7. Andrew Eliots Tagebuch 5. Oktober 1954

Während unseres ganzen Lebens gibt es nur sehr wenige Gelegenheiten, bei denen unser Jahrgang mit rund tausend Studenten noch einmal zusammenkommen wird.
Während des Studiums versammeln wir uns dreimal. Das erste Mal zur Erstsemestereröffnungsfeier — ernst, nüchtern und langweilig. Dann beim bekanntermaßen vulgären Erstsemestereinstand - das andere Extrem. Und endlich, nachdem alle notwendigen Hürden genommen worden sind, an dem Junimorgen in vier Jahren, wenn wir die Abschlußzeugnisse erhalten.
Ansonsten durchlaufen wir Harvard jeder für sich. Das wichtigste Zusammentreffen fände fünfundzwanzig Jahre nach dem Abschluß statt, heißt es. Das wäre 1985 — unmöglich, so weit im voraus zu denken.
Auch wird behauptet, man würde so etwas wie Brüderlichkeit und Solidarität empfinden, wenn man zur 25-Jahr-Feier hierherkommt. Gegenwärtig sind wir jedenfalls mehr wie die Tiere in der Arche Noah. Ich glaube nicht, daß die Löwen und die Schafe damals viel gemeinsamen Gesprächsstoff hatten. Oder die Löwen und die Mäuse. Und das ist genau die Art, wie ich und meine Mitbewohner über einige der Kreaturen denken, die zusammen mit uns auf dieser vierjährigen Seereise sind. Wir hausen in verschiedenen Kabinen und leben auf verschiedenen Decks. Heute abend aber versammelten wir uns als Jahrgang '58 im Sanders Theater. Und es war ganz schön feierlich.
Ich weiß, Präsident Pusey wird zur Zeit nicht gerade als Held verehrt, aber als er heute abend über die Tradition Harvards sprach, die akademische Freiheit zu verteidigen war das schon ganz schön ergreifend.
Als Beispiel nannte er A. Lawrence Lowell, der zu Beginn dieses Jahrhunderts als Präsident von Harvard Nachfolger meines Urgroßvaters war. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten anscheinend eine Menge Studenten hier sozialistische und kommunistische Ideen im Kopf-und propagierten dieses brisante neue Zeugs auch noch. Lowell wurde sehr unter Druck gesetzt, die Linken unter den Professoren zu entlassen. Als er Lowells große Verteidigungsrede für diese Professoren zitierte, die völlig frei seien, »die Wahrheit, so wie sie sie sehen«, zu lehren, begriff sogar ich   so beschränkt ich auch sein mag, daß Pusey damit eine Parallele zog zu den unentwegten Angriffen von Senator McCarthy gegen ihn.
Man muß ihm das hoch anrechnen. Er bewies Mut »Würde unter Druck«, wie Hemingway das nannte. Und doch gab der Jahrgang '58 ihm keine stehenden Ovationen.
Aber etwas sagt mir, wenn wir erst einmal älter sind und mehr von der Welt gesehen haben, dann werden wir uns schämen, daß wir heute abend die Tapferkeit Puseys nicht gewürdigt haben.

» Wohin gehst du, Gilbert?«
»Rat mal, D. D. Doch wahrscheinlich zum Frühstück.«
»Heute?«
»Klar, warum denn nicht?«
»Hör mal, Gilbert, sag nur, du weißt nicht, daß heute Yom Kippur ist.«
»Ach ...«
»Weißt du, was das ist?«
»Natürlich, der Bußtag der Juden.«
»Du solltest heute fasten, Gilbert«, ermahnte ihn sein Mitbewohner. »Es klingt ja so, als wärst du kein Jude.«
»Wenn du es genau wissen willst, mein Lieber, ich bin auch keiner!«
»Das kannst du jemand anderem erzählen. Du bist Jude wie ich.«
»Auf welche Beweise gründest du deine kategorische Behauptung?« fragte Jason gutgelaunt.
»Erstmal dürfte dir bekannt sein, daß in Harvard Juden immer zusammengelegt werden. Warum wären wir sonst zusammen?«
»Das würde ich auch gerne wissen«, sagte Jason spaßhaft.
