1. «Unser Programm muß
ein gemäßigtes sein» (Henriette Goldschmidt)
Die Gründung des «Bundes Deutscher Frauenvereine»
Der 1894 gegründete «Bund Deutscher Frauenvereine» (BDF) nahm im Hinblick auf die Zahl der Mitglieder und der ihm angeschlossenen Vereine bis zum Ersten Weltkrieg einen kräftigen Aufschwung und wurde in den Jahren um die Jahrhundertwende zu einem beachteten und beachtenswerten Faktor im politischen und kulturellen Leben: Schon nach Ablauf des ersten Vereinsjahres gehörten dem Bund 65 Vereine an,[1] 1901 137 Vereine mit insgesamt 70 000Mitgliedern, [2] 1913 insgesamt 2 200 Vereine und (geschätzt) 500 000 Mitglieder.[3]
Darüber hinaus waren mindestens ebenso viele Frauen in den «Vaterländischen Frauenvereinen», den Pflegevereinen vom Roten Kreuz, organisiert.[4] In jedem Fall zeigt die steigende Zahl von Frauenvereinen verschiedenster Ausrichtung, daß es neben den vielzitierten drei Ks, «Kinder, Küche, Kirche», durchaus eigene öffentliche «Frauenräume» gab und Frauen damit auf ihre Weise an dem für das Kaiserreich typischen Prozeß der Vereinsbildung teilhatten - wenn auch sorgfältig nach Geschlecht und von gesellschaftlichem Einfluß getrennt.[5] Auch im BDF verstand sich die Mehrheit der Mitgliedervereine gar nicht «in einem engeren oder weiteren Sinn zur Frauenbewegung» gehörig«, sondern verfolgte vornehmlich berufliche oder karitative Zwecke. Aber gerade dies war Prinzip und Politik, die die Gründerinnen von ihren amerikanischen Schwestern übernommen hatten: «sich nur solchen allgemeinen Arbeitsgebieten zuzuwenden, zu denen Alle von Herzen ihre Zustimmung geben können - such as all can heartily agree upon».[7]
Diese Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, zu der das strikte Gebot der Nichteinmischung in die Angelegenheiten der einzelnen Vereine gehörte, ist nicht von vornherein als ein Zeichen der Schwäche zu interpretieren, sondern war eine Plattform, von der aus auch die Frauen zu mobilisieren waren, «die sich bisher zu ihrem eigenen Schaden von diesen Bestrebungen fernhielten».[8] Oder, wie Henriette Goldschmidt in deutlicher Spitze gegen radikalere Forderungen wie die nach dem Frauenstimmrecht 1895 hervorhob:
«Um das Ziel (einer großen Frauengemeinschaft in Deutschland) zu erreichen, muß unser Programm ein gemäßigtes und kein überstürztes sein besonders an die Stellung der Frau als Gattin und Mutter dürfen wir nicht rühren, sondern müssen ihren Wert und ihre Bedeutung immer in erster Reihe betonen... Erst wenn bei uns (solch) ein Zusammenschluß stattgefunden hat können wir vielleicht daran denken, die Frauen zur politischen Mitwirkung an der Gesetzgebung zu erziehen und zwar durch Belehrung durch Selbststudium auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Wenn wir auch einzelne Frauen haben, die reif sind für eine öffentliche Tätigkeit, was hülfe es ihnen, wenn ihre Kandidatur an der Indolenz und Gleichgültigkeit ihrer Wähler scheiterte oder der Widerstand der eigenen Genossinnen sie lächerlich machte?»[9]
Solche Vorsicht blieb schon 1895 nicht unwidersprochen.
«Man hat weder alle Männer noch die Sklaven Amerikas für die Politik <erzogen>, ehe man ihnen Rechte gab, weil man zur Freiheit nicht erziehen kann, sondern erst durch die Freiheit erzogen wird.»[10]
Doch das Konzept, «nicht das Trennende, sondern das Verbindende, nicht die Extreme der Frauenbewegung, ja zunächst überhaupt nicht die moderne Frauenbewegung als solche sondern die sociale Frauenarbeit auf allen Gebieten»[11] zu betonen, schien fürs erste durchaus erfolgversprechend und geeignet, einer neuen Frauengeneration den Weg in den BDF und damit auch in die Frauenbewegung zu ebnen. Allein das immer stärker verknüpfte Netz von Vereinen in allen Städten des Reiches, die an verschiedenen Orten veranstalteten Generalversammlungen und die großen Frauenkongresse von 1896, 1904 und 1912 sowie eine eigene Frauenpresse und immer umfangreichere Literatur zur Frauenfrage schufen in der bürgerlichen Gesellschaft zum ersten mal eine Frauenöffentlichkeit, neue Formen der Geselligkeit, ja, auch Lebensformen für alleinstehende Frauen. Dazu gehörten z. B. die Gründung von Damenklubs, die Vermittlung von Damen-Wohnungen oder speziell in der Reichshauptstadt Berlin eine ganze Palette von Frauenprojekten, die für Unterhaltung, sportliche Betätigung und berufliches Fortkommen sorgten.[12] So entstand ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Netz von Frauenbeziehungen und Frauenfreundschaften, das Voraussetzung und Schubkraft der sozialen und politischen Bewegung der Frauen war. Das Bewußtsein, in einer Zeit des Umbruchs zu leben, kommt in vielen Aussagen zum Ausdruck:
«Die Kulturentwicklung läßt sich nicht aufhalten, nicht gewaltsam in andere Bahnen lenken, nicht auf überwundene Daseinsformen zurückbilden. Die alten patriarchalischen Verhältnisse sind für immer dahin... Noch sind wir freilich lange nicht so weit, vielmehr ist gerade die gegenwärtige Übergangszeit für die erwerbende Frau eine überaus kritische. Durch den Zwang der Verhältnisse ist sie ebenso zum willkommenen Gegenstand wie zum gefügigen Werkzeug moderner Ausbeutung geworden.»[13]
Die Arbeitsweise des «Bundes Deutscher Frauenvereine»
Die Frauenfrage und die verschiedenen Antworten darauf als Gradmesser für Modernität —daß es dazu hatte kommen können, war das Ergebnis einer Mobilisierung und der Organisierung von Fraueninteressen nicht nur im nationalen Rahmen, sondern in einem weltweiten Verbund, dem bereits 1888 in Washington gegründeten «Frauenweltbund» («International Council of Women»). Der BDF trat ihm 1897 offiziell bei. Beim Blick hinter die Kulissen dieses BDF aber sind die Richtungskämpfe und Meinungsverschiedenheiten über Programm und Ziel beinahe weniger erstaunlich als die scharfen. Geschäftsführungs- oder Tagesordnungsdebatten die schweren Kämpfe um Führungsstil, «Kampfesweise» und «die Verfassung (d.h. das Statut) des Bundes».[14] Auffällig waren das strenge Reglement der Vereinstätigkeiten, die anscheinend perfekte Regie, das «Parlamentspielen», wie Helene Lange, die rigideste Funktionärin, in ihren «Lebenserinnerungen» ironisch bemerkte,[15] Verfahrensweisen, die eher auf eine Überanpassung an männliche Formen der Politik denn auf eine eigene und andere Frauenkultur schließen lassen.
Auf der Generalversammlung 1898 in Hamburg war das 1894 noch vage und unverbindlich formulierte Programm präzisiert worden: An die Stelle der sehr allgemeinen Zielsetzung «Arbeit im Dienste des Familien- und Volkswohls» war nun in § 2 der Statuten «die Förderung des Gemeinwohls und die Hebung des weiblichen Geschlechts auf geistigem und wirtschaftlichem, rechtlichem und socialem Gebiet»[16] getreten - eine Programmatik, die für die «Fortschrittlichen» im Bunde immer noch ungenügend war. Denn «im ganzen Satzungsentwurf (war) nicht ein einziges Mal von Fraueninteressen geschweige denn von Frauenrechten oder Frauenbewegung die Rede».[17]
Die Verbandsgeschäfte zwischen den Generalversammlungen, die zuerst jährlich, ab 1898 zweijährlich stattfanden, wurden vom Vorstand geführt, dessen Mitglieder die Hauptarbeitsgebiete und wichtigsten ihm angeschlossenen Vereine repräsentierten. Die ersten Vorständlerinnen waren neben Auguste Schmidt, bis 1899 1. Vorsitzende, und Anna Schepeler-Lette als 2. Vorsitzenden: Anna Simson, Hanna Bieber-Böhm, Auguste Förster, Ottilie Hoffmann, Helene von Förster, Helene Lange und Betty Naue. 1896 wurden noch Jeannette Schwerin, die Leiterin der «Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit», sowie Marie Stritt, die Initiatorin des ersten Rechtsschutzvereins in Dresden, hinzugewählt.
Ein gemeinsames Vorgehen war nur durch Beschluß der Generalversammlung oder durch Einholen der Zustimmung aller angeschlossenen Vereine zu organisieren, ein mit zunehmender Vereins-und Mitgliederzahl schwerfälliges Verfahren. Die Hauptarbeit wurde in den Kommissionen geleistet, die jeweils zu den inhaltlichen Schwerpunkten eingerichtet wurden. Es gab
- eine Rechtskommission, die sich zunächst um das Familienrecht des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs kümmerte,
- eine Kommission zur Förderung der weiblichen Gewerbeinspektion, später umbenannt in Kommission für Arbeiterinnenschutz,
- die Kommission «für Hebung der Sittlichkeit», die unter der Federführung von Hanna Bieber-Böhm «Vorschläge zur Bekämpfung der Prostitution» erarbeitete,
- die Mäßigkeits-Kommission, die auf lokaler Ebene, angeführt von Ottilie Hoffmann in Bremen, eine rege Propagandatätigkeit gegen den Alkoholkonsum entfaltete und Kaffee- und Speisehäuser mit dem Ausschank nur alkoholfreier Getränke einrichtete,
- die Kommission für Erziehungswesen, die sich, von Henriette Goldschmidt geleitet, insbesondere für die Errichtung von Kindergärten einsetzte,
- die Kommission für Handelsgehilfinnen. Sie betrieb unter der Leitung von Minna Cauer, gleichzeitig Initiatorin des «Kaufmännischen Hilfsvereins für weibliche Angestellte», die Verbesserung der Ausbildung und Arbeitsbedingungen in diesem neuen Erwerbszweig,
- die Kommission «zur Förderung der praktischen Erwerbsthätigkeit und wirthschaftlichen Selbständigkeit der Frau»,
- die Kommission für Kinderschutz.
Durch dieses weite Spektrum «gemeinnützigen» Engagements war der «Bund Deutscher Frauenvereine», wie Marie Stritt in ihrem Überblick über die Kommissionsarbeit zur Jahrhundertwende mit Genugtuung feststellte,
«für uns selber, die wir in der Arbeit stehen, die beste Schule geworden und wird es noch immer mehr werden. Er hat das Verständnis für die neuen Frauenpflichten und Frauenrechte in uns vertieft, das sociale Gewissen da wo es noch schlummerte, geweckt und die Erkenntnis der Solidarität unter uns gefördert; und er hat auch die conservativsten Vereine — ohne daß vielleicht alle sich dessen genau bewußt sind - zu dem Prinzip des Fortschritts bekehrt. Dies Princip ist: sich niemals mit dem Erreichten begnügen und das Ziel selbst immer weiter stecken.»[18]
Auch Marie Stritt, der so sehr an Überbrückung der Gegensätze gelegen war, hatte zugestehen müssen, daß eine andere «förmliche Kluft» das «nationale Ganze» der deutschen Frauenbewegung trennte, die beiden Teilen «zum Schaden» gereichte[19] - die tiefe Kluft zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung die gleich bei der Gründung des BDF aufgebrochen war.
Marie Stritt (geb. 18. Februar 1855 in Schäßburg/Siebenbürgen, gest 16. September 1928 in Dresden)
...stammte aus einer Rechtsanwaltsfamilie. Ihr Vater war lange Jahre Reichstagsabgeordneter und Vertreter des Deutschtums in Siebenbürgen. Die Tatsache, daß die älteste Tochter von zehn Geschwistern nicht nur selbstverständlich mit ihren Brüdern Latein lernen, sondern auch ein Konservatorium in Wien besuchen und den Schauspielberuf ergreifen konnte, bürgt für die Liberalität dieses Elternhauses. Marie Bacon war zunächst in Karlsruhe, dann in Frankfurt mit großem Erfolg als Schauspielerin tätig, bevor sie 1879 den Opernsänger Albert Stritt heiratete. Mit ihm hatte sie zwei Kinder, gab jedoch erst 1889 ihre Bühnenlaufbahn auf als sich das Ehepaar in Dresden niederließ. Hier nun entfaltete sie eine rege Tätigkeit im Dienst der Frauenbewegung, zu der sie - wie es in den spärlichen Berichten über sie heißt - über ihre Mutter (!) in Kontakt gekommen war.[20] Ihre Bühnenerfahrung und ihre immer wieder gerühmte «wunderbare Rednergabe brachten der Sache, die sie vertrat, einen großen Erfolg».[21]
Sie engagierte sich insbesondere für die Rechte der Frauen und gründete deshalb 1894 den ersten Rechtsschutzverein für Frauen in Dresden, der für zahlreiche Vereinsgründungen mit gleicher Zielsetzung im In- und Ausland vorbildlich wurde. 1896 wurde sie Mitglied im Vorstand des BDF. Gemeinsam mit Anita Augspurg und Sera Proelß leitete sie dessen Rechtskommission und war die treibende Kraft im Kampf der Frauenbewegung gegen das zur Kodifikation anstehende Bürgerliche Gesetzbuch, das 1900 in Kraft trat.[22] Marie Stritt wurde 1899 in der Nachfolge von Auguste Schmidt zur Vorsitzenden des BDF gewählt und übernahm (bis 1921) die Redaktionsleitung von «Die Frauenfrage», dem «Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine».
Schon früher als die Mehrheit im BDF trat Stritt für das Frauenstimmrecht ein und forderte 1899 die Beteiligung der deutschen Frauen an den internationalen Friedensbestrebungen. Bei vielen anderen zentralen Fragestellungen war sie auf der Seite der Fortschrittlichen oder Radikalen, z. B. in der Stellungnahme gegen § 218 StGB, in Fragen der Geburtenkontrolle etc. So gehörte sie 1904 sogar zu den führenden Mitgliedern des von Helene Stöcker gegründeten «Bundes für Mutterschutz» und kämpfte vergeblich für dessen Aufnahme in den BDF. In ihrer Amtsperiode bis 1910 versuchte Marie Stritt immer wieder zu vermitteln zwischen den Positionen der Gemäßigten und der Radikalen, nicht zuletzt dank ihres «politischen Weitblicks» und ihrer «Tatkraft»'[23] machte der BDF einen bedeutenden Schritt nach vorn. Doch gerade diese Vermittlerrolle und ihr explizit politischer Feminismus waren offenbar der Grund für ihre Ablösung im Bundesvorsitz, den nun die sehr viel konservativere Gertrud Bäumer übernahm.
1917 initiierte sie noch einmal als Vorsitzende des «Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht», der kompromißlerischen Richtung in der Stimmrechtsfrage, eine gemeinsame «Erklärung» aller Frauengruppen, auch der sozialdemokratischen, «in der Wahlrechtsfrage». Als Gründungsmitglied der DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, kam sie 1919 als Kandidatin für die Nationalversammlung nicht durch. Sie starb 1928, in feierlichen Gedenkreden hoch geehrt. Bis heute ist ihr Nachlaß nicht aufgearbeitet, ihr umfangreiches schriftstellerisches Werk in Zeitschriften und Broschüren verstreut. Sie gehörte zu den Querdenkerinnen und Grenzgängerinnen zwischen den Fronten.
2. «Reinliche Scheidung... zwischen bürgerlicher Frauenrechtelei
und Arbeiterinnenbewegung» (Clara Zetkin)
Spiegel der Klassengegensätze
In der mehr oder weniger amtlichen Chronik über die Gründung des BDF, dem von H. Lange und G. Bäumer edierten «Handbuch der Frauenbewegung» von 1901, lesen sich die Ereignisse so:
«Die Gründung des Bundes nötigte die bürgerliche Frauenbewegung in ihrer Gesamtheit zum ersten Mal zu einer Stellungnahme gegenüber der proletarischen, und diese führte in der konstituierenden Versammlung zu lebhaften Debatten. Es handelte sich darum, ob der Bund sozialdemokratische Frauen- und Arbeiterinnenvereine zum Beitritt auffordern solle.»[24]
Tatsächlich waren die sozialdemokratischen Frauen- bzw. Arbeiterinnenvereine auch nach der Aulhebung der Sozialistengesetze (1890) nach wie vor aufgrund der einzelstaatlichen Vereinsgesetze besonderen polizeilichen Schikanen und Verfolgungen ausgesetzt, da ihr Zusammenschluß, ihre Vereinstätigkeit als «politische» begriffen wurde. Dies war also der Hintergrund für die vom BDF verbreitete doppelzüngige Version:
«Die Vorsitzende präzisierte in ihrer einleitenden Ansprache über die Aufgaben des Bundes seine Stellung zur proletarischen Frauenbewegung dahin, dass der Bund Arbeiterinnenvereine von Herzen willkommen heißen werde, aber solche von unverkennbar politischer Tendenz nicht aufnehmen könne.»[25]
Schon auf der Gründungsversammlung am 28/29. März 1894 formierte sich in der Frage einer möglichen Zusammenarbeit zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung ein heftiger Protest des später sog. linken Flügels, dem in diesem Fall laut Protokoll die Damen L. Morgenstern, L. v. Gizycki, M. Cauer, Frau Gebauer und J. Schwerin und E. Mießner angehörten.[26] Die ersten vier gingen sogar so weit, ihren Protest im sozialdemokratischen «Vorwärts» vom 31.3. 1894 zu veröffentlichen, während die BDF-Spitze durch Richtigstellungen in allen Blättern noch Monate später versuchte, den Vorwurf des «Klassenegoismus»[27] zurückzuweisen. Doch der Schaden war angerichtet. Dieser «frauenrechtlerische» Affront gab den Sozialistinnen Gelegenheit zu wortgewaltiger Polemik, ja zur Formulierung eines Klassengegensatzes auch unter Frauen der vorher so scharf nirgends zur Sprache gekommen war:
«Wir würden unserer materialistischen Geschichtsauffassung ins Gesicht schlagen, wollten wir von Angehörigen der Bourgoisie, ganz gleich ob sie im Unterrock oder in der Hose stecken, etwas anderes Erwarten, als Feindschaft und Kampf gegen die sozialistischen Bestrebungen.»[28]
Emma Ihrer ging sogar so weit, das zur gleichen Zeit verhängte Verbot des sozialdemokratischen «Berliner Frauenbildungsvereins» auf die «bewußte oder unbewußte Denunziation» der Bürgerlichen zurückzuführen.[29]
Emma Ihrer (1857- 1911)
...gehörte zu den führenden Frauen in der-SPD die eine punktuelle Zusammenarbeit mit bürgerlichen Frauen nicht ausschloß. Seit dem Anfang der 1880er Jahre engagierte sich die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Frau für die Organisierung der Arbeiterinnen: Sie war 1885 Mitbegründerin des «Vereins zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen »(mit P. Staegemann M. Hofmann und G. Guillaume-Schack), 1889 gemeinsam mit C. Zetkin Delegierte auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Paris, 1891/92 Herausgeberin der proletarischen Frauenzeitschrift «Die Arbeiterin» (später «Die Gleichheit», redigiert von C. Zetkin) Wichtigste Schriften: «Die Organisation der Arbeiterinnen Deutschlands» (1893) und «Die Arbeiterinnen im Klassenkampf» (1898).
(. . .)Clara Zetkin, Chefideologin und zu dieser Zeit schon anerkannte Führerin der proletarischen Frauenbewegung, aber nutzte in einer Artikelserie der Zeitschrift «Die Gleichheit» die Kontroverse dazu, nicht nur die «reinliche Scheidung» zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung zu programmieren, sondern auch die Bedeutung der Arbeiterinnenvereine innerhalb der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratischen Partei hervorzuheben und neu zu bestimmen.[30]
Der Internationale Kongreß von 1896
Nur ein einziges und zugleich letztes Mal kam es zu einer persönlichen Konfrontation zwischen den Führerinnen der proletarischen und der bürgerlichen Frauenbewegung, und zwar knapp zwei Jahre später auf dem Internationalen Kongreß für Frauenwerke und Frauenbestrebungen, der vom 19. bis zum 26. September 1896 in Berlin stattfand. Die Anregung war von Lina Morgenstern ausgegangen, die auf einer Versammlung ihres Hausfrauenvereins die Idee vortrug, die Berliner Gewerbeausstellung für ein internationales Frauenforum zu nutzen. Eingeladen hatte ein Organisationskomitee aus den «bekanntesten Leiterinnen von Frauenvereinen und Führerinnen der Frauenbewegung»[31] und damit eine Gruppe von Frauen, die sich als unabhängig auch vom BDF verstand und bewußt frühere Fehler vermeiden wollte. Deshalb wurde beschlossen,
«Niemanden auszuschliessen, da die Frauenbewegung keine Parteisache ist, sondern das ganze Geschlecht angeht».[32]
«Einladungsschreiben nebst Programm wurden in 10 000 Exemplaren nach allen Weltteilen versandt», u. a. auch an den BDF, der eine offizielle Beteiligung ablehnte, jedoch seinen Mitgliedern die Teilnahme freistellte, sowie «namentlich an die Mitglieder der evangelisch-sozialen Frauengruppe, an die sozialdemokratischen Führerinnen, an die vaterländischen Frauenvereine». [33] Die Sozialdemokratinnen, allen voran Clara Zetkin, lehnten eine Beteiligung prinzipiell ab, verurteilten das Unterfangen einmal mehr als «frauenrechtlerische Harmonieduselei» und kamen trotzdem, inoffiziell: Lily v. Gizycki-Braun, die sich nur widerwillig der Parteidisziplin und damit dem Verbot zu vorbereiteter Rede gebeugt halte,[34] und C. Zetkin, nur als «Zuhörerin, nicht als Teilnehmerin», wie sie selbst versicherte, und mochten dennoch nicht schweigen. Die dramatische Diskussion, die dann ganz unvorbereitet in einer Sektionssitzung vor internationalem Publikum unter den deutschen Fraktionsführerinnen aufbrach, gehört zu den Sternstunden der Frauengeschichte, denn nie wieder sind diese politischen Gegnerinnen zu einer Aussprache zusammengekommen, um aul offener Bühne ihre gegensätzlichen Standpunkte zu vertreten, nie wieder hat die Frauenbewegung so viel Hoffnung auf Gemeinsamkeit, aber auch Enttäuschung über grundsätzliche politische Meinungsverschiedenheit erlebt. Leider gibt es kein Foto, lediglich ein um Korrektheit bemühtes Protokoll:
Jeanette Schwerin eröffnete die Sitzung mit einem kurzen Statement zu der die Sitzung einleitenden Frage, auf welchen Arbeitsgebieten eine klassenübergreifende Kooperation möglich wäre. Ihre Antwort war positiv, die verschiedenen, notwendig gemeinsamen, sozialen und politischen Aufgaben - von der Reform der Volksschule über die Rechtsstellung der Frau bis zur Einführung von Fabrikinspektoren - benennend. Doch sofort ergriff C. Zetkin das Wort, angriffslustig und polemisch, jenseits aller «Berührungspunkte» in der Klassenfrage, zu keinem Kompromiß bereit. Wohl gab sie zu, für alle Reformbestrebungen einzutreten, die «der Geschlechtssklaverei ein Ende machen». Dazu zählte sie die politische Gleichberechtigung der Frau, das Vereins- und Stimmrecht. Doch zugleich betonte sie:
«Wir sagen, nur her mit den Reformen, immer mehr Reformen! Aber die Arbeiterklasse dankt Euch für diese Reformen nicht, denn alles was die bürgerliche Gesellschaft an solchen Reformen zu schaffen vermag, das ist nur ein Quentchen gegenüber der Schuld der kapitalistischen Gesellschaft. Und mehr noch... all diese Reformen sind für uns nur ein Linsengericht, und für dieses Linsengericht geben wir unser Erstgeburtsrecht, das Recht, eine revolutionäre Klasse zu sein, nicht her.» Und wie um wenigstens die Formen der Höflichkeit nicht zu verletzen: «Verehrte Anwesende, erschrecken Sie nicht vor dem Wort revolutionäre Klasse, es hat eine geschichtliche Bedeutung, ich gebrauche es in dieser, nicht im Kapitalisten- oder Wachtstubenjargon.»
Auch L. Braun mischte sich ein und versuchte insbesondere den ausländischen Teilnehmerinnen zu erklären, warum in Deutschland alles anders und die Gegensätze zwischen rechts und links so viel schärfere wären. Sie verteidigte die Notwendigkeit und die Möglichkeit zur Zusammenarbeit, z. B. unlängst beim großen Streik der Konfektionsarbeiterinnen, «der von den bürgerlichen Kreisen infolge der zutage getretenen entsetzlichen Zustände mit unterstützt worden ist». Dies bestätigte auch Frau Camp, eine Mitstreiterin M. Stritts aus Dresden, zum «Beweis, dass die bürgerlichen Frauen mit den Arbeiterinnen Hand in Hand gehen können». Doch dazwischen hatte Anita Augspurg den Fehdehandschuh der Zetkin aufgenommen, widersprach heftig bezüglich der Vorwürfe an die bürgerliche Frauenbewegung und goß provozierend Öl ins Feuer:
«Endlich muß ich Frau Zetkin noch einer schneidenden Inkonsequenz zeihen, wenn sie glaubt, nachdem sie die Blutthaten des Krieges berechtigtermaßen so vollständig perhorresciert, durch die Blutthaten einer Revolution alle Segnungen höherer Kultur herbeizuführen. Ein Blick auf die Geschichte und die stattgefundenen Revolutionen zeigt doch gar zu deutlich, dass ohne Blutvergiessen ein so plötzlicher Umschwung nicht zu bewerkstelligen ist. Blutvergiessen, Greuelthaten können aber immer nur auf lange Zeit die Keime einer segensreichen Entwicklung hemmen und hinausschieben.«
Also doch Wachtstubenjargon? Erst recht, als eine Frau Küstner aufgebracht behauptete, «Frau Z,etkin hat hier den Umsturz gepredigt». M. Cauer als Diskussionsleiterin unterbrach sie beschwichtigend, zur Sache mahnend. Hatten nicht gerade konservative Kreise in Preußen versucht, in der sog. Umsturzvorlage eine Neuauflage der Sozialistengesetze durchzusetzen, und waren im Reichstag gescheitert? Hatte M Cauer nicht zusammen mit 30 anderen Frauen aus der Bewegung «Eine Erklärung deutscher Frauen gegen die Umsturzvorlage» unterzeichnet und veröffentlicht?[35] Zetkin erhielt Gelegenheit zur Klarstellung und argumentierte ganz im Sinne der Selbstinterpretation der SPD, die sich, auf F. Engels berufend, inzwischen «als revolutionäre, nicht aber Revolutionen machende Partei»[36] verstand:
«Wo und wann hat die Sozialdemokratie je behauptet, dass wir die Gesellschaftsumwandlung erstreben auf dem Wege einer gewaltsamen, einer blutigen Revolution?... Wie sich die Umgestaltung vollziehen wird, das wissen wir nicht. Aber unser Bestreben zweckt darauf ab, dass die Umgestaltung sich vollziehen möge auf friedlichem Wege. Sollte es anders kommen, nicht an uns liegt die Schuld, denn die herrschenden Klassen haben zuerst den Boden des Rechts verlassen, den der Gewalt betreten, nicht wir...»[37]
Das Resümee der Veranstalterinnen wurde in dem Schlußwort M Cauers deutlich:
«Die Aussprache mit den Sozialdemokratinnen hat uns bewiesen dass solche Auseinandersetzungen von Nutzen sind. Trotzdem der prinzipiell gegnerische, auch wohl feindselige Standpunkt der Partei hie und da scharf zum Ausdruck kam, hat dennoch die Diskussion zur Klärung beigetragen... Ich bleibe bei meiner Überzeugung und spreche sie hier von neuem aus, dass die Frauen allein diejenigen sind die noch eine Brücke von einem Ufer zum anderen bauen können.[38]
Insgesamt war dieser erste Internationale Frauenkongreß auf deutschem Boden ein ungeheurer Erfolg. 1700 angemeldete Teilnehmerinnen aus fast allen europäischen Ländern und aus Amerika hatten für Aufsehen gesorgt, sich eine Woche lang in einem bis auf die letzte Minute verplanten Programm «über die Ziele und den Stand der Frauenbewegung in den zivilisierten Ländern» informiert und persönliche Kontakte geschlossen. Die Resonanz in der Presse nicht nur in den Zeitschriften der Bewegung, sondern in allen Blättern von den «ultrakonservativsten bis zu den radikalsten und revolutionärsten», war beachtlich.
Noch ein anderes Ergebnis hatte diese große Frauenveranstaltung: Aus «Anlaß und vor dem Hintergrund» des internationalen Kongresses «der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen» luden die Genossinnen der proletarischen Frauenbewegung ihrerseits zu drei großen Volksversammlungen ein, um den Teilnehmerinnen «zumal den ausländischen Delegaten... die Möglichkeit der Aufklärung über den Charakter, die Ziele, die einzelnen Seiten der proletarischen Frauenbewegung zu machen».[39]
«Schon lange vor Beginn der Versammlung war der weite Saal der Lipschen Brauerei mehr als gefüllt. Zwischen den Tischen, in den Gängen im Vorderraum standen Kopf an Kopf gedrängt Männer und Frauen, die keinen Sitzplatz gefunden. Die Rednertribüne war mit Publikum dicht besetzt, bis unmittelbar hinter die Rednerinnen und Bureau saßen und standen Frauen, der Mehrzahl nach Angehörige bürgerlicher Kreise. Die Versammlung war eine Volksversammlung im ureigensten Sinne des Wortes. Neben der überwiegenden Zahl proletarischer Männer und Frauen war das bürgerliche Element auffallend stark vertreten. Seite an Seite mit dem Mann <der schwieligen Faust>, der wachsbleichen Näherin, der Verkäuferin, saßen hochelegante Damen, hatten Herren Platz genommen, denen man ansah, daß sie ihr Lebtag noch, nie eine sozialdemokratische Versammlung besucht halten.»[40]
Vierzehn Tage später hielt Clara Zetkin auf dem Gothaer Parteitag ihr großes Grundsatzreferat, das die Grundlage der sog. sozialistischen Frauenemanzipationstheorie bildete und nun in den Rang einer offiziellen Parteitheorie erhoben wurde.
Ausgehend von den unterschiedlichen Interessen zwischen «der Frau der oberen Zehntausend», die «vermöge ihres Besitzes ihre Individualität frei entfalten» kann, zwischen den Frauen «in den klein- und mittelbürgerlichen Kreisen und innerhalb der bürgerlichen Intelligenz», «jenen tragischen, psychologisch interessanten Noragestalten, wo die Frau es müde ist, als Puppe im Puppenheim zu leben», und der proletarischen Frau, für die «das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals» erst die Frauenfrage geschaffen hat, kam sie zu dem vielzitierten Schluß:
«Deshalb kann der Befreiungskampf der proletarischen Frau nicht ein Kampf sein wie der der bürgerlichen Frau gegen den Mann ihrer Klasse; umgekehrt es ist ein Kampf mit dem Mann ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse... Das Endziel ihres Kampfes ist nicht die freie Konkurrenz mit dem Mann, sondern die Herbeiführung der politischen Herrschaft des Proletariats. Hand in Hand mit dem Manne ihrer Klasse kämpft die proletarische Frau gegen die kapitalistische Gesellschaft. Allerdings stimmt sie auch den Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zu. Aber sie betrachtet die Erfüllung dieser Forderungen nur als Mittel zum Zweck, damit sie gleich ausgestattet an Waffen mit dem Proletarier in den Kampf ziehen kann.»[41]
3. «Nur mit der proletarischen Frau
wird der Sozialismus siegen» (Clara Zetkin)
Die «Ära Zetkin»
Kein Kapitel der deutschen Frauenbewegungsgeschichte ist bisher so gründlich untersucht und dokumentiert worden wie der Abschnittin der Geschichte der proletarischen Frauenbewegung ab 1890 bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs und dabei insbesondere die sog. «Ära Zetkin».[42] Deshalb sollen in diesem Zusammenhang lediglich die wichtigsten Informationen gegeben werden, um das Gesamtbild der Frauenbewegung zu erhellen. Denn bei aller Gründlichkeit und Breite bisheriger Geschichtsschreibung gerade auch aus der Perspektive der Arbeiterbewegung fällt auf, daß die Autorinnen und Autoren nicht nur aus thematischer Selbstbeschränkung die bürgerliche Richtung der Frauenbewegung notgedrungen vernachlässigen, sondern die «reinliche Scheidung» zwischen den Klassenfronten der Frauen wiederholen und erneut festschreiben und dabei mit der politischen Gegenseite historisch nicht nur ungerecht, sondern manchmal auch denunziatorisch umgehen.[43] Daß dabei spezifisch weibliche Interessen oder gar feministische Politik wiederum zwischen die Stühle der Parteiungen fallen, ist kein zufälliger Effekt.
Die selbstverständlichen Zuordnungen im männlichen Politikverständnis - nach der Zugehörigkeit zu Klassen und nicht nach Geschlecht - führen nicht nur dazu, daß die Frauenfrage historiographisch immer wieder den sog. Hauptwidersprüchen untergeordnet wird bzw. gar nicht vorkommt.[44] Sie hat auch zur Folge, daß Grenzgängerinnen zwischen den Fronten oder die Vertreterinnen «frauenrechtlerischer» Zusammenarbeit in dieser Geschichte zu Abweichlerinnen gestempelt werden. Dies gilt z. B. für Lily Braun, Wally Zeppler oder Johanna Loewenherz. Doch gerade ihre Schwierigkeiten, also das Dilemma einer sowohl die Klassen- wie die Geschlechterherrschaft überschreitenden Politik, interessiert und ist eine Fragestellung von aktueller Brisanz.
C. Zetkin trat 1889 zum erstenmal mit ihren Anschauungen zur Frauenfrage auf dem Internationalen Arbeiterkongreß vor eine größere Öffentlichkeit. In ihrer Rede, die sich an den Vorarbeiten von A. Bebel und F. Engels[45] orientierte, entwickelte sie den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der «Frauenfrage» und der «sozialen Frage», zwischen der «Emanzipation der Frau» und «der Emanzipation der Arbeit vom Kapital». Und zwar so überzeugend, daß es für die Sozialisten, «um mit Wilhelm Liebknecht zu reden keine <Frauenfrage> (mehr) gab, es gab nur eine <soziale Frage>».[46]Gleichzeitig aber ging Zetkin mit den auch unter Sozialisten noch üblichen reaktionären Bestrebungen, Frauenarbeit zu beschränken oder zu verbieten, scharf ins Gericht.
«Diejenigen, die auf ihr Banner die Befreiung alles dessen, was Menschenantlitz trägt, geschrieben haben, dürfen nicht eine ganze Hälfte des Menschengeschlechts durch wirtschaftliche Abhängigkeit zu politischer und sozialer Sklaverei verurteilen. Wie der Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht wird, so die Frau vom Manne; und sie wird unterjocht bleiben, solange sie nicht wirtschaftlich unabhängig dasteht. Die unerläßliche Bedingung für diese ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit ist die Arbeit.»[47]
Clara Zetkin geb. Eißner (geb. am 5.7. 1857 in Wiederau/Erzgebirge am 20. Juni 1933 in Archangelskoje/Sowjetunion gest.)
...war als protestantische Lehrerstochter in einem Heimarbeiterdorf im Erzgebirge aufgewachsen. Ihre Mutter Josephine, die die 1848er Revolution miterlebt hatte, kam nach der Übersiedlung der Familie nach Leipzig im Jahr 1872 in Kontakt zur dortigen bürgerlichen Frauenbewegung, dem «Allgemeinen Deutschen Frauenverein und brachte ihre Tochter Clara im Lehrerinnenseminar von Auguste Schmidt unter. Die überaus begabte Schülerin wurde häufig zu Tee und Diskutiernachmittagen bei den Vorsitzenden des ADF Louise Otto und Auguste Schmidt eingeladen.
Gleichzeitig aber kam sie als politisch wache und sozial engagierte Person mit der sozialdemokratischen Bewegung in Berührung. Denn Leipzig war zu dieser Zeit das Zentrum der Arbeiterbewegung mit den zwei bekanntesten Führern Wilhelm Liebknecht und August Bebel. In einem Zirkel russischer Studenten lernte Clara Ossip Zetkin kennen und lieben und war auch nach dem Erlaß der Sozialistengesetze - zum Entsetzen ihrer Familie und ihrer Lehrerin — nicht bereit die «sozialistischen Umtriebe» aufzugeben. Nachdem sie zunächst als Erzieherin gearbeitet hatte, folgte sie 1882 nach einer Zwischenstation und Mitarbeit an der illegalen Zeitschrift «Der Sozialdemokrat» in Zürich dem aus Deutschland ausgewiesenen Ossip nach Paris. Da eine Eheschließung den Verlust ihrer deutschen Staatsangehörigkeit bedeutet hätte, lebten beide in freier Lebensgemeinschaft - ziemlich karg nur von ihrer Schreiberei oder Gelegenheitsarbeiten. Sie hatten zwei Söhne, und Clara führte den Namen ihres Lebensgefährten Zetkin. Die Zetkinsche Wohnung wurde rasch zu einem Mittelpunkt der in Paris lebenden sozialistischen Emigranten. Als Ossip Zetkin nach langer Krankheit 1889 starb, mußte Clara Zetkin den Lebensunterhalt für sich und ihre Söhne verdienen.
Die sozialistische Frauenemanzipation.- Theorie und Praxis
Von Anfang an war für C. Zetkin die aushäusige Erwerbsarbeit— in der marxistischen Terminologie: die Teilhabe an gesellschaftlicher Produktion — selbst in der ausbeuterischen Form der Fabrikarbeit der einzige und notwendige Weg «Für die Befreiung der Frau», wohl wissend, daß die Frau damit im Kapitalismus eigentlich «nur den Herrn gewechselt» hatte. Doch die Arbeiterin war damit wenigstens «nicht länger dem Manne untergeordnet, sondern (war) seinesgleichen». Folgerichtig duldete der gemeinsame Kampf von Arbeiterinnen und «sozialistischer Arbeiterpartei» keine Absonderung oder Sonderrechte für Frauen.
Deshalb votierte Zetkin zunächst gegen einen besonderen Frauenarbeitsschutz, ein sehr grundsätzlicher Standpunkt, den sie jedoch bald aufgab - in Anbetracht der «Tatsachen»: der hohen Säuglingssterblichkeit, der großen Zahl der Fehl- und Totgeburten der viel geringeren Lebenserwartung der Proletarierin selbst im Vergleich zu ihrem männlichen Klassengenossen. Nicht zuletzt im Interesse der «Sicherung eines starken kampfestüchtigen proletarischen Geschlechts» hielt sie schon 1892 einen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz für «eine hygienische Notwendigkeit»
Frauenarbeit um die Jahrhundertwende
Die Zunahme der aushäusigen Erwerbstätigkeit von Frauen war um die Jahrhundertwende ein viel diskutiertes Politikum, das nicht wenige in Alarmzustand versetzte und je nach politischer Zielrichtung - z. B. auch von A. Bebel[49] überbewertet bzw. abgewehrt wurde. Dabei hatten die unterschiedlichen Zählweisen der der amtlichen Statistiken, hatten insbesondere die großen Berufszählungen von 1895 und 1907 ihr Teil zur Verfälschung der Ergebnisse beigetragen. Tatsächlich verzeichnete die Reichsstatistik von 1907 im Vergleich zu 1895 eine Zunahme der Gesamtzahl erwerbstätiger Frauen von 6,58 Mill. auf 9,49 Mill. und damit eine Steigerung des Anteils weiblicher Beschäftigter an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen - ohne Einrechnung der Dienstboten - von 25,4 auf 30,7 Prozent.[50]
In Wirklichkeit beruhte der Zuwachs im wesentlichen auf der gründlicheren Erfassung der weiblichen sog. mithelfenden Familienangehörigen, also all jener Arbeiterinnen im Gewerbe und insbesondere in der Landwirtschaft, die auch vor ihrer statistischen Anerkennung genauso hart gearbeitet hatten. Auch bei Berücksichtigung dieser Fehlerquelle aber zeigt die Erwerbsquote aller Frauen im erwerbsfähigen Alter (von 16 bis 60 Jahren) zwischen 1895 und 1907 einen Anstieg von 37,4 auf 45,9 Prozent.[51] diese Quote liegt heute bei 54 Prozent. Dagegen ist der Anteil von Frau an allen Beschäftigten seither und schon damals erstaunlich konstant, er betrug einschließlich der Dienstboten etwa 35 Prozent und liegt heute bei 39 Prozent.
Bedeutungsvoller als dieses Zahlenspiel waren die Umschichtungsprozesse, die die Art der Frauenarbeit veränderten - hierzu gehören der nach 1900 einsetzende rapide Rückgang der Dienstboten sowie die starke Zunahme des Frauenanteils im Textil- und Bekleidungsgewerbe, Nahrungs- und Genußmittelindustrie und in der Metallverarbeitung sowie die zunehmende Beteiligung der Frauen in den Angestelltenberufen.[52]
So waren die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit, vor allem aber die für den Zeitgenossen sichtbaren Veränderungen in der Familie offenbar die Voraussetzung für eine Frauenemanzipationslheorie, die auf Emanzipation durch Erwerbsarbeit setzte. Hinzu kam, daß mit dem Fall der Sozialistengesetze sich die Gewerkschaften neu organisierten, was theoretisch auch die Organisierung gewerkschaftlicher Fraueninteressen ermöglicht hatte. Aus diesem Grund übernahm die erste Gewerkschaftskonferenz 1890 in Berlin die Empfehlung des Pariser Internationalen Kongresses, die «Organisationen aufzufordern, ihre Statuten so abzuändern, daß auch die Arbeiterinnen beitreten könnten».[53] Abgesehen davon, daß die einzelnen Gewerkschaften dieser Aufforderung in der Mehrheit nicht gerade mit Begeisterung folgten, gab es noch immer die Vereinsgesetze. Sie untersagten «Frauenspersonen» nach wie vor nicht nur jegliche politische Betätigung- und selbst der Kampf um die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen wurde von den Gerichten und Polizeibehörden oft genug als«politischer Gegenstand»begriffen und mit Polizeigewalt verhindert. Auch der Zusammenschluß von Vereinigungen, ja sogar nur das sog. In-Verbindung-Treten mit anderen Vereinen war nach § 8b des Preußischen Vereinsgesetzes speziell «Frauen, Schülern und Lehrlingen» verboten.
Auch nach 1890 blieb also die Geschichte der Arbeiterinnenbewegung zunächst eine «Geschichte von Versuchen, Beunruhigungen und Auflösungen».[54] Und doch entwickelte die proletarische Frauenbewegung unter Zetkins strenger Regie eine ihr eigene und langfristig wirkungsvolle Organisationsweise. Ein Versuch, die Vereinsgesetze zu unterlaufen, war der ebenfalls 1889 in Paris gefaßte Beschluß, sog. Frauenagitationskommissionen zu bilden.[55] Sie setzten sich zwar zusammen aus Frauen, die auf öffentlichen Versammlungen gewählt wurden, hatten aber weder Vereinsstatuten noch Mitglieder, noch einen Vorstand, der zur Rechenschaft hätte gezogen werden können. Die Berliner Frauenagitationskommission unter der Führung von Clara Zetkin hatte auf diese Weise die Fäden des Organisationsnetzes in Deutschland zeitweilig fest in der Hand. Die Kommissionsmitglieder, sieben Frauen, trafen sich in Berliner Hinterzimmern, meistens unter typisch weiblichen Vorwänden zum Kaffeeklatsch oder zur Geburtstagsfeier. Trotzdem wurde auch dieses Versteckspiel von der Polizei aufgedeckt, die Agitationskommissionen von den Behörden willkürlich zum Verein erklärt und verboten. Selbst die seit 1893 übliche lose Organisationsform, das System von sog. «Vertrauenspersonen», schützte die Proletarierinnen nicht vor Verfolgung, ganz besonders um 1895 im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Umsturzvorlage. Offensichtlich nahmen die Obrigkeiten die Subversion der Proletarierinnen sehr ernst, andererseits aber stärkte die staatliche Repression das politische Bewußtsein und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen z. B. wenn sie sich in den Wahlvereinen unter der Devise versammelten: «Können wir nicht wählen, so können wir doch wühlen!»[56]
Auf dem Gothaer Parteitag 1896, im Anschluß an das Grundsatzreferat von Clara Zetkin, wurde zum erstenmal die Agitation unter Frauen zum Tagesordnungspunkt und Gegenstand ausführlicher Beratungen gemacht. Beschlossen wurde, «nicht spezielle Frauenagitation, sondern sozialistische Agitation unter den Frauen zu betreiben».[57] Immer wieder tauchte die Sorge auf, die Frauenfrage könne zu sehr in den Vordergrund treten, ihre sozialistische Einbindung versäumen. In der Folgezeit wurde das System der Vertrauenspersonen ausgebaut und 1900 mit Ottilie Baader die erste «Zentralfrauensperson» für Deutschland bestimmt.
Erst nach 1900 gelang es, die proletarischen Frauen zu einer Massenbewegung zu mobilisieren. Die sozialdemokratischen Frauenkonferenzen, die seit dieser Zeit jeweils vor den Parteitagen abgehalten wurden, waren Ausdruck der Stärke und selbständigen Bedeutung der proletarischen Frauenbewegung, wenn auch im Rahmen der männlichen Vorherrschaft in der Partei. Schwerpunkte der Agitation und politischen Arbeit waren die Erweiterung des Arbeiterinnenschutes, die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren, gleicher Lohn für gleiche Leistung ohne Unterschied des Geschlechts, volle privatrechtliche und politische Gleichberechtigung der Frauen, insbesondere die Aufhebung des frauenfeindlichen Vereins- und Versammlungsrechts, die Beseitigung der feudalen Gesindeordnung, der Kampf um den Zehnstundentag — z.B. bei dem großen Streik der Textilarbeiter in Crimmitschau im Jahr 1903[58] - und nicht zuletzt die Mobilisierung von Massenstreiks im Kampf um das freie, gleiche und geheime Wahlrecht, besonders um das Stimmrecht der Frauen.
Ottilie Baader (1847-1925)
...hatte sich bereits 1886 als Betroffene im Kampf der Berliner Mantelnäherinnen gegen die Erhöhung des Nähgarnzolls engagiert. Sie schloß sich bald darauf der SPD an und machte Karriere in den sozialdemokratischen Frauenorganisationen: 1894 erste Vertrauensperson in Berlin, 1900 erste Zentralvertrauensperson für Deutschland, ab 1904 besoldet, also sozusagen hauptberufliche Parteifrau. Sie machte sich stark für den Kampf um das Frauenstimmrecht, für Frauen- und Kinderarbeitsschutz und für Frauenbildung und spielte eine große Rolle auf dem internationalen Heimarbeiterkongreß 1904 in Berlin. Nach 1908 war sie Leiterin des neugegründeten Zentralfrauenbüros, einer Verbindungsstelle zwischen Parteileitung und Genossinnen.
Als den Frauen endlich 1908 durch ein neues Reichsvereinsgesetz die politische Mündigkeit zugestanden und die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und Parteien gestattet wurde, stand der Eingliederung der Frauen in die SPD nichts mehr im Wege. Nun erst läßt sich der Anteil der Frauen als Parteimitglieder zählen (1909: knapp 10 Prozent), nun erst konnten Frauen in Parteiämter aufsteigen. Und doch bedeutete die nun einsetzende Integration der proletarischen Frauenbewegung in die SPD noch keineswegs Gleichstellung oder zumindest mehr politischen Einfluß von Frauen, sondern eher den Verlust von frauenpolitischer Autonomie und einer gewissen parteipolitischen Unabhängigkeit. Zwar wurden den Frauen auch nach 1908 durch Organisationsstatut noch einige Sonderrechte zugestanden (dazu gehörten besondere Frauenversammlungen, Frauenkonferenzen und die Entsendung eigener Delegierter zu den Parteitagen). Dennoch blieben sie selbst, gemessen an der Mitgliederzahl in den Gremien und im Hinblick auf Redebeiträge, immer unterrepräsentiert.[59] Luise Zietz (1865-1922), «die populärste und erfolgreichste Agitatorin der sozialdemokratischen Frauenbewegung»[60] rückte gleich 1908 als erste deutsche Frau in den Parteivorstand der SPD auf und wurde hier oft genug in Loyalitätskonflikte gestürzt, etwa bei dem Vorstandsbeschluß aus dem Jahr 1910, die nächste Frauenkonferenz ohne Anhörung der Frauen einfach zu vertagen. Die Möglichkeit zur Mitwirkung in der Partei hatte ihren Preis: Selbst Wohlverhalten oder Parteidisziplin vermochten schon damals die «kleinbürgerlichen Vorurteile» - so Zetkin[61] - so mancher Genossen kaum aus der Welt zu schaffen.
Ein wichtiges Instrument der Agitation und Schulung der Frauen für den Klassenkampf, das C. Zetkin mehr als zwei Jahrzehnte für ihren politischen Einfluß zu nutzen wußte und das auch den Zusammenhalt stärkte, war die Zeitschrift «Die Gleichheit». Im ersten Jahr ihres Erscheinens, 1890/91, wurde sie unter dem Namen «Die Arbeiterin» von Emma Ihrer redigiert, ab 1892 war die Zeitschrift fest in C. Zetkins Hand, und zwar bis 1917, als Zetkin gegenüber der SPD-Mehrheit mit ihrer konsequenten Antikriegspolitik in die Opposition gegangen war und auf Beschluß des Parteivorstandes die Redaktionsleitung abgeben mußte.
Kontroversen
«Die Gleichheit» ist bis heute eine unerschöpfliche Quelle für die Entdeckung von Frauengeschichten, auch für die Auseinandersetzungen unter Frauen, die keineswegs nur Probleme auf der «Unterseite der Geschichte»betreffen. Kontroversen wurden schließlich ausgefochten über Kapitalismus, Klassenkampf und das Ende der bürgerlichen Gesellschaft sowie über Revisionismus, Reformismus und Revolution.[62] In der «Gleichheit» dokumentieren sich also nicht nur die scharfen Grenzziehungen gegenüber den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, sondern auch die Kontroversen mit den Mitstreiterinnen aus der eigenen Partei, war doch - wie Zetkin in einem Brief an Friedrich Engels 1895 schrieb - «unsere proletarische Frauenbewegung in ihren Anfängen ziemlich frauenrechtlerisch infiziert»[63]
Diese Kritik hatte der früheren Berliner Arbeiterinnenbewegung gegolten, insbesondere den Vereinen Guillaume-Schackscher Prägung, die in den 1890er Jahren noch vereinzelt Nachfolger fanden, z.B. 1892 in dem «Zentralverein der Frauen und Mädchen Deutschlands» mit Sitz in Hamburg, einer Frauengewerkschaft mit radikal frauenrechtlerischen Zielsetzungen.
Aber auch gegenüber anderen führenden Genossinnen— tatsächlich waren es nur sehr wenige, die überhaupt in der Parteihierarchie aufstiegen oder auf Parteitagen das Wort ergriffen[64] - gelang es C. Zetkin immer wieder, zumindest bis etwa 1908, ihren Kurs als Parteilinie durchzusetzen, z. B. gegenüber Henriette Fürth.
Im Anschluß an den Gothaer Parteitag von 1896 entbrannte zwischen beiden Frauen eine heftige Kontroverse darüber, ob die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Frauen nicht zumindest in Einzelfragen - so H. Fürth - wie Arbeiterinnenschulz oder Fabrikinspektion notwendig sei.
Henriette Fürth geb. Katzenstein (1861-1936 oder 1938)
... kam aus bürgerlichem Haus und hatte eine Lehrerinnenausbildung. Mit neunzehn heiratete sie den Frankfurter Kaufmann Wilhelm Fürth. Trotz familiärer Pflichten und als Mutter von sieben Kindern war sie seit 1896 bis an ihr Lebensende eine aktive Sozialdemokratin, Sozialpolitikerin und Schriftstellerin. Neben mehreren sozialpolitischen Schriften (z. B. «Die Fabrikarbeit verheirateter Frauen», 1902, oder «Die Mutterschaftsversicherung») publizierte sie in verschiedenen Zeitschriften, insbesondere in den «Sozialistischen Monatsheften» — hier berichtete sie zwischen 1902 und 1904 regelmäßig über alle Richtungen und Aktivitäten der Frauenbewegung -, aber auch in der von Helene Lange redigierten Zeitschrift «Die Frau». Sie richtete in Frankfurt eine Rechtsschutzstelle für Frauen ein und war zugleich Mitglied im von Helene Stöcker gegründeten «Bund für Mutterschutz und Sexualreform». Von 1919 bis 1924 war sie Stadtverordnete der SPD in Frankfurt am Main.
Eine andere Kontrahentin von Zetkin war Johanna Loewenherz, die deren Unterordnung der Frauenfrage unter die Klassenfrage angriff.[65] Bezeichnend ist, daß über diese zeitweilig eifrige Agitatorin der proletarischen Frauenbewegung nicht einmal die Lebensdaten bekannt sind.[66]
Eine inzwischen viel beschriebene Feindschaft von anscheinend historischer Tragweite aber entwickelte sich zwischen Clara Zetkin und Lily Braun, wohl weil beide in der proletarischen Frauenbewegung eine Führungsrolle beanspruchten.
Clara Zetkin hatte Lily Brauns Übertritt zunächst begrüßt und bot ihr die Mitarbeit an der Zeitschrift «Die Gleichheit» an. Doch schon binnen Jahresfrist wurde die politisch ambitionierte Aristokratin den Frauen der Berliner Sozialdemokratie unbequem. Ihre Vorschläge, Pläne Publikationen wurden kritisiert und zurückgewiesen. Die Gründe waren vielfältig: Zum einen wurden L. Brauns Kontakte zum «linken Flügel» der Frauenbewegung kritisiert. Immer wieder, noch in dem Versuch auf der ersten sozialdemokratischen Frauenkonferenz 1900 in Mainz grundsätzlich das Verhältnis von Frauenemanzipation und Sozialdemokratie zu klären, trat auch sie für eine Kooperation zumindest mit den radikalen Frauenrechtlerinnen ein. Doch Zetkin wußte diese Debatte zu verhindern, für sie galt nur «ein Entweder oder Oder», kein «Und», für sie blieb Lily Braun «eine bürgerliche Sozialreformerin».[67]
Lily Braun, geb. von Kretschmonn, verwitwete von Gizycki (geb. 1865 in Halberstadt, gest. 1916 in Berlin),
...stammte aus einer preußischen Adels- und Generalsfamilie. Bis zum Alter von 25 Jahren führte Lily das leere, aber luxuriöse Leben einer jungen Frau ihrer Gesellschaftsklasse. Was sie dennoch von ihren Standesschwestern unterschied, war wohl ihr Wissensdurst, ihr Lesehunger und ein starker Wille, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das bewies sie als ihr Vater 1895 plötzlich aus der Armee entlassen wurde und die Familie Armut und sozialen Abstieg kennenlernte. Lily von Kretschmann ging 1891 nach Berlin und lernte hier den Nationalökonomen Georg von Gizycki kennen, den Gründer der «Gesellschaft für ethische Kultur».
Es war die Zeit, in der Lily auch Kontakt zu radikalen Frauenrechtlerinnen aufnahm. Sie engagierte sich zunächst in dem von M. Cauer angeführten «Verein Frauenwohl», wurde in den Vorstand gewählt und hielt in diesem Rahmen 1895 als erste deutsche Suffragette eine Rede über «Die Bürgerpflicht der Frauen, in der sie öffentlich das Frauenstimmrecht forderte. Im gleichen Jahr übernahm sie zusammen mit M. Cauer die Schriftleitung der neu gegründeten Zeitschrift «Die Frauenbewegung», dem publizistischen Sprachrohr des «linken Flügels» der bürgerlichen Frauenbewegung.
Inzwischen hatte sie Georg von Gizycki geheiratet, einen schwer kranken, an den Rollstuhl gefesselten Mann, der bereits 1895 starb.
Wie viele andere radikale Frauenrechtlerinnen sympathisierte sie mit der SPD, doch der Entschluß, SPD Mitglied zu werden verlangte von einer Frau ihrer Herkunft im Kaiserreich Mut, bedeutete er doch den völligen Bruch mit ihrer Familie und ihrem bisherigen Lebenskreis. Sie vollzog diesen Schritt dennoch 1896, nachdem sie den Sozialdemokraten Heinrich Braun geheiratet hatte.
L. Braun nahm offen Partei für die Revision der offiziellen Parteiideologie und geriet damit in schärfsten Gegensatz zu den radikalen Linken in der Partei, deren wichtigste Vertreterin neben Rosa Luxemburg Clara Zetkin war. Nachdem die SPD 1903 auf dem Parteitag in Dresden zumindest programmatisch den Revisionismus verworfen hatte, zog sich L. Braun zunehmend aus der praktischen Politik und Parteiarbeit zurück und schriftstellerte. Ihr Hauptwerk, «Die Frauenfrage», eine umfassende historische und aktuelle Untersuchung insbesondere ihrer wirtschaftlichen Seite, war bereits 1901 erschienen.[68] Ihre 1909 bis 1911 erschienenen «Memoiren einer Sozialistin», ein Lebensrückblick, der romanhaft, aber in kaum verschlüsselter Form eine Abrechnung mit all ihren Gegnern enthielt, wurden ein Bestseller. Sie starb 1916 im Ersten Weltkrieg, den sie noch in ihrer letzten Schrift «Die Frauen und der Krieg» (1915) als vaterländisch verteidigt hatte. Ihr einziger Sohn ist kurz danach im Krieg gefallen.
Wie autonom oder frauenbewegt oder auch radikal sozialistisch war die Arbeiterinnenbewegung in ihrer Gesamtheit? Die Stimmen, die der proletarischen Frauenbewegung jegliche Zugehörigkeit zur Frauenbewegung absprechen, verkennen, wieviel Frauenbewußtsein und -Solidarität, spezifisch Frauenpolitisches durch die besondere Organisierung von Fraueninteressen innerhalb der SPD und auch der Gewerkschaften möglich wurde. Davon zeugen besonders «Die Gleichheit», aber auch die seit 1900 regelmäßig stattfindenden Frauenkonferenzen, nicht zuletzt der 1911 zum erstenmal weltweit veranstaltete Internationale Frauentag.
Auffällig ist hingegen, daß die Fronten der Radikalität in Frauenfragen grundsätzlich anders, ja oft quer zu Grundsatzfragen in anderen Politikfeldern verlaufen. Dies zeigt sich etwa darin, daß die politisch Linken, so auch Zetkin, in allen Fragen, die den Privatbereich betreffen, Ehe, Familie oder Sexualmoral, keineswegs die fortschrittlicheren Positionen vertraten, vielmehr diese Probleme entweder nicht zur Kenntnis nehmen wollten, weil dadurch das allein auf Lohnarbeit bezogene Befreiungskonzept gestört wurde, oder doch unreflektiert in einem bürgerlichen Familienideal befangen blieben und die «heiligen Verpflichtungen der Mutterschaft» nicht in Frage stellen mochten.[70] Wie wenig diese sozialistische Frauenbefreiungstheorie mit der Alltagswirklichkeit und den Problemen von Arbeiterfrauen zu lun hatte, wurde spätestens in der sog. «Gebärstreikdebatte» kurz vor dem Ersten Weltkrieg deutlich: Ganz gegen die Parteiregie und Zetkins Sorge um die notwendige Zahl der «Soldaten für die Revolution» demonstrierten die Arbeilerinnen zwischen 1911 und 1914 auf mehreren Massenversammlungen für ihr Recht auf Selbstbestimmung und Geburtenkontrolle. Ohne Erfolg: Die Sozialdemokratische Partei distanzierte sich in vielen Stellungnahmen von dieser angeblichen «Privatsache». Alma Wartenberg, eine «Schlosserfrau» aus Hamburg, die mit Lichtbildervorträgen für die Verbreitung von Verhütungsmethoden eingetreten war, wurde gemaßregelt, beschimpft und wegen Verstoß gegen §184 StGB zu Gefängnis verurteilt.[71]
Zetkins Radikalität und, soweit sie die proletarische Frauenbewegung bestimmte, auch die ihrer Anhängerinnen bezog sich somit nur auf ihr Festhalten an dem Programm eines revolutionären Marxismus und seiner Grundlegung durch einen historischen Materialismus, auf ihr Eintreten für den Massenstreik als politisches Kampfmittel gerade auch zur Erlangung des allgemeinen Wahlrechts und erwies sich 1914 in ihrer konsequenten Ablehnung des sozialdemokratischen Burgfriedens mit dem kriegführenden Kaiserreich (...)
Dagegen haben sich Revisionistinnen wie Wally Zeppler[72] in den zentralen Frauenfragen Ehe, Familie und Sexualität viel weiter vorgewagt und sind insbesondere in der 1905 in den «Sozialistischen Monatsheften» angezettelten Debatte über «Die Frauenfrage» und «Die Familie» gegen ein reaktionäres Familienkonzept angetreten. Die Revisionistinnen thematisierten auch schon die Probleme der «Hausfrauentätigkeit» und bezeichneten die Erziehungsarbeit der Mütter als gleichwertig, die «mindestens einen so großen Arbeitsaufwand verlangt... wie vom Mann der Beruf».[73]
4. «Auflehnung gegen Gottes Ordnung»? (Minna Cauer)
Die konfessionelle Frauenbewegung
Ein Überblick über die verschiedenen Richtungen der Frauenbewegung sollte die konfessionellen Frauenverbände nicht aussparen. Zwar bieten die konfessionell gebundenen Frauen für das Bestreben nach Autonomie und Emanzipation von männlicher Bevormundung auf den ersten Blick wenig Anknüpfungspunkte. Ebensowenig isl die Geschichte der Frauen in der Kirche als Erfolgsgeschichte, sondern eher als eine «Trauergeschichte» zu bezeichnen. Bei genauerem Hinsehen aber verbirgt sich selbst in der Kirchengeschichte als der Geschichte eines sich immer selbst wieder bestätigenden Patriarchats eine revolulionäre Frauentradition. Denn immer wieder haben gerade Frauen das «Christentum als Religion der Freiheit»[74] ernst genommen, gingen insbesondere im 19. Jahrhundert religiöser Aufbruch und neues soziales Handeln oftmals Hand in Hand. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem «Was die Pastoren denken»,[75] oder die überaus kritischen «Anfragen an die Herren Theologen Deutschlands aus den Kreisen christlich gebildeter Frauen»[76] trugen zur Bewußtwerdung der Frauen bei, machten Mut zur Inanspruchnahme von Recht als Menschenrecht.
Mit der Ausbreitung der Frauenbewegung wurde auch in kirchlichen Kreisen das traditionelle Selbstverständnis der Frau als Untergeordnete und Dienende problematisch, weil der «Bazillus der Emanzipation» auch vor kirchentreuen Ehefrauen, Töchtern und Schwestern nicht halt machte. Überdies ist nicht zu leugnen, daß die konfessionellen Verbände in vieler Hinsicht auch eine Vermittlerfunktion übernommen und auf ihre Weise die Frauenfrage in politisch konservative, der Frauenbewegung fernstehende Kreise getragen haben. Andererseits aber hat der «Deutsch-Evangelische Frauenbund» für die weitere Entwicklung und Politik der deutschen Frauenbewegung eine nicht unwesentliche Rolle als «retardierendes Moment»[77] gespielt.
Ausschlaggebend wurden konservative und nationale Orientierungen, die auch im Verhältnis zum «Jüdischen Frauenbund» verheerende politische Folgen haben sollten, und nicht erst 1933 für den «Bund Deutscher Frauenvereine» zur Schicksalsfrage wurden. Problemalisch waren die Beziehungen zwischen der «allgemeinen» und der konfessionellen Frauenbewegung von Anbeginn. So schrieb Minna Cauer 1899 in einer «Umschau» in der «Deutschen Frauenwelt»:
«Fast so schroff geschieden wie die proletarische und bürgerliche Frauenbewegung steht der größte Teil der kirchlich-christlichen Frauen der Frauenbewegung gegenüber und sieht in derselben eine Auflehnung gegen Gottes Ordnung. Es beginnt sich jetzt allerdings in diesen Kreisen zu regen und eigentümlicherweise auf Anregung der Männerwelt, doch geschieht es nicht um der Befreiung des Frauengeschlechts willen, diesen Grundgedanken läßt man nicht zu, sondern um (der) Aufgaben willen, die die Frau als Helerin zu übernehmen habe... Unterschätzen wir (je)doch nicht, welch ein mächtiger Faktor im Frauenleben der religiöse Einfluß ist, und lassen wir uns durch die Proklamation auf dem Katholikentage nicht täuschen, daß man der Frauenbewegung größere Aufmerksamkeit schenken werde. Die Macht der katholischen Kirche liegt zum Teil in den Händen der Frauen.»[78]
Ein Antrag der Radikalen an die Generalversammlung des BDF, konfessionell gebundene Organisationen von der Mitgliedschaft auszuschließen, wurde von der Mehrheit abgelehnt. Dadurch konnte der «Bund Deutscher Frauenvereine» zwar eine große Zahl neuer Mitglieder gewinnen, verstärkte aber auch seinen konservativen rechten Flügel. So konnten auf dem Deutschen Frauenkongreß von 1912 nacheinander die Vertreterinnen des Evangelischen, des Katholischen und des «Jüdischen Frauenbundes» mit einem Grundsatzreferat zu Wort kommen.[79]
Der «Deutsch-Evangelische Frauenbund» (DEF)
Der DEF wurde 1899 mit Hilfe des Pfarrers Ludwig Weber auf dem Evangelischen Frauentag in Kassel gegründet. Vorausgegangen war bereits 1894 die Gründung einer «Evangelisch-Sozialen Frauengruppe» durch Elisabeth Gnauck-Kühne, die ein Jahr später als erste Frau - «eine kleine Sensation»-au f der Evangelisch-Sozialen Konferenz das Hauptreferal über «Die soziale Lage der Frau» hielt.[80]
Elisabeth Gnauck-Kühne (1850-1917),
ausgebildete Lehrerin, Gründerin eines Lehr- und Erziehungsheims in Blankenburg, wurde nach ihrer Ehescheidung von dem Arzt R. Gnauck zur Sozialpolitikerin und Frauenrechtlerin. «Enttäuscht über den kargen Protestantismus und die Möglichkeit, in ihm eine Identität als Frau zu finden»,[81] trat sie 1900 zum Katholizismus über, wurde Mitbegründerin des «Katholischen Frauenbundes». Engagiert in der Organisierung der Arbeiterinneninteressen, wurde sie auch die «katholische Zetkin» genannt.[82]
Langjährige Vorsitzende des «Deutsch-Evangelischen Frauenbundes», von 1901 bis 1934, war Paula Müller-Otfried (1865-1946), die auch die Verbandszeitschrift, zuerst die «Mitteilungen des deutsch-evangelischen Frauenbundes», seit 1904 die «Evangelische Frauenzeitung» redigierte. Ziel des Zusammenschlusses, dem — im Gegensatz zur im gleichen Jahr entstandenen «Evangelischen Frauenhilfe» — vorwiegend Frauen aus der national gesonnenen protestantischen Mittel- und Oberschicht angehörten, war, «auf dem Grunde des evangelischen Bekenntnisses an der Lösung der Frauenfrage und an der religiös-sittlichen Erneuerung und sozialen Hebung des Volkslebens» zu arbeiten.[83] Der Bund übernahm praktisch Aufgaben der Inneren Mission und engagierte sich z. B. in der Sittlichkeitsbewegung, in der Bekämpfung von Suchtgefahren, in Fragen der Kinderarbeit usw. Eine der ersten Forderungen betraf das Frauenstimmrecht bei den kirchlichen Gemeindewahlen. Doch diese Forderung wurde ausdrücklich an die Ablehnung des politischen Stimmrechts und der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung gekoppelt, und zwar im «Interesse des Vaterlandes», da die Einführung des allgemeinen Wahlrechts
«in Anbetracht unserer innerpolitischen Verhältnisse und der noch vielfach mangelnden Reife der Frauen in absehbarer Zeit keinen Segen für unser deutsches Volk bedeute, sie ließe dagegen eine im höchsten Grade bedenkliche Stärkung der staatsfeindlichen Parteien mit Sicherheit voraussehen».[84]
1908 war der DEF gezielt dem «Bund Deutscher Frauenvereine» beigetreten, um in der Diskussion um die Beform des §218 und die Sittlichkeitsfrage den rechten, konservativen Flügel zu stärken. Wegen dergleichen konservativen Orientierung trat der DEF 1918 demonstrativ wieder aus, als der BDF gemeinsam mit den anderen Stimmrechtsvereinen das Wahlrecht für Frauen gefordert halte. Dessenungeachtet war P. Müller-Otfried eine der ersten weiblichen Abgeordnelen im Reichstag als Vertreterin der Deutsch-Nationalen Volkspartei.
Für 1913 wurden 13 650 Mitglieder im evangelischen Frauenbund gezählt,[85] zum Ende der 1920er Jahre wird eine Zahl von 200 000 angegeben.[86] Der DEF ist einer der wenigen deutschen Frauenvereine, der auch die Zeit des Nationalsozialismus ungeschoren überdauert hat und bis heute besteht.
Der «Katholische Frauenbund Deutschlands» (KFD)
Die Konstituierung des KFD erfolgte 1904 in Köln. Die Initiative o-ingvon einer «Damenkonferenz» im Anschluß an die 50. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands im Jahr 1903 aus.[87] Die zweite Vorsitzende, die den Bund als Interessenvertretung aller katholischen Frauen entscheidend prägte, war Hedwig Dransfeld (1871-1925). Als Zweck des Zusammenschlusses war in §2 der Satzung bestimmt:
«1. wirksame Vertretung der allgemeinen Fraueninteressen auf'sittlichem, sozialem, beruflichem, wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiet;
2. Zusammenfassung der katholischen Frauen aller Betätigungskreise und sozialen Schichten...
3. Aufklärung der katholischen Frauen über Fragen und Probleme, welche die Entwicklung der Gegenwart mit sich bringt, insbesondere soweit sie die Frauenwelt betreffen;
4. wissenschaftliche, soziale und karitative Gemeinschaftsarbeil...»[88]
Der KFD lehnte die «religiöse Indifferenz» der Frauenbewegung ab und trat deshalb niemals dem BDF bei. Er verstand sich jedoch selbst als Teil der Frauenbewegung und kooperierte mit den politischen Frauenorganisationen in Frauenbildungs- und Rechtsfragen.
Dem Frauenstimmrecht stand der «Katholische Frauenbund» nicht so konsequent ablehnend gegenüber wie der «Evangelische Frauenbund». Für und Wider wurden diskutiert, insbesondere die politisch nahestehende Zentrumspartei beurteilte diese FrauenFrage «wohlwollend». Aber aufgrund der programmatischen politischen Neutralität kam es bis 1918 zu keiner offiziellen Stellungnahme. Mitgliederzahlen werden für 1918 genannt: insgesamt 112496 waren danach in 405 Zweigvereinen und 638 dem KFD angeschlossenen Vereinen organisiert. Vereinsorgane waren «Die christliche Frau», herausgegeben von Elisabeth M. Hamann, später auch die Zeitschrift «Frauenland».
Der «Jüdische Frauenbund» (JFB)
Der JFB wurde 1904 anläßlich der Berliner Konferenz des «Frauenweltbundes» (ICW) gegründet. Initiatorin und Vorsitzende war Bertha Pappenheim, eine «begeisterte Feministin und gläubige Jüdin»[89]
Bertha Pappenheim (geb. 1859 in Wien, gest. 1936 in Isenburg),
…kam aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Sie war die erste, die von ihrer Erkrankung als Zwanzigjährige von dem Arzt Josef Breuer mit einer Psychotherapie geheilt wurde. Ihre Krankengeschichte ist die in der Schilderung S. Freuds berühmt gewordene Geschichte der Anna O., mit der Freud den Weg zur Psychoanalyse fand.
1888 zog B. Pappenheim mit ihrer Mutter nach Frankfurt, wo sie sich sehr bald innerhalb der jüdischen Gemeinde für die Armenpflege und «weibliche Fürsorge» engagierte und auch den Kontakt zu frauenbewegten Frankfurter Frauen wie Henriette Fürth aufnahm. Nach 1900 gehörte sie zu den ersten Frauen, die von der Stadt Frankfurt ehrenamtlich als Waisen- und Armenpflegerinnen eingestellt wurden. Sie arbeitete mit im ADF, in Gemeindeämtern, Mutter- und Kinderschutzvereinen, in der Sittlichkeitsbewegung und Rechtsschutzstellen und kämpfte zeit ihres Lebens besonders gegen den international organisierten Mädchenhandel, von dem die aus Osteuropa auswandernden jüdischen Mädchen und Frauen ganz besonders betroffen waren. Gleichzeitig war sie als Schriftstellerin und Publizistin tätig. Nach der Jahrhundertwende baute sie ihre eigenen Organisationen auf, 1902 den «Israelitischen Mädchenclub», 1904 den «Jüdischen Frauenbund», 1914 den «Weltbund jüdischer Frauen» und 1907 das Mädchenheim in Neu-Isenburg, das sie 29 Jahre lang leitete. Von 1914 bis 1924 gehörte sie dem BDF-Vorstand an.
Der «Jüdische Frauenbund» vereinte Ziele der Frauenbewegung mit «einem ausgeprägten Gefühl für jüdische Identität»[90] Sein Zweck war:
«Zusammenschluß der deutsch-jüdischen Frauenvereine und weiblicher Einzelpersonen zu gemeinsamer Arbeit im Interesse der jüdischen Frauenwelt. Der Verband fördert Bestrebungen, die
1. die Erziehung des Volkes bezwecken,
2. das Erwerbsleben jüdischer Frauen und Mädchen erleichtern wollen,
3. auf Hebung der Sittlichkeit, Bekämpfung des Mädchenhandels hinwirken und
4. geeignet sind, das jüdische Gemeinschaftsbewußtsein zu stärken.»
Der JFB hatte im Vergleich zum Organisationsgrad im BDF eine breite Anhängerschaft; 1913 hatte er 32000 Mitglieder. [91] In der Person B. Pappenheims war auch die Kooperation mit der gemäßigten Mehrheit im BDF garantiert. Doch zunehmend belasteten antisemitische Tendenzen und Vorfälle auch im BDF die schwesterliche Solidarität.[92]
5. «Sie müssen dies dem Kaiser sagen» (Suson b.Anthony)
Der Weltkongreß 1904 in Berlin
Die großen internationalen Kongresse der alten Frauenbewegung 1896 1904 und 1912 - bezeichnen glanzvolle und bemerkenswerte Stationen auf dem mühsamem, von vielen Prinzipienfragen und mächtigen Hindernissen beschwerten Weg zur Emanzipation. Sie glichen jeweils einem großen Feuerwerk, das schnell wieder verlosch. Und doch geben die Quellen auch heute noch einen guten Überblick und Eindruck von der Vielfalt und dem Stand der Bewegung und dem, was gesellschaftlich möglich war.
Der Internationale Frauen-Kongreß von 1904, zu dem der «Bund Deutscher Frauenvereine» den alle fünf Jahre tagenden «Frauenweltbund» (ICW) nach Berlin eingeladen hatte, war solch ein glanzvoller Höhepunkt, der die inzwischen gewonnene Stärke und Bedeutung der Frauenbewegung eindrucksvoll belegt. Auch der Eindruck, den die tausende von Besucherinnen aus aller Welt auf die Zeitgenossen und -genossinnen in der Reichshauplstadt gemacht haben, teilt sich heute noch mit und ist in vielfältigen Presseberichten und ungewöhnlich vielen Fotos dokumentiert.[93]
Der «Frauenweltbund» hatte zur Zeit des Berliner Kongresses ungefähr 7 Millionen Mitglieder in 24 Ländern, von denen immerhin einige tausend als Delegierte und Besucherinnen nach Berlin gereist waren. Neben der inhaltlichen Erarbeitung des Programms durch den Vorstand des BDF hatte unter der Leitung von Hedwig Heyl ein Komitee von 150 Frauen aus dem BDF die organisatorischen Vorbereitungen übernommen und Spenden beschafft, «um die Berliner Philharmonie mieten zu können, ein opulentes Rahmenprogramm zu organisieren und den Kongreßteilnehmerinnen jede Annehmlichkeit zu bieten». Dazu gehörten auch «Empfänge und Einladungen bei nahezu allen bedeutenden Persönlichkeiten», Empfänge beim Reichskanzler von Bülow und bei verschiedenen Ministern sowie eine Audienz bei der Kaiserin Augusta (…), die sonst mit der Frauenbewegung wenig im Sinn hatte. Doch es gab auch skeptische Stimmen:
«In erster Linie bedauern wir das äußere Gepräge dieses Kongresses; so vollendet es auch war, so beeinträchtigte doch der Prunk, die vielen Salons, Büffets, die immer belagerte Limonadenquelle u. dergl. mehr, den Ernst des Ganzen. Ein ewiges Hin- und Heißuten, ein lautes Stimmengewirr bis in die Hörsäle hinein, eine Entfaltung von Luxus, Toiletten und das Haschen nach Sensationellem, - alles das stieß den denkenden und forschenden Menschen ab. (...] Sicherlich nicht das Wichtigste; dennoch wichtig zur Charakteristik des Kongresses. Er war geselhchqfts- und salonfähig, ja sogar hoffähig - liegen in diesen Worten nicht allein schon die bedenklichsten und schwersten Gefahren für eine soziale Bewegung? Hat denn niemand darüber nachgedacht, warum man die Bewegung salon- und hoffähig machen wollte?»[94]
Die «hohe Konjunktur» der Frauenbewegung in jener Zeit ist schließlich daran abzulesen, daß aus Anlaß dieses Kongresses ein Portraitfoto von Marie Stritt als Vorsitzender des «Bundes Deutscher Frauenvereine» und Präsidentin des Frauenkongresses die Titelseite der größten Massenillustrierten, der «Berliner Illustrirten Zeitung» schmückte.
Lesetips
- Helene Lange: Die Frauenbewegung und ihre modernen Probleme, Berlin 1908. Neudruck Münster 1980
- Marion A. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisationen und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904—1938, Hamburg 1981
- Elisabeth Moltmann-Wendel: Frau und Religion. Gotteserfahrungen im Patriarchat, Frankfurt 1983
- Richard J. Evans: Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin, Bonn 1979
- Sabine Richebächer: Uns fehlt nur eine Kleinigkeit Deutsche proletarische Frauenbewegung 1890-1914, Frankfurt 1982
- Clara Zetkin: Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, 1928. Neudruck Frankfurt 1971