29. Andrew Eliots Tagebuch 5. Juli 1976

Hier in Maine bekommen wir die >New York Times< mit einem Tag Verspätung. Deshalb habe ich erst heute von der furchtbaren Sache erfahren.
Gestern abend sah man im Fernsehen, wie die israelischen Geiseln in Tel Aviv ankamen und wie begeistert sie empfangen wurden. Es gab keine Bilder von der Truppe, die diese unglaubliche Rettungsaktion durchgeführt hat, denn das ist natürlich eine streng geheime Einheit, die nicht fotografiert werden darf. Da der Juli mein Monat mit den Kindern ist, war ich gerade mit den Vorbereitungen eines Feuerwerks beschäftigt und versuchte, ganz Vater zu sein. Die ganze Sache ist so märchenhaft, daß ich nie daran gedacht hätte, ein Bekannter könnte mit dabeigewesen sein. Nicht im Traum hätte ich gedacht, daß einer der beiden getöteten Offiziere mein Freund Jason Gilbert sein könnte.
Offensichtlich war er nicht berühmt genug, als daß eines der Fernsehprogramme seinen Namen erwähnt hätte. Aber als die Armee dann sein Bild freigab, erschien es in der >Times< vorn 5. Juli. Und auf das hin rief mich Dickie Newall aus New York an, denn er wußte, daß ich die Zeitung noch nicht gesehen haben konnte.
Zuerst glaubte ich es einfach nicht. Nicht Jason, dachte ich. Ihm konnte doch einfach nichts zustoßen. Und wenn auch nur, weil er einfach grundsätzlich gut war. Ich brauchte einige Zeit, um mich zusammenzureißen, bevor ich mit den Kindern reden konnte. Ich schickte sie deshalb zum Essen ins Dorf, nahm mir das Boot und ruderte auf die Mitte des Sees hinaus. Als ich weit genug vom Ufer entfernt war, zog ich die Ruder ein und ließ mich treiben. Ich versuchte, die Wahrheit dessen zu begreifen, was ich gerade erfahren hatte.                                                      .
Am meisten traf mich, wie verdammt unfair das alles war. Denn wenn es den Allmächtigen gibt, vor dem man dereinst sein Leben auf Erden verantworten muß, dann hatte Jason mehr Berechtigung, am Leben zu bleiben, als jeder andere, den ich kenne.
Ich wollte weinen, aber es kamen keine Tranen. Deshalb saß ich nur da und versuchte, es zu begreifen, wobei ich mich fragte, was Jason wohl jetzt von mir erwarten würde.
Als ich endlich zurückgerudert war, rief ich seine Eltern auf Long Island an. Die Haushälterin sagte, sie seien am vergangenen Abend nach Israel geflogen, um am Begräbnis teilzunehmen  Dann dachte ich, ich sollte vielleicht auch hinfliegen Aber als ich fragte, wann es stattfände, sagte sie mir, es sei schon heute. Anscheinend ist es jüdischer Brauch, das Begräbnis so bald zu machen. Während ich also gedankenlos da am Telefon daherredete, wurde wahrscheinlich gerade der Sarg in die Erde gesenkt. Ich dankte der Dame und legte auf.
Als die Kinder am frühen Nachmittag zurückkamen, setzte ich mich mit Andy und Lizzy auf die Terrasse und versuchte, ihnen von meinem alten Freund zu erzählen. Vermutlich hatten sie seinen Namen schon einmal gehört, denn jeder von Harvard kennt Jason  als den großen  Sportler. Und wenn immer zwei Mitglieder unseres Jahrgangs zusammenkommen und in Erinnerungen schwelgen, kommen sie auf ihn zu sprechen   Die Kinder hörten geduldig zu, als ich ihnen von der Heldentat meines Freundes erzählte, aber ich merkte, er war für sie genauso unwirklich wie ein Film mit John Wayne.
Ich versuchte, ihnen klarzumachen, daß er sich für eine gute Sache geopfert hatte. Es war ihnen aber ziemlich gleichgültig. Ich erklärte ihnen auch, daß es in diesem Land auch so war vor Vietnam. Die Menschen hätten für ihre moralischen Prinzipien gekämpft. Und dann versuchte ich, es noch deutlicher zu machen, indem ich sagte, aus dem gleichen Grund hätten auch unsere eigenen Vorfahren
1776 gegen die Briten gekämpft.
