. »Ja«, antwortete sie. »Aber dafür ist es jetzt zu spät.« Sara stand wieder auf und flüsterte: »Gute Nacht, Ted.« Dann lehnte sie sich zu ihm hinüber, küßte ihn auf die Stirn ging hinaus und ließ ihn allein auf dem Gipfel der Welt.

Jason Gilberts Eltern flogen im Frühjahr 1974 nach Israel. Zunächst blieben sie eine Woche im Kibbuz, um ihre Enkel und ihre Schwiegertochter kennen — und lieben — zu lernen. Dann zeigten Jason und Eva ihnen jeden Meter Bodens von den Golan-Höhen bis zum Sharm El-Sheikh im besetzten Sinai. Die letzten fünf Tage verbrachten sie in Jerusalem, für Mrs. Gilbert die schönste Stadt der Welt. »Was für reizende Menschen«, sagte Eva, nachdem sie seinen Eltern am Ben-Gurion-Flughafen zum Abschied gewunken hatten.
»Glaubst du, es hat ihnen gefallen?« »Ich glaube, sie sind mehr als begeistert«, erwiderte sie.
»Am schönsten fand ich, daß dein Vater heute morgen zu den Jungs nicht auf Wiedersehen, sondern Schalom gesagt hat, als er sie küßte. Ich wette, sie kommen nächstes Jahr wieder.«
Eva hatte recht. Die Gilberts kamen im Frühling 1975 und 1976 wieder. Beim dritten Mal brachten sie sogar Julie mit, die —gerade einmal nicht verheiratet — den Mythos israelischer Männlichkeit erproben wollte.
Jason war inzwischen Ausbilder geworden. Auch nicht gerade ein geruhsamer Job in dieser Elitetruppe unter den Spezialeinheiten, aber weniger gefährlich als das, was er vorher getan hatte. Seine Aufgabe bestand darin, im Rekrutierungsbüro, das außerhalb von Tel Aviv lag, festzustellen, welche der eifrigen jungen Rekruten für die unmöglichen Ansprüche von Sayaret Matkal körperlich und seelisch geeignet waren. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war Yoni Netanyahu, den man für seine Tapferkeit im Yom-Kippur-Krieg hoch ausgezeichnet hatte.
Frieden gab es nicht, aber ein wirklich offener Krieg war für Jason unwahrscheinlicher als zu irgendeinem Zeitpunkt, an den er sich erinnerte. Schließlich hatten sie Dr. Kissinger als Schiedsrichter und, wie Jason oft scherzhaft bemerkte, wo immer ein Harvard-Professor auftaucht, gibt es mehr Worte als Taten.
Yoni war ein Jahr in Harvard gewesen und suchte nach einer Möglichkeit, noch seinen Abschluß zu machen. Er und Jason saßen an vielen Sommerabenden zusammen und schwelgten in Erinnerungen an vertraute Orte in Cambridge, wie den Harvard Square, die Widener-Bibliothek, >Elsie's< und die Laufstrecken am Charles River. Die Gespräche weckten in Jason die Sehnsucht nach dem einzigen Ort seines Lebens, an dem er ein unkompliziertes und glückliches Leben geführt hatte.
Er und Eva überlegten, wie es wäre, wenn sie für ein Jahr in die Vereinigten Staaten gingen, nachdem sein jetziger Dienstvertrag abgelaufen war? Falls man ihm im Alter von neununddreißig Jahren die Zulassung noch nicht verweigerte, konnte er sein Jurastudium abschließen und dann in Israel als Anwalt amerikanische Firmen vertreten.
