31. Andrew Eliots Tagebuch 11. Mai 1978

Der heutige Tag ging ganz schön an mein Selbstbewußtsein. Der Bericht zum zwanzigsten Jahrestag unseres Jahrgangs traf ein.
Einiges darin überraschte mich. Auch wenn ich es natürlich schon letztes Jahr in der Zeitung gelesen hatte, war es doch erstaunlich, Danny Rossis Beitrag zu sehen und da noch einmal zu lesen, daß er tatsächlich nicht mehr Klavier spielt. Es graust mir, wenn ich daran denke, wieviel Mut er gebraucht haben muß, um all dieser öffentlichen Verehrung den Rücken zuzukehren. Er hat auch Los Angeles aufgegeben und wird nur noch in Philadelphia dirigieren.
Auch wenn er sagt, er hätte es vor allem getan, um mehr komponieren zu können, ist es offensichtlich, daß er es hauptsächlich getan hat, weil er mehr Zeit für Frau und Kinder haben wollte. Sie seien, wie er sagt, das Wichtigste im Leben. Ich bin tief beeindruckt von seiner Menschlichkeit und von der Klarheit seiner Wertvorstellungen.
Außer den paar Todesfällen in letzter Zeit ist es bedrückend zu lesen, daß eine große Zahl langjähriger Ehen kaputtgegangen ist. So, als ob jeweils einer der Partner es nicht ins dritte Jahrzehnt geschafft hat.
Ich nehme an, die in der Eisenhower-Zeit geschlossenen Ehen blieben in der Zeit demokratischer Ritterlichkeit, die durch John F.Kennedy entstand, unverändert. Aber wahrscheinlich veranlaßte Nixons Präsidentschaft die Leute, sich die >Tonbänder< ihrer Beziehungen anzuhören, sich ihrer Wahrheit zu steilen und sich zu trennen.
Es ist erfreulich, daß die Kinder von einigen Angehörigen unseres Jahrgangs jetzt Erstsemester sind. Bedrückend ist, daß mein Sohn nicht darunter ist. Oder vielleicht sollte ich sagen, mein früherer Sohn, denn ich höre nichts mehr von ihm. Nach all der Zeit hoffe ich immer noch, daß vielleicht einmal ein Brief oder eine Karte von ihm in der Post ist. Und wenn mich ein langhaariger Hippie auf der Straße anbettelt, gebe ich ihm immer ein oder zwei Dollar in der Hoffnung,
daß ein anderer Vater Andy gegenüber, wo immer er auch sein mag, ebenfalls großzügig ist. Ich kann einfach nicht glauben, daß ich ihn für immer verloren habe.
In meinem eigenen Beitrag habe ich natürlich nicht erwähnt, daß mich mein Sohn enteignet hat. Ich habe einfach geschrieben, ich hätte die Wall-Street satt gehabt und mich auf die Suche nach etwas anderem gemacht. Der Leiter der neuen Spendenkampagne für Harvard hat mich aufgefordert, nach Cambridge zu kommen und Mitglied seiner Mannschaft zu werden, die versucht, 350 Millionen Dollar für unsere Alma mater aufzutreiben.
Als Frank Harvey mich anrief und mir das anbot, bin ich förmlich darauf geflogen. Nicht nur, um die >Hauptstadt< all meiner Sorgen zu verlassen, sondern auch, um ein neues Leben zu beginnen an dem einzigen Ort, an dem ich jemals glücklich gewesen bin.
Meine Tätigkeit besteht im wesentlichen darin, mit den Studenten meines Jahrgangs wieder Verbindung aufzunehmen, sie einige Zeit zu hofieren und sie dann dazu zubringen, möglichst viel für Harvard springen zu lassen. Ich sehe das nicht als Verkaufstätigkeit an, da ich wirklich an das glaube, was ich da tue. Es ist mehr wie Missionarsarbeit. Als Bonus hat man mich dann noch in die Kommission berufen, die unser großes Klassentreffen zum 25jährigen Jubiläum vorbereitet (5. Juni 1983)! Es heißt, das würde ein Höhepunkt unseres Lebens —und an mir liegt es, dafür zu sorgen, daß das so wird.
Natürlich habe ich mit Lizzy geredet, bevor ich in Harvard zugesagt habe. Sie wird ein prima Kerl - vermutlich ohne mein Zutun. Daß ihre Mutter so weit weg wohnt, hat dazu beigetragen, glaube ich. Ich bin mit Lizzy jeden Monat ein paarmal zusammen und habe das Gefühl, wir kommen uns näher.
Romantisch, wie sie ist (das hat sie von mir), drängt sie mich, doch wieder zu heiraten. Ich mache dann immer einen Witz darüber, aber wenn ich morgens die einsame Zahnbürste im Glas sehe, weiß ich, sie hat recht.
Vielleicht gewinne ich in Harvard wieder etwas mehr Selbstvertrauen. Aber eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob ich je welches gehabt habe.

