7. Kapitel 1894-1908

Die Radikalen im Kampf um Recht und gegen doppelte Moral

1. Weil«... aus lauter Bischens... doch nur
etwas An- und Zusammengeflicktes wird» Hedwig Dom

Die erste Stimmrechtsversammlung in Berlin 1895

«Im Grunde haben auch die beliebten Bezeichnungen <gemäßigte> und <radikale> Frauenbewegung keinen rechten Sinn, wenigstens nicht den Sinn, der ihnen gewöhnlich gegeben wird: daß es sich dabei um verschiedene Bestrebungen handelt; denn es sind lediglich Unterschiede der Taktik, des Tempos, des Charakters und des Temperamentes, die in den verschiedenen führenden Persönlichkeiten und in den verschiedenen <Richtungen> zum Ausdruck kommen und den falschen Schluß auf verschiedene Ziele entstehen ließen. Die Frauenbewegung als solche kann eigentlich nur als eine <radikale> aufgefaßt werden, da sie thatsächlich eine Beseitigung der Wurzeln, eine Änderung der Grundlage unserer heutigen Gesellschaftsordnung, soweit diese auf der Unterordnung der Frau aufgebaut ist, anstrebt.»[1]

Handelte es sich bei der Abspaltung der Radikalen vom breiteren Strom der bürgerlichen Frauenbewegung wirklich nur «um Unterschiede der Taktik, des Tempos, des Charakters», wie Marie Stritt vermittelnd meinte, oder doch um Grundsätzlicheres, also um

«streitbare Frauen, die die Axt an die Wurzel des Übels leg(t)en»? Denn: «Die Radikalen fordern alle Freiheilen und Rechte unbedingt und uneingeschränkt, in der Meinung, daß aus lauter Bißchens (ein bißchen Freiheit, ein bißchen Beruf) doch nur etwas An- und Zusammengeflicktes wird...»[2]

So Hedwig Dohm, die in ihrer angriffslustigen Schrift «Die Antifeministen» nicht nur mit allen «Kategorien» von Frauenfeinden, den «Altgläubigen, Herrenrechtlern, praktischen Egoisten oder Rittern der mater dolorosa (Unterabteilung: die Jeremiasse, die auf dem Grabe der Weiblichkeit schluchzen)», aufräumte, sondern auch die prominentesten Vertreterinnen des weiblichen Antifeminismus der Jahrhundertwende mit einer auf der Zunge zergehenden Ironie und Scharfsinnigkeit widerlegte: Z.B. Laura Marholm, erfolgreiche Schriftstellerin, deren «Kapseltheorie» («Das Weib ist seelisch und physiologisch eine Kapsel über einer Leere, die erst der Mann kommen muß zu füllen»[3]) vielen gelegen kam, doch in der Frauenbewegung heftig diskutiert wurde und empörten Widerspruch fand. Z.B. Ellen Key, deren Bestseller «Mißbrauchte Frauenkraft» (1898) und «Das Jahrhundert des Kindes» (1902) den Bemühungen der Frauenbewegung um Gleichberechtigung in den Bücken fielen. Allerdings forderte sie auch schon ein «neues Ehegesetz», das «die ganz freie Vereinigung zwischen einem Manne und einer Frau» ermöglicht,[4] und engagierte sich in diesem Zusammenhang auch im «Bund für Mutterschutz».
Der Ausgangspunkt der meisten radikalen Initiativen war der «Verein Frauenwohl» Berlin. Zunächst als «Frauengruppe der Deutschen Akademischen Vereinigung» ins Leben gerufen, wurde er von Anbeginn von Minna Cauer geleitet und geprägt (…)


 Minna Cauer (geb. Schelle, geb. am 1.11.1841 in Freyenstein, gest. am 3.8.1922 in Berlin)

…war schon 47 Jahre alt, als sie sich für die Frauenbewegung engagierte und ihr in vielfacher Hinsicht die entscheidenden Anstöße gab. Die Pfarrerstochter aus Schlesien und ausgebildete Lehrerin war damit einer Anregung ihres verstorbenen Ehemannes Eduard Cauer gefolgt, eines schon um Mädchenerziehung und Lehrerinnenausbildung verdienten liberalen Pädagogen.
Von der Gründung des «Vereins Frauenwohl» bis zu ihrem Lebensende stand M. Cauer an der Spitze vieler Initiativen und Vereinsgründungen: des «Kaufmännischen Hilfsvereins für weibliche Angestellte», der «Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit», des internationalen Kongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen» von 1896 oder auch beim Aufbau einer Berufsorganisation für Krankenpflegerinnen, dem «Agnes-Karll-Verband». Sie exponierte sich im Kampf gegen das BGB, gegen das Frauen ausschließende Vereinsrecht, für das Stimmrecht der Frauen. 1899 übernahm M. Cauer den Vorsitz im neugegründeten «Verband Fortschrittlicher Frauenvereine», dem Dachverband aller radikalen Frauenvereine, legte aber 1907 den Vorsitz nieder, als dieser sich dem BDF anschloß. Seit 1902 war sie im Vorstand des in Hamburg gegründeten «Deutschen Vereins für Frauen Stimmrecht» und leitete mit großem Erfolg zusammen mit Toni Breitscheid den «Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht». Als entschiedene Demokratin nahm sie Stellung zu allen brennenden Tagesfragen, zu Partei-, Innen- und Außenpolitik, ihr Sprachrohr, Kampfinstrument und Lebenswerk waren die Zeitschrift «Die Frauenbewegung», das von einer breiten Öffentlichkeit gelesene «Blatt der Linken», Plattform und Chronik aller Richtungen der Frauenbewegung. M. Cauer hat «Die Frauenbewegung» 25 Jahre lang, von 1895 bis 1919, unter persönlichen und finanziellen Opfern herausgegeben und gestaltet.

«Man wird — von Nummer zu Nummer fortlesend - hineingezogen ins Getümmel ihrer politischen Alltagsarbeit, informiert über soziale, politische und kulturelle Themen in bunter Fülle, dargeboten mit dem ganzen Charme ebenso intelligenter wie unbekümmerter Subjektivität.»
«Unter Publizisten, die ins Weite wirken, sind auch einige Frauen. Kampfnaturen, die edles ungeheuer ernst nehmen und noch nicht großstädtisch-rationalistisch abgeschliffen sind. Die Männer, die für den Tag schreiben, werden meist Lebensskeptiker, werden sich nach und nach des bloßen Papierwertes ihrer Schriftstellerei bewußt. Die Frauen dagegen sind, wenn sie sich einmal ins öffentliche Leben begeben, bis zum letzten Atemhauch geistige Amazonen, die sich täglich von neuem mit hellem Jubel in die Schlacht stürzen...»[5]


Auch in anderen Städten hatten sich sehr bald, angeregt vom Berliner «Verein Frauenwohl», Schwestervereine gebildet, die Pionierarbeit leisteten, z.B. in Danzig, Königsberg, Breslau, Frankfurt a.O., Bonn, Minden und Dortmund, doch der «Hauptverein» und Kristallisationspunkt blieb Berlin. Hier erschien seit 1893 das für die Propagandaarbeit erste gemeinsame Organ «Frauenwohl — Zeitschrift für Frauen-Interessen», 1895 übergeleitet in die Zeitschrift «Die Frauenbewegung», die von nun an die Erfolge und Niederlagen, den Elan und neuen Stil, die Vielfalt, Schwierigkeiten und Kämpfe dieser «fortschrittlichen Richtung» dokumentiert.In Berlin fand am 2. Dezember 1894 die «erste öffentliche Volksversammlung (statt), die von bürgerlichen Frauen einberufen war», «dazu mit der Aufstellung eines politischen Themas: Die Bürgerpflicht der Frau.»[6] Die Veranstalterin war die Vorsitzende des «Vereins Frauenwohl», Minna Cauer, die Rednerin war Lily von Gizycki, spätere Braun. Sogar Uhrzeit und Ort dieser denkwürdigen Unternehmung sind überliefert: 11.1/2 Uhr im Konzerthaus in der Leipziger Straße 48. Denn das Aufsehen war beträchtlich. Zwar nahmen «einige Zeitungen nur spöttisch Notiz von einer so lächerlichen Tatsache, andere schwiegen sie völlig tot».[7] Doch die Zeitschrift «Frauenwohl» hebt eine Reihe von Zeitungen hervor, die «in sympathischer Weise» Berichte über den Vortrag gebracht haben,[8] und Zeugen berichteten
von «Beifallsstürmen des den Konzerthaussaal an der Leipzigerstraße überfüllenden Publikums», [9]

«Vielen Mitgliedern des Vereins (Frauenwohl aber) erschien diese Tat als bedenklich und gefährlich, so daß eine Anzahl deswegen ihre Mitgliedschaft aufgaben.»[10]Worin aber lag eigentlich die Grenzüberschreitung und Provokation? Gewiß nicht nur darin, daß hier Klassenschranken übertreten wurden, denn bis dahin war die SPD die einzige Partei, die das Frauen Stimmrecht ausdrücklich in ihr