»Was meinst du, Eva?« fragte er. »Würde das den Kindern Spaß machen?«
»Ihrem Vater bestimmt, das weiß ich.« Sie lächelte nachsichtig. »Und ich habe jetzt jahrelang so viel von Harvard gehört, daß ich auch schon fast Heimweh danach habe. Also los, schreib alle notwendigen Briefe.«
Obwohl er so viele Jahre nicht mehr eingeschrieben gewesen war, wurde er ohne Schwierigkeiten wieder von der Law School angenommen. Es war auch deshalb kein Problem, weil der stellvertretende Leiter der Zulassungskommission jetzt Tod Anderson war, ein Teamkamerad von Jason — in dessen früherem Leben. Unter den Brief, der die Aufnahme bestätigte, schrieb Tod: »Auch wenn du da drüben ein Colonel bist, Gilbert, für mich bleibst du ein Captain, der Captain der Squashmannschaft.« Und er fügte noch hinzu: »Ich habe mein Spiel wesentlich verbessert und glaube, ich kann dich endlich schlagen.«

Jason wurde für 1976/77 als Student im dritten Studienjahr zugelassen. Er und Eva planten, Mitte Juli mit den Kindern hinüberzufliegen und sie bei seinen Eltern zu lassen, bis sie in Cambridge ein Appartement gefunden hatten.
Im Mai 1976 verließ er die Sayaret und den aktiven Militärdienst. Alles, was er Israel jetzt noch schuldete, war jährlich einen Monat Reservedienst, bis er fünfundfünfzig war.
Als er sich bei seinem jungen Kommandeur verabschiedete, konnte Yoni seinen Neid nicht ganz unterdrücken. »Denk an mich, wenn du am Charles River deine Dauerläufe machst, Saba, und schick mir ein Paar Postkarten von Cambridge.« Lachend trennten sich die beiden.

Am 27. Juni aber wurde alles anders.
Nach einer Zwischenlandung in Athen, wo noch Passagiere zustiegen, wurde der Flug 139 der Air France von Tel Aviv nach Paris gekapert. Aber es war keine >normale< Terroraktion — auch nicht nach palästinensischen Maßstäben.
Das Flugzeug landete in Libyen, um aufzutanken, und flog dann weiter nach Entebbe in Uganda. Dort wurden die 256 Passagiere in das alte Flughafengebäude getrieben und als Geiseln bewacht. Am nächsten Tag gaben die Luftpiraten ihre Forderungen bekannt. Sie forderten die Freilassung von dreiundfünfzig ihrer Kameraden — davon vierzig in israelischen Gefängnissen — außerdem noch ein paar Millionen Dollar.
Es war schon immer Israels Politik gewesen, nie mit Terroristen zu verhandeln. Aber die Familien der Passagiere belagerten die Ministerien in Jerusalem und forderten einen Austausch, um das Leben ihrer Lieben zu retten. Die Regierung war sich unschlüssig. Unter normalen Umständen wäre ein solcher Zwischenfall sofort Sache der Antiterror-Einheit gewesen. In diesem Fall aber waren die Geiseln neuntausend Kilometer entfernt und unerreichbar für eine militärische Befreiungsaktion. So schien es jedenfalls.
Nur wenige Minuten, nachdem übers Radio die Forderungen der Geiselnehmer bekannt gemacht worden waren, kam Jason in das Klassenzimmer, wo Eva Dreijährigen das Lesen einer Uhr beibrachte. Er signalisierte ihr, kurz herauszukommen.
»Ich gehe«, sagte er kurz und bündig. »Wohin?« »Zurück zur Einheit.« »Du bist verrückt. Die können nichts tun, und außerdem
bist du entlassen.« »Ich kann es dir nicht erklären, Eva«, sagte er eindringlich. »Ich habe fast die Hälfte meines Lebens damit verbracht, diese Mörder zu erwischen, die da im Gefängnis sitzen. Wenn wir sie freilassen, dann wird alles kaputtgehen, was wir
erreicht haben. Die Welt wird zu einem Spielplatz der Terroristen.«
Eva stiegen Tränen in die Augen. »Jason, du bist das einzige auf der Welt, das ich liebe und das ich nicht verloren habe. Hast du nicht genügend von deinem Leben geopfert?