Alexander Haig wurde 1980 nicht Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Aber Ronald Reagan, der es schaffte und der dann auch die Wahl gewann, ernannte ihn zum Außenminister. Haig, damals Direktor von United Technologies in Hartford, rief sofort George Keller, seinen Nachbarn in Connecticut, an und bot ihm den zweithöchsten Posten des Auswärtigen Amtes an, den des Stellvertretenden Außenministers.
»Wann können Sie frühestens anfangen, mein Freund?« fragte Haig.
»Eigentlich jederzeit«, sagte George hocherfreut. »Aber Reagan tritt sein Amt doch erst im Januar an?«
»Richtig, aber ich brauche Sie schon vorher, damit wir meine Anhörung vor dem Komitee für Auswärtige Beziehungen vorbereiten können. Es gibt im Senatsdschungel eine Menge Guerillas, die schon seit Jahren darauf warten, mir eins überzubraten.«
Haig hatte nicht übertrieben. Seine Anhörung dauerte fünf Tage. Von allen Seiten hagelte es Fragen. Alle Geister von Watergate wurden beschworen, ganz zu schweigen von Vietnam und Kambodscha, von den durch den Nationalen Sicherheitsrat veranlaßten Abhöraktionen, von der CIA und dem Straferlaß für Nixon.
Als er neben seinem künftigen Boß saß und ihm gelegentlich ein paar Worte zuflüsterte, spürte George, wie in ihm schlafende Dämonen geweckt wurden. Wenn er selbst da sitzen würde, um bestätigt zu werden, würde dann irgendein feindselig gesinnter  Senator  oder  ein  junger,   ehrgeiziger Abgeordneter herausfinden, daß er vor langer Zeit den Russen einen kleinen Gefallen getan hatte?
Aber seine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Bei Haigs Anhörung war das Komitee seine ganzen Ressentiments gegen die Nixon-Zeit losgeworden. George war nicht nur beredt und gelassen, sondern auch witzig. Er wurde einstimmig bestätigt.

Das Haig-Keller-Team begann seine Arbeit entschieden und beeindruckend, es erfüllte Reagans Versprechen, die amerikanische Führung werde wieder Fuß fassen. Aber auf George wirkte der Außenminister ein wenig unsicher. Am Ende einer langen Arbeitssilzung war George entspannt genug, um die Sache auf den Tisch zu bringen. »AI, was haben Sie eigentlich?« »George, wie kann ich mich um die Außenpolitik kümmern, wenn ich nie die Möglichkeit habe, Reagan allein zu sprechen«, antwortete er und war sichtlich froh, die Sache loszuwerden. »Immer und überall sind seine kalifornischen Kumpel und geben ihren Senf dazu. Wenn das nicht anders wird, reiche ich meinen Rücktritt ein, da können Sie sicher sein.«
»Das ist die Kissinger-Methode«, lächelte George. »Ja«, grinste AI, »und bei Kissinger hat es immer geklappt.«

Haig ergriff in der folgenden Woche die Initiative nach einem Mittagessen im Weißen Haus für den Premierminister Japans. Er bat den Präsidenten um fünf »ganz private« Minuten.
Reagan legte den Arm herzlich um Haigs Schultern. »Aber AI, für Sie gern auch zehn«
George sah zu, wie die beiden Männer im Park des Weißen Hauses miteinander sprachen, da stand plötzlich Dwight  Bevington, der Sicherheitsberater, neben ihm. »Wissen Sie, George«, sagte er freundlich, »falls Ihr Boß da versucht, etwas für sich zu erreichen, verschwendet er nur seine Zeit. Wir wissen schließlich alle, wer die klugen Köpfe im Außenministerium sind. Sie und ich sollten eigentlich etwas enger zusammenarbeiten.« Bevor George antworten konnte, kam der Minister mit einem strahlenden Lächeln wieder zurück.