»Gilbert«, beharrte D. D., »willst du tatsächlich abstreiten, daß du gläubiger Jude bist?«
»Also, ich weiß, mein Großvater war Jude. Aber was den Glauben betrifft, so sind wir Mitglieder der Unitarischen Kirche bei uns.«
»Das heißt gar nichts«, erwiderte D. D., »wenn es Hitler noch gäbe, wärest du für ihn trotzdem Jude.«
»Jetzt hör mal, David«, antwortete Jason ungerührt, »bekanntlich ist das Schwein schon ein paar Jahre tot. Außerdem sind wir hier in Amerika, und vielleicht erinnerst du dich an die Kleinigkeit da in der amerikanischen Verfassung über Religionsfreiheit. Das heißt, der Enkel eines Juden kann durchaus an Yom Kippur frühstücken gehen.«
Aber D. D. gab sich noch lange nicht geschlagen. »Gilbert, vielleicht liest du mal Jean-Paul Sartres Aufsatz über die Identität der Juden. Das dürfte dir dein Dilemma bewußt machen.«
»Offengestanden wußte ich gar nicht, daß ich eins habe.«
»Sartre sagt, daß Jude ist, wen die Welt für einen Juden hält. Und das heißt, du kannst blond sein, an Yom Kippur Frühstücksspeck essen, eine Tweed-Jacke tragen, Squash spielen, soviel du willst-das ändert alles nichts. Die Welt hält dich doch für einen Juden.«
»Nun mal langsam, mein Freund, du bist bisher der einzige, der mir damit Schwierigkeiten macht.«
Aber Jason wußte, daß er eigentlich nicht die Wahrheit gesagt hatte. Hatte er nicht ein kleines »Problem« mit der Aufnahme-Kommission von Yale gehabt?
»Okay«, schloß D. D. und knöpfte sich die Jacke zu, »wenn du unbedingt weiter Vogel Strauß spielen willst, dann tu das ruhig. Früher oder später wirst du es schon merken.« Und beim Hinausgehen fügte er bissig hinzu: »Guten Appetit.« »Danke«, rief Jason ihm fröhlich nach, »und bete für mich.«

Der alte Herr blickte auf das weinrote Meer der Studenten, die ehrfürchtig auf seine Kommentare zur Entscheidung des Odysseus warteten, nach zehn Jahren atemloser Begegnungen mit Frauen, Ungeheuern und ungeheuren Frauen nach Hause zurückzukehren.
Er stand auf der Bühne des Sanders Theaters, des einzigen Harvard-Gebäudes, das genügend groß - und auch angemessen - war für die Vorlesungen von Professor John H. Finley, Jr., dem vom Olymp dazu Auserwählten, den Ruhm des klassischen Griechenland dem Volk vonCambridge zu verkünden. Sein Charisma war in der Tat so gewaltig, daß viele von den Hunderten von Studenten, die im September Geisteswissenschaften 2< als Banausen anfingen, bis Weihnachten zu leidenschaftlichen Liebhabern des alten Griechenland geworden waren. Und  also geschah es,  daß  dienstags  und  donnerstags, pünktlich um zehn Uhr morgens, sich gut ein Viertel der gesamten Studentenschaft Harvards versammelte, um die Vorlesungen des großen Finley über die Epen von Homer bis Milton zu hören. Und alle schienen einen Lieblingsplatz zu haben, von dem aus sie Finley zuhören konnten.
Andrew Eliot und Jason Gilbert bevorzugten den Rang. Danny Rossi schlug zwei Fliegen mit einer Klappe und wechselte fortwährend seinen Sitzplatz, da er die Akustik des Saales kennenlernen wollte, in dem ja auch die großen Konzerte Harvards stattfanden und wo gelegentlich sogar die Bostoner Symphoniker spielten.
Ted Lambros saß immer in der ersten Reihe, um auch nicht ein einziges geflügeltes Wort zu verpassen. Schließlich war er ja in Harvard, um Latein und Griechisch zu studieren, und Finleys Vorlesung verlieh seinen Plänen mystische Größe und erfüllte ihn mit Euphorie und einem urtümlichen Stolz.
An diesem Tag behandelte Finley die Abreise des Odysseus von der verzauberten Insel der Nymphe Kalypso, deren leidenschaftliches Flehen und deren Versprechungen, ihm ewiges Leben zu schenken, nichts gefruchtet hatten. »Stellen Sie sich vor...«, flüsterte Finley seinen gefesselten Zuhörern zu und machte eine Pause, wahrend der man sich fragte, was man sich denn vorstellen sollte. »Steilem Sie sich vor, unserem Helden wird eine ewige Idylle mit einer ewig jungen Nymphe geboten. Aber dennoch, er gibt das auf und kehrt auf seine armselige Insel zu einer Frau zurück, die, wie ihm Kalypso ausdrücklich bewußt macht, bereits in die Jahre kommt was sich auch kosmetisch nicht verdecken läßt. Eine große Versuchung, das ist nicht zu leugnen. Wie aber reagiert Odysseus?«
Er ging fortwährend auf und ab, rezitierte ohne Vorlage und übersetzte offensichtlich aus dem Griechischen: »Göttin ich weiß, was du sagst, ist wahr, und die kluge Penelope kann sich mit dir an Schönheit nicht messen. Aber sie ist schließlich sterblich, während du alterslos und göttlich bist. Trotzdem sehne ich mich  nach  Hause und nach dem Tag meiner Rückkehr.«
Er blieb stehen und trat dann langsam und entschieden an den Rand der Bühne.
