7.3 Andrew Eliots Tagebuch 6. März 1955

Von anderen Universitäten Amerikas unterscheiden sich Harvard und Zugegebenerweise auch Yale durch ihr sogenanntes College-System.
Um 1909 verwandelte sich Cambridge von einem Dorf in eine richtige Stadt, und auch wenn einige Studenten in Wohnheimen lebten, waren die Harvard-Leute über die ganze Stadt verteilt. Die Ärmeren mieteten billige Unterkünfte an der Massachusetts Avenue, während die Überprivilegierten in der Gegend der Mount Auburn Street, an der Goldküste, wie es damals hieß, luxuriöse Wohnungen hatten.
Diese Aufteilung war symptomatisch für die strikte gesellschaftliche Trennung, die viele Vorurteile festschrieb.
Präsident Lowell hielt es für falsch, daß die Studenten in den vier College-Jahren in derartig hermetisch abgeschlossenen Cliquen lebten. Deshalb plante er, Oxford zu kopieren und die Universität in einzelne kleine Colleges aufzuteilen, an denen sich die Studenten vermischen. Die Sache funktioniert wie folgt. Zuerst läßt man uns
Erstsemester in den Heimen um den Universilätshof herum wohnen, damit wir grundsätzlich mit all den verschiedenen Typen zusammenkommen, die die Gesamtheit eines Jahrgangs ausmachen. Nach einem Jahr, in dem wir aus dieser Erfahrung lernen, sollen wir dann neue, faszinierende Freunde gewonnen haben. Damit werden wir dann soweit sein, die nächsten drei Jahre unten am Fluß zu leben, in den kleinen, bezaubernden Colleges, die im versnobten Harvard schlicht >Häuser< genannt werden.

Für einige von uns hat dieses Verfahren durchaus erzieherischen Wert. Sportstypen aus Alabama finden sich wieder, wie sie zusammen mit Medizinstudenten, Philosophen und künftigen Schriftstellern die Aufnahme in eines der >Häuser< beantragen. Wenn alles klappt, kann dieses Vorgehen das Leben eines Menschen genauso bereichern wie eine akademische Veranstaltung.
Für ehemalige Internatsschüler trifft das nur zum Teil zu. Abwechslung ist nicht die Würze unseres Lebens. Wir sind die Bakterien (nur etwas klüger). Wir gedeihen nur in der eigenen Kolonie. Deshalb — da bin ich ganz sicher — war man bei der Verwaltung nicht besonders erstaunt, als Newall, Wigglesworth und ich beschlossen, unsere Wohngemeinschaft die nächsten drei Jahre fortzusetzen.

Ursprünglich hatten wir Jason Gilbert als vierten haben wollen. Er ist wirklich ein prächtiger Kerl und hätte Leben in die Bude gebracht. Newall hatte auch gedacht, wir könnten von dem Überangebot seiner weiblichen Bewunderer profitieren, obwohl das zweitrangig war.
Dick fragte ihn im Bus auf der Rückfahrt vom Squashmatch gegen Yale (das wir gewonnen hatten). Aber Jason zögerte. Er habe so unglaublich großes Pech mit seinen Mitbewohnern gehabt, daß er sich entschlossen habe, ein Einzelzimmerappartement zu beantragen. Obwohl Studenten des zweiten Studienjahres dieses Privileg nur selten gewährt wird, hat Gilberts Proktor versprochen, ihm einen Empfehlungsbrief zu schreiben. Und Jason schlug vor, wir alle sollten Anträge für das gleiche >Haus< stellen, dann könnten wir immer zusammen essen, und er wäre für unsere zahlreichen Spontan-Partys immer greifbar.
Jetzt blieb das einzige Problem, wo wir uns bewerben sollten. Obwohl es im ganzen sieben Häuser gibt, sind eigentlich nur drei gesellschaftlich annehmbar. Denn trotz dem ganzen Gerede von Demokratie möchten die meisten >Master<. ihr Haus von den anderen absetzen, und sie versuchen deshalb, vorwiegend einen bestimmten Studententyp auszusuchen, der von sich aus schon in dieselbe Richtung tendiert.
Eine Menge wählen Adams-Haus, das nach dem guten alten Johnny benannt wurde (Jahrgang 1755 und zweiter Präsident der Vereinigten Staaten), vielleicht, weil das früher Wohnungen der Goldküste waren. Außerdem gibt es da, durchaus passend, einen Küchenchef, der früher in einem schicken New Yorker Restaurant tätig war (eine nicht zu ignorierende Tatsache, wenn man die Zahl der Frühstücke, Mittag- und Abendessen bedenkt, die man in vollen drei Jahren zu sich nimmt).
Dann gibt es das Lowell-Haus, ein prächtiges klassizistisches Gebäude, dessen >Master< englischer als die Königin ist. Alles in allem, ein Ort für Tweed-Jacken.
Das unbestrittene Paradies für frühere Internatsschüler ist... das Eliot-Haus. Unnötig anzumerken, daß Wig und Newall es auf Platz eins der Liste setzen wollten. Aber ich fühlte mich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, in diesem ziemlich furchterregenden Denkmal meines Großvaters aus rotem Backstein (seine Statue steht sogar im Hof) zu leben. Aber Wig und Newall waren wild darauf, dahin zu kommen, wo die meisten unserer Freunde es sich schon bequem gemacht hatten. Es war ein echtes Dilemma, bis ein unerwarteter Besucher uns eines Abends ziemlich spät überraschte.
Glücklicherweise war niemand zu betrunken, um das Klopfen zu überhören. Newall stand unsicher auf, um unseren nächtlichen Gast zu begrüßen. Plötzlich hörte ich ihn »Ach du lieber Gott« rufen und eilte zur Tür, nur um den Gast antworten zu hören: »Nicht ganz, junger Mann, ich bin nur Gottes bescheidener Diener.« Es war niemand anderes als Professor Finley. Ich meine, der Mann höchst selbst — und das in unserer Bude.
Er sei zufällig auf seinem spätabendlichen Spaziergang vorbeigekommen und hätte gemeint, er sollte sich die Freiheit nehmen, einmal hereinzuschauen, um sich zu erkundigen, wo wir uns für das nächste Jahr bewerben würden. Und  ob das Eliot-Haus vielleicht den Vorzug unserer Wahl genösse.
Wir versicherten ihm schnell, das sei in der Tat so, obwohl  er spüren mußte, daß ich meine Zweifel hatte, ob ich ich, Andrew Eliot im Eliot-Haus wohnen sollte, dessen >Master der Inhaber der Eliot-Professur für Griechisches Altertum war. Eigentlich war er gekommen, um mich zu beruhigen. ]Er erwarte nicht von mir, eine Bibelübersetzung für die Indianer anzufertigen, noch bestünde er darauf, daß ich Präsident von Harvard würde. Und doch sei er überzeugt davon, ich würde mir schon irgendwie einen Namen machen. Ich weiß nicht,
ob ich mehr verblüfft oder mehr bewegt war. Dieser bedeutende Professor glaubte, daß aus mir tatsächlich etwas wird, ich weiß allerdings nicht was.
Am nächsten Morgen war ich immer noch nicht ganz sicher, ob John M. Finley wirklich leibhaftig in unsere Wohnung gekommen war. Aber selbst wenn es ein Traum war, wir drei werden jedenfalls ins Eliot-Haus ziehen. Denn auch der Geist Finleys — wenn es nur sein Geist war — reicht aus, jeden zu verzaubern.

Wenn Jason Gilbert jeden Morgen den >Crimson< vor seiner Zimmertür aufhob, dann interessierte ihn zunächst vor allem der Sportteil, wo er nachsah, ob seine Heldentaten auch verzeichnet waren. Dann las er die erste Seite, um zu erfahren, was in der Universität so alles passierte. Wenn er Zeit hatte, las er noch die internationalen Nachrichten, die immer in irgendeiner Ecke gekürzt aufgeführt waren. Aus diesem Grund entging ihm die kurze Mitteilung, daß zum ersten Mal in der Geschichte Harvards ein Erstsemester den jährlichen Konzert-Wettbewerb des Harvard-Radcliffe-Orchesters gewonnen hatte, und am Abend des 12. April  1955 werde Daniel Rossi, Jahrgang '58, das Klavierkonzert Es-Dur von Franz Liszt spielen.
Jason erfuhr das erst drei Tage später als ein Kuvert unter der Tür durchgeschoben wurde. »Lieber Gilbert, hättest du mir nicht beim Stufen-Test geholfen, hätte ich wahrscheinlich aus Zeitmangel für's Üben den Wettbewerb nicht gewonnen. Hier die zwei versprochenen Karten. Bring eine Freundin mit. Dein Danny.«
Jason lächelte. An diese Sache in der ersten Semesterwoche vor so langer Zeit hatte er sich kaum mehr erinnert, weshalb er auch nie mehr an Dannys Bemerkung gedacht hatte. Jetzt aber konnte er endlich Annie Russell einladen, das umworbenste Mädchen von Radcliffe. Jason hatte schon lange nach dem richtigen Anlaß gesucht. Das hier war eine fabelhafte Gelegenheit.

Am Abend des 12. April drängten sich sämtliche Talentsucher, die es in Harvard gab, ins Sanders Theater, um zu prüfen, was da als neuer Komet in ihre Galaxie eintreten sollte. Der Solist war sich selbst am klarsten darüber, welche Prüfung ihm bevorstand. Danny stand in den Kulissen und sah mit wachsender Nervosität, wie sich der Saal mehr und mehr mit furchterregenden Persönlichkeiten füllte. Nicht nur seine Professoren waren da, sondern er erkannte auch bedeutende Vertreter der berühmten Konservatorien Bostons. Mein Gott - sogar John Finley war da.
Während der aufregenden Probewochen hatte er sich wie besessen auf diese große Gelegenheit gefreut, seine Klavierkünste vor Hunderten von großen Tieren vorzuführen. Er war sich auf einmal wie ein Riese vorgekommen.
Allerdings nur bis zum Abend zuvor. Denn am Vorabend seiner Harvard-Krönung - da war er ganz sicher gewesen - konnte er nicht schlafen. Er warf sich herum und stöhnte, denn er malte sich die unvermeidliche Katastrophe aus. Man wird mich auslachen, dachte er, ich werde ohnmächtig werden, wenn ich auf die Bühne komme. Oder ich werde stolpern. Oder werde zu früh einsetzen oder zu spät. Oder werde alles vergessen haben. Das Publikum wird sich vor Lachen auf dem Boden wälzen, nicht nur die Damen der Gesellschaft, sondern auch Hunderte der wichtigen Leute vom Fach. Eine Katastrophe. Warum habe ich überhaupt bei dem Wettbewerb mitgemacht? Er griff sich an die Stirn. Sie war heiß und feucht. Vielleicht bin ich krank, dachte er — hoffte er. Vielleicht muß mein Auftritt abgesagt werden. Ach bitte, lieber Gott, laß mich krank werden, meinetwegen auch ernsthaft.
Am nächsten Morgen fühlte er sich recht gesund, was ihn sehr beunruhigte. Er fand sich damit ab, am Abend im Sanders Theater vor der Guillotine zu stehen.

