4. Ted Lambros

O Gott, um nichts Gering'res bitt' ich Dich,
Als daß ich nicht enttäusche mich.
Daß meine Taten hoch hinaus mich tragen,
So hoch, wie heut' sich meine Blicke wagen.
Henry David Thoreau, Jahrgang 1857 

Alle vernünftigen Leute sind egoistisch.
Ralph Walton Emerson, Jahrgang 1821 

Er war Externer und gehörte zur kleinen und kaum sichtbaren Minderheit derer, die sich den Luxus nicht erlauben konnten, mit ihren Kommilitonen zusammen auf dem Campus zu leben. Sie waren also nur tagsüber in Harvard - waren mal da und dann wieder nicht - und mußten am Abend mit Bus oder Subway in die Wirklichkeit zurückkehren. Ironischerweise war Ted Lambros fast im Schatten des Harvard Yard geboren worden. Sein Vater Sokrales, in den frühen 50er Jahren aus Griechenland nach Amerika gekommen, war der allseits bekannte Besitzer des Restaurants >Marathon< an der Massachusetts Avenue, nördlich der Widener-Bibliothek gelegen und von dort zu Fuß erreichbar. In seinem Lokal waren allabendlich mehr große Geister versammelt als je auf einem Symposium Piatons, wie er immer wieder vor seinen Angestellten - mit anderen Worten: seiner Familie - prahlte; nicht nur Philosophen, sondern auch Nobelpreisträger der Physik, der Chemie, der Medizin und der Wirtschaftswissenschaften. Und sogar die berühmte 3° Kochbuchautorin Mrs. Julia Child, die das von seiner Frau gekochte Lamm in Zitrone »sehr amüsant« genannt hatte. Sein Sohn Theodore besuchte die Cambridge High and Latin School, die so nahe bei den heiligen Hallen Harvards lag, daß sie fast schon zur Universität gerechnet wurde. Da der alte Lambros die Mitglieder des Lehrkörpers von Harvard so sehr verehrte, daß es schon an Götzenanbetung grenzte, war es nicht verwunderlich, daß sein Sohn mit dem brennenden Wunsch aufwuchs, auch in Harvard zu studieren. Mit sechzehn wurde der große dunkelhaarige, gutaussehende Theodore zum ordentlichen Kellner befördert, wodurch er in engeren Kontakt zu den akademischen Berühmtheiten kam. Ted erschauerte fast vor Aufregung, wenn diese nur »Guten Abend« zu ihm sagten. Woraus bestand nur dieser Geist Harvards, den er schon spürte, wenn er bloß einen Salat servierte? Eines Abends wurde es ihm klar. Sie alle besaßen ein übermäßiges Selbstvertrauen. Ihre Selbstsicherheit umgab sie wie eine Aura, ganz gleich, ob sie über Metaphysik oder die Vorzüge der Frau eines neuen Dozenten diskutierten. Als Sohn eines eher unsicheren Einwanderers bewunderte Ted an ihnen vor allem die Fähigkeit, sich selbst und den eigenen Intellekt so hochzuschätzen. Und daraus entstand sein Lebensziel: Er wollte wie sie werden, nicht nur Student, sondern ein wirklicher Professor. Und sein Vater träumte davon wie er. Zum Mißfallen seiner anderen Kinder Daphne und Alexander schwärmte der Vater beim Abendessen über Teds ruhmreiche Zukunft. »Ich weiß wirklich nicht, warum alle Welt Ted für so großartig hält«, sagte der kleine Alex widerwillig. »Weil er großartig ist«, sagte Sokrates mit seherischer Begeisterung. »Theo ist der wahre lambros in unserer Familie.« Er lächelte über sein Wortspiel mit dem eigenen Nachnamen, der auf griechisch >Glanz< oder >Strahlen< hieß. Von dem kleinen Zimmer in der Prescott Street aus, wo er bis tief in die Nacht an seinen Schularbeiten saß, konnte er in weniger als zweihundert Meter Entfernung die Lichter des Harvard Yard sehen. So nahe, ach, so nahe. Und wenn seine Konzentration einmal nachließ, spornte er sich selbst wieder an, indem er sich sagte: »Mach weiter, Lambros, du bist schon fast da.« Denn wie Odysseus in der schweren See nahe den Phäaken hatte er das Ziel des langen mächtigen Kampfes schon vor Augen. In seinen epischen Phantasien erschienen auch die Schönen, die ihn auf der verzauberten Insel erwarteten. Eine junge Prinzessin mit goldenem Haar, wie Nausikaa. Und auch die Mädchen von Radcliffe erschienen in Teds Traum von Harvard. Als er in der Oberstufe die >Odyssee< las und zu Buch VI kam - Nausikaas heftige Liebe zu dem gutaussehenden Griechen, der an die Küste ihrer Insel gespült worden war-, nahm er dies als ein Vorzeichen für den phantastischen Empfang, der ihn erwartete, wenn er erst endlich in Harvard ankommen sollte. Aber die glatte Eins, die er in diesem Leistungskurs bekam, hatte Seltenheitswert. Meistens bekam er eine sichere - wenn auch nicht brillante - Zwei plus. Er mußte hart arbeiten, es fiel ihm nichts zu. Durfte er wirklich hoffen, vom ruhmreichen Harvard angenommen zu werden? Er war nur der Siebte seiner Klasse, sein Notendurchschnitt war nur geringfügig besser als der seiner Mitschüler. Es stimmte, Harvard wählte gewöhnlich vielseitige Bewerber aus. Ted aber hielt sich für einseitig. Wann hätte er nach dem ganzen Lernen und Kellnern die Zeit finden sollen, noch irgend etwas anderes zu tun und zusätzlich Sport zu treiben? Er sah das nüchtern und sachlich und versuchte, seinen Vater dazu zu bringen, nichts Unmögliches zu erwarten. 32 Vater Lambros aber ließ sich nicht von seinem Optimismus abbringen. Er war davon überzeugt, daß die Empfehlungsbriefe der Großen Harvards, die im >Marathon< speisten, Wunder bewirken würden. Und in gewisser Weise taten sie das auch. Ted Lambros wurde angenommen - erhielt aber kein Stipendium. Das hieß, er war dazu verdammt, weiter in seiner Zelle in der Prescott Street zu hausen, ohne die Freuden des Lebens in Harvard über die Lehrveranstaltungen hinaus genießen zu können. Denn er mußte die Abende weiter in der Sklaverei im >Marathon< verbringen, um damit seine 600 Dollar Studiengebühren zu verdienen. Dennoch war Ted unerschrocken. Obwohl erst am Fuße des Olymp, war er doch zumindest schon dort und fertig zum Aufstieg. Ted glaubte nämlich an den amerikanischen Traum: Man mußte nur etwas stark genug und von ganzem Herzen wollen, dann würde man letztendlich schon Erfolg haben. Und er wollte dieses Harvard mit demselben »unauslöschlichen Feuer«, das in Achilles bis zur Eroberung von Troja brannte. Allerdings hatte Achilles nicht jeden Abend kellnern müssen.