»Dieses ist«, sagte er flüsternd und konnte dennoch bis auf den letzten Platz verstanden werden, »dieses ist also die eigentliche Botschaft der Odyssee ...«
Eintausend Bleistifte hielten sich bereit, die entscheidenden Worte mitzuschreiben.
»Indem Odysseus eine verzauberte Insel, von vermutlich tropischer Schönheit, verläßt und in die kalten Winterslürme von — sagen wir — Brookline, Massachusetts, zurückkehrt verzichtet er auf die Unsterblichkeit, um seine Identität zu bewahren. Mit anderen Worten: die Unvollkommenheit des Menschen wird aufgewogen durch das Wunder menschlicher Liebe.«
Wieder entstand eine kurze Pause, in der das Publikum darauf wartete, daß Finley Luft holte, bevor man das selbst zu tun wagte. Dann setzte Applaus ein. Langsam wich die Verzauberung von den Studenten, als sie sich durch die verschiedenen Ausgänge des Sanders Theaters ins Freie schoben. Ted Lambros war den Tränen nahe und fühlte, daß er dem Meister etwas sagen mußte. Aber er brauchte einige Sekunden, um Mut zu sammeln. Währenddessen hatte der noch sehr rüstige Akademiker bereits seinen bräunlichen Regenmantel angezogen, den weichen Hut aufgesezt und das große Säulenportal erreicht.
Ted näherte sich ihm scheu und war sehr erstaunt, daß ein Mann von derartiger Größe im wirklichen Leben von ganz normaler Statur war.
»Herr Professor, wenn Sie gestatten«, begann er, »das war für mich die anregendste Vorlesung, die ich je gehört habe. Was ich sagen will, ich habe gerade erst angefangen und will die klassischen Sprachen zu meinem Hauptfach machen, und ich bin sicher, Sie haben hier tausend Hörer davon überzeugt,
daß ... hm ... Sir.« Er merkte, wie unbeholfen er sich ausdrückte, aber natürlich war Finley das von seinen zahlreichen Verehrern gewöhnt. Jedenfalls gefiel es ihm.
»Erstsemester und sich schon für die klassische Literatur entschieden?« fragte er.
»Ja, Herr Professor.«
»Wie heißen Sie?«
»Lambros, Theodore Lambros, Jahrgang '58.«
»Ah«, sagte Finley. »Theodoros, Geschenk Gottes, und lampros - ein wahrhaft pindarischer Name. Da fallen einem die berühmten Verse aus dem phythischen Buch VIII ein: Lampron phengos epestin andron, >strahlendes Licht, das auf die Menschen fällt<. Kommen Sie doch zum Mittwochtee ins Eliot-Haus, Mr. Lambros.«
Bevor Ted sich bedanken konnte, drehte sich Finley um und marschierte, Pindar rezitierend, in den Oktoberwind hinaus.

Jason wachte auf und hörte, daß sich jemand in großer Not befand. Er sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch. Es war kurz nach zwei Uhr morgens. Aus dem anderen Zimmer hörte er unterdrücktes Schluchzen und ängstliche Schreie: »Nein, nein!«
Er sprang aus dem Bett, lief zu D. D.'s Tür, klopfte leise an und fragte: »David, was ist los?« Das Schluchzen hörte plötzlich auf, und es war völlig still. Jason klopfte noch einmal und fragte erneut: »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Durch die verschlossene Tür kam die kurze Antwort: »Geh weg, Gilbert, laß mich in Ruhe«, aber in einem merkwürdig gequälten Ton.
»Hör zu, D. D., wenn du nicht aufmachst, breche ich die Tür auf.« Einen Augenblick später hörte er, wie ein Stuhl weggerückt wurde, dann ging die Tür einen Spalt auf, und sein Mitbewohner sah nervös heraus. Jason konnte ausmachen, daß er am Tisch gesessen und gelernt halte.
»Was willst du?« fuhr ihn D. D. an.
»Ich habe Geräusche gehört«, antwortete Jason, »und dachte, du hättest vielleicht Schmerzen.« »Ich bin für eine Minute eingeschlafen und hatte einen kurzen Alptraum. Sonst nichts. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich weilerarbeiten ließest.« Er schloß die Tür wieder. Aber Jason wollte noch nicht gehen.
»Hey, D. D., hör mal, auch ohne Medizin zu studieren, weiß ich, daß man ohne Schlaf verrückt wird. Hast du für heute nicht genug getan?«
Wieder ging die Tür auf.