Ganz allein stand er hinter der Bühne und wollte, er wäre ganz woanders. Don Löwenstein, der Dirigent, kam nach hinten und fragte, ob er soweit sei. Danny wollte nein sagen, aber irgend etwas ließ ihn nicken. Er atmete tief ein, sagte heimlich »Ach, Scheiße« und ging auf die Bühne, die Augen zu Boden gerichtet. Bevor er sich an den Flügel setzte, verbeugte er sich knapp vor dem Publikum und dankte für den höflichen Applaus. Die Scheinwerfer blendeten ihn gnädigerweise, so daß er keine Gesichter erkennen konnte. Dann geschah etwas Unheimliches. Kaum saß er vor den Tasten, ging seine Furcht in etwas ganz Neues über: Spannung. Er brannte darauf zu spielen. Er nickte Don zu: fertig. Der Einsatz des Dirigenten versetzte Danny in eine fast hypnotische Trance. Er träumte, er spiele fehlerlos. Weit besser als jemals in seinem Leben.
Aus allen Ecken des Saales erreichten ihn Bravorufe, und der Beifall schien nicht nachzulassen.

Was sich dann um Danny herum abspielte, erinnerte Jason an das siegreiche Ende eines Tennisturniers. Es fehlte nur, daß sie ihn hochhoben und auf den Schultern durch das Theater trugen. Graue Eminenzen der Musikwelt standen wie Verehrer an, um ihm die Hand zu schütteln. Aber kaum hatte Danny Jason bemerkt, löste er sich aus der Gruppe und kam zum Bühnenrand, um ihn zu begrüßen. »Du warst großartig«, lobte Jason ihn herzlich. »Wir sind sehr froh, daß wir von dir Karten bekommen haben. Ach ja, darf ich dir Miss Annie Russell, '57, vorstellen?«
»Hallo«, lächelte Danny, »sind Sie in Radcliffe?« »Ja«, antwortete sie strahlend, »und wenn ich sicher auch nicht mehr die erste bin, möchte ich Ihnen doch sagen, daß Sie heute abend großartig waren.«
»Danke«, sagte Danny schnell und fügte hinzu: »Es tut mir wirklich leid, aber ich muß noch ein paar Professoren die Hand schütteln. Laß uns doch mal zusammen essen gehen, ja, Jason? Schön, Sie kennengelernt zu haben, Annie.«
Er winkte und lief fort.
Jason   war   so   angetan   von   Annies   übersprudelndem Charme, daß er sie am Nachmittag des nächsten Tages anrief und sie zum Footballspiel am kommenden Samstag einlud »Es tut mir sehr leid«, sagte sie, »ich fahre nach Connecticut.«
»Aha, eine Verabredung in Yale?« »Nein. Danny spielt mit dem Symphonischen Orchester Hartford.«
Scheiße, dachte Jason, als er einhängte, und war wütend Das geschieht dir recht. Hilf bloß keinem Kommilitonen in Harvard - auch keine Stufe hinauf.

Am Dienstag, den 24. April 1955, verzeichnet die Statistik, daß 71,6 Prozent des 522. Jahrgangs in der Geschichte von Harvard vom Haus ihrer Wahl angenommen worden sind. Für die drei in Wigmore G-21 kam das nicht überraschend, da die Erscheinung eines ehrwürdigen Erzengels ihnen das schon einen Monat zuvor verkündet hatte. Aber sie waren begeistert, daß man ihnen eine Wohnung mit Blick auf den Fluß zugewiesen hatte. Nicht viele Studenten im zweiten College-Jahr genossen diesen Vorzug, und keiner von ihnen genoß das Privileg eines Einzelzimmers, außer Jason Gilbert, Jr.:  für besondere Verdienste.   Sein   Quartier befand  sich gegenüber dem seiner drei aristokratischen Freunde auf der anderen Seite des Eliot-Hofs.
Er berichtete seinem Vater in dem Telefongespräch davon, das er jede Woche mit ihm führte. »Großartig, mein Sohn.
Selbst Leute, die kaum etwas von Harvard gehört haben, wissen, daß zum Eliot-Haus nur die creme der noch nicht graduierten Society gehört.«
»Aber in Harvard gibt es sowieso angeblich nur die Creme«, sagte Jason gutgelaunt.
»Ja, natürlich. Aber Eliot ist nun mal creme de la creme Jason. Deine Mutter und ich sind wirklich stolz auf dich. Sind wir doch überhaupt. Hast du übrigens deine Rückhand weiter verbessert?« »Ja, Vater, habe ich.« »Ich habe neulich in >Tennis World< gelesen, daß sich die Cracks jetzt mehr und mehr durch Laufen in Form bringen - früh morgens, wie die Boxer.«
»Ja, schon«, sagte Jason, »aber dazu habe ich wirklich keine Zeit. Ich muß unglaublich viel für das Studium arbeiten.« »Klar, mein Sohn. Nur nicht das Studium gefährden. Bis nächste Woche.«
»Wiedersehen, Vater. Grüße an Mutter.«

Danny Rossi hingegen war wütend. Er hatte sich fürs Adams-Haus beworben, weil dort vor allem Musiker und Literaten lebten. Man konnte da praktisch an jede Tür klopfen und hatte gleich genügend Leute für ein wenig Kammermusik zusammen.
Er war sich so sicher gewesen, ins Adams-Haus zu kommen, daß er, ohne überhaupt über die möglichen Folgen nachzudenken, auf die Liste dann einfach noch zwei weitere Häuser in ihrer alphabetischen Reihenfolge geschrieben hatte: Dunster und Eliot. Und in das letztere, ins Eliot, kam er. Wie konnte man ihm das nur antun — ihm, der sich schließlich bereits derartig ausgezeichnet hatte. Hätte Adams-Haus nicht eines Tages stolz darauf sein können, daß Danny Rossi dort einmal gewesen war? Außerdem schmeckte ihm die Aussicht gar nicht, drei Jahre lang nur mit diesen eingebildeten ehemaligen Internatszöglingen zusammenleben zu müssen. Er beschloß, sich bei Finley, dem Master, zu beklagen. Seit >Geist 2< verehrte er diesen großen Professor und glaubte, ihm gegenüber seine Enttäuschung ehrlich ausdrücken zu können. Um so erstaunter war er, als Finley aufrichtig sagte: »Ich wollte Sie unbedingt haben, Daniel. Ich mußte dem Rektor von Adams zwei Footballgrößen und einen Dichter, der schon veröffentlicht hat, für Sie überlassen.«
»Das ist sicher sehr schmeichelhaft für mich, Herr Professor«, sagte Danny, den das ziemlich aus dem Gleichgewicht brachte. »Nur wollte ich ...« »Ich weiß«, sagte der Rektor und wußte in der Tat, was Danny dagegen hatte, »aber ungeachtet unseres guten Rufs möchte ich, daß wir im Eliot-Haus nur die Besten aus allen Disziplinen haben. Sind Sie schon mal bei uns gewesen?« »Nein, Herr Professor«, gab Danny zu.
Wenig später führte Finley Danny die Wendeltreppe des Turmes im Eliot-Hof hinauf. Der junge Mann war außer Atem, aber der dynamische Finley war vor ihm die Stufen geradezu hinaufgesprintet und öffnete nun eine Tür.
Dem staunenden Danny bot sich durch ein großes rundes Fenster ein herrlicher Blick über den Charles River. Erst Sekunden später bemerkte er das Klavier, das hier stand. »Na, wie finden Sie das?« fragte Finley. »Alle großen Geister der Vergangenheit fühlten sich an hochgelegenen Orten besonders inspiriert. Denken Sie daran, wie der große italienische Genius Petrarca den Mont Ventoux bestieg. Eine sehr platonische Tat.« »Wirklich unglaublich«, sagte Danny. »Hier oben ließe sich doch gut eine Symphonie komponieren, finden Sie nicht, Daniel?«
»Ja, bestimmt.« »Deshalb wollten wir Sie bei uns haben. Denken Sie daran, Genies sind in Harvard zwar überall willkommen, aber wir
hier kümmern uns um sie.«
Die lebende Legende Finley streckte dem jungen Musiker die Hand entgegen und sagte: »Ich freue mich, daß Sie im Herbst hierherkommen.« »Danke, vielen Dank«, sagte Danny überwältigt, »ich danke Ihnen, daß Sie mich geholt haben.«

Für manche Studenten des Jahrgangs '58 war der 24. April aber ein Tag wie jeder andere. Ted Lambros gehörte zu diesen Pechvögeln. Denn da er außerhalb wohnte, hatte er sich bei keinem der Häuser bewerben können und war deshalb völlig unberührt von den Veränderungen bei allen, die bis jetzt am Yard gewohnt hatten.
Er ging wie sonst zu den Vorlesungen, arbeitete den ganzen Nachmittag in der Lamont-Bibliothek und machte sich um fünf Uhr ins >Marathon< auf. Am Ende des ersten Semesters hatte er eine Eins minus und drei Zweier eingeheimst und gehofft, ein Stipendium zu bekommen, das es ihm ermöglicht hätte aufs College-Gelände zu ziehen. Aber zu seiner Enttäuschung erhielt er einen Brief, worin ihm mitgeteilt wurde, man freue sich, ihm ein Stipendium in Höhe von achthundert Dollar für das nächste Studienjahr gewähren zu können.
Eigentlich wäre das Grund genug zur Freude gewesen. Aber Harvard hatte gerade angekündigt, die Studiengebühren würden genau um diesen Betrag erhöht. Ted war schrecklich frustriert. Er kam sich wie ein Wettläufer vor, der wie wahnsinnig auf einer Tretmühle sprintet. Er gehörte immer noch nicht wirklich dazu. Noch nicht.