»Ich weiß auch nicht, wie Ronnie das macht«, strahlte Haig auf der Rückfahrt ins Ministerium, »aber irgendwie fühlt man sich immer gut behandelt. Er hat mein Rücktrittsangebot abgelehnt und mir versprochen, wir würden zukünftig einen direkten Draht zueinander haben. Was war da denn mit Bevington und Ihnen? Versucht der irgendwas?« »Umsonst«, sagte George ruhig. »Gut, mein Lieber. Sie wissen ja, ich rechne mit Ihrer Loyalität.«
George war nun sicher, daß AI Haigs Tage als Außenminister gezählt waren. Und er machte sich bereit, von Bord zu gehen, bevor das Schiff sank. Er aß dann und wann mit Bevington zu Mittag und ließ ihn dabei von seiner Erfahrung profitieren. Immer aber berichtete er seinem Vorgesetzten davon. Nie war er Alexander Haig gegenüber offen unloyal. Das lag möglicherweise auch daran, daß die Dinge sich so schnell entwickelten, daß er dazu gar keine Gelegenheit mehr hatte.

Im Frühjahr 1982 bekam der Außenminister eine seltene Chance, der Reagan-Administration seine Effektivität zu beweisen, was er doch so verzweifelt gerne wollte. Argentinische Soldaten überfielen die Falklandinseln, und zum Schulz dieses winzigen kolonialen Aiißenposlens sandte Großbritannien, bereit zur militärischen Auseinandersetzung, eine riesige Flotte in den Südantlanlik.
Haig bekam die Einwilligung des Präsidenten für einen Versuch,  das  Blutvergießen  zu  verhindern,  indem er, wie Kissinger es seinerzeit im Nahen Osten gemacht hatte zwischen London und Buenos Aires hin- und herpendelte
Er weckte George mitten in der Nacht und bat ihn   um sechs Uhr früh auf der Andrews Air Force Base zu sein  Von da an gab es weder Tag noch Nacht für die beiden Diplomaten. Sie schliefen, wenn es gerade ging, auf den Flügen
zwischen England und Argentinien - Flüge mit endlosen Zeitverschiebungen, von Frustration zu Frustration. Kurz vor dem britischen Angriff überredete Haig - es schien wie ein Wunder - Argentiniens General Galtieri, seine Truppen von der Insel zurückzuziehen und in Verhandlungen einzutreten Es sah wie ein großer Coup aus. Als sie sich für den langen Heimflug festschnallten, gratulierte George seinem Vorgesetzten: »AI, ich glaube, da haben Sie ganz groß gewonnen.« Aber kurz bevor die Flugzeugtür verschlossen wurde erreichte sie durch einen Boten noch ein Brief des Premierministers Costa Mendez.
»Wollen Sie das nicht lesen?« fragte George. »Brauche ich nicht«, sagte Haig und seufzte müde. »Ich weiß, das ist mein Todesurteil.«

Die Hinrichtung Alexander Haigs fand tatsächlich bereits statt, als er sich noch in der Luft befand. Aus dem Weißen Haus verlautete, ohne Angabe der Quelle, die Regierung betrachte seine ergebnislose Mission nur als Schaugeschäft. Die Presse griff das Stichwort auf und zitierte dann verschiedene gewichtige Quellen, die verlauten ließen: »Haig wird gehen müssen, und zwar sehr schnell « George Keller aß mit Dwight Bevington häufiger zu Mittag

Er saß am Schreibtisch und korrigierte ein langes Telex an Phil Habib, der zwischen Damaskus und Jerusalem pendelte da meldete sich seine Sekretärin:'»Dr. Keller, Thomas Leighton möchte Sie sprechen.«
»Der von der >New York Times<?« »Ich glaube, ja.« »Stellen Sie durch.« Falls es der Journalist und Autor des hochgelobten Buches über den Vietnamkrieg, Thomas Leighton, war, dann war das ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich hatte er einen Hinweis erhalten, daß George Nachfolger von Haig werden könnte.
Und wie sein Harvard-Mentor hatte George vor, nach allen Regeln der Kunst mit der Presse zu spielen.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Dr. Keller, daß ich Sie sprechen kann. Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich bin von der >Times< beurlaubt, um ein Buch über Ihren früheren Vorgesetzten Kissinger zu schreiben.«
»Glorifizierung oder Vernichtung?«
»Hoffentlich ein sachliches Buch«, erwiderte der Reporter ausweichend. »Natürlich sind mir auch ein paar sehr häßliche Dinge über ihn zu Ohren gekommen. Und deshalb wollte ich fragen, ob Sie mir vielleicht ein oder zwei Stunden Ihrer Zeit opfern können, damit ich ein ausgewogenes Bild bekomme.« »Ich verstehe«, sagte George und dachte, es wäre nicht schlecht, so einen wichtigen Journalisten im künftigen Team zu haben. »Wollen wir nächste Woche zusammen Mittag essen? Wie war's mit Mittwoch!« »Sehr gerne«, sagte Leighton. »Um zwölf Uhr im >Sans Souci.«