Deine Kinder brauchen einen Vater, aber keinen Helden ...« Dann brach sie ab, weil sie merkte, daß er mit Worten nicht mehr zurückzuhalten war, und obwohl er noch vor ihr stand, empfand sie schon schmerzlich seine Abwesenheit. »Warum, Jason?« fragte sie. »Warum mußt immer du es sein?« »Das habe ich von dir gelernt, Eva«, antwortete er leise. »Dieses Land existiert nur zu dem Zweck, unsere Brüder überall in der Welt zu beschützen.« Eva weinte leise, den Kopf an seine Brust gelehnt. Sie begriff, sie hatte einen allzu guten Juden aus ihm gemacht hat.
Seine Liebe zu Israel war größer als die zu seiner Familie. Sie ließ ihn gehen und sagte ihm nicht einmal, daß sie wieder schwanger war.
»Verschwinde, Saba, das ist was für junge Männer.« »Hör mal, Yoni«, drängte Jason, »wenn eine Operation stattfindet, will ich mitmachen.«
»Sieh mal, ich weiß ja noch gar nicht, ob wir überhaupt etwas unternehmen. Die Regierung hält es für viel zu riskant. Offen gesagt, wir haben es bis jetzt noch nicht geschafft, einen Plan zu entwickeln, der auch nur fünfzig Prozent Chancen
hätte zu gelingen.« »Aber dann laß mich doch wenigstens bei der Planung mitmachen. Zum Denken bin ich doch noch nicht zu alt.«
Ihre Auseinandersetzung wurde von Generalmajor Zvi Doron unterbrochen, früher Kommandeur der Sayarel, jetzt Geheimdienstchef der gesamten Verteidigungskräfte. »Laßt das hier«, bellte er, »wir haben keine Zeit für so was. Was machst du denn hier, Gilbert?«
»Ich melde mich zum Dienst, Zvi.« »Paß auf«, sagte Yoni streng, »wir haben ein Problem und keine Zeit zu verschwenden. Du hast sechzig Sekunden, mir zu erklären, warum die Wache dich nicht rauswerfen soll.
Also los.«
»Also«, begann er und suchte verzweifelt nach Argumenten. »Als ihr ein Kommando zusammengestellt habt, um Eichmann zu fangen, habt ihr absichtlich Überlebende der Konzentrationslager ausgesucht. Weil es eben niemanden gibt, der tapferer und weniger kompromißbereit ist als ein Opfer, das die Gelegenheit bekommt, sich zu rächen.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Ich bin auch ein Opfer. Diese Tiere haben die erste Frau getötet, die ich wirklich geliebt habe. Und es gibt in dieser Einheit niemanden, der mehr dafür tun würde, daß nicht noch andere mit so einem Schmerz leben müssen.« Jason wischte sich mit dem Hemdsärmel übers Gesicht und sagte schließlich: »Außerdem bin ich immer noch euer bester Soldat.«
Zvi und Yoni sahen sich unentschlossen an. Schließlich sagte der Kommandeur: »Hör mal, die ganze Operation ist
verrückt. Wenn sie uns machen lassen, brauchen wir vielleicht einen Verrückten wie Gilbert.«
Während die Sayaret verbissen an einem Schlachtplan arbeitete, versuchte die israelische Regierung weiter, mit den Luftpiraten zu verhandeln — um wenigstens Zeit zu gewinnen. Nach weiteren achtundvierzig Stunden wurden die
nicht-israelischen Passagiere freigelassen und nach Frankreich geflogen, wo sie Grauenhaftes berichteten. Wie in den Konzentrationslagern der Nazis hatte es eine Selektion gegeben — und die israelischen Geiseln waren in einen abgetrennten Raum gebracht worden.
Das Kabinett geriet zunehmend unter den Druck der Öffentlichkeit, den Forderungen der Terroristen nachzugeben und das Leben hundert Unschuldiger zu retten. Als man kurz davor war, zu kapitulieren, meldete sich Generalmajor Zvi Doron und unterrichtete das Kabinett davon, daß sein Stab einen Plan zur gewaltsamen Befreiung der Geiseln entwickelt hatte. Er erläuterte ihn detailliert, und die Minister wollten darüber beraten. Währenddessen kehrte Doron zu seiner Truppe zurück und ließ die Landung in Entebbe proben.