Bei Danny Rossis Konzert im Sanders Theater waren nicht nur die örtlichen Akademiker gewesen. Ohne daß der Solist es wußte, hatte Professor Piston den berühmten Dirigenten der Bostoner Symphoniker, Charles Munch, eingeladen. Der Maestro schrieb Danny eigenhändig einen schmeichelhaften Brief, in dem er die Aufführung lobte und ihn einlud, im Sommer bei den berühmten Tanglewood Musikfestspielen mitzuarbeiten. »Die Aufgaben, die Sie dort erwarten, sind nicht übertrieben groß, aber ich meine, Sie würden davon profitieren, den großen Künstlern, die dorthin kommen werden, so nahe zu sein. Und ich möchte Sie persönlich einladen, an unseren
Proben teilzunehmen, da ich weiß, daß Sie die Musik zu Ihrem Beruf machen wollen. Ihr Charles Munch.«
Diese Einladung löste auch ein heikles Familienproblem. Denn Gisela Rossi hatte in einem ihrer wöchentlichen Briefe dem Sohn ernsthaft versichert, wenn er im Sommer nach Hause käme, würde sein Vater ganz bestimmt sein Urteil über ihn ändern. Und dann würde daraus sicher ein neues gutes Verhältnis entstehen.
Obwohl er seine Mutter gerne wiedergesehen und auch Dr. Landau gerne von seinem großen Erfolg erzählt hätte, wollte Danny dennoch eine weitere Auseinandersetzung mit Dr. med. dent. Arthur Rossi nicht riskieren.

Fast erschreckend plötzlich war das erste Studienjahr zu Ende. Der Mai begann mit der Vorbereitungszeit auf die Prüfungen.   Diese   speziellen   Tage   waren   eigentlich   für zusätzliches, selbständiges Lernen gedacht. Aber viele Harvard-Studenten - wie zum Beispiel Andrew Eliot & Co - fingen in diesem Semester überhaupt erst mit der Arbeit an und zwar  mit der Pflichtlektüre für die allerersten Vorlesungen.
Die Sportsaison erreichte ihren Höhepunkt durch zahlreiche Wettkämpfe mit Yale. Nicht alle gingen zugunsten Harvards aus. Aber Jason Gilbert führte die Tennismannschaft zum Sieg, und es machte ihm besonderen Spaß, das Gesicht des Tennis-Coach von Yale zu sehen, als er gnadenlos den Ranglistenersten vom Platz fegte und dann im Doppel mit Dickie Newall ein zweites Mal triumphierte.
Jetzt mußte aber auch Jason Gilbert ziemlich für das Studium ackern. Er reduzierte sein gesellschaftliches Leben drastisch auf die Wochenenden. Am Harvard Square nahm der Verkauf von Zigaretten und Hallo-Wach-Pillen drastisch zu. Die Bibliothek war rund um die Uhr bis auf den letzten Platz besetzt. Im modernen Belüftungssystem vermischten sich all die Gerüche ungewaschener Hemden, kalten Schweißes und nackter Angst. Niemand nahm jedoch Notiz davon.
Die Prüfungen selbst waren dann tatsächlich eine Erleichterung. Der Jahrgang '58 erfuhr zu seinem Entzücken die Wahrheit des alten Harvard-Spruchs: Am schwierigsten ist es hereinzukommen. Um später noch durchzufallen, braucht man schon eine besondere Begabung.
Während sich die Wohnheime leerten und Platz gemacht wurde für das 25jährige Jubiläumstreffen des Jahrgangs 1950, deren uralte Teilnehmer während einer Woche noch einmal dort wohnen sollten, verschwanden aber doch einige Angehörige des Jahrgangs '58, um niemals wiederzukehren.
Eine kleine Zahl Studenten hatte tatsächlich das Unmögliche geschafft und war durchgefallen. Ein paar hatten offen zugegeben, daß sie sich dem zunehmenden Druck von Seiten ihrer unglaublich ehrgeizigen Kommilitonen nicht mehr gewachsen  fühlten. Auch um bei Sinnen zu bleiben, hatten sie deshalb aufgegeben und wechselten zu Universitäten, die näher bei ihrem Heimatort lagen. Einige gingen mit fliegenden Fahnen unter, und verloren ihren Verstand dabei. David Davidson — noch immer im Krankenhaus — war nicht der einzige. An Ostern hatte es einen Selbstmord gegeben, der vom >Crimson< aus Erbarmen fälschlicherweise als Autounfall hingestellt wurde — obwohl das Auto von Bob Rutherford aus San Antonio, Texas, eigentlich in seiner Garage stand, als der Tod eintrat.
Und doch, war das nicht alles im Grunde eine Lehre für die Verlierer wie für die Gewinner, wie das einige robuste Typen des Jahrgangs '58 vertraten? Würde das Leben später, da ganz oben, etwa leichter sein, als es die selbstgewählte Folterkammer Harvard war?
Aber die Sensibleren unter ihnen begriffen, daß sie noch drei weitere Jahre durchzustehen hatten.

8. Andrew Eliots Tagebuch
1. Oktober 1955

Im August waren wir, unsere ganze Familie, in unserem Haus in Maine. Ich verbrachte die meiste Zeit damit, meine neue Stiefmutter und deren Kinder kennenzulernen. Vater und ich hatten da am See auch unser jährliches Gespräch. Zuerst gratulierte er mir, daß ich in allen Fächern gerade so durchgekommen war. Erfreulicherweise hielt er es für nicht ganz ausgeschlossen, daß ich tatsächlich einmal vier Jahre lang auf ein und derselben Schule bleiben würde. Er betrachtete es als Teil seiner Erziehungsversuche, mich davon zu überzeugen, es sei nicht nötig, unter dem Handicap zu leiden, reich geboren worden zu sein. Dabei eröffnete er mir, er käme gerne weiterhin für Studiengebühren und Lebenskosten auf, aber er werde mir kein Taschengeld mehr zahlen - und das sei nur zu meinem Nutzen. Falls ich also — wie er hoffe - einem Final Club beitreten, weiter das Harvard Footballteam anfeuern und erwählte Damen in das teuerste Restaurant am Platze führen wolle, dann müsse ich mir eine einträgliche Tätigkeit suchen. Und das sei natürlich nur dazu gedacht, daß ich mich in Unabhängigkeit üben könne. Ich dankte ihm höflich dafür.
Nach Cambridge zurückgekehrt, begab ich mich sofort zum Studentenwerk und erfuhr, daß die wirklich lukrativen Jobs bereits an Stipendiaten, die die Kohlen dringender brauchten als ich, vergeben waren. Die befreiende Erfahrung, abzuwaschen oder Kartoffelbrei auf Teller zu schöpfen, war mir also nicht vergönnt.
Gerade als die Situation sehr schlecht aussah, begegnete ich jedoch Master Finley im Hof. Als ich ihm erzählte, warum ich schon vor Semesteranfang gekommen war, pries er meinen Vater und dessen Wunsch, mir die heiligsten Werte der Nation einzupflanzen. Als hätte er nichts Besseres zu tun brachte er mich zu meiner Überraschung in die Eliot-Bibliothek, wo er den Bibliotheksleiter, Ned Devlin, überredete mich als einen seiner Assistenten zu beschäftigen.
Jedenfalls bin ich jetzt fein raus. Drei Abende in der Woche bekomme ich fünfundsiebzig Cent die Stunde nur dafür, daß ich bis Mitternacht am Tisch sitze und auf Leute aufpasse, die lesen. Master Finley muß gewußt haben, was er tat, denn der Job stellt so wenig Anforderungen, daß ich während der Zeit selbst arbeiten kann, einfach, weil es nichts anderes zu tun gibt.
Ganz selten einmal unterbricht mich einer der Kerle und nimmt ein Buch aus den Fächern. Aber ich brauche nicht mal aufzustehen, es sei denn, jemand redet zu laut, und ich muß um Ruhe bitten.
Gestern abend aber passierte tatsächlich etwas. Der Lesesaal war übersät von lernenden Preppies in ihrer typischen Uniform, in Button-down-Hemden und ausgebeulten Hosen.
An einem Tisch in der Ecke ganz hinten sah ich an einem gutgebauten Oberkörper etwas Eigenartiges, nämlich meine eigene Jacke, wie ich glaubte. Oder, um genau zu sein, meine frühere Jacke. Normalerweise sehe ich so etwas überhaupt nicht, aber das war eine Tweed-Jacke mit Lederknöpfen die mir meine Eltern von Harrods in London mitgebracht hatten.
Davon gab es hier nicht so viele. Nicht, daß mich das schon überraschte. Schließlich hatte ich die Jacke im Frühjahr dem berühmten Joe Keezer, Händler für gebrauchte Kleidung, verkauft. Er ist hier eine feste Institution, und die meisten meiner Freunde haben ihre schicken Sachen zu dem alten Joe geschleppt, wenn sie Extrageld für Autos, Drinks oder irgendwelche Mitgliedsbeiträge brauchten. Aber ich kenne niemanden, der dort jemals etwas gekauft hätte. Das gehört sich einfach nicht. In meiner offiziellen Rolle als Bibliothekar mußte ich der Sache auf den Grund gehen, denn möglicherweise, oder sehr wahrscheinlich, hatte sich jemand auf diese Weise getarnt und in die Bibliothek eingeschlichen. Der Kerl sah ganz gut aus, hatte dunkle Haare, nur war er etwas zu sorgfältig gekämmt. Er hatte nicht nur die Jacke anbehalten, obwohl der Lesesaal ziemlich stickig war, sondern, wie ich sah, auch den Kragen nicht aufgemacht. Auch schuftete er wie ein Wahnsinniger Er war völlig in das Buch versenkt und bewegte sich nur gelegentlich, um etwas in einem Wörterbuch nachzuschlagen. Natürlich ist alles das nicht etwa verboten. Aber es ist einfach bei den Insassen des Eliot-Hauses nicht üblich Deshalb beschloß ich, diesen möglichen Eindringling im Auge zu behalten.

Um 11.45 Uhr fange ich gewöhnlich an, die Lichter auszumachen, damit alle wissen, daß ich zumache. Zufällig war die Bibliothek gestern abend, außer bis auf diesen Fremden in meiner früheren Jacke, schon leer. Das verschaffte mir die Gelegenheit, das Rätsel zu lösen. Ich ging lässig zu seinem Tisch, deutete auf die große Lampe darüber und fragte, ob er etwas dagegen habe, wenn ich sie ausmachen würde. Er sah auf und sagte verwirrt und sich entschuldigend, er hätte nicht mitbekommen, daß es schon so spät sei. Als ich sagte, den Hausregeln nach habe er offiziell noch vierzehn Minuten, begriff er. Er stand auf und fragte, wie ich darauf gekommen sei, daß er nicht aus dem Hause sei. Sähe man ihm das an? Ich antwortete taktvoll, das hinge mit der Jacke zusammen. Er untersuchte sie verlegen. Ich erklärte ihm, die Jacke hätte früher mir gehört. Aber dann kam ich mir beschissen vor, das erwähnt zu haben, und versicherte ihm, er könne gerne die Bibliothek benutzen, wenn ich Dienst hätte. Er sei doch Harvard-Student, oder? »Ja«, und dann stellte sich heraus, er war auch mein Jahrgang, '58, Externer, und hieß Ted Lambros.

