26. Andrew Eliots Tagebuch 30. September 1973

Ich fürchte, es ist irgend etwas Furchtbares mit George Keller los. Er rief mich heute nachmittag an und sagte, ich kenne doch die Ehemaligen Harvards und ob ich ihm einen guten Arzt in der Umgebung Washingtons nennen könne. Ich war darüber aus zwei Gründen erstaunt. Warum fragte er mich, einen Nicht-Mediziner? Und warum hatte er sich nicht bei seinen Freunden in Washington erkundigt? Er erklärte mir, es sei eine wirklich sehr ernste Geschichte und müsse geheimgehalten werden. Natürlich sagte ich ihm, ich würde gerne versuchen zu helfen, aber ich müsse zum Beispiel wissen, welche Art Arzt er suche.
Zuerst gab er eine sehr merkwürdige Antwort. Er brauche jemanden, der »besonders vertrauenswürdig« sei. Ich vermutete erst, George hätte vielleicht eine Art Nervenzusammenbruch. Ich weiß ja, daß die hochrangigen Geheimnisträger unter wahnsinnigem Druck stehen.
Aber nein, er wollte den Namen des besten Onkologen im Umkreis von Washington. Das warf mich um. Warum brauchte er einen Krebsspezialisten? Ich fand, ich hatte kein Recht, ihn das zu fragen.
Ich sagte ihm, ich würde mich ganz diskret bei meinen Medizinerfreunden erkundigen und ihn zurückrufen. Er bestand aber darauf, daß er mich wieder anriefe. In diesem Augenblick schaltete sich die Vermittlung ein und sagte, die drei Minuten seien um. Er fütterte noch mal Münzen nach und sagte, er würde am nächsten Tag, genau zur gleichen Zeit, wieder anrufen.
Natürlich rief ich sofort die Registratur von Harvard an und bat, den Computer nach Krebsspezialisten zu befragen. Ich
erhielt die Auskunft, daß Peter Ryder, einer unserer Mitstudenten, jetzt Professor für Onkologie an der John-Hopkins-Universität in Baltimore war.
Obwohl ich mir über Georges Gesundheit Sorgen machte, beunruhigte mich noch etwas anderes. Warum hatte er von einem öffentlichen Fernsprecher aus angerufen?