Israelische Architekten hatten beim Bau des alten Flughafengebäudes von Entebbe mitgeholfen, weshalb genaue Pläne zur Verfügung standen, um ein Modell in Originalgröße zu bauen. Und aufgrund der Informationen, die man von den freigelassenen Passagieren in Paris bekommen hatte, konnte man genau ausmachen, wo die Geiseln festgehalten wurden.
Jason beteiligte sich an den Diskussionen. Über die große Entfernung ließen sich keine größeren Kontingente einfliegen, weshalb alles vom Überraschungsmoment abhing. Die riesigen C- 150-Transportflugzeuge waren langsam, aber hatten wenigstens die notwendige Reichweite. Aber wie ließen sich die Geiseln befreien und an Bord bringen, bevor ganz Uganda sich über sie hermachte? Im Zuge ihrer wie üblich umfassenden Planungsanstrengungen sahen sie sich auch Filme von Idi Amin an, dem Führer Ugandas, wie er in seinem langen schwarzen Mercedes durch die Straßen von Kampala fuhr.
»Das ist es«, drängte Jason. »Wenn wir den Wachen vortäuschen können, daß Amin am Flughafen ankommt, dann gewinnen wir fünfzehn oder zwanzig wertvolle Sekunden, bis sie den Bluff entdecken.«
»Gute Idee«, sagte Zvi und wandte sich an seinen Adjutanten: »Besorgen Sie einen Mercedes.«
Sie planten, zweihundert Mann und ein paar Jeeps und Landrover auf drei Transportflugzeuge zu verteilen. Eine vierte Hercules sollte als fliegendes Hospital dienen, denn man rechnete mit zehn bis fünfzig Ausfällen — falls sie Erfolg haben sollten.

Am späten Nachmittag erschien der Adjutant mit dem einzigen Mercedes, den er hatte auftreiben können. Es war ein weißer Diesel, der wie ein asthmatisches Pferd hustete und stotterte. »Das Wrack können wir nicht nehmen«, sagte Zvi. »Selbst wenn wir es schwarz streichen, wird uns der Lärm, den dieser verdammte Motor macht, verraten, noch bevor es überhaupt losgeht.«
»Hört zu«, schlug Yoni vor, »warum lassen wir ihn nicht von Gilbert überholen? Er ist nicht zu alt, um Motoren in Ordnung zu bringen.«
»Danke, Sweetheart«, sagte Jason ironisch. »Werkzeug her, und ich mache euch dieses Ding so leise wie die schickste Limousine.«

Den Abend und die Nacht hindurch vergoß er viel Schweiß dabei, den uralten Wagen wiederherzurichten. Dann überwachte er, wie ein paar Leute das Auto schwarz spritzten. Aber er brauchte noch Ersatzteile und gab Yoni eine Aufstellung.
»Sollen wir die Sachen vielleicht aus Deutschland kommen lassen?« fragte der junge Offizier. »Von einem Harvard-Mann habe ich etwas mehr Verstand erwartet«, erwiderte Jason. »Es ist doch ganz klar, was zu tun ist.«
Er stand müde auf, sein Gesicht war von Ol verschmiert,
und er sagte: »Mach ein paar Mercedes-Taxis ausfindig und klau die Sachen.«
Yoni lächelte und machte sich daran, unter seinen Leuten die ausfindig zu machen, die am ehesten das Zeug zum Autodieb hatten.
Am Freitag machte die Einheit eine Generalprobe in dem Modell des Flughafengebäudes. Es dauerte siebenundsechzig Minuten von der simulierten Landung bis zur Evakuierung und zum Start. »Das reicht nicht«, sagte Yoni zu den müden Soldaten. »Wenn wir das nicht auf weniger als eine Stunde drücken können, dann lassen wir die ganze Sache.«
Sie machten eine Pause, aßen ein paar Notrationen und probten die Unternehmung noch einmal. Diesmal waren es neunundfünfzig Minuten und dreißig Sekunden.