Am 17. Oktober entstand etwas Unruhe im Eliot-Haus. Genauer gesagt, eine Demonstration gegen klassische Musik fand statt. Um noch genauer zu sein, eine Demonstration gegen Danny Rossi. Extrem genau gesagt, die Aggressivität richtete sich nicht gegen den Mann, sondern gegen sein Klavier.
Es fing alles damit an, daß ein paar Einwohner noch relativ früh am Tag eine Cocktailparty veranstalteten. Danny übte gewöhnlich im Paine-Saal, außer, wenn er Prüfungen hatte oder ein Aufsatz fällig war. Dann benutzte er das gebrauchte Klavier bei sich im Zimmer.
Er war an eben diesem Nachmittag gerade in voller Fahrt, als ein paar der fröhlichen Vögel fanden, Chopin sei wirklich nicht die passende Musik, um sich dabei zu besaufen. Das war einfach eine Geschmacksfrage. Und im Eliot-Haus war der Geschmack natürlich oberstes Gesetz. Man beschloß also, Rossi zum Schweigen zu bringen.
Zuerst versuchte man es diplomatisch. Dickie Newall wurde entsandt, klopfte höflich an Rossis Portal und ersuchte mit allem Respekt darum, Rossi solle aufhören, »diese Scheiße« zu spielen.
Der Pianist erwiderte, die Hausregeln erlaubten ihm, nachmittags ein Instrument zu spielen. Und er poche auf seine Rechte. Worauf Newall erwiderte, ihm seien die Regeln scheißegal und Rossi störe ein ernstes Gespräch. Danny bat ihn zu verschwinden, was auch geschah. Als Newall vom Fehlschlag seiner Mission berichtete, beschlossen  seine  Mitschlucker, handgreiflich zu werden.
Vier der stärksten und betrunkensten Legionäre des Hauses marschierten entschlossen über den Hof und zu Rossis Zimmer hinauf. Sie klopften höflich an. Er öffnete die Tür einen Spalt. Ohne ein Wort zu sagen, drang das Kommando ein, umzingelte das lästige Instrument, schob es zum offenen Fenster und warf es hinaus. Dannys Klavier fiel drei Stockwerke tief auf den Hof und krachte, sich in seine Einzelteile auflösend, auf das Pflaster.
Glücklicherweise kam gerade niemand vorbei.
Rossi befürchtete, er wäre als nächster dran. Aber Dickie Newall sagte nur: »Danke für deine Hilfe, Dan.« Und die fröhliche Truppe zog ab.
In wenigen Augenblicken war das zerschmetterte Instrument von einer Menschenmenge umgeben. Danny war als erster da und führte sich auf, als sei ihm ein Familienmitglied ermordet worden. (Wie es Newall später ausdrückte: »Wahnsinn, ich habe noch nie  jemand gesehen, der sich wegen einem Stück Holz so aufregt.«;
Die Sturmtruppe wurde sofort ins Büro des Ober-Tutors gerufen, wo ihnen Dr. Porter die Relegation androhte und ihnen befahl, ein neues Klavier zu kaufen und ein Fenster zu ersetzen, das bei der Sache zu Bruch gegangen war. Außerdem sollten sie hingehen und sich entschuldigen.
Aber Rossi war noch immer wütend. Er sagte ihnen, sie seien unzivilisierte Tiere, die es nicht verdienten, in Harvard zu sein. Da Dr. Porter dabei war, gaben sie das widerwillig zu. Beim Hinausgehen schworen die Herren, sich an dem »kleinen italienischen Makkaroni«, der ihnen so viel Ärger gemacht hatte, zu rächen.
Am selben Abend sah Andrew Eliot, der während des nachmittäglichen Debakels beim Fußballspiel die Reservebank warmgehalten hatte, daß Danny allein an einem Ecktisch saß, im Essen herumstocherte und wirklich elend aussah. Er ging zu ihm und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »He, Rossi, das mit dem Klavier tut mir leid.«
Danny hob den Kopf. »Was zum Teufel bilden die sich eigentlich ein«, explodierte er plötzlich. »Wenn du es genau wissen willst«, sagte Andrew, »die halten sich für die Größten, dabei sind sie nur ein Club von Hohlköpfen, die hier gar nicht erst reinkämen, wenn ihre Eltern sie nicht vorher auf teure Schulen geschickt hätten.
Jemand wie du macht sie unsicher.« »Ich?«
»Klar, Rossi. Du reduzierst für die doch das alles hier zu dem, was es tatsächlich ist. Du hast etwas, was man nicht kaufen kann, und das ärgert sie bis aufs Blut. Sie sind einfach neidisch, weil du so begabt bist.«
Danny war erst einmal still, dann sah er Andrew an und sagte leise: »Weißt du, Eliot, du bist ein prima Kerl.

Ted konnte sich nicht auf Helena in Troja konzentrieren. Nicht etwa, daß ihn Professor Whitmans Kommentare zu ihrem Auftritt im dritten Buch der Ilias nicht fasziniert hätten. Aber Ted wurde abgelenkt von etwas, das noch göttlicher war als das Gesicht, das tausend Schiffe hatte in See stechen lassen.
Schon länger als ein Jahr hatte er dieses Mädchen angestarrt. Im Herbst zuvor hatten sie beide in Altgriechisch gesessen, und Ted erinnerte sich noch immer daran, wie er sie das erste Mal gesehen hatte. Die weiche Morgensonne schien durch die Fenster der Sever Hall und ließ ihr braunes Haar und ihr zartes Gesicht aufleuchten. Sie schien wie in Elfenbein geschnitten. Das geschmackvolle, unauffällige Kleid ließ ihn an die Nymphe aus der Horaz-Ode >Simplex Munditiis< denken: geschmückt mit Schlichtheit. Er erinnerte sich an den Tag vor dreizehn Monaten, als er Sara Harrison das erste Mal gesehen hatte. Professor Stewart hatte gebeten, jemand möchte paideuo im Perfekt und der ersten Aorist konjugieren, und sie hatte sich gemeldet. Sie hatte scheu am Fenster in der hintersten Reihe gesessen - anders als Ted, der immer ganz vorne in der Mitte saß. Obwohl sie es fehlerlos machte, war ihre Stimme so leise, daß Steward sie höflich bat, etwas lauter zu sprechen. Da hatte Ted den Kopf gewandt und das Mädchen gesehen.
Von da an saß er immer ganz rechts außen in der ersten Reihe, um Sara sehen zu können und um gleichzeitig auffällig genug plaziert zu sein, akademische Punkte sammeln zu können. Er hatte das Studentenverzeichnis von Radcliffe in seinem Tisch, und wie ein heimlicher Trinker nahm er es immer wieder heraus, um sich in ihr Bild zu versenken. Er las auch die nebenstehenden mageren Angaben zur Person. Sie kam aus Greenwich, Connecticut, und war auf Miss Porters Internat gewesen.
Sie wohnte im Cabot-Haus — für den unwahrscheinlichen Fall, daß er den Mut haben würde, sie anzurufen. Aber er war nicht einmal mutig genug, um nach dem Seminar ein beiläufiges Gespräch anzufangen. Zwei Semester waren so verstrichen, in denen er sich auf die Schwierigkeiten griechischer Verben ebenso wie auf Saras köstliches Gesicht konzentriert hatte. Aber je aggressiver und kühner er war, wenn es um Antworten auf grammatikalische Fragen ging, desto scheuer war er, auch nur ein Wort an die engelhafte Sara Harrison zu richten.
Dann aber geschah etwas Unerwartetes. Sara konnte eine Frage nicht beantworten. »Es tut mir leid, Mr. Whitman, aber ich bekomme das mit dem Hexameter von Homer einfach nicht hin.« »Mit etwas Übung schaffen Sie das schon«, erwiderte der Professor freundlich. »Mr. Lambros, würden Sie bitte den Vers lesen.« Damit fing alles an. Denn nach dem Seminar kam Sara auf Ted zu. »Sie machen das wirklich wunderbar. Was ist denn eigentlich der Trick dabei?«
Er hatte kaum den Mut zu antworten.
»Ich helfe Ihnen gerne, wenn Sie möchten.« »O ja. gerne, vielen Dank. Das fände ich sehr schön.« »Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?« »Prima.«
Und sie verließen nebeneinander die Sever Hall.
Ted fand sofort heraus, wo ihr Problem lag. Beim Lesen der Verse halte sie das Diagramm nicht beachtet, ein griechischer Buchstabe, den es in Homers Alphabet noch gab, der aber inzwischen verlorengegangen  war und nicht im Text erschien.
»Sie müssen sich nur vorstellen, wo ein Wort ein unsichtbares >w< am Anfang haben könnte. Wie oinos, das wird dann zu woinos, was einen an Wein erinnert, und das heißt es ja auch.«
»Wissen Sie, Ted, Sie sind ein fabelhafter Lehrer.«
»Es ist manchmal hilfreich, Grieche zu sein«, sagte er so scheu, wie es sonst gar nicht seine Art war.
Zwei Tage später rief Professor Whitman Sara Harrison wieder auf, um einen Hexameter von Homer zu lesen. Sie war perfekt. Danach lächelte sie dankbar ihrem stolzen Tutor zu. »Tausend Dank, Ted«, flüsterte sie beim Hinausgehen, »wie kann ich das wiedergutmachen?«
»Indem wir zusammen eine Tasse Kaffee trinken gehen.« »Mit Vergnügen«, antwortete sie. Und ihr Lächeln machte ihn schwach in den Knien.
Von da an wurden ihre Zusammenkünfte nach dem Seminar zu einem Ritual, auf das Ted sich freute wie ein frommer Mönch auf die Morgenandacht. Natürlich blieb ihr Gespräch allgemein, es drehte sich meistens um ihre Vorlesungen und besonders um Griechisch. Ted war viel zu scheu, irgend etwas zu tun, was ihre Beziehung hätte verändern und die platonische Ekstase beenden können.
In Whitmans Seminaren halfen sie sich gegenseitig weiter. Ted war natürlich besser im Griechischen, Sara aber kannte die Sekundärliteratur. Sie hatte Milman Parrys >L'epithete traditionelle dans Homere< gelesen (das es nicht auf Englisch gab), und Ted bekam durch sie ein besseres Verständnis für Homers formelhaften Stil.
Sie bekamen beide eine Eins und belegten freudig als nächstes >Altgriechische Lyrische Dichtung« bei Professor Havelock. Die Gedichte ließen Teds Gefühle noch intensiver werden. Es begann mit den leidenschaftlichen Versen der Sappho, die sie sich am verkratzten Tisch gegenübersitzend abwechselnd vorlasen und übersetzten:

»Reiterscharen sagen die einen, Fußvolk
Andere, Schiffe seien das Schönste auf der
Dunklen Erde. Ich aber sage, was die
Liebe begehrt, das ist's.«