Peter Ryder, Professor für Onkologie an der Medizinischen Fakultät der John-Hopkins-Universität, überraschte George mit der Begrüßung: »Kak pozhivias?« »Wie das denn? Warum sprechen Sie Russisch mit mir?«
»Sie erinnern sich also nicht mehr an mich«, sagte der große Arzt, dessen Haar bereits schütter wurde, und konnte
seine Enttäuschung nicht verbergen. »Ich habe in >Slawisch i68< direkt neben Ihnen gesessen. Aber wahrscheinlich
waren Sie damals zu sehr mit den Vorlesungen beschäftigt, um noch irgend etwas anderes um Sie herum zu bemerken.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte George abwesend. »Können wir irgendwo ungestört reden?«
»Ja, natürlich. Sie haben gesagt, Sie haben Röntgenaufnahmen mit. Wir können sie uns in meinem Büro ansehen.«
George umklammerte das braune Kuvert und folgte dem Spezialisten im weißen Kittel den Flur entlang. Auch als sie
die Tür von Ryders Büro hinter sich geschlossen hatten, wollte er die Aufnahmen noch immer nicht aus der Hand geben.
»Doktor«, sagte er in vertraulichem Ton, »ich muß Ihnen zuerst etwas dazu sagen.« »Bitte, nennen Sie mich Peter«, bat der Arzt. »Gut, Peter. Sie wissen, daß ich für das State Department arbeite. Diese Röntgenaufnahmen sind eine Geheimsache.«
»Ich verstehe Sie nicht, George.«
»Sie stammen von einem hochrangigen kommunistischen Führer und wurden unter größter Geheimhaltung herausgebracht. Ich muß sicher sein, daß es keine schriftliche AufZeichnung unseres Gesprächs geben wird. Denn ich werde auch nicht begründen können, warum ich eine Stellungnahme hierzu brauche.«
»In Ordnung«, antwortete Ryder. »Ich habe genug Grütze zu begreifen, daß es für Sie dort wichtig ist zu wissen, wie es mit der Gesundheit der hohen Tiere da drüben steht. Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.« Er klammerte die Röntgenaufnahmen vor die Leuchtscheibe und sagte sofort: »Ich verstehe nicht, warum Sie damit noch zu einem Onkologen gekommen sind.« »Was meinen Sie damit?« »Eigentlich kann schon ein Medizinstudent sehen, was da los ist. Sehen Sie diesen schwarzen Fleck im Bereich des Apex, dem oberen linken Lungenlappen? Das ist ein hochgradig bösartiges Geschwulst. Dieser Patient hat nicht mehr sehr lange zu leben, höchstens noch ein paar Monate.« Dann wandte er sich an George und fragte: »Das wollten Sie doch wahrscheinlich wissen?« George zögerte und fragte dann: »Können Sie mir noch sagen, ob der Patient... große Schmerzen hat?« »Ich kann da ziemlich genaue Schlüsse ziehen«, antwortete Ryder und wandte sich wieder dem Röntgenbild zu. »Das Karzinom scheint auf den lorachischen Nervenplexus einzuwirken. Das ruft dann starke Schmerzen hier im oberen Brustbereich hervor und strahlt in den Arm aus.«
George wußte für einen Moment nicht, was er noch fragen sollte. »Möchten Sie noch irgend etwas anderes wissen?« fragte der Arzt. »Ja —doch. Nur noch eine hypothetische Information, wenn Sie so freundlich wären, Peter. Wenn diese Person Ihr Patient wäre, wie würden Sie sie behandeln?« »Es gibt keinerlei Möglichkeit mehr, die Krankheit zu heilen, aber vielleicht ließe sich durch Bestrahlung und Chemotherapie mit neuen Zytostatika wie Adriamycin, Cisplatin und Zytoxem, zusammen oder einzeln angewandt, das Leben des Patienten etwas verlängern.«
»Würde das auch die Schmerzen lindern?« fragte George.
»In vielen Fällen, ja. Wenn nicht, gibt es dann noch eine große Bandbreite von Narkotika und Sedativa.« »Dann ist es also möglich, daß selbst jemand mit dieser Krankheit... in Frieden stirbt?« fragte George. »Ich möchte doch behaupten, daß das ein sehr wichtiger Teil meines Berufs ist«, sagte Byder freundlich.
»Haben Sie vielen Dank, Peter«, murmelte George und versuchte seine fünf Sinne zusammenzuhalten, um auch bei der Verabschiedung äußerst vorsichtig zu bleiben. »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte sein ehemaliger Kommilitone. »Aber darf ich Sie etwas fragen? Sie können sich völlig auf meine Diskretion verlassen.« »Ja, bitte?« »Ist es Breschnew?« »Bedaure«, erwiderte George leise, »das kann ich Ihnen nicht sagen.«

George bat seine Sekretärin, ihn mit Stephen Webster vom Handelsministerium zu verbinden. Er war Technologie-Experte, der gerade das Massachusetts Institute of Technology absolviert und sich George auf einer Gesellschaft vorgestellt hatte, und wie alle jungen Männer, die gerade erst nach Washington gekommen sind, war er sehr darauf aus, sich bei den Oberen einzuschmeicheln. »Hallo, Dr. Keller«, sagte er fröhlich, »was für eine angenehme Überraschung, Ihre Stimme zu hören. Was kann ich für Sie tun?«
»Steve«, begann George vorsichtig, »es ist wirklich nur eine ganze Kleinigkeit. Haben Sie schon mal etwas von der RX-80-Sache gehört?« »Sie meinen den Taylor-Filter?« fragte der Wissenschaftler, eifrig bemüht, mit neuesten Kenntnissen zu glänzen. »Richtig, und könnten Sie einem Laien wie mir erklären was dieses Ding kann?« »Aber gerne. Wir benutzen den Filter bei Wettersatelliten, um schärfere Bilder zu bekommen, damit wir Leute wie Sie davor bewahren, ohne Schirm im Regen zu stehen.« »Das klingt recht harmlos«, erwiderte George. »Wir haben uns hier im State Department nämlich gewundert warum ihr das Ding nicht freigebt. Hat es vielleicht irgendeine militärische Redeutung?«
»Na ja«, antwortete Webster, »das kann man von fast allem sagen. Es hängt davon ab, wie man es einsetzt. Theoretisch kann ein klares Satellitenbild dabei helfen eine Rakete genauer ins Ziel zu bringen.« »Und was habt ihr da drüben mit diesem Ding vor?« »Hören Sie, Dr. Keller, ich stehe praktisch nur eine Stufe höher als die Rüroboten. Aber wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen, es hängt wahrscheinlich davon ab wie das State Department entscheidet.« »Sie meinen Kissinger?« »Wer denn sonst?«
»Danke, Steve. Übrigens, spielen Sie Tennis?« »Ein bißchen«, erwiderte er eifrig. »Ich rufe Sie nächste Woche an, und vielleicht schlagen wir mal ein paar Bälle.«