Nach der Übung versammelte Yoni seine Leute und hielt eine kurze Ansprache: »Das Ultimatum der Terroristen läuft morgen abend ab. Dann wollen sie die Geiseln erschießen. Wir müssen dort sein, bevor das geschieht. Leider wird das Kabinett erst morgen vormittag über die Operation abstimmen. Wir werden also mit der Operation beginnen und können nur hoffen, daß sie uns per Funk grünes Licht geben.
Natürlich verläßt niemand das Gelände. Alle Telefonverbindüngen nach außen sind unterbrochen. Versuchen Sie jetzt, etwas zu schlafen.« Die jungen Soldaten gingen auseinander und suchten den Nebenraum auf, wo sie ihre Schlafsäcke hatten. Nur Jason blieb noch, um mit Yoni zu sprechen. »Vielen Dank für deine Hilfe«, sagte Yoni, »ich bin sehr froh, daß du gekommen bist.« »Und warum darf ich nicht mit ins Flugzeug?« »Versteh doch«, sagte Yoni ruhig, »das Durchschnittsalter der Kerle hier ist ungefähr dreiundzwanzig. Du bist fast vierzig. Selbst die größten Sportler lassen in dem Alter nach.
Sie verlieren in ihrer Reaktionszeit den entscheidenden Bruchteil einer Sekunde.« »Aber ich schaffe das, Yoni. Das weiß ich. Ich will mit, und wenn ich mich nur um die Motoren der Autos kümmere.« »Hör zu, Saba, dies ist eine ernste Sache, und Gefühle haben hier nichts zu suchen. Du bleibst hier. Und das ist endgültig.«
Jason nickte stumm und verließ den Raum. Er verließ das Sayaret-Gebäude und, jahrelang darin geübt, nicht entdeckt zu werden, schlüpfte er an den Wachtposten vorbei und verschwand in der Nacht.

Die Operation Thunderbolt begann am Samstag, den 3. Juli, kurz nach Mittag. Zuerst wurde die medizinische Ausrüstung verladen, dann die Militärfahrzeuge, dann der schwarze Mercedes. Schließlich kletterten die Männer an Bord — für eine Rettungsmission über die Entfernung von neuntausend Kilometern, die perfekt gelingen mußte.
Die vier Hercules-Maschinen holperten die Startbahn entlang, hoben ab und gingen auf Südkurs. Letzte Treibstoffaufnahme war in Sharm El-Sheikh vorgesehen, dem südlichsten Punkt auf israelischem Territorium. Das gab ihnen die maximale Reichweite. Die wichtigsten Aufgaben der Piloten bestanden darin, nicht vom arabischen Radar entdeckt zu werden und unter allen Umständen Treibstoff zu sparen.
Deshalb flogen sie so tief, daß die Wüstenwinde die Flugzeuge unaufhörlich durchschüttelten. Als sie nach nur einer halben Stunde Flug in Sharm El-Sheikh landeten, waren ein paar Soldaten luftkrank, einer war sogar ohnmächtig geworden. Als die Flugzeuge auf der Landebahn aufsetzten und ausrollten, befahl Yoni den Ärzten, sich um die Männer zu kümmern, deren Mägen versagt hatten, bevor ihr Mut erprobt worden war. Einer der Mediziner schüttelte den Kopf und murmelte: »Wir hätten Dramamine-Tabletten verteilen sollen. Das haben wir übersehen.«
Hoffentlich haben wir sonst nichts übersehen, dachte Yoni und sprang auf das Flugfeld, um sich mit Zvi zu beraten, der im zweiten Flugzeug mitflog. In diesen Augenblicken trat das Kabinett zusammen, um zu entscheiden, ob die Operation durchgeführt werden sollte. Auch in Zvis Flugzeug gab es Soldaten, denen schlecht geworden war. »Ich fürchte, wir müssen Yoav hier in Sharm lassen«, sagte er. »Er ist zu krank.«
»Welche Aufgabe hat er?« fragte Zvi. »Er sollte den Mercedes fahren«, sagte eine Stimme. Und hinter dem großen Fahrgestell der C-130 erschien Jason Gilbert, mit Handgranaten am Gürtel, die Kalaschnikow über der Schulter.