Andy schätzt es nicht, wenn ich von so etwas rede. Eigentlich wollte er nichts von meiner ganzen Predigt hören. Er sagte, ich solle doch endlich begreifen, daß die Menschheit ganz aufhören müsse, Kriege zu führen. Daß es überhaupt keine Art von Gewalt gebe, die sich rechtfertigen ließe. Okay, ich wollte ihn ja gar nicht überzeugen. Ich stellte mir vor, daß das nur eine Phase sei, durch die er gerade ging. Und was, zum Teufel, weiß ein verwöhnter Teenager denn überhaupt schon von moralischen Prinzipien? Sogar Lizzy wurde ein wenig ungeduldig. Deshalb beendete ich das Gespräch und verkündete, ich führe jetzt ins Dorf, um noch Feuerwerkskörper zu kaufen.
Das weckte plötzlich Andys Interesse. Er fragte, ob wir denn den 4. Juli zu einem zweitägigen Feiertag machen würden. Ich erwiderte, es gebe einen besonderen Anlaß. Wir würden heute abend zum Gedächtnis von Jason Gilbert ein paar Raketen abschießen.

George Keller verbrachte den ersten Monat als Sicherheitsberater des Präsidenten sozusagen in der Luft. Er begleitete Präsident Ford und Außenminister Kissinger — mit einer Herde Journalisten — auf Reisen nach Peking, Indonesien und die Philippinen. Cathy wußte natürlich, daß man auf derartige Reisen die Ehefrau nicht mitnehmen konnte, weshalb sie weiter ihre Arbeit im Verbraucherverband tat und die Junggesellenspuren aus Georges Stadthaus entfernte.
Sobald er zurück war, packte ihn Kissinger schon wieder in ein Flugzeug der Luftwaffe, um nach Rußland zu fliegen und dort einen letzten verzweifelten Versuch zu unternehmen, die SALT-Verhandlungen zu retten. Während ihrer Abwesenheit verstärkten sich die Angriffe des Kongresses auf Kissinger. Immer empfindlich gegenüber öffentlicher Kritik, war der Außenminister ziemlich verzweifelt. Eines Tages hörte George, wie Kissinger über das abhörsichere Telefon in der amerikanischen Botschaft in Moskau mit Washington sprach: »Herr Präsident, mit allem Respekt erlaube ich mir festzustellen, wenn ich so sehr das Vertrauen meiner Landsleute verloren habe, dann bin ich bereit, meinen Rücktritt einzureichen.«
George hielt den Atem an und fragte sich, wie Gerald Ford wohl auf Henrys neuerliches theatralisches Angebot zurückzutreten reagieren würde. Eines Tages, dachte er, werden sie auf den Bluff nicht mehr hereinfallen, und er ist draußen.
Und jemand anderer wird zum Außenminister ernannt werden.
Ich vielleicht.
Ab Februar konzentrierte man sich in Washington mehr und mehr auf die Innenpolitik. Für Gerald Ford bedeutete das, sich um die Gunst der Öffentlichkeit zu bemühen, der bevorstehenden Wahlen im November wegen, und gleichzeitig, um Ronald Reagans drohende Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner zu verhindern.
George hatte ebenfalls ein innenpolitisches, ja ein häusliches Problem. Cathy wollte eine Familie gründen. Während er meinte, sie hätten dazu noch viel Zeit, konterte sie damit, sie würde nicht jünger werden. »Hast du keine Lust, Vater?« neckte sie ihn. »Ich wäre ein miserabler Vater. Ich bin viel zu egoistisch, um meine Zeit mit einem Kind zu verbringen.« »Aha, dann hast du also auch schon daran gedacht.« »Ja, ein bißchen.« In Wirklichkeit hatte er mehr als nur ein wenig darüber nachgedacht. Seitdem sie verheiratet waren, war ihm klar, daß Cathy gerne Mutter werden wollte. Alle ihre Freunde
hatten Kinder. Sogar Andrew Eliot, der spaßhaft angemerkt hatte: »Keller, du solltest es ausprobieren. Ich meine, wenn ich das kann, dann kann es jeder.«
Aber irgend etwas hielt ihn davon ab. Cathy spürte sein Unbehagen und glaubte, es hinge mit seinem gestörten Verhältnis zu seinem Vater zusammen. Deshalb versuchte sie, ihn davon zu überzeugen, daß er sein eigenes Kind höchstens übertrieben lieben würde. Bis zu einem gewissen Grad halte sie recht. Aber das war nur ein Teil des Problems. Tief in ihm hatte er das wütende Gefühl, er hätte zu viel Schuld auf sich geladen, um es zu verdienen, Vater zu sein.