Und so weiter, das ganze 16. Fragment von Sappho.
»Ist das nicht fantastisch, Ted?« rief Sara, »wie eine Frau ihre Gefühle ausdrückt, indem sie sagt, sie überträfen alles, was in der Welt der Männer von Bedeutung ist. Das muß damals ganz schön revolutionär gewesen sein.«
»Was mich so beeindruckt, ist, wie sie ohne jede Verlegenheit ihre Gefühle ausdrückt. Das ist für den Mann wie die Frau ganz schön schwer.« Merkte sie, daß er auch von sich selbst sprach?
»Noch Kaffee?« fragte er.
Sie nickte und stand auf. »Jetzt bin ich dran.«
Während sie zur Theke ging, dachte Ted flüchtig daran, sie einmal zum Essen einzuladen, verlor aber gleich wieder den Mut. Außerdem war er ja jeden Abend der Woche von fünf bis Mitternacht ins >Marathon< verbannt und war auch sicher, daß sie einen Freund hatte.
Zur Feier des Frühlingsanfangs las Professor Levine in seiner Lateinübung außerhalb des Lehrplans die herrliche Hymne >Pervigilium Veneris<. Dort wird ein neuer Frühling für alle Liebenden besungen, aber die Hymne endet mit einem ergreifenden elegischen Ton:
lila cantat, nos tacemus: quando ver venit meum? Quando fiam uti chelidon ut tacere desinam?
Die Vögel singen und wir schweigen. Wann nur, frag' ich, kommt mein Frühling? Wann werde ich wie die Schwalbe sein und nicht mehr
töricht schweigen?

9. Andrew Eliots Tagebuch
4. November 1955

Schon lange, bevor ich nach Harvard kam, habe ich davon geträumt, ein Chorus-Girl zu sein. Nicht nur wegen des Gelächters, sondern auch, weil man dabei sehr gut Mädchen kennenlernen kann.
Über hundert Jahre lang hat der >Hasty Pudding Club< mittlerweile alljährlich eine nur mit Männern besetzte musikalische Komödie herausgebracht. Autoren sind meistens die Geistreichsten unter den Harvard-Studenten (Alan J. Lerner, '40, machte dabei genügend Erfahrung, um später >My Fair Lady< zu schreiben).
Der legendäre Ruf der Show beruht jedoch nicht auf der Qualität des Librettos, sondern vielmehr auf der Quantität der Mitwirkenden. Denn dieses einzigartige Corps de Ballet besteht aus muskulösen Sportstypen in Frauenkleidern, die ihre behaarten Beine in die Höhe werfen.
Nach Cambridge geht dieses witzlose und ziemlich ordinäre Stück auf eine kurze Tournee durch einige Städte, die aufgrund der Spenderlaune dortiger alter Harvard-Abgänger ausgesucht werden. Sehr wichtig ist dabei auch die Mannbarkeit der dazugehörigen Töchter.
Ich erinnere mich, daß, als mein Vater mich vor Jahren das erste Mal zu so einer Aufführung mitnahm, die donnernden Hufschläge der Cancan-Knaben fast das Haus ruinierten, jedenfalls erzitterte das ganze hölzerne Gebäude in der Holyoke Street. Dieses Jahr wird als 108. Aufführung >Ein Ei für Lady Godiva< gegeben, wobei der Titel schon auf den besonders feinen Humor schließen läßt.
Der Nachmittag, an dem vorgespielt werden mußte, glich jedenfalls einer Elefantenhochzeit. Im Vergleich zu einigen Football-Spielern sah Wigglesworth als Mitglied der Truppe schon fast wie eine Elfe aus. Fraglos wollten diese ganzen Dinosaurier unbedingt eine der Zofen von Lady Godiva sein-so jedenfalls sah ihre Verkleidung in diesem Jahr aus.
Ich wußte, es würde einen harten Wettbewerb geben, weshalb ich mit Gewichten an den Beinen trainiert hatte, um die Beinmuskulatur so in Form zu bringen, daß ich genommen würde. Jeder hatte etwa eine Minute Zeit, etwas vorzusingen, aber ich glaube, die ganze Angelegenheit war in dem Augenblick entschieden, als wir unsere Hosenbeine aufkrempelten. Wir wurden alphabetisch aufgerufen, und mit zitternden Knien betrat ich die Bühne und sang einen Fetzen aus >Alexanders Rag Time Band< im tiefsten Bereich meines Baritons.
Zwei Tage lang schwitzte ich vor Aufregung, daß die Besetzung endlich bekanntgegeben würde. Heute nachmittag war es soweit. Es gab zwei Überraschungen. Weder ich noch Wig waren Zofen geworden. Mike erhielt die begehrte Rolle von Fifi, Lady Godivas debütierender Tochter, und damit ewigen Ruhm. Und ich - o Schande - war Prinz Maccaroni, einer der Bewerber um seine Hand.
»Phantastisch«, meinte Mike begeistert, »ich teile schon das Zimmer mit einem meiner Freier.«
Ich finde das gar nicht komisch, denn ich habe wieder einmal versagt. Ich bin nicht einmal Manns genug, ein Mädchen zu sein.

Es war der übliche Freitagabend im >Marathon<. Alle Tische waren mit lebhaft redenden Harvard-Studenten und ihren Mädchen besetzt. Sokrates trieb sein Personal an, schnell zu machen, denn vor dem Restaurant hatte sich bereits eine Schlange von Leuten gebildet, die auf einen Tisch warteten. Da schien es vorne an der Kasse ein Problem zu geben. Sokrates rief seinem Sohn durch das Lokal auf Griechisch zu: »Theo, geh hin und helf deiner Schwester.«
Ted eilte nach vorn. Er hörte Daphne sagen: »Schauen Sie, es tut mir wirklich sehr leid, aber es muß sich um ein Mißverständnis handeln. Wir nehmen für das Wochenende keine Reservierungen an.«
Aber der große anmaßende Preppie mit seinem Chesterfield-Mantel bestand weiter darauf, er habe für acht Uhr einen Tisch reservieren lassen und denke nicht daran, sich draußen auf der Massachusetts Avenue unter das Volk zu mischen. Daphne war erleichtert, daß ihr Bruder kam. »Was ist los, Schwesterchen?« fragte Ted. »Dieser Herr besteht darauf, er habe einen Tisch reserviert. Teddy. Aber du weißt ja, wir reservieren nicht am Wochenende.«
Ja so ist es  antwortete Ted und wandte sich an den protestierenden Gast: »Am Wochenende nehmen wir nie ...«
Er hielt mitten im Satz inne, als er sah, wer da neben diesem wütenden, vornehm gekleideten Mann stand.
»Tag, Ted«, sagte Sara Harrison, der offensichtlich die Grobheit ihres Begleiters peinlich war. »Ich glaube, Alan hat sich geirrt. Es tut mir sehr leid.«
Ihr Begleiter warf ihr einen funkelnden Blick zu. »Ich mache bei so etwas keinen Fehler«, erklärte er mit Nachdruck und wandte sich sofort wieder an Ted. »Ich habe gestern hier angerufen und mit einer Frau gesprochen. Ihr Englisch war nicht besonders, weshalb ich ihr alles sehr genau erklärte.«
»Das muß Mama gewesen sein«, sagte Daphne. »Diese >Mama< hätte die Tischbestellung notieren sollen«, bestand der kleinliche Alan.
»Das hat sie auch«, sagte Ted und nahm jetzt das große Buch >Reservierungen< zur Hand. »Sind Sie Mr. Davenport?« »Ja, das bin ich«, sagte Alan. »Und ist da nun für mich ein Tisch für acht Uhr reserviert oder nicht?« »Ja, gestern abend, Donnerstag- da nehmen wir Reservierungen an. Sehen Sie selbst«, er zeigte auf die Seite.
»Ich kann das nicht lesen. Es ist griechisch«, protestierte der andere. »Dann bitten Sie doch Miss Harrison, es Ihnen vorzulesen.«
»Ziehen Sie bitte meine Begleiterin nicht in Ihren Saustall hinein.«
»Bitte, Alan, wir kennen uns vom Studium her. Er hat recht.«
Sara zeigte auf etwas, das wie »Davenport« aussah, von Mrs. Lambros für Donnerstag, acht Uhr, eingetragen. »Du hast vergessen, ihr zu sagen, daß es für den nächsten Tag war.«
»Was ist denn mit dir los, Sara?« fuhr Alan sie an. »Willst du etwa der Analphabetin da mehr glauben als mir?«
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Ted und versuchte, sich so gut es ging zu beherrschen, »ich bin sicher, meine Mutter kann genausogut lesen und schreiben wie Ihre Mutter. Sie zieht es nur vor, in ihrer Muttersprache zu schreiben.«
Sara versuchte, die zunehmend schärfere Unterhaltung zu beenden. »Komm, Alan«, sagte sie leise, »wir essen irgendwo
eine Pizza. Das möchte ich sowieso viel lieber.«
»Nein, Sara, es geht hier ums Prinzip.«
»Mr. Davenport«, sagte Ted ruhig, »wenn Sie aufhören, sich hier so aufzuspielen, gebe ich Ihnen den nächsten frei werdenden Tisch. Wenn Sie sich aber weiter in dieser Weise benehmen, dann werfe ich Sie hinaus.« »Verzeihen Sie, Kellner«, antwortete Alan, »ich studiere Jura, und da ich in keiner Weise angetrunken bin, haben Sie kein Recht, mich abzuweisen. Versuchen Sie es nur, dann
verklage ich Sie.«
»Entschuldigen Sie, es mag ja sein, daß Sie in Harvard eine Menge bedeutender Fälle kennengelernt haben, aber ich bezweifle, ob Sie auch die Stadtverordnung von Cambridge kennen, die es jedem Restaurantbesitzer erlaubt, einen Passanten - ob angetrunken oder nicht - hinauszuwerfen, wenn er sich nicht ordentlich aufführt.« Endlich hatte Alan begriffen, daß es sich hier um einen Schaukampf handelte, mit Sara als Preis. »Wagen Sie es nur, mich hinauszuwerfen«, gab Alan drohend zurück.
Niemand rührte sich. Es sah ganz nach einer Schlägerei der Kontrahenten aus. Daphne merkte, daß ihr Bruder drauf und
dran war, ihre Existenz zu gefährden, und flüsterte: »Bitte, Ted, tu es nicht.«
»Würdest du bitte mitkommen, Alan?« Alan war verwirrt, denn das hatte Sara gesagt. Er sah sie wütend an. »Nein«, sagte er. »Ich bleibe hier und esse zu Abend.« »Dann wirst du alleine essen«, antwortete sie und marschierte hinaus.
Daphne dankte heimlich ihrem Herrgott, und Ted stürzte in die Küche, wo er mit den Fäusten die Wand bearbeitete. Sofort erschien sein Vater. »Ti diabolo echeis, Theo? Was soll dieses alberne Benehmen? Das Lokal ist voll, die Gäste beschweren sich. Willst du mich ruinieren?«
»Ich könnte mich umbringen«, schrie Ted und schlug wieder auf die Wand ein.
»Theo, Sohn, mein Ältester, wir müssen leben. Bitte geh hinaus und kümmere dich um die Tische zwölf bis zwanzig.« Daphne steckte den Kopf durch die Küchentür.
»Die Eingeborenen werden unruhig. Was ist denn mit Teddy los?«
»Nichts«, fuhr Sokrates sie an. »Geh zur Kasse zurück Daphne!«
»Aber Papa«, antwortete sie eingeschüchtert, »da ist ein Mädchen, sie möchte mit Theo sprechen - sie war sozusagen die Schiedsrichterin der Auseinandersetzung.«
»Ach du Scheiße!« stöhnte Ted und wandte sich in Richtung der Männertoiletten.
»Wo gehst du denn jetzt hin?« bellte Sokrates. »Mich kämmen«, sagte Ted und verschwand.
Sara Harrison stand scheu in einer Ecke und zitterte ein wenig in ihrem Mantel, obwohl das Lokal überheizt war.
Ted ging auf sie zu. »Hallo«, sagte er auf die lockere Art die er vor dem Spiegel geprobt hatte.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut«, begann sie.
»Ist schon gut.«
»Nein, ich will es dir erklären«, bestand sie. »Es ist ein Scheißkerl. Gleich von Anfang an, als er mich abgeholt hat, war er so.«
»Warum gehst du dann mit so einem Kerl aus?« »Ich? Er ist mir aufgedrückt worden. Seine Mutter kennt meine Mutter, auf diese Tour.«
»Ach so«, sagte Ted. »Ich finde, Tochterpflichten haben auch ihre Grenzen.
Wenn meine Mutter so etwas noch einmal mit mir macht, sage ich ihr, daß ich Nonne werde.«
»Ja«, lächelte Ted. Es entstand eine unangenehme Pause.
»Es tut mir leid«, wiederholte Sara, »wahrscheinlich halte ich dich von der Arbeit ab.«
»Meinetwegen sollen sie verhungern. Ich möchte lieber mit dir reden.«
Ach du liebe Zeit, dachte er, wie konnte mir das rausrutschen? »Ich auch«, sagte sie scheu.
Aus dem brodelnden Restaurant rief sein Vater auf griechisch: »Theo, los, an die Arbeit, oder ich verfluche dich.«
»Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt«, murmelte Sara. »Darf ich dich noch etwas fragen?« »Natürlich.« »Wo ist Alan jetzt?«
»Vermutlich beim Teufel«, antwortete Sara. »Jedenfalls habe ich ihm gesagt, er soll sich dahin scheren.«
»Dann hast du heute abend keine Verabredung mehr?« grinste Ted.
»Theo«, schrie sein Vater, »ich verfluche dich und deine Kindeskinder.«
Ted ignorierte die immer heftigeren väterlichen Drohungen und sagte: »Sara, wenn du noch eine Stunde warten kannst, möchte ich dich gerne zum Essen einladen.«
Sie antwortete mit einem einzigen Wort: »Prima.«

