3. Daniel Rossi

Ich dacht' des Vogels Ton vom Himmel,
Der früh schon in der Erle sang;
Ich bracht' ihn heim, in seinem Nest, am Abend -
Er singt sein Lied, doch stimmt es nun nicht heiter
Denn mit ihm bracht' ich Fluß und Himmel nicht nach
Haus.
Ralph Waldo Emerson, Jahrgang 1821

Von frühester Kindheit an hatte Danny Rossi nur einen  einzigen verzweifelten Wunsch — seinem Vater zu gefallen. Und ein einziger Alptraum verfolgte ihn - das nie zu schaffen.
Zunächst glaubte er, es gäbe einen berechtigten Grund für. Rossis Gleichgültigkeit. Schließlich war Danny der schwächliche unsportliche Bruder des härtesten Fullback in der Football-Geschichte von Orange County, Kalifornien. Und solange Frank Rossi einen Touchdown nach dem anderen verbuchte und die Einkäufer der professionellen Clubs sich um ihn bemühten, war sein Dad viel zu sehr mit ihm beschäftigt, als daß er sich etwa um den jüngeren Sohn hätte
kümmern können.
Daß Danny gute Noten hatte — was bei Frank nie der Fall war —, machte überhaupt keinen Eindruck. Schließlich war Frank 1,88 Meter (einen Kopf größer als Danny), und er brauchte den Football-Platz nur zu betreten, um ein ganzes Stadion voller Menschen jubelnd aufspringen zu lassen. Was konnte der kleine, bebrillte, rothaarige Danny denn tun, um Beifall zu ernten? Wie seine Mutter fortwährend betonte, war er ein begabter Klavierspieler. Fast ein Wunderkind. Darauf wären die meisten anderen Eltern stolz
gewesen. Dr. Rossi aber war noch nicht ein einziges Mal zu einem seiner öffentlichen Auftritte gekommen. Verständlicherweise litt Danny unsäglich vor lauter Neid. Und sein Groll wurde langsam zu Haß. Frank ist kein Gott, Dad. Ich bin auch jemand. Früher oder später wirst du mich schon bemerken.
Dann aber wurde Frank als Kampfpilot in Korea abgeschossen. Dannys aufgestaute Eifersucht wandelte sich auf schmerzliche Weise zunächst in Trauer und dann in Schuldgefühle. Er kam sich irgendwie verantwortlich vor. Als ob er den Tod seines Bruders herbeigewünscht hätte. Bei der Feier, auf der der Sportplatz der Schule nach Frank benannt wurde, weinte sein Vater hemmungslos. Danny litt, als er den Mann, den er so bewunderte, so sehen mußte. Und er schwor sich, ihn irgendwie zu trösten. Wie aber konnte er seinem Vater Freude machen?

Danny auch nur üben zu hören, war Arthur Rossi schon lästig. Schließlich war der arbeitsreiche Tag eines Zahnarztes schon vom lauten Kreischen der Bohrer erfüllt. Deshalb ließ er für den ihm verbliebenen Sohn einen schallisolierten Übungsraum im Keller einbauen. Danny wußte, dies war keine Großzügigkeit, sondern sein Vater wollte nur von sei- nem Anblick und von seinem Lärm befreit werden. Dennoch war Danny entschlossen, um die Liebe seines Vaters zu
kämpfen. Und er wußte, der Sport war das einzige Mittel, ihn aus dem Keller väterlichen Mißfallens zu befreien.
Bei seiner Körpergröße gab es nur die Möglichkeit, Läufer zu werden. Er ging zum Leichtathletik-Coach und bat schüchtern um Rat.
Jeden Morgen stand er um sechs Uhr auf, zog die Turnschuhe an und schlich sich aus dem Haus, um zu trainieren. Er übertrieb es während der ersten Wochen, und seine Beine taten ihm weh und wurden immer schwerer. Aber er machte weiter. Und er hielt es geheim. Solange, bis es sich lohnen würde, Dad etwas zu sagen.
Am ersten Frühlingstag ließ der Coach die gesamte Manschaft eine Meile laufen, um zu sehen, wie fit jeder einzelne war. Danny war erstaunt, die ersten drei Runden tatsächlich nicht sehr weit hinter den guten Läufern zu liegen. Plötzlich aber wurde sein Mund trocken und seine Lungen brannten. Er wurde langsamer. Von der Stadionmitte her hörte er den Coach rufen: »Bleib dran, Rossi, nicht aufgeben.«
So erschöpft er auch war, zwang Danny Rossi sich doch, aus Furcht, auch diesem Ersatzvater zu mißfallen, durch die letzte Runde und warf sich dann erledigt ins Gras. Bevor er wieder zu Atem gekommen war, stand der Couch über ihm, die Stoppuhr in der Hand.
»Nicht schlecht, Danny. Hätte ich nicht erwartet - 5,48. Wenn du weiter trainierst, kannst du noch gut was zulegen. Mit 5,00 kannst du bei unseren Wettkämpfen durchaus Dritter werden. Geh ins Magazin und hol dir Spikes und ein Trikot.«
Weil er sein Ziel in greifbarer Nähe sah, ließ Danny zeitweise seine nachmittäglichen Klavierübungen ausfallen, um mit dem Team zu trainieren. Und das hieß dann, zehn- oder zwölfmal eine Viertelmeile, bis zur Erschöpfung. Fast nach jedem Training erbrach er sich.
Als Lohn fürs Durchhalten nominierte der Coach Danny ein paar Wochen später als dritten Läufer gegen die Valley High School. An diesem Abend erzählte Danny alles seinem Vater.
Trotz der Warnungen seines Sohnes, er würde wahrscheinlich ziemlich abgeschlagen, bestand Dr. Rossi darauf hinzukommen.
An jenem Samstagnachmittag erlebte Danny die drei glücklichsten Minuten seiner Jugend. Als die nervös tänzelnden Läufer ihren Platz auf der Aschenbahn einnahmen, sah Danny seine Eltern in der ersten Reihe sitzen.