Kissinger und George waren bei der zweiten öffentlichen Debatte zwischen Präsident Ford und seinem demokratischen  Gegner,  Jimmy Carter,  am  6. Oktober   1976 dabei. Sie zuckten zusammen, als Ford mit seiner unüberlegten Bemerkung herauskam, Osteuropa stehe »nicht unter sowjetischer Vorherrschaft«. Henry beugte sich zu George und flüsterte ironisch: »Sehr gute Vorarbeit, Dr. Keller.« George schüttelte den Kopf. Als die Debatte beendet war, fragte er Kissinger: »Was meinst du?« Der Außenminister erwiderte: »Falls es in Polen nicht morgen eine Revolution gibt, sind wir alle arbeitslos.«

Kissinger sollte recht behalten. Am Wahltag schickten die Wähler Jimmy Carter ins Weiße Haus und Gerald Ford auf die Golfplätze von Palm Springs. Washington wurde zu einer Stadt der Demokraten, zumindest für die nächsten vier Jahre. Und wer wie George Keller so eng mit der republikanischen Sache verbunden war, für den gab es dort keinen Platz mehr. Es war eine Ironie des Schicksals, daß dann Georges erster Förderer in Harvard, Zbigniew Brzezinski, sein Amt übernahm (er fragte sich bei dieser Gelegenheit, ob er nicht auf das falsche Pferd gesetzt hatte). Heimlich freute sich Cathy darüber, denn sie haßte ihre Geburtsstadt, und sie war auf die Geliebte ihres Mannes, auf die Politik, eifersüchtig.
Nach anfänglicher Enttäuschung sah sich George nach einer neuen Beschäftigung um. Er schlug die Angebote einiger Universitäten aus, Politikwissenschaften zu lehren, und auch die einiger Verlage, ein Buch über seine Erfahrungen im Weißen Haus zu schreiben. Was ihn anging, so waren diese noch lange nicht vorüber. Statt dessen entschloß er sich, Berater für internationalen Handel bei der mächtigen Investitionsgesellschaft Pierson Hancock in New York zu werden. Das Gehalt übertraf seine kühnsten Träume. Scherzhaft meinte er zu Cathy: »Jetzt bin ich schlimmer als ein Kapitalist. Ich bin ein Plutokrat.« Sie lächelte und dachte, wäre es nicht schön, du würdest auch noch Vater werden? Und mit den Gedanken an ein Kind überredete sie ihren Mann, aufs Land zu ziehen. George stimmte schließlich zu, und sie kauften ein Haus im Tudor-Stil in Darien, Connecticut. Das bedeutete, er brauchte täglich eine Menge Zeit, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu fahren, aber wenigstens konnte er, bis er in sein Büro kam, bereits genauestens die Zeitungen studieren, um zu erfahren, was in der Welt geschah, deren Lauf er nicht mehr mitbestimmte.

Zwei Jahre nach ihrem Wegzug aus Washington hatte er mehr Geld, als er ausgeben konnte. Und seine Frau hatte einen ebensolchen Überfluß an unausgefüllter Zeit. Obwohl George sie dazu drängte, sich eine Stelle in einer New Yorker Rechtsanwaltskanzlei zu suchen, bemühte sie sich nicht um eine Zulassung für New York. Statt dessen bewarb sie sich in Connecticut und nahm eine Dozentenstelle an der Bridgeport University Law School an, wo sie einen Tag in der Woche arbeitete.
George tat so, als ob er nicht begriff, warum sie zu Hause bleiben wollte. Und zu Cathys Kummer kam noch ihre wachsende Verbitterung darüber, daß er ihr nicht glaubte, daß sie wirklich die Pille nahm. Dieses fehlende Vertrauen ist einer guten Ehe kaum zuträglich, weshalb die ihre auch schnell sehr unglücklich wurde.
George spürte ihre zunehmende Unzufriedenheit, und, statt sich damit auseinanderzusetzen, führte er sein Leben bewußt so, daß er die Probleme verdrängen konnte. Er arbeitete abends immer länger und kam immer betrunkener nach Hause. Die New-Haven-Eisenbahn mochte zwar langsam auseinanderfallen, aber der Scotch im Clubwagen hielt so manchen der Pendler zusammen. Zumindest schien es George so.

Es schien Cathy, daß ihr Leben in einem Vorort, ohne Kinder zu haben, sie verdummen ließ. Alle ihre gleichaltrigen Nachbarn waren voll mit ihrem Nachwuchs beschäftigt, und beim Mittagessen wurde kaum über etwas anderes geredet. Deshalb kam sie sich zweifach isoliert vor. Eine Nicht-Mutter unter Müttern, ihrem Mann mehr und mehr entfremdet.