»Saba, was zum Teufel machst du hier?« fuhr ihn Zvi an. »Hört mal«, sagte Jason ruhig und bestimmt, »ich bin die ganze Nacht gefahren. Ihr hättet mich erst gar nicht zurücklassen sollen. Jetzt müßt ihr mich mitnehmen.«
Yoni und Zvi sahen sich an. Der ältere Mann entschied sofort. »Yoav bleibt hier. Los, an Bord, Jason.«

Um 15.30 Uhr starteten sie von Sharm El-Sheikh und flogen auf einer Route über dem Roten Meer genau zwischen Ägypten und Saudi-Arabien. Unter sich machten sie russische Schiffe aus, die zweifellos über Radar verfügten. Die vier Flugzeuge gingen fast bis zur Meeresoberfläche hinunter, mehr fliegende Fische als Flugzeuge. Fünfzehn Minuten später kam eine einfache Nachricht über Funk: »Alle Systeme grün. Kein Funkverkehr mehr. Rufen Sie uns, wenn Sie auf dem Rückweg sind.«

Yoni verließ das Cockpit und sagte ruhig zu seinen Männern: »Die Operation läuft. Wir haben sieben Stunden Flug vor uns, und dann die fünfundvierzig Minuten, in denen wir besser sein müssen als je zuvor. Überprüfen Sie Ihre Ausrüstung und versuchen Sie zu schlafen.«
Ein Mitglied der Truppe in einer pompösen Uniform, der Idi Amin zu spielen hatte, gab Jason eine Tube mit schwarzbrauner Schminke.
»Hier, Saba. Wenn du mein Fahrer bist, dann mußt du dich auch dafür herrichten. Auch das Haar. Ich glaube nicht, daß es in Uganda blonde Männer gibt.« Jason nickte und nahm die fettige Farbe. »Das ist jetzt das schwerste«, sagte sein Kamerad, »ich meine, das Warten.« »Ich bin das gewöhnt. Ich habe mal drei Tage und drei Nächte im Freien auf einen PLO-Führer gewartet.« »Ja, aber wie weit warst du von der israelischen Grenze entfernt?« fragte der junge Mann. »Ungefähr zwölf Kilometer.« »Das hier ist tausendmal weiter weg.« »Ich habe nicht gesagt, daß ich da etwa keine Angst hatte«, sagte Jason. »Willst du was lesen?« fragte der Soldat. »Was hast du denn?« »Ich kann dir >Die Kanonen von Navarone< leihen.« »Mach keine Witze.« Er lachte. »Jetzt wäre die Bibel das beste.«
»Nein, Saba, das hier ist anregender.« Jason seufzte und griff in die Brusttasche. »Was tust du da?« »Ich sehe mir ein paar Fotos an.«
»Von dem Flugplatz da?« »Nein. Von meiner Familie.«
Sechseinhalb Stunden später waren sie über Kenia und flogen durch die Dunkelheit. In ein paar Minuten würden sie den Victoriasee erreichen und mit dem Anflug auf den Flughafen Entebbe beginnen. Die Stunde Null kam näher.
Yoni ging durch das Flugzeug und überprüfte seine Leute. Er blieb stehen und sah durch das Fenster des Mercedes, wo Jason mit schwarzgefärbtem Gesicht seine Pistole prüfte und aufsah, als sein Freund kam. »Möchte nur sicher sein, daß mir niemand den Parkplatz wegnimmt«, lächelte Jason. »Sind die Kerle nervös?« »Auch nicht mehr als du«, antwortete Yoni, »oder ich. Viel
Glück, Saba. Wir schaffen es.«
Das Timing war bis dahin perfekt. Die erste Maschine kam in dem Moment an, in dem eine britische Frachtmaschine den Kontrollturm in Entebbe um Landeerlaubnis ersuchte. Die Hercules kam unmittelbar nach ihr herein und landete keine hundert Meter hinter ihr. Zuerst rollten sie auf das neue Flughafengebäude zu, schwenkten dann lässig nach links, wo sie mobile Landelichter aussetzten, so daß die drei anderen Maschinen ihnen leicht folgen konnten. Bis jetzt hatte man sie noch nicht bemerkt. Sie rollten in eine dunkle Ecke des Flugfeldes und begannen zu entladen.