Als erstes erstaunte ihn, wie jung der Journalist war. Er sah weniger wie ein Pulitzer-Preisträger aus, mehr wie ein Volontär beim >Crimson<. Als George Leighton das sagte, gestand dieser: »Ich habe tatsächlich für den >Crimson< geschrieben. Ich bin Harvard-Jahrgang '64.«
Sie plauderten angeregt über ihre College-Zeit. Dann kam der Journalist zur Sache.
»Wie Sie sicherlich wissen, wird Kissinger keineswegs von allen Menschen für einen Ritter in strahlender Rüstung gehalten.«
»Nein«, stimmte George zu. »Aber das ist der Preis den man zu zahlen hat, wenn man an der Macht ist. Und mit was für Dreck wird Henry beworfen?«
»Nun ja, die Palette reicht von >Kriegsverbrecher< bis zu rücksichtsloser Drahtzieher und noch vieles mehr. Auch in Harvard hatte er schon einen schlechten Ruf.« »Das weiß ich.« George lächelte. »Ich war sein Schüler.« »Das ist mir bekannt. Ich weiß auch, daß Sie den Spitznamen >Kissingers Schatten< zu Recht tragen. Es stimmt doch daß Sie mehr als irgend jemand anderer in jede wichtige Entscheidung Kissingers eingeweiht waren?« »Das ist leicht übertrieben«, antwortete George und versuchte, den Bescheidenen zu spielen. Dann scherzte er: »Jedenfalls hat er mir nicht vorher gesagt, daß er Nancy heiraten würde. Abgesehen davon — was ist der Inhalt Ihres Buches?« »Wenn mich der Eindruck nicht tauscht, dann war ihr Boß - wie soll ich sagen — eigentlich unmoralisch. Er muß in der Weltpolitik mit Menschen wie beim Schach mit Bauern gespielt haben.« »Das ist ganz schön brutal ausgedrückt«, unterbrach ihn George. »Weshalb ich ja Ihre Version hören möchte«, antwortete Leighton. »Ein paar Beispiele: Leute, die es wissen müssen haben mir gesagt, er habe den Israelis während des Yom-Kippur-Krieges absichtlich Waffen vorenthalten, um sie für Verhandlungen weich zu machen.« »Ich möchte wetten, ich weiß, woher Sie das haben«, sagte George irritiert. »Kein Kommentar. Ich gebe meine Quellen niemals preis Ich habe auch selbst ein paar Nachforschungen angestellt und dabei entdeckt, daß er nicht abgeneigt war, manchen Leuten sonderbare Gefallen zu tun, wenn er dadurch einen Punktgewinn erzielen konnte.«
»Können Sie das präzisieren?«
»Sicher nur eine kleine Geschichte, aber ich glaube, sie ist typisch für seine Arbeitsweise. Im Jahr 1973 genehmigte er den Verkauf eines besonderen Filters für Satellitenfotos an die Russen. Man sagte mir, dem Wirtschaftsministerium wäre es nicht geheuer gewesen, das Ding den Russen zu überlassen.«
George gefror das Blut in den Adern. Er konnte kaum noch zuhören. »Ich vermute, daß Henry da ein Geschält auf Gegenseitigkeit gemacht hat, und was ich gerne von Ihnen wüßte: Was hat er dafür erhalten?«
George Keller hatte schon oft vor Senatsausschüssen ausgesagt. Er wußte, die eiserne Regel für jeden Zeugen, der mit einer unerwarteten Frage konfrontiert wurde, war es, zu warten und dann so einfach und klar wie möglich zu antworten.
»Ich glaube, da befinden Sie sich auf dem Holzweg, Tom«, sagte er ruhig.
»Ich bin ganz sicher, daß nicht.« »Und wieso sind Sie davon so überzeugt?« »Wegen Ihres Gesichtsausdrucks, Dr. Keller.« Leighton schwieg einen Augenblick und sagte dann höflich: »Möchten Sie darüber etwas sagen?« Georges Gedanken waren in Aufruhr. Diese Geschichte mußte unterdrückt werden, sonst war sein ganzes Leben ruiniert. Aber was konnte er dem Kerl nur dafür bieten? Es mußte eine Menge sein, beschloß er schnell. Um sich selbst in Sicherheit zu bringen, mußte er.. . Kissinger verraten. »Hören Sie, Tom«, sagte er so gelassen wie möglich, »das Wetter ist sehr schön, lassen Sie uns noch ein bißchen Spazierengehen.«
Zuerst feilschte er. Ohne zu erklären, warum, bot er statt der unwichtigen Filtersache Leighton jede Information an, die dieser haben wollte. »Kann ich Ihnen vertrauen, Tom?« »Ich habe einen Ruf zu verlieren«, erwiderte der Journalist. »Ich habe meine Quellen niemals preisgegeben, und ich werde das auch in Zukunft nicht tun.« »Ich glaube Ihnen«, sagte George. Er mußte ihm glauben.