»Bist du eigentlich glücklich, George?« fragte sie ihn eines Abends, als sie ihn mit dem Auto vom Bahnhof abholte. »Was soll denn diese Frage?« fragte er nuschelnd. »Ich meine, hast du es nicht satt, so zu tun, als wäre mit uns alles in Ordnung? Findest du es nicht langweilig, jeden Tag nur meinetwegen so lange in der Bahn zu sitzen?« »Ganz und gar nicht. Ich kann eine Menge arbeiten im Zug...« »Ach komm, George, so betrunken bist du auch wieder nicht. Warum reden wir nicht endlich über unsere sogenannte Ehe?« »Was gibt es denn da zu reden? Willst du dich scheiden lassen? Das kannst du haben. Du siehst immer noch gut aus. Einen fabrikneuen Mann findest du bestimmt schnell.« Cathy war zu fassungslos, um wütend zu sein. Sie bog in den Parkplatz eines Einkaufszentrums, um während dieses entscheidenden Gesprächs nicht gegen einen Baum zu fahren. Und dann wandte sie sich ihm zu und fragte ihn direkt: »Das ist es also jetzt, George? Es ist vorbei?« Er sah sie an, und mit dem bei ihm so seltenen Ausdruck echten Mitgefühls sagte er: »Weißt du, ich will dich wirklich nicht unglücklich machen.« »Ich dachte, ich würde dich unglücklich machen.« »Nein, Cathy. Nein, nein, nein.«
»Was ist es denn dann, George? Was ist mit uns passiert?« Er starrte einen Augenblick lang geradeaus, verbarg dann das Gesicht in den Händen und sagte leise: »Mein Leben ist eine einzige Scheiße.« »Und warum?« fragte sie ruhig.
»In jeder Beziehung. Ich lasse es an dir aus, daß ich mit meiner Arbeit unglücklich bin. Es ist wie eine Tretmühle. Ich komme nicht weiter. Ich bin zweiundvierzig und schon ausgebrannt.« »Das stimmt nicht, George«, sagte sie ehrlich. »Du bist fabelhaft. Du hast deine besten Jahre noch vor dir.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das kannst du mir nicht weismachen. Irgendwo habe ich meine Chance verpaßt. Es wird ewig so weitergehen, wie es jetzt ist.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »George, wir brauchen keine Scheidung, sondern zum zweiten Mal Flitterwochen.«
Er starrte sie an, und es war ihm klar, was er tief in seinem Innern schon immer gewußt hatte. Sie war das Beste, was ihm je widerfahren war.
»Glaubst du denn, wir haben noch eine Chance?« »George, wie ihr an der Wall Street sagt«, sagte sie lächelnd, »die Aktien standen noch nie so gut. Alles, was du brauchst, ist eine kleine Atempause, damit du wieder Aufwind bekommst.« »Atempause? Wovon?« »Von deinem unstillbaren und zur Zeit so frustrierten Ehrgeiz, mein Lieber.«

Die große Europareise der Kellers waren nicht ganz die Ferien, die Cathy gewollt hatte. Aber sie genügte, um wieder Hoffnungen für die Zukunft ihrer Beziehung entstehen zu lassen. Vor allem brachte Cathy ihrem Mann bei, das Leben zu genießen und mit dem zufrieden zu sein, was er schon erreicht hatte. Denn in jedem der Länder, die sie besuchten, wurden sie von hohen Regierungsbeamten fürstlich empfangen. Und es tat Georges Selbstbewußtsein außerordentlich gut, zu sehen, daß er immer noch respektiert wurde, obwohl er nicht mehr im Amt war.
Es zeigte sich sogar, daß seine politischen Antennen feinfühliger waren als Je zuvor, in London aßen er und Cathy mit der Abgeordneten Mrs. Margaret Thatcher zu Abend, die die Konservative Partei in den nächsten Wahlen anführen sollte. Sie machte George Komplimente über seine geopolitischen Analysen und Cathy über ihren Hut. Das gleiche geschah in Deutschland und Frankreich, wo der neuernannte Außenminister Frangois-Poncet sie in seinem eigenen Haus bewirtete — eine seltene Ehre in diesem Land.

Ihr letzter Aufenthalt war Brüssel. Während Cathy noch Einkäufe tätigte, aß George mit seinem alten Kollegen vom Nationalen Sicherheitsrat, Alexander Haig, zu Mittag. Haig war jetzt Oberster Alliierter Befehlshaber der NATO in Europa. Mit seiner gewohnten Offenheit äußerte er sich über den gegenwärtigen Bewohner des Weißen Hauses.
»Carter bringt wirklich alles durcheinander. Seine Außenpolitik ist eine Katastrophe. Ein Experiment in Unterwürfigkeit. Wir sind eine Supermacht und müssen uns auch so verhalten. Nur so werden uns die Sowjets respektieren. Ich sage Ihnen, George, 1980 wird Jimmy Carter nur noch eine lahme Ente sein.«
»Wen werden wir denn Ihrer Meinung nach gegen ihn aufstellen?«
Haig grinste verschlagen: »Ich habe mir überlegt, ich könnte es selbst ja mal versuchen.«
»Fabelhaft«, erwiderte George begeistert. »Ich werde Ihnen dabei helfen, so gut ich kann.« »Danke. Und ich sage Ihnen heute, falls ich es schaffe dann sitzt mein Außenminister heute hier am Tisch.« »Das ehrt mich sehr.« »Kommen Sie, Keller«, sagte Haig, »können Sie mir einen besseren nennen?« »Offen gestanden, nein«, antwortete George ausgelassen. Er hätte ohne Flugzeug nach Hause fliegen können.