Ein Dutzend Soldaten sprang heraus und zog die Rampe für Jasons Mercedes aus. Das Fahrzeug brummte die Rampe herunter, und Jason fuhr auf das Gebäude zu, in dem die Geiseln gefangen gehalten wurden. Zwei Landrover mit Soldaten fuhren hinter ihm her, in Sichtweite des Kontrollturms.
Plötzlich traten ihnen zwei ugandische Soldaten entgegen und wollten die Fahrzeuginsassen kontrollieren. Yoni und ein anderer Soldat erledigten sie mit schallgedämpften Pistolen. »Besser, wir gehen den Rest der Strecke zu Fuß«, flüsterte Yoni. Sie sprangen aus ihren Wagen und rannten auf das Flughafengebäude zu. Sekunden später brachen sie in die Halle, wo die Geiseln auf dem Boden lagen und zu schlafen versuchten. Sie war hell erleuchtet, damit die Wachen die Gefangenen überwachen konnten. Das machte es auch den Befreiern leichter.
Einer der Terroristen merkte, was vor sich ging, und eröffnete das Feuer. Er wurde sofort getötet. Zwei weitere Terroristen, die auf der anderen Seite der Halle postiert waren, stürzten schießend vor. Aufgeschreckt von dem plötzlichen Lärm, sprangen einige der Geiseln auf. Ein Soldat mit Megaphon schrie Anweisungen auf Hebräisch und Englisch: »Wir sind die israelische Armee. Hinlegen! Hinlegen!«
Da erschien Jason in der Tür, die Maschinenpistole im Anschlag. Eine verängstigte alte Frau sah ihn an und fragte: »Seid ihr wirklich unsere Leute?« »Ja«, fuhr er sie an. »Hinlegen!« »Gott muß euch gesandt haben«, rief sie und gehorchte augenblicklich.
Plötzlich sah Jason einen Verdächtigen, der versuchte, sich hinter den Geiseln zu verstecken. Er rief auf Hebräisch: »Ist das einer von uns?« Eine Frau, die von dem Mann als Schild benutzt wurde, schrie tapfer: »Nein, einer von ihnen«, und befreite sich aus dem Griff. Der Terrorist griff blitzschnell eine Handgranate und zog sie ab. Jason zielte und schoß. Der Mann fiel zu Boden, die Handgranate fiel ihm aus der Hand. Jason stürzte instinktiv vorwärts. Er packte die Handgranate und warf sie in derselben Bewegung in eine Ecke, wo sie explodierte, ohne jemanden zu verletzen.
Yoni rannte durch die Halle, um sich zu vergewissern, daß alle Bewacher ausgeschaltet waren. Draußen waren Schüsse zu hören. Die anderen Männer kämpften mit den ugandischen Soldaten.
Yoni nahm das Megaphon und rief: »Alles herhören. Wir haben Flugzeuge draußen. So schnell wie möglich raus. Draußen sind Soldaten, die Sie schützen werden. Wer nicht laufen kann, wird mit Jeeps transportiert. Vorwärts!« Die noch benommenen Gefangenen gehorchten, ohne zu widersprechen. Sie waren zu starr, um zu jubeln, und zu schockiert, um zu begreifen, daß dies kein Traum war.
Die Evakuierung begann. Die ugandischen Soldaten schossen wie wild vom Kontrollturm herunter. Jason trug einen alten Mann, der im Kreuzfeuer getroffen worden war, durch die Reihen der Soldaten, die man gebildet hatte, um die Geiseln zu schützen. Er erreichte das Flugzeug und hob den Mann zu den Ärzten hoch, die in der Tür warteten. Dann zog er sich selbst hoch. Die Arzte kümmerten sich bereits um andere Opfer.