Am 25. Juni fiel das Beil. Ronald Reagan bat Alexander Haig zu sich und übergab ihm ein Kuvert. Es enthielt einen Brief des Präsidenten, der den Rücktritt des Außenministers annahm. Jetzt mußte Haig nur noch offiziell zurücktreten.

In Washington hieß es, Keller werde Haigs Nachfolger. Die >Washington Post< ging so weit, ihn »die beste Wahl, die Reagan treffen kann«, zu nennen. Dutzende von Reportern bewachten sein Haus und warteten nur auf den Augenblick, da das neue Kabinettsmitglied und seine Frau vor ihr Heim treten und    sich    triumphierend   den    Fotografen   stellen würden.
Die großen Nachrichtenagenturen hatten schon die Daten für ein Porträt zusammengestellt. Das Märchen von dem jungen Studenten, der der kommunistischen Zwangsherrschaft entflohen war und es so weit gebracht hatte. Nur in Amerika ... und so weiter.
Im Haus saßen George und Cathy wie festgenagelt vor dem Telefon. Es war qualvoll. Sie wagten es kaum, miteinander zu reden. Cathy hatte den ganzen Abend in regelmäßigen Abständen gesagt, sie liebe ihn auch, wenn er nicht Außenminister würde. Er wollte dringend etwas trinken, aber sie verbot ihm, auch nur einen Tropfen zu sich zu nehmen.
»Du mußt einen klaren  Kopf bewahren, George. Wenn die Sache erst so oder so ausgestanden ist, dann hast du noch genug Zeit zum Trinken.«
Das Telefon ging. Es war Henry Kissinger.
»Herr Minister«, sagte er herzlich, »ich hoffe, Sie reden noch mit mir, wenn Sie ernannt worden sind.« George stockte vor Aufregung der Atem. »Weißt du schon etwas Genaueres, Henry?« fragte er schnell. »Nein, nur was in den Zeitungen steht. Vergiß nicht, mich zu erwähnen, wenn du deine erste Erklärung abgibst.«

Zehn vor zwöll ging wieder das Telefon. »Es ist soweit«, sagte George zu Cathy, holte tief Luft und nahm den Hörer ab.
»Ja?«
»George?« Es war der Verteidigungsminister, Caspar Weinberger — Harvard-Jahrgang '38—, ein gutes Omen. »Hallo, Cap«, sagte George mit schwacher Stimme. »Hören Sie, George, der Präsident hat hin und her überlegt wegen des Außenministeriums...« Er hielt inne und verkündete dann so behutsam wie möglich: »Er hat sich für Schultz entschieden.« »Ach.«
Cathy sah seinen vernichteten Gesichtsausdruck und ergrill seinen Arm. »Ich hoffe sehr, Sie verstehen das nicht falsch. Es hat
nichts mit Ihnen persönlich zu tun«, fuhr der Verteidigungsminister fort. »Sie wissen doch, Ron hat eben die Boys aus Kalifornien lieber. Und ich weiß, Schultz will, daß Sie Stellvertretender Außenminister bleiben.« George wußte nicht, was er sagen sollte.
Weinberger versuchte, seine Enttäuschung zu lindern. »He, Keller«, sagte er burschikos, »wie all sind Sie eigentlich? Sechsundvierzig? Siebenundvierzig? Mein Gott, Sie sind ja sogar zu jung für den Job, den Sie jetzt bereits haben.
Falls Reagan wiedergewählt wird, dann sind Sie bestimmt dran.«
»Ja, Cap. Danke sehr.«
George legte auf und sah Cathy an.
»Ich habe verloren«, sagte er leise.
»Du hast nicht verloren«, sagte sie bewegt. »Du hast nur noch nicht gewonnen.«