In den sechziger Jahren mochte Danny Rossi ein allen bekannter Name gewesen sein, Ende der siebziger Jahre war er ein allen bekanntes Gesicht. Sein charismatisches Äußeres war in vielen Millionen Häusern regelmäßig auf den Bildschirmen zu bewundern, dank einer außerordentlich erfolgreichen - und prämierten - Reihe musikalischer Dokumentationen im öffentlichen Fernsehen. Zuerst gab es Programme über die Instrumente des Orchesters. Auf sie folgte eine Geschichte der Symphonie, und zu beiden Serien gab es natürlich auch ein Buch, wodurch Danny neben allem anderen auch noch Bestsellerautor wurde.

»Maria, ich muß mit Ihnen ernsthaft über Danny reden.« Sie saßen in Terry Morans Büro in der Fernsehstation. Innerhalb der drei Jahre beim Fernsehen war Maria vom Regieassistenten zum regulären Regisseur aufgestiegen. Und es gingen Gerüchte, der Direktor würde sie bald zum Programmdirektor machen. Freitag nachmittags tranken sie regelmäßig ein Glas Sherry, besprachen dabei die Probleme der vergangenen Woche und dachten sich aus, was sie alles täten, wenn sie mehr Geld zur Verfügung hätten.
»Ich meine, ich habe ein Recht, das zu sagen«, fuhr Terry fort, »denn Sie sind jetzt keine Anfängerin mehr. Und um es ganz klar auszudrücken, ich finde, Danny ist uns untreu. Er verrät Philadelphia, finde ich, von uns hier ganz abgesehen. Ich kann ja verstehen, daß er die erste Serie in Los Angeles hat aufnehmen lassen. Er dirigiert da ja auch die Philharmoniker, und schließlich gibt es in Hollywood ebenfalls eine ganze Menge Fernsehtalente. Aber warum zum Teufel mußte er denn seine Geschichte der Symphonie in New York produzieren?«
»Terry, Sie können sich nicht vorstellen, welchen Druck man dort auf ihn ausgeübt hat. Außerdem glaube ich, daß Lenny Bernstein da mit im Bunde war.«
Moran schlug auf den Tisch. »Verdammt noch mal, unser Orchester, jeder einzelne Musiker ist genauso gut, wenn nicht sogar besser. Diese Serie hat dem Sender ein Vermögen eingespielt, und wir könnten so etwas auch ganz gut brauchen. Vor allem aber könnte sich Danny wirklich der Stadt gegenüber, die ihn als erste zum Dirigenten berufen hat, etwas mehr verpflichtet fühlen. Finden Sie nicht?« »Terry, das ist wirklich nicht fair, Sie bringen mich in eine peinliche Lage.«
»Maria, Sie kennen mich lange genug, um zu wissen, daß ich mit offenen Karten spiele. Ich spreche hier nicht mit
Danny Rossis Frau, sondern ich beklage mich hier gegenüber meiner Kollegin. Objektiv gesehen, finden Sie nicht auch, daß er sein nächstes Fernsehprojekt hier realisieren sollte?« »Objektiv gesehen, ja. Aber ich ...« Sie wurde mehr und mehr befangen und brachte den Satz nicht zu Ende. Obwohl sie in den vergangenen Monaten von Terry besonders herzlich behandelt und unterstützt worden war, empfand sie noch immer eine Art atavistischer Treue zu dem Mann, mit dem sie dem Gesetz nach verheiratet war. »Den vielen Interviews in den Zeitungen und Zeitschriften entnehme ich, daß Sie und er die wichtigen beruflichen Entscheidungen zusammen treffen.« Moran zögerte und fügte dann hinzu: »Oder stimmt das nicht, was da gedruckt wurde?«
Maria schwieg und fragte sich, was er wohl sonst noch in den Zeitungen gelesen hatte. Gelegentlich war sie schon so weit gewesen, Terry von ihren häuslichen Problemen zu erzählen, auch deshalb, weil auch er schon von seinen privaten Verhältnissen gesprochen hatte. Sie wußte von seiner Scheidung, über die seine stockkatholischen Eltern entsetzt gewesen waren, und wußte auch, wie sehr er seine Kinder vermißte.
Oft bemerkte sie bei den langen Gesprächen, daß sie beide ungern nach Hanse gingen, weil keiner von ihnen ein richtiges Zuhause hatte. Dennoch war sie zu scheu gewesen, dieses Thema anzuschneiden, auch da sie annahm - oder gar hoffte —, Terry würde das Gespräch früher oder später selbst darauf bringen. Und jetzt waren sie den wirklichen privaten Einzelheiten ihres eigenen Lebens schon gefährlich nahe.