Während Jason mithalf, den alten Mann auf eine Matratze legen, hörte er, wie ein Soldat mit einem Funksprechgerät entsetzt ausrief: »Nein!«
»Was ist los?« rief er. »Yoni — Yoni ist getroffen!« Jason fuhr hoch, griff sich eine Maschinenpistole, stürzte zur Tür, sprang auf das Flugfeld und lief zurück zum Flughafengebäude. In einiger Entfernung sah er, daß Yoni auf eine Tragbahre gehoben wurde. Vom Kontrollturm kam immer noch ein Geschoßhagel. Sobald er nahe genug heran war, blieb er stehen und erwiderte das Feuer. Wer immer Yoni getroffen hatte, sollte dafür büßen. Aus der Entfernung hörte er, wie Zvi drängend rief: »Gilbert, alles ist an Bord. Wir
müssen raus!«
Jason achtete nicht darauf, sondern schoß weiter. Eine Gestalt stürzte vom Turm. Er hatte einen der Scharfschützen getroffen.
Wieder schrie Zvi: »Gilbert, komm zurück. Das ist ein Befehl!«
Jason schoß wütend so lange weiter, bis ihm die Munition ausging. Der Lärm von den Motoren der ersten abhebenden Hercules brachte ihn plötzlich zur Besinnung. Er warf die Maschinenpistole weg und rannte zu dem Flugzeug, das sich in seiner Nähe befand. Da traf ihn das Geschoß, durchschlug das rechte Schulterblatt und drang in die Brust ein. Er taumelte, aber wollte nicht fallen. Seine Kameraden sollten nicht ihr Leben riskieren, um ihn zu retten. Er erreichte die Tür des Flugzeugs, und sie halfen ihm hinein. Als einer der Soldaten entsetzt seine Brust anstarrte, wußte er, er war schwer getroffen. Aber noch immer spürte er nichts. Als der Arzt ihm das Hemd aufriß, hörte er die Flugzeugtür zuschlagen und jemanden rufen: »Wir haben es geschafft, wir fliegen nach Hause.«
Jason sah den Arzt an, dessen Gesicht aschgrau war.
»Ist das wahr?« fragte er. »Haben wir es wirklich geschafft?« »Ruhig, Saba, reg dich nicht auf. Ja, wi r haben alle Geiseln, bis auf eine. Es ist kein Erfolg, es ist ein Wunder.« Das Flugzeug rollte immer schneller und war im nächsten Moment außerhalb des Territoriums von Uganda.
Auftrag erfüllt.
Jason weigerte sich, nicht zu sprechen. Er spürte, daß ihm nur noch wenig Zeit blieb, und er mußte einfach noch ein paar Fragen stellen — und ein paar Dinge sagen. »Ist Yoni tot?« fragte er. Der Arzt nickte. »Scheiße. Er war der beste, der tapferste Kerl, den ich je
gekannt habe.« »Deshalb würde er sicher sagen, es war die Sache wert, Saba.« Zvi war jetzt bei Jason. »Ja, schon«, lächelte Jason, benommen vom Blutverlust. »Da kommt im Krieg wohl keiner drum herum, was?« »Jason, mach dich nicht müde.« »Mach keine Witze, Zvi. Ich habe genug Zeit auszuruhen.«   Er   sprach   immer   langsamer.   »Ich   möchte   sehr gerne ..., daß Eva weiß ... es tut mir so leid, ihr das ... antun zu müssen ... und den Jungs ... Zvi, sag ihnen bitte, ich liebe sie...«
Sein Kommandeur brachte kein Wort heraus. Er nickte nur.
»Und sag ihnen auch noch ...«, Jason keuchte, »sag ihnen, ich habe Frieden gefunden. Endlich... habe ich Frieden.« Sein Kopf rollte zur Seite. Der Arzt legte die Hand auf Jasons Halsschlagader, er fand keinen Puls mehr. »Er war ein sehr tapferer Soldat«, sagte Zvi leise. »Die anderen haben erzählt, er habe sich eine schon abgezogene Handgranate geschnappt und weggeworfen. Er war immer noch so schnell auf den Beinen wie ein Athlet...« Zvis Stimme versagte. Er wandte sich um und ging nach hinten. Sie flogen weiter, in Triumph und Trauer.