»Gilbert, ich kann einfach nicht schlafen bei der Vorstellung, daß die anderen auch noch auf sind und lernen. >Chemie 20< — da überleben nur die Besten.«
»Trotzdem glaube ich, ein bißchen Schlaf wäre besser für dich, David«, sagte Jason leise. »Übrigens, was war denn das für ein Alptraum?« »Du glaubst es mir doch nicht, auch wenn ich dir's erzähle.«
»Versuch's doch mal.« »Wirklich dumm«, lachte D. D. nervös, »aber ich habe geträumt, die Prüfungsfragen würden verteilt - und ich verstand überhaupt nicht, was sie wollten. Blöde, nicht? Aber du kannst jetzt ruhig wieder ins Bett gehen, Jason. Es ist wirklich nichts.«
D. D. erwähnte den Vorfall in der Nacht am nächsten Morgen überhaupt nicht. Eigentlich war er sogar ausgesprochen unfreundlich, als ob er Jason unbewußt deutlich machen wollte, das, was da ein paar Stunden vorher passiert war, sei nur eine einmalige Ausnahme gewesen.
Aber Jason fühlte sich verpflichtet, die Sache dem Proktor zu erzählen, dem Studenten, der offiziell für ihr Wohlergehen verantwortlich war. Dennis Linden war außerdem Medizinstudent und würde vielleicht verstehen, was Jason da erlebt hatte.
»Aber du mußt mir versprechen, Dennis, daß es wirklich unter uns bleibt«, bat Jason. »Selbstverständlich«, antwortete der zukünftige Arzt, »ich bin froh, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast.« »Wirklich, ich habe das Gefühl, D. D. schnappt über, wenn er keine Einser kriegt. Er ist davon wie besessen, der Beste unseres Jahrgangs zu werden.«
Linden paffte seine Zigarette, blies ein paar Bauchringe und antwortete lässig: »Aber Gilbert, du und ich wissen doch daß das völlig unmöglich ist.«
»Warum bist du da so sicher?« fragte Jason verwundert. »Also, wenn du es unbedingt wissen willst, im Vertrauen gesagt, dein Mitbewohner war ja nicht mal der Beste auf der High School, von eben der wir hier in Harvard noch ein halbes Dutzend weitere Studenten mit einem viel besseren Notendurchschnitt haben. Die Aufnahmeabteilung hat ihn mit etwa über 10,5 angesetzt.«
»Was?« fragte Jason.
»Also, wie ich schon sagte, das muß wirklich geheim bleiben. In Harvard wird bei allen Studenten, die angenommen werden, eine Leistungsprognose für das spätere Abgangszeugnis gemacht...« »Im voraus?« unterbrach Jason.
Der Proktor nickte und fuhr fort: »Was man dabei wissen muß, die Prognose stimmt fast immer.«
»Willst du damit sagen, ihr wißt schon, welche Noten ich im nächsten Januar kriege?« fragte Jason verblüfft. »Nicht nur das«, antwortete der künftige Arzt, »wir wissen auch ziemlich genau, wie dein Abschluß sein wird.« »Warum sagt man mir das dann nicht gleich, dann brauche ich mich nicht zu stark anzustrengen«, sagte Jason und meinte das nicht nur komisch.
»Gilbert, ich habe dir eben gesagt, alles das ist völlig geheim. Und ich habe dir nur davon erzählt, damit du deinem Mitbewohner beistehst, wenn er eines schönen Tages merkt, daß er kein Einstein ist.«
Jason wurde ärgerlich. »Hör mal, Dennis, den Psychiater spiele ich aber nicht. Können wir jetzt nichts für den Kerl tun?«
Der Proktor zog an seiner Zigarette und antwortete dann: »Jason, der junge Davidson - den ich, unter uns gesagt, ein bißchen bescheuert finde - ist ja gerade deshalb in Harvard, um seine Grenzen zu erkennen. Das ist es, was wir - ich will mal sagen - hier am besten können. Laß das mal bis zur Mitte des Semesters so laufen. Wenn der Kerl bis dahin nicht damit fertig wird, daß er nicht der Größte ist, dann sollten wir ihn vielleicht zu jemandem beim Gesundheitsdienst schicken. Es ist jedenfalls gut, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Und sag mir Bescheid, falls er wieder durchdreht.«
»Er war immer durchgedreht, antwortete Jason und lächelte krampfhaft.
Golbert sagte der Proktor, »du hast ja keine Ahnung, welche Knallköpfe man hier studieren läßt. D.D. ist noch ein Fels in der Brandung
verglichen mit ein paar Übergeschnappten, die ich hier schon erlebt habe.«