»Warum so schweigsam?« fragte er liebenswürdig. »Oder denken Sie darüber nach, wie uns Mr. Rossi am besten ins Netz geht?« »Offen gesagt«, begann Maria, »zögere ich etwas, die Sache bei Danny anzusprechen, denn damit überschreite ich die Demarkationslinie zwischen der Arbeit von uns beiden und ... unserer Ehe.«
Sie zögerte und fügte plötzlich hinzu: »Eigentlich haben Sie recht, was seine Loyalität zu Philadelphia angeht. Ich werde ihm vorschlagen, mit uns eine Fernsehserie zu produzieren, wenn wir ein brauchbares Konzept dafür haben.« »Maria, Sie sind es, die hier die kreativen Ideen entwickelt. Was könnte Danny Rossi als nächstes für das Fernsehen machen?«
Sie wußte es instinktiv. »Also, wenn ich das so sagen darf, er ist einer der besten Pianisten seiner Generation ...«
»Der beste ...«
»Jedenfalls glaube ich, er wäre der Beste, um mit ihm die Geschichte der Klaviermusik zu machen.«
»>Vom Cembalo zum Synthesizer< oder so ähnlich«, erwiderte Terry, dem die Idee gefiel. »Ich finde das großartig. Wenn Sie ihn dafür gewinnen können, dann quetsche ich jeden  Pfennig aus  unserem  Budget heraus,  damit er die besten Produktionsbedingungen bekommt, die dieser Sender je auf die Beine gestellt hat.« Maria nickte und stand auf. »Natürlich wird er es ablehnen«, sagte sie ruhig.
»Auch wenn er das tut, bleibe ich Ihnen dennoch sehr verbunden.«

Sie war überrascht, daß Danny die Idee aufregend fand. »Ich habe nur zwei eiserne Bedingungen«, sagte er. »Die Aufzeichnungen müssen so festgesetzt werden, daß sie auf die Tage fallen, an denen ich sowieso in Philadelphia bin.« »Selbstverständlich«, stimmte sie zu. »Und zweitens mußt du Regie führen.« »Warum ich denn?« fragte sie erstaunt. »Ist das nicht etwas unbequem?« »Hör mal«, erwiderte er, »wenn wir auf dem Niveau der anderen Serien bleiben wollen, brauche ich das beste Studioteam überhaupt. Und du bist ohne Frage der beste Regisseur, den die haben.« »Hast du etwa die Kritiken gelesen?« »Nein, ich habe mir spät nachts ein paar von deinen Videobändern angesehen. Ich finde deine Sachen fabelhaft.« »Also gut, Rossi«, antwortete sie und konnte kaum ihr Entzücken verbergen. »Aber ich warne dich — wenn du bei mir den verrückten Künstler spielst, dann nehmen wir dich nur von deiner falschen Seite her auf.« »Okay, Boß.« Er lächelte und fügte hinzu: »Weißt du wir könnten für die Serie mit dem Slogan >Von dem Team, das
Arcadia produziert hat< Reklame machen.«

Maria lag lange wach und überlegte, was Danny sich wohl wirklich dachte. Sie hatte ihren Vorschlag nicht sehr überzeugend gefunden. Obwohl die Studios jetzt ganz gut ausgerüstet waren, konnte man sie eigentlich mit denen in New York   und   Los  Angeles  nicht vergleichen.   Und  war  die Bemerkung über >Arcadia< ein beiläufiger Witz oder ernst gemeint? Damals in Harvard waren sie so glücklich gewesen, weil ihre Zusammenarbeit von der Leidenschaft beflügelt war.

»Wie schafft er es nur?« rief Terry Moran erstaunt, als sie zusammen in der Bildregie saßen.
»Na ja, er kennt das Klavierrepertoire eben in- und auswendig«, sagte Maria stolz, »und, wie Sie sehen, treibt er sich gern selbst an.«
Auch sie hatte Danny nicht überreden können, für jede der dreizehn Sendungen einen ganzen Tag anzusetzen. Zum Erstaunen der Studio-Crew, die noch nie einen solchen Kraftakt erlebt hatte, bestand er darauf, drei Stunden Programm in einem Tag und einer Nacht aufzuzeichnen. »Mein Gott, wo nimmt er bloß die Kraft her?« fragte der Studioingenieur. »Ich sitze hier an der Bildkontrolle und bin am Schluß des Tages total erledigt, und er spielt und redet da unten noch, als ob er Rumpelstilzchen wäre.« »Ja«, stimmte Maria nachdenklich zu, »er hat wirklich etwas von einem Rumpelstilzchen.« Aber das war nicht alles. Es gab da auch noch Dr. Whitneys Zaubertrank. Eine wöchentliche Spritze reichte Danny schon längst nicht mehr. Der Arzt halte ihn deshalb zusätzlich mit Kapseln versorgt, die unter anderem Methadrine enthielten, damit er über die Runden kam.