Eingeweihte wußten, der Newtowne Grill hinter dem Porter Square hatte die besten Pizzas in Cambridge. Dorthin fuhr Ted mit Sara um elf Uhr (im verbeulten Familien-Chevy) zu ihrer ersten Essensverabredung. Sein Pensum im >Marathon< hatte er in größter Eile erledigt, denn sein Herz hatte Flügel. Sie saßen an einem Tisch am Fenster, ein rotes Neonlicht blinkte regelmäßig auf ihre Gesichter und gab dem Ganzen etwas von einem Traum - wofür es Ted zum Teil auch noch hielt. Während sie auf die Pizza warteten, tranken sie ein Bier.
»Ich begreife nicht, wie ein Mädchen wie du mit jemandem ausgehen kann, den sie nicht kennt«, sagte Ted. »Immer noch besser, als den Samstagabend allein zu Hause zu sitzen und zu lernen, oder?«
»Aber du kannst dich doch sicher vor lauter Einladungen gar nicht retten. Ich meine, ich habe mir immer vorgestellt du wärst bis 1958 ausgebucht.«
»Das ist einer dieser Harvard-Mythen, Ted. Halb Radcliffe sitzt am Samstagabend traurig herum, weil alle in Harvard meinen, man sei schon verabredet. Die Mädchen von Wellesley haben dagegen ein wildes Privatleben.«
Ted war erstaunt. »Das hätte ich wissen müssen. Ich meine du hast mir nie gesagt.. .«
»Na ja, über so etwas redet man nicht so ohne weiteres bei griechischen Verben und englischen Brötchen«, erwiderte
sie, »obwohl ich mir manchmal gewünscht habe, ich hätte es getan.«
Ted fiel aus allen Wolken. »Weißt du, Sara«, gestand er »vom ersten Augenblick an wollte ich für mein Leben gern mit dir ausgehen.«
Sie sah ihn mit plötzlich strahlenden Augen an. »Warum zum Teufel hast du so lange gebraucht- bin ich so furchterregend?«
»Nein, jetzt nicht mehr.«
Er parkte das Auto vorm Cabot-Haus und ging mir ihr zum Eingang. Dort legte er ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. »Sara«, sagte er fest, »deswegen habe ich mich ein Jahr lang durch die englischen Brötchen gekämpft«, und küßte sie mit der Leidenschaft all seiner Träume. Sie erwiderte seine Küsse ebenso leidenschaftlich. Als er sich endlich auf den Heimweg machte, war er so berauscht, daß er kaum das Pflaster unter den Füßen spürte. Plötzlich blieb er stehen. Ach Scheiße, dachte er, das Auto steht ja noch vorm Cabot-Haus. Er rannte zurück und hoffte, Sara würde seinen idiotischen Fehler nicht von ihrem Fenster aus sehen. Aber Sara Harrison sah in diesem Augenblick überhaupt nichts. Sie saß bewegungslos auf ihrem Bett und starrte ins Nichts.
Die letzten Gedichte in >Griechisch 2 B< waren von einem nicht gerade für Liebesgedichte bekannten Autor - von Plato. »Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie«, kommentierte Professor Havelock, »daß der Philosoph, der die Dichtung aus seinem idealen Staat verbannte, selbst Urheber der vielleicht vollkommensten Verse ist, die jemals geschrieben wurden.«
Und er las auf Griechisch eines der berühmtesten >Sternen-Epigramme<:

»Stern meines Lebens, den Sternen zugewandt ist dein
Gesicht:
Wäre ich doch der Himmel und würde dich mit Tausenden
von Augen erblicken.«

Die Glocken von Memorial Hall kündigten das Ende des Seminars an. Als sie zusammen hinausgingen, flüsterte Ted: »Ich wollte, ich wäre der Himmel.« »Kommt nicht in Frage«, antwortete Sara, »ich will dich ganz nah bei mir haben.« Und sie gingen Hand in Hand weiter.

Der November ist der grausamste Monat —zumindest für ein Zehntel der Drittsemester. Dann nämlich treffen die Final Clubs (so genannt, weil man nur bei einem dieser Clubs Mitglied werden kann) die endgültige Auswahl ihrer Mitglieder. Diese elf Vereine existieren zwar gleichsam nur am Rand des Lebens in Harvard, aber es ist sozusagen der Goldrand.
Ein Final Club ist eine elitäre und ziemlich >homogene< Einrichtung, wo man sich als wohlhabender Preppie zusammen mit den anderen wohlhabenden Preppies besaufen kann.
Diese herrschaftlichen karitativen Bruderschaften haben eigentlich mit Harvard nichts zu tun, oder jedenfalls sowenig, daß die Mehrheit der Harvard-Studenten kaum weiß, daß es sie gibt.
Natürlich war der November ein geschäftiger Monat für die Herren Eliot, Newall und Wigglesworth. Flanellgekleidete Pilger gaben sich die Tür in die Hand und beschworen die Herrschaften, in ihren Orden einzutreten. Die drei modernen Musketiere beschlossen, auch in diesem Fall zusammenzubleiben. Obwohl sie probeweise auf einen Punsch in fast alle Clubs eingeladen worden waren, war klar, daß sie zum >Porcellian<, >AD< oder zur >Fliege< gehen würden. Falls jedoch alle drei dazu aufgefordert werden würden, wollten sie Mitglied des >Porc< werden. Denn wenn man sich überhaupt etwas aus diesen Dingen machte, war das ohne Frage die Nummer eins, »der älteste Männerclub Amerikas«. Als sie zusammen zum letzten Essen des >Porc< vor der endgültigen Auswahl eingeladen wurden, nahmen sie an, sie hätten es bereits geschafft. Noch im Frack, genehmigten sie sich zu Hause einen Verdauungsschluck, als es klopfte.
Newall meinte, das wäre sicher der Abgesandte eines anderen verzweifelten Clubs - vielleicht vom >AD<, wo Franklin D. Rooseveit aufgenommen worden war, nachdem ihn der >Porcellian< abgewiesen hatte.
Aber es war Jason Gilbert. »Stör' ich?« fragte er ernst. »Aber ganz und gar nicht«, antwortete Andy. »Komm rein und trink einen Cognac mit uns.« »Danke, aber das Zeug rühr' ich nicht an«, antwortete er.
Seine Blicke erinnerten sie an ihren feierlichen Aufzug. »Das letzte Essen, was?« fragte er. »Ja, ja«, sagte Wig gelassen. >»Porc<?« fragte er. »Jeder Wurf ein Treffer«, verkündete Newall. Aber weder Mike noch Dick merkten, wie bitter Jasons Stimme klang.
»Schwere Entscheidung, was?« fragte er. »Nein, eigentlich nicht«, sagte Wig. »Wir hatten ein paar Clubs zur Auswahl, aber der >PC< war der beste.« »Ach«, sagte Jason, »es muß was Schönes sein, so umworben zu werden.« »Das kennst du doch«, witzelte Newall, »sämtliche Schönheiten von Radcliffe verbrennen Weihrauch vor deinem Bild.«
Jason lächelte nicht. »Wahrscheinlich, weil sie nicht wissen, wie leprös ich bin.«
»Zum Teufel, was redest du da?« fragte Andrew. »Ich rede von der Tatsache, daß fast alle meine Freunde zumindest einmal von einem Club zum Punsch eingeladen worden sind, aber mich hat noch nicht einmal der miese >BAT< eingeladen. Ich muß ein ganz schönes Arschloch sein.« »Hör doch auf, Jason«, redete Newall ihm zu. »Die Final Clubs, das ist doch alles nur Scheiße.«
»Den Eindruck habe ich auch«, antwortete er. »Deshalb seid ihr ja auch so wild darauf, da Mitglied zu werden. Ich habe gedacht, ihr mit eurer Clubmentalität habt vielleicht eine Ahnung, was an mir so abstoßend ist.« Newall, Wig und Andrew sahen sich verlegen an. Wer würde wohl Jason erklären müssen, was doch eigentlich ganz klar war. Andrew sah schon, seine Freunde würden es nicht schaffen. Deshalb schilderte er die negativen Seiten des Club-Lebens: »Also, Jason, wer wird denn in der Hauptsache eingeladen, Mitglied zu werden? Ehemalige von >St. Paul's<, >Mark's<, >Groton<. Alles dasselbe. Du weißt schon, gleich und gleich gesellt sich gern, und so weiter. Verstehst du, was ich meine?«
»Klar«, erwiderte Jason ironisch, »ich bin einfach nicht auf die richtige Schule gegangen, was?« »Richtig«, stimmte Wig schnell zu. »Treffer.« Worauf Jason sagte: »So ein Blödsinn.«
Tödliche Stille im Zimmer. Schließlich sagte Newall, der ärgerlich war, daß Jason ihnen die Stimmung verdorben hatte: »Herrgott noch mal, Gilbert, warum sollten denn die Final Clubs auch Juden aufnehmen. Würde die Hillel-Vereinigung etwa mich nehmen?«
»Das ist eine religiöse Organisation, verdammt noch mal! Und die würden mich ja auch nicht nehmen, weil ich noch nicht mal...« Andrew dachte einen Moment lang, Jason würde sagen, er sei kein Jude. Aber das wäre absurd gewesen. Würde ein Neger sagen, er sei nicht schwarz?
»Hör mal zu, Newall«, bemerkte Wigglesworth, »er ist schließlich unser Freund. Mach ihn nicht noch mehr an.« »Ich bin gar nicht angemacht«, sagte Jason mit verhaltener Wut. »Man könnte vielleicht sagen, ich habe die bittere Wahrheit erfahren. Gute Nacht, ihr Vögel, tut mir leid, eure Versammlung gestört zu haben.« Er drehte sich um und verließ das Zimmer.
Das verlangte nach einer weiteren Runde Cognac und nach einer  philosophischen  Bemerkung von   Michael  Wigglesworth: »Warum wehrt sich ein prima Kerl wie Jason nur so gegen seine Herkunft? Jude zu sein ist doch nichts Schlimmes. Es sei denn, man macht sich was aus diesen dämlichen Final Clubs.« »Oder man will Präsident der Vereinigten Staaten werden«, fügte Andrew Eliot hinzu.