Diesmal lud George Yakushkin zum Essen ein. Er wählte die >Cantina d'Italia<, ein anderes elegantes Restaurant Washingtons, das von den Russen für Entspannungsessen favorisiert wurde. Sobald sie bestellt hatten, kam er zur Sache.
»Dimitri, ich habe mich mal im Wirtschaftsressort umgehört, und es sieht so aus, als könnten wir, was den kleinen Filter angeht, das Ersuchen Ihrer Regierung bald positiv entscheiden.«
»Das freut mich aber sehr«, sagte der junge Diplomat und strahlte. »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar. Und wenn ich mich irgendwie revanchieren kann...«
George versuchte auf unverdächtige Weise festzustellen, ob andere Gäste sie hören konnten.
Aber Yakushkin wußte, was ihm auf der Seele lag, und sagte sogleich: »Sie würden Ihre Geburtsstadt nicht wiedererkennen, George. In Budapest gibt es jetzt moderne Wolkenkratzer, modernste Krankenhäuser mit jeder Art von technischer Ausrüstung und den neuesten Behandlungsmethoden ...«
»Den besten?«
»Ich möchte wetten, es gibt dort alle Mittel, die es auch im Westen gibt. Stellen Sie mich ruhig auf die Probe.« Er hatte es George leichtgemacht, der sich natürlich die Namen der Medikamente gemerkt hatte. »Was ist zum Beispiel mit Adriamycin, Cisplatin und Zytoxem?« »Die sind selbstverständlich verfügbar, wenn das notwendig ist.« »Sehr beeindruckend«, sagte George. Und beide Spieler wußten, es war Zeit, das Thema zu wechseln.

In seiner Eigenschaft als Assistent des Außenministers für osteuropäische Angelegenheiten bereitete George politische Empfehlungen vor, die mit der politischen Philosophie seines Vorgesetzten übereinzustimmen hatten. George verfaßte sie selbst und gab sie am Ende jeder Woche an Kissinger weiter.
Inzwischen hatte er so viel Erfahrung darin, daß er sogar Henrys eigenwillige Ausdrücke verwandte. An jenem Freitag enthielt der Stapel von Anweisungen an verschiedene Ressorts und Büros eine kurze Notiz an einen mittleren Beamten des Wirtschaftsministeriums: »Es scheint nicht mehr erforderlich, den Verkauf von Taylor BX-80 zu untersagen. Der militärische Wert ist minimal. Man sollte es ihnen verkaufen und daran verdienen, bevor sie es stehlen. Ihr HAK.«

George unterrichtete den Außenminister über die einzelnen Vorgänge, die er ihm vorlegte. Es handelte sich zum größten Teil um politische Direktiven und Mitteilungen an verschiedene Planungsgruppen, um sicherzustellen, daß man an den jeweiligen Themen weiterarbeitete.
Dann gab es noch ein paar andere Sachen, so eine Notiz an das Verteidigungsministerium über Sicherheitsvorkehrungen für eine bevorstehende Waffenhandelsmesse und eine Notiz an das Wirtschaftsministerium über ein harmloses Kamerateil, das die Sowjets kaufen wollten.
»Bei wem hast du dich versichert, daß das Ding wirklich harmlos ist?« fragte Kissinger. »Ach, bei so einem M.I.T.-Spezialisten im Wirtschaftsministerium, heißt Webster«, erwiderte George gleichgültig. »Ich glaube nicht, daß ich ihn kenne. Ist er neu?«
George nickte. »Aber ich habe ihn abgeklopft. Offensichtlich weiß niemand mehr über diesen Filter als er.«
»Meinst Du nicht, ich sollte kurz selbst mit ihm reden?« George war am Rande der Verzweiflung. »Oh... ich glaube,
in diesem Fall ist das nicht nötig.«
»Ich nehme an, du hast recht. Du bist immer sehr gründlich, George. Okay, geh nach Hause, ich mach das hier fertig.«
»Danke, Henry.«
Sein Vorgesetzter sah auf. »Schönes Wochenende, George, und arbeit nicht zu schwer.«

Henry Kissinger verbrachte noch zweieinhalb Stunden an seinem Schreibtisch und gab fünfündsechzig verschiedene Direktiven heraus, darunter alles das, was George ihm gegeben hatte.