Die zweite Folge der Serie, eine Stunde über Chopin, war musikalisch einwandfrei. Mit der für ihn typischen Bravour hatte er sich den schwersten Teil bis zum Schluß aufgehoben: eine Einführung in den Tastenakrobaten Franz Liszt. Danny aß in der Garderobe ein Sandwich, als Maria den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Mr. Rossi«, sagte sie, »ich glaube nicht, daß Sie sich noch selbst übertreffen können. Warum lassen wir es nicht für heule gut sein und machen Liszt beim nächsten Mal?«
»Kommt nicht in Frage, Frau Regisseur. Ich möchte diese Aufzeichnung unbedingt heute noch zu Ende bringen.«
»Bist du denn gar nicht müde?« »Ein bißchen«, gestand er. »Aber wenn das rote Licht von Kamera i angeht, dann werde ich wieder auf Touren sein.«
»Ich wette, du würdest Liszt jetzt gerne hier haben, Danny.« Sie lächelte. »Damit du sein Gesicht sehen kannst, wenn du ihn mit seinen eigenen Kadenzen schlägst.« Er stand auf, ging zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Wir sehen uns in fünfzehn Minuten im Studio.« Danny duschte, zog sich um, überprüfte sein Make-up und erschien pünktlich um acht Uhr dreißig für die dritte und letzte Aufzeichnung des Tages im Studio.
Die erste halbe Stunde klappte alles mit der Perfektion eines Metronoms. Danny schilderte Liszts Jugend in Ungarn, wie der Vater schon früh auf den Jungen Druck ausübte, sein Debüt mit neun Jahren, seine Ausbildung unter anderem bei Salieri - Mozarts Verhängnis - und Czerny - Beethovens bedeutendstem Schüler -, der die Begabung des Jungen so bewunderte, daß er eine Bezahlung für seine Stunden ablehnte.
In der Bildregie sah Maria Dannys Gesicht auf dem Monitor und war sicher, daß ihr Mann in diesem Moment an seinen geliebten Lehrer, Dr. Landau, dachte. Und so ging es weiter mit der farbigen Schilderung, wie Liszt, der große Pianist, zuerst Paris eroberte und dann London - und das alles, bevor er sechzehn war. »Und zu dieser Zeit«, kommentierte Danny, »spürte der junge Musiker zum ersten Mal die Anstrengung seiner endlosen Reisen und der vielen Konzerte. Man ksönnte sagen, er war ein Jet-setter, noch bevor die Düsenflugzeuge erfunden waren. Es hatte ja kaum das Zeitalter der Eisenbahn begonnen. Und Liszt mußte dafür bezahlen. Als er mit seinem Vater zur Erholung ans Meer fuhr, bekam der ältere Liszt, der ebenfalls vorn Reisen erschöpft war, den Typhus und starb.
Seine letzten Worte waren >Je crains pour toi les femmes<, was etwa heißt >Ich mache mir Sorgen darüber, was die Frauen deiner Musik antun werden .. .<«
Maria starrte angestrengt auf den Monitor und spürte ihr Herz plötzlich schneller schlagen. Meinte er sie damit? Sagte er hier etwas in der Öffentlichkeit, was er sich privat nicht zu sagen traute? Daß er seine Jugend mit leeren Affären verschwendet hatte und daß er sich endlich ändern würde - endlich erwachsen würde? Jetzt begriff sie, warum er sich dieses Programm bis zum Schluß aufgehoben hatte. Er wußte, daß er — vielleicht das erste Mal in seinem Leben - die ganze Wahrheit sagen mußte.
Aus technischen Gründen wurde unterbrochen. Bänder mußten gewechselt werden und ein oder zwei undeutlich ausgesprochene Sätze waren zu wiederholen. Dadurch war es bereits weit nach zehn Uhr, als sie zum schwierigsten Teil des Programms kamen. Danny erläuterte, daß Liszt absichtlich so schwierige Sachen komponiert hätte, damit nur er selbst sie spielen konnte, und daß er seine Kompositionen vor der Veröffentlichung sogar überarbeiten und vereinfachen mußte, damit gewöhnliche Sterbliche sie bewältigen konnten.
Danny hatte den teuflischen Einfall gehabt, an dieser Stelle etwas aus den Originalmanuskripten zu spielen und zu demonstrieren, wie es geklungen haben mochte, wenn der große Mann selbst am Klavier gesessen hatte. Maria wußte, was ihrem Mann da bevorstand, weshalb sie eine zehnminütige Pause ansetzte, während der die Crew noch einmal die Technik überprüfte. Sie wollte jeden technischen Fehler vermeiden, damit die Aufzeichnung nicht wegen eines technischen Fehlers wiederholt werden mußte, wenn Danny seine Sache perfekt machte. Sie wollte ihm auch Gelegenheit geben, Luft zu holen, damit er zu dieser späten Stunde nochmals Kraft schöpfen konnte. Schließlich ging es weiter.
»Band läuft, Danny. Wann immer du soweit bist«, kam die Stimme seiner Frau aus dem Lautsprecher im Studio. Sie fingen mit einer mittleren Einstellung an, der Pianist , was er zu tun gedachte. Als er sich an den Flügel setzte, fuhr die Kamera langsam zurück in eine Totale In den dramatischsten Augenblicken sollte sie über seine Schulter hinweg eine Nahaufnahme seiner Hände machen Um 10.45 Uhr nahm Daniel Rossi Franz Liszt in Angriff. Und er wurde zurückgeschlagen.
Als erstes Beispiel hatte er den Anfang des Soloparts im Es-Dur-Klavierkonzert gewählt. Als er die Tastatur entlangraste, konnte die Linke aus irgendeinem Grund — er hielt es für Erschöpfung— das Tempo nicht mithalten.
Nach drei mißglückten Aufzeichnungen rief Maria über den Lautsprecher: »Du, Danny, es ist schon nach elf. Warum hörst du nicht auf und wir machen morgen früh weiter wenn du wieder frisch bist.«
»Nein, nein«, protestierte er, »ich will die verdammte Serie heute abend zu Ende bringen. Eine kurze Pause, bitte «
»Fünf Minuten Pause, für alle.«
Danny ging in die Garderobe und holte sich sofort eine Kapsel von Dr. Whitneys Megavilammen aus seinem Toilettebeutel. Dann setzte er sich, sah sich von einem Dutzend Glühbirnen im Spiegel angestrahlt und atmete tief durch um sich zu entspannen. Und da sah er es. Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand zitterten wie von selbst.
Erst hielt er es nur für eine Art Reflex, für den Zwang, sich den verdammten Fingersatz von  Liszt einzubauen. Aber selbst, als er es ganz bewußt abstellen wollte, ging das Zittern weiter - er konnte es nur mit seiner anderen Hand stoppen Er versuchte sich einzureden, das sei nur die Erschöpfung, Immerhin hatte er zehn Stunden hintereinander gearbeitet. Aber als er wieder im Studio erschien, hatte er sich selbst nicht wirklich überzeugen können. Auf dem Weg zurück aus seiner Garderobe hatte er sich in den Gedanken daran geflüchtet, wie er wenigstens durch diese Nacht käme. Falls es wirklich etwas Ernsthaftes war - und er redete sich ein, daß es das nicht war—, dann dürfte er es hier im Fernsehstudio bestimmt nicht ausgerechnet die Fernsehleute merken lassen.
»Maria«, rief er, »kann ich dich einen Moment sprechen?« Sie kam sofort. »Könnte man die Einstellung vielleicht ein bißchen ändern?« »Klar. Was willst du?«
Danny deutete mit der rechten Hand die Kamerabewegungen an. »Wie wäre es, wenn ihr nach dem Rückzoom, während ich schon spiele, herumfahrt und mich von vorne über den Flügel hinweg aufnehmt? Das wäre eine ganz schön aufregende Einstellung.« »Vielleicht«, sagte Maria, »aber von da kriegen wir deine Hände nicht. Der Witz ist doch, dich spielen zu sehen, wenn du diese schwierige Passage spielst, die nur Liszt beherrschte.«
Danny seufzte müde. »Natürlich. Ja. Du hast recht. Aber im Vertrauen gesagt, ich bin erschöpft. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe, ohne tausendmal neu ansetzen zu müssen. Bei dieser Einstellung können wir immer noch den Ton darunterlegen und das von den Übungskassetten nehmen, die ich bespielt habe.« »Aber Danny«, bat sie, »das wäre doch wirklich schade. Ich weiß, du schaffst es. Ich habe dich doch zu Hause in deinem Studio gehört. Warum verschieben wir es nicht bis morgen?« »Maria«, sagte er streng, »ich will es so. Also, jetzt hilf mir auch dabei, bitte.«
Zur Verwunderung aller hörte die Aufzeichnung mit einer Kameraeinstellung auf, die voll Dannys Gesicht zeigte. Also nicht seine Hände, und nicht, wie die Linke wieder nicht das Tempo der rechten Hand halten konnte. Niemand im Studio bemerkte diese kleine Unregelmäßigkeit. Außer Danny.