16. November 1955
Lieber Vater,

in einen Final Club bin ich nicht hineingekommen. Ich weiß, im großen und ganzen ist das nicht wirklich wichtig, und eigentlich brauche ich auch nicht noch eine weitere Gelegenheit, wo ich mir einen genehmigen kann. Nur daß ich nicht mal in Betracht gezogen wurde, das ärgert mich wirklich. Und noch mehr, warum das so ist. Als ich schließlich genügend Mut aufgebracht hatte, meine Freunde (zumindest hielt ich sie für Freunde) um eine Erklärung zu bitten, haben sie sich überhaupt nicht geziert. Sie sagten mir klipp und klar, die Final Clubs nähmen keine Juden auf. Und dabei klang es noch so christlich, daß es nicht den Eindruck eines Vorurteils machte. Jetzt bin ich also schon zum zweiten Mal abgewiesen worden, weil man mich für jüdisch hält.
Wie verträgt sich das damit, daß Du mir immer gesagt hast, wir seien Amerikaner »wie alle anderen auch«? Ich habe Dir das geglaubt - und würde es gern weiter glauben. Aber anscheinend stehst Du mit dieser Meinung allein in der Welt. Vielleicht begegnen wir deshalb diesen ganzen Vorurteilen und kennen den Stolz nicht, Jude zu sein. Es gibt hier in Harvard eine ganze Menge wirklich begabter Leute, die das Judentum als eine besondere Ehre betrachten. Und das verstehe ich auch wieder nicht. Denn gerade jetzt weiß ich weniger denn je, was ein Jude ist. Ich weiß nur, viele Leute halten mich lür einen.
Papa,   ich  bin  schrecklich  durcheinander  und  deshalb wende ich mich an Dich, den ich mehr als alle anderen Menschen respektiere. Es ist für mich wichtig dahinterzukommen. Denn bevor ich nicht herauskriege, was ich bin werde ich nie wissen, wer ich bin.
Dein Dich liebender Jason.

Sein Vater beantwortete diesen beunruhigenden Brief nicht sondern strich einen vollen Tag aus seinem Terminkalender und nahm den Zug nach Boston. Als Jason vom Squashtraining kam, traute er seinen Augen nicht. »Vater, was machst du denn hier?« »Komm, wir gehen zu >Durgin Park< und essen dort eins von den Super-Steaks.«
Eigentlich sagte die Wahl des Restaurants schon alles. Denn in dem weltberühmten Restaurant nahe den Schlachthäusern von Boston gab es keine Nischen oder versteckte Tische. Bankiers und Busfahrer saßen zusammen an den rotkariert gedeckten langen Tischen — ein verdrehter Snobismus und eine Art gezwungene Demokratie unter Fleischfressern.
Aber vielleicht wußte Gilbert, Sr. wirklich nicht, daß ein persönliches Gespräch dort nur schwer möglich war. Vielleicht hatte er das Bestaurant auch nur aus dem atavistischen Gefühl des Beschützers heraus gewählt. Sein Junge sollte anständig etwas zu essen bekommen als Ersatz für all die Verletzungen,  die  er erfahren  hatte.  Beim  Klappern  der schweren Porzellanteller und den lauten Rufen aus der offenen Küche begriff Jason nur, daß sein Vater hergekommen war, um ihm zu helfen, und daß er das immer tun würde. Das Leben war voller Enttäuschungen. Der einzige Weg, all die kleinen Mißerfolge zu ertragen, bestand darin, sich entschieden zu wehren.
»Eines Tages, Jason«, sagte er, »wenn du Senator bist, wird es den Kerlen, die dich abgelehnt haben, noch leid tun. Und glaube mir, Jason, dieser schmerzliche Vorfall — der auch mich verletzt — bedeutet überhaupt nichts.«
Jason brachte seinen Vater an den Südbahnhof zum Nachtzug. Gilbert Sr. klopfte, bevor er einstieg, seinem Sohn Jason auf die Schulter und sagte: »Ich liebe niemanden mehr als dich, mein Sohn. Denk immer daran.
Jason ging zur U-Bahn und kam sich merkwürdig leer vor.

»Nein.«
»Ja.«
»Nein!«

Sara Harrison setzte sich mit rotem Kopf auf. »Sag mal Ted, wie oft hast du dich schon geweigert, mit einem Mädchen zu schlafen?«
»Ich verweigere die Aussage«, protestierte er. »Ted, es ist zwar dunkel hier drinnen, aber du siehst ganz schön verlegen aus. Es ist mir egal, mit wieviel Mädchen du vor mir geschlafen hast. Ich möchte nur Mitglied des Vereins werden.«
»Nein, Sara. Das ist einfach nichts hier auf dem Rücksitz.« »Mir ist das egal.«
»Mir aber nicht, verdammt. Ich möchte nur, daß unser erstes Mal ein bißchen romantischer ist als das hier. Zum Beispiel am Fluß unten.«
»Bist du wahnsinnig, Ted? Es ist eiskalt! Komm, wir gehen ins Kirkland Motel. Ich hab' gehört, die sind nicht so streng.«
Ted setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Geht nicht« seufzte er mullos, »der Besitzer ist ein Freund von uns.« »Damit wären wir wieder bei diesem reizenden Chevrolet.« »Bitte, Sara, versteh doch, ich möchte einfach, daß es anders ist. Wir könnten am nächsten Samstag nach New Hampshire fahren.«
»New Hampshire? ßist du wahnsinnig? Wir sollen also jedesmal, wenn wir miteinander schlafen wollen, hundert Meilen fahren?«
»Nein, nein, nein«, protestierte er. »Nur bis ich was Anständiges finde. Wenn ich doch nur in einem der Häuser wohnen würde. Die Jungs können wenigstens nachmittags Mädchen mit aufs Zimmer nehmen.«
»Du wohnst aber nicht dort, und ich sitze in einem Radcliffe-Wohnheim, wo Männer alle Jubeljahre einmal hinein dürfen.«
»Und wann ist das nächste Jubeljahr?« »Erst wieder am letzten Sonntag des nächsten Monats.« »Gut, dann warten wir eben solange.«
»Und was sollen wir bis dahin machen - kalt duschen?« »Ich begreife nicht, warum du es so eilig hast. Sara.« »Ich begreife nicht, warum du nicht?«
In Wirklichkeit konnte Ted die Zweifel auch nicht erklären, die ihn zögern ließen, es mit ihr ganz zu machen. Er war aufgewachsen mit der Vorstellung, Liebe und Sex seien etwas für zwei völlig verschiedene Arten von Frauen. Er und seine Freunde gaben zwar mächtig an, wenn sie bei Mädchen landeten, die sich »hinlegten«, aber keiner von ihnen hätte im Traum daran gedacht, ein Mädchen zu heiraten, das nicht mehr Jungfrau war.
Und obwohl er es sich nicht mal selbst zugegeben hätte, wunderte er sich irgendwo tief drinnen, warum ein »nettes Mädchen« wie Sara Harrison unbedingt mit ihm schlafen wollte. Deshalb war ihm der Aufschub bis zum Besuchssonntag in ihrem Wohnheim willkommen. Bis dahin hätte er Zeit, den Widerspruch von Sinnlichkeit und Liebe zu lösen. Aber er hatte noch eine bohrende Frage im Hinterkopf, und er
überlegte krampfhaft, wie er das Gespräch behutsam darauf bringen könnte. Sara spürte, daß ihn etwas bedrückte. »He, was hast du denn?« »Ich weiß auch nicht. Ich wollte nur, ich wäre der erste.« »Aber das bist du doch, Ted. Du bist der erste Mann, den ich wirklich liebe.«

»Andrew, hast du heute abend etwas vor?« fragte Ted nervös. »Hättest du vielleicht fünf Minuten Zeit für mich, nachdem die Bibliothek zu ist?« »Klar, Lambros. Wollen wir dann runter in den Grill gehen und ein paar Cheeseburger essen?«
»Ach, nein, eigentlich fände ich es besser, wenn wir für uns wären.« »Wir können ja das Essen mit in mein Zimmer nehmen.«
»Prima. Ich bring' was zu trinken mit.« »Das klingt ja spannend.«

Eine Viertelstunde nach Mitternacht stellte Andrew Eliot zwei Cheeseburger auf den niedrigen Tisch seiner Wohnung, und Ted holte eine Flasche aus seiner Büchertasche. »Hast du schon mal Retsina probiert?« fragte er. »Das griechische Nationalgetränk. Ich hab' dir was davon mitgebracht, so 'ne Art Geschenk.« »Warum denn das?«
Ted senkte den Kopf und murmelte: »Eigentlich ist es als Bestechung gedacht. Du mußt mir einen Gefallen tun, Andy, einen großen Gefallen.«
Beim Anblick des verlegenen Gesichts seines Freundes war Andrew sicher, er würde ihn bitten, ihm Geld zu leihen. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, begann Ted, während Andrew den Retsina einschenkte. »Jedenfalls, egal, ob du ja oder nein sagst - bitte erzähl niemandem etwas davon.«
»Klar doch, natürlich. Jetzt komm schon raus damit- sonst krieg' ich vor lauter Spannung noch einen Herzanfall.«
»Andy«, sagte Ted scheu, »ich habe mich verliebt...« Er hielt ein.
»Oh, ich gratuliere«, antwortete Andrew und war nicht sicher, was er sonst sagen sollte. »Danke, aber siehst du, da liegt ja gerade das Problem.« »Ich versteh' dich nicht, Lambros. Wo ist das Problem?« »Versprich mir, daß du es nicht moralisch bewertest.« »Offengestanden weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt Moralbegriffe habe.«
Ted sah Andrew erleichtert an und sprudelte plötzlich heraus. »Sag mal, könnte ich ein paar Nachmittage in der Woche dein Zimmer haben?«
»Das ist alles? Und deshalb hast du fast einen Gehirnschlag bekommen? Wann brauchst du es?«
»Na ja«, antwortete er, »den heiligen Hausregeln nach kann man zwischen vier und sieben Uhr Mädchen auf dem Zimmer haben. Braucht ihr das Wohnzimmer hier an den Nachmittagen?«
»Kein Problem. Wigglesworth hat Rudertraining und geht dann zum Essen in den Varsity Club. Bei Newall ist es mit dem Tennis so ähnlich. Ich mache Gymnastik im IAB. Du kannst hier also tun und lassen, was du willst.« Ted strahlte. »Eliot, ich bin dir ja so dankbar.«
»Na ja, gut, warum nicht wieder mal eine Flasche Retsina. Aber - ich brauche den Namen des Mädchens, damit ich sie als Gast einschreiben kann. Das ist vielleicht am Anfang nicht ganz einfach, aber ich krieg' das schon hin.«
Sie entwarfen eine Methode, nach der Ted und seine Geliebte (eine »Göttin« mit Namen Sara Harrison) die Gastlichkeit des Eliot-Hauses genießen konnten. Andrew mußte es nur ein paar Stunden vorher erfahren, das war alles. Ted war außer sich vor Dankbarkeit und schwebte aus dem Zimmer wie auf Wolken. Andrew dachte sich seinen Teil, so in der Art des witzigen Cole Porter (Yale): What is this thing called love? Aber das wußte er nun ganz und gar nicht.

Der Frühling gehörte Jason Gilbert. Er war nach seiner ersten Squashsaison ungeschlagen. Und machte sich sofort daran, den gegenwärtigen Mannschaftskapitän im Herren-Einzel zu entthronen. Auch dabei verlor er keinen Kampf
Dann krönte er das zweite Studienjahr durch die Meistertitel in verschiedenen College-Turnieren. Die letzten beiden Errungenschaften hoben sein Bild und auch damit war er Erster seines Jahrgangs, in die Sportseiten einer Zeitung, die etwas mehr Verbreitung als der >Crimson< hatte, der >New York Times<. Falls er durch die unglückliche Erfahrung mit den Final Clubs irgendeinen seelischen Schaden  davongetragen  hatte, war das nicht auszumachen - wenigstens nicht für seine Gegner im Sport. In jedem amerikanischen College gibt es den BMOC, den Big Man on Campus. Harvard war stolz darauf, diese Bezeichnung bei sich nicht gelten zu lassen. Aber abgesehen von der semantischen Frage, war Jason Gilbert, ir. zu dieser Zeit auf der Bühne des Universitätslebens unbestritten der Größte- oder mit Shakespeares Worten gesagt: »der Beobachtete unter den Beobachtern«.
Danny Rossis Wertschätzung in der kleinen Musikgemeinde konnte die Kränkung nicht wiedergutmachen, die man ihm mit der erniedrigenden Zerstörung seines Klaviers angetan hatte. Er haßte das Eliot-Haus, und manchmal war ihm sogar Master Finley zuwider, weil der ihn in diese Höhle verhaßter Arroganz gebracht hatte. Sein Abscheu wurde von den meisten Hausbewohnern erwidert. Und er saß fast bei allen Mahlzeiten allein am Tisch - außer wenn Andrew Eliot ihn zu Gesicht bekam, sich zu ihm setzte und ihn aufzuheitern versuchte.
Ted Lambros war zunehmend mit Sara involviert, und die beiden waren der lebende Beweis für die Gültigkeit des platonischen Gedankens, die Liebe beflügle den Geist. Er bekam glatte Einser in allen klassischen Fächern. Außerdem kam er sich auch nicht mehr als völlig Fremder im Universitätsleben vor, vielleicht weil er mehrere Nachmittage in der Woche im Eliot-Haus verbrachte.
Andrew konnte nur an der Seitenlinie sitzen und darüber staunen, wie sich seine Jahrgangskollegen entwickelten. Blätter bildeten sich, Blüten öffneten sich. Das zweite Studienjahr brachte für den ganzen Jahrgang ein wunderbares Aufblühen. Es war die Zeit der Hoffnung, des Zutrauens und des grenzenlosen Optimismus. Fast die Hälfte des Jahrgangs verließ Cambridge nach dem Sommersemester mit dem
Gefühl: wir haben erst halb angefangen. Aber in Wirklichkeit war es halb vorbei.

Danny Rossis zweiter Sommer in Tangiewood war noch denkwürdiger als sein erster Sommer dort. Wahrend 1955 die gehobenste Tätigkeit für ihn darin bestanden hatte »den Taktstock von Maestro Munch zu polieren«, wie er es selbstironisch bezeichnete, konnte er 1956 schon mit eben jenem Taktstock vor dem Orchester herumfuchteln. Der weißhaarige Franzose hatte eine großväterliche Zuneigung zu dem eifrigen kleinen Kalifornier gefaßt, und zur Verwunderung der anderen Studenten in den Festspielkursen gab er Danny jede (jelegenheit, wirklich selbst Musik zu machen.
Als Arthur Rubinstein zum Beispiel das fünfte Klavierkonzert von Beethoven in Es-Dur spielte, durfte Danny dem Virtuosen bei den Proben die Noten umblättern. Bei der ersten Unterbrechung wollte Rubinstein, der für sein fabelhaftes Notengedächtnis berühmt war, wissen, warum der Dirigent diese ihm doch so geläufigen Noten hatte auf den Flügel stellen lassen. Worauf Munch mit pfiffigem Grinsen zur Antwort gab. dem Umblätterer zuliebe, damit Dannv Rossi den Meister richtig studieren könnte. »Der Junge brennt lichterloh«, fügte er hinzu.
»War das bei uns in dem Alter nicht auch so?« lächelte Rubinstein. Wenig später lud er Danny in die Garderobe ein, um sich dessen Interpretation des Konzerts anzuhören. Als er beim Allegro des dritten Satzes angelangt war, war er viel zu engagiert, um noch schüchtern zu sein. Seine Finger flogen. Er war selbst erstaunt, mit welcher unheimlichen Leichtigkeit er dieses wahnsinnige Tempo durchhielt. Am Ende sah er auf, atemlos und schwitzend. »Zu schnell, nicht wahr?«
Der Virtuose nickte, voller Bewunderung. »Ja«, bestätigte er. »Aber trotzdem hervorragend.« »Vielleicht war ich nur nervös, aber auf dieser Tastatur kam es mir so vor, als würde ich bergab rollen. Irgendwie bin ich schneller geworden.«
»Wissen Sie, warum, mein Junge?« fragte Rubinstein. »Da ich nicht sehr groß ausgefallen bin, haben die Leute bei Steinway die Tasten dieses Instruments für mich um ein Achtel schmaler gemacht. Sehen Sie es sich noch einmal an.«
Danny bestaunte Arthur Rubinsteins Privatflügel, denn auf ihm konnte er, der auch nicht gerade groß ausgefallen war, ohne Schwierigkeiten dreizehn Tasten umspannen. Dann bemerkte der Meister großzügig: »Wir beide wissen, daß ich niemanden zum Umblättern brauche. Warum bleiben Sie nicht einfach hier und spielen, soviel es Ihnen Spaß macht?«

Als bei anderer Gelegenheit Mozarts Ouvertüre zu Figaros Hochzeit im Freien geprobt wurde, gab Munch plötzlich einen theatralischen Seufzer der Ermüdung von sich und sagte: »Das Wetter in Massachusetts ist für einen Franzosen zu heiß und zu feucht. Ich brauche fünf Minuten im Schatten.«
Dann wies er auf Danny: »Kommen Sie, junger Mann«, sagte er und hielt ihm den Taktstock hin. »Ich denke, Sie kennen das Stück gut genug, um mit diesem Stab hier vor den Musikern ein wenig herumzufuchteln. Übernehmen Sie bitte für ein paar Minuten und sorgen Sie dafür, daß sich die Herrschaften benehmen.« Und damit ließ er Danny stehen, der sich vor den kompletten Bostoner Symphonikern ziemlich nackt und einsam vorkam. Gerade für solche Gelegenheiten hatte das Orchester eine ganze Reihe von Aushilfsdirigenten und Korepetitoren. Und die standen daneben, mit mehr als nur sommerlicher Hitze in sich.

An diesem Abend war er in Hochstimmung. Sobald er in seiner Pension war, rief er Dr. Landau an. »Das ist ja wunderbar«, meinte sein Lehrer stolz. »Deine Eltern werden entzückt sein.« »Jaaa«, antwortete Danny ausweichend, »wären Sie vielleicht so freundlich, meine Mutter anzurufen und es ihr zu erzählen?«
»Daniel«, antwortete Dr. Landau ernst, »dieses Melodrama mit dir und deinem Vater hat wirklich schon viel zu lange gedauert. Das ist ein vorzüglicher Anlaß für eine einlenkende Geste.« »Dr. Landau, bitte verstehen Sie doch. Ich kann einfach nicht...« Seine Stimme verlor sich.