»Los, mein Junge«, sagte sein Vater mit Wärme, »zeig ihnen, was ein Rossi ist.« Diese Worte feuerten Danny so an, daß er die Anweisungen vom Coach vergaß, die Sache langsam anzugehen und sich das Rennen einzuteilen. Statt dessen schoß er mit dem Startschuß an die Spitze und führte das Feld in die erste Kurve.
Mein Gott, dachte Dr. Rossi, der Junge ist ja ein Champion.
Scheiße, dachte der Coach, der Kerl ist verrückt, das hält der nie durch.
Nach der ersten Runde sah Danny etwas, das er bisher für unmöglich gehalten hatte - ein stolzes Lächeln, das ihm galt.
»71 Sekunden«, schrie der Coach, »zu schnell, Rossi, viel zu schnell.«
»Gut so, Junge!« rief Dr. Rossi.
Beflügelt von der väterlichen Anerkennung, triumphierte Danny auf den nächsten 400 Yards. Er führte auf der Hälfte der Distanz noch immer. Jetzt aber begannen seine Lungen zu brennen, und in der nächsten Kurve ging ihm der Sauerstoff aus. Und der Todeskampf, wie es Läufer durchaus treffend nennen, setzte ein. Er starb.
Die Gegner zogen an ihm vorbei und hatten schnell einen großen Vorsprung. Er hörte, wie sein Vater rief: »Los, Danny, zeig's ihnen.« Sie klatschten, als er endlich über die Ziellinie ging. Mitleidiger Beifall für einen hoffnungslos abgeschlagenen Gegner.
Schwindelig vor Erschöpfung, sah er zur Tribüne hinüber. Seine Mutter lächelte ihm ermutigend zu. Sein Vater aber war fort. Es war wie ein schlechter Traum.
Unerklärlicherweise war der Coach zufrieden. »Rossi, ich habe noch niemanden mit mehr Stehvermögen gesehen. Ich hab' dich mit 5,15 gestoppt. Du hast noch wirkliche Reserven.« »Nicht beim Laufen«, antwortete Danny und humpelte weg. »Ich geb's auf.«
Er wußte zu seinem Ärger, daß alle seine Mühen die Lage nur noch verschlimmert hatten. Denn der peinliche Auftritt hatte auf der Bahn des  Frank-Rossi-Sportplatzes stattgefunden.
Erniedrigt kehrte Danny zu seinem früheren Leben zurück.
Die Klaviertasten wurden das Mittel gegen alle Frustrationen. Er übte Tag und Nacht, es gab nichts anderes mehr. Seit seinem sechsten Lebensjahr hatte er Unterricht bei einer Klavierlehrerin aus dem Ort. Jetzt aber erklärte die ehrenwerte grauhaarige Dame seiner Mutter offen, sie könne dem Jungen nichts mehr beibringen, und schlug Gisela Rossi vor, ihr Sohn solle Gustav Landau vorspielen, einem früheren
Klaviervirtuosen aus Wien, der seine späten Lebensjahre als Musikdirektor des nahe gelegenen San Angelo Junior College verbrachte. Der alte Herr war beeindruckt von dem, was er da hörte, und nahm Danny als Schüler an.
»Dr. Landau hat gesagt, er sei sehr gut für sein Alter«, berichtete Gisela ihrem Mann beim Abendessen. »Er meint, Danny könnte sogar Pianist werden.«
Darauf reagierte Dr. Rossi einsilbig mit »Ach?«, was hieß, daß er sich eine Meinung dazu vorbehielt.

Dr. Landau war ein milder Lehrer, der aber Anforderungen stellte. Und Danny war der ideale Schüler. Er war nicht nur begabt, sondern auch wirklich begierig weiterzukommen. Wenn Landau sagte, er solle jeden Tag eine Stunde lang Czerny-Etüden üben, tat Danny das drei oder vier Stunden lang.
»Werde ich denn wirklich besser?« fragte er besorgt.
»Ach, Daniel, du könntest durchaus etwas weniger üben. Du bist jung. Du solltest abends mal ausgehen und deinen Spaß haben.«
Aber Danny hatte dazu keine Zeit - und er wußte auch gar nicht, was ihm Spaß machen würde. Er hatte es eilig, erwachsen zu werden. Und jeden wachen Moment, den er nicht in der Schule war, verbrachte er am Klavier.
Dr. Rossi entging es nicht, daß sein Sohn nichts für andere Menschen übrig hatte, und das beunruhigte ihn.
»Ich sage dir, Gisela, das ist ungesund. Er ist zu besessen.
Vielleicht versucht er zu kompensieren, daß er so klein ist, oder so etwas. Ein Junge in seinem Alter sollte mit Mädchen ausgehen. Frank war fast schon ein Casanova in diesem Alter.« Art Rossi machte es zu schaffen, daß sein Sohn so unmännlich war. Mrs. Rossi hingegen glaubte, wenn sich die beiden Männer nur etwas näherkämen, dann würden die Befürchtungen ihres Mannes schon verschwinden. Deshalb ließ sie sie am nächsten Abend nach dem Essen allein. Damit sie miteinander reden konnten. Ihr Mann war sichtbar mißmutig, denn es irritierte ihn, wenn er mit Danny reden mußte. »Alles in Ordnung in der Schule?« erkundigte er sich. »Nun, ja und nein«, antwortete Danny, der sich genauso unwohl fühlte wie sein Vater. Wie ein nervöser Infanterist fürchtete Dr. Rossi, in ein Minenfeld geraten zu sein. »Was ist denn los?« »Dad, in der Schule halten sie mich für nicht ganz normal. Aber es gibt viele Musiker, die wie ich sind.«
Dr. Rossi begann zu schwitzen. »Wie meinst du das, mein Junge?« »Na ja, sie sind einfach wie besessen. Ich bin das auch. Ich möchte die Musik zu meinem Leben machen.« Es entstand eine kurze Pause, da Dr. Rossi nach der passenden Antwort suchte. »Du bist mein Junge«, sagte er schließlich und wich damit einer Erklärung wirklicher Zuneigung aus. »Danke, Vater. Ich geh' jetzt runter und übe.«
Nachdem Danny gegangen war, goß sich Arthur Rossi einen Drink ein und dachte, ich sollte eigentlich dankbar sein. Eine Leidenschaft für die Musik war besser als vieles andere.
Kurz nach seinem 16. Geburtstag trat Danny zum ersten Mal als Solist mit dem Junior-College-Symphony-Orchester auf. Unter der Leitung seines Mentors spielte er Brahms schweres zweites Klavierkonzert vor einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Auch seine Eltern waren gekommen. Als Danny bleich vor Angst auf das Podium kam, sah er durch seine Brille in das helle Licht der Scheinwerfer, die ihn blendeten. Endlich am Flügel angelangt, war er wie gelähmt.
Dr. Landau kam zu ihm und flüsterte: »Keine Angst, Daniel, du kannst es.« Dannys Furcht war wie weggezaubert.

Der Applaus schien gar nicht mehr enden zu wollen. Als er sich verbeugte und sich zu seinem Lehrer wandte, um ihm die
Hand zu geben, sah Danny zu seinem Erstaunen Tränen in den Augen des alten Mannes.
Landau umarmte seinen Schüler.

»Dan, heute abend war ich wirklich stolz auf dich.« Ein Sohn, der sich so lange Zeit nach der Liebe seines Vaters gesehnt hatte, hätte eigentlich vor Glück über dieses Lob außer sich sein müssen. An diesem Abend aber hatte Daniel Rossi eine neue berauschende Erfahrung gemacht: von einer Menschenmenge angebetet zu werden.
Schon als er auf die höhere Schule kam, hatte Danny vorgehabt, in Harvard zu studieren, wo er bei Randall
Thompson, dem Chorleiter, und Walter Piston, dem großen Komponisten und Dirigenten, Kompositionsunterricht nehmen wollte. Nur deswegen plagte er sich mit Biologie, Mathematik und den anderen Fächern. Dr. Rossi hätte aus Sentimentalität seinen Sohn gern in Princeton gesehen, der Universität, die F. Scott Fitzgerald gefeiert hatte. Denn das wäre auch Franks Alma mater gewesen. Aber Danny war allen Überredungskünsten gegenüber unzugänglich. Und Arthur Rossi gab es schließlich auf. »Ich erreiche bei ihm nichts. Dann soll der Junge eben gehen, wohin er will.«
Aber die Einstellung des Zahnarztes änderte sich rasch als der fanatische Senator McCarthy 1954 sein Auge auf »dieses Kommunistengehege Harvard« warf. Ein paar Professoren weigerten sich, mit seinem Komitee zusammenzuarbeiten und über die politische Einstellung ihrer Kollegen Aussagen zu machen. Schlimmer noch, auch der Präsident von Harvard, der störrische Dr. Pusey, weigerte sich, trotz der Forderung McCarthys, diese Professoren zu entlassen.
»Mein Lieber«, fragte Dr. Rossi immer wieder, »wie kannst du, dessen Bruder im Kampf gegen den Kommunismus gefallen ist, auch nur im Traum daran denken, dorthin zu gehen?«
Danny schwieg. Hatte es etwa einen Sinn, darauf zu antworten, Musik sei doch eine unpolitische Sache?
Während Dr. Rossi bei seinen Einwänden blieb, versuchte Dannys Mutter verzweifelt, nicht Partei zu ergreifen. Für Danny gab es nur noch Dr. Landau, mit dem er dieses Dilemma bereden konnte. Der alte Herr war so vorsichtig wie möglich. Und doch gestand er Danny: »Dieser McCarthy macht mir Angst. In Deutschland hat es auch so angefangen mußt du wissen.«
Von schmerzhaften Erinnerungen gepeinigt, zögerte er und brach ab. Dann fuhr er leise fort: »Daniel, das ganze Land hat Angst. Senator McCarthy glaubt, er kann Harvard vorschreiben, wen sie entlassen sollen und so weiter. Ich finde, der Präsident der Universität hat großen Mut bewiesen.
Ich würde ihm gerne sagen, wie sehr ich ihn bewundere.« »Wie würden Sie das machen?« Der alte Herr rückte ein wenig näher zu seinem hochbegabten Schüler und sagte: »Ich würde dich da hinschicken.«

Die Iden des Mai waren gekommen, und mit ihnen kamen die Zusagen. Princeton, Harvard, Yale und Stanford, alle wollten Danny. Selbst Dr. Rossi war beeindruckt — obwohl er fürchtete, sein Sohn würde eine verhängnisvolle Entscheidung treffen. Und für ihn kam der Weltuntergang an dem Wochen-
ende, an dem er Danny in sein ledergepolstertes Büro kommen ließ und ihm die entscheidende Frage stellte.

»Ja, Vater«, sagte Danny leichthin, »ich gehe nach Harvard.« Totenstille. Bis dahin hatte Danny noch gehofft, sein Vater würde schließlich nachgeben, wenn er einsah, wie fest sein Entschluß stand. Aber Arthur Rossi blieb so hart wie Stein.
»Wir leben in einem freien Land, Dan. Und deshalb steht es dir frei, auf das College deiner Wahl zu gehen. Aber auch mir steht es frei, meinem Mißfallen Ausdruck zu geben.
Deshalb habe ich beschlossen, keinen Pfennig für dich zu bezahlen. Ich gratuliere dir, mein Sohn, du bist selbständig. Soeben hast du deine Unabhängigkeit erklärt.«
Für einen Augenblick war Danny verwirrt und hilflos. Als er aber dann das Gesicht seines Vaters sah, begriff er, daß McCarthy nur ein Vorwand gewesen war. Art Rossi liebte seinen Sohn einfach nicht. Und er wußte, er mußte das kindliche Bedürfnis, von diesem Mann anerkannt zu werden, ablegen. Denn jetzt begriff er, daß er nie anerkannt werden würde. Niemals.
»Gut, Vater«, flüsterte er mit erstickter Stimme, »wenn du es so willst...«
Er drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Durch die schwere Tür hörte er die Fäuste seines Vaters heftig auf den Tisch schlagen. Aber seltsamerweise fühlte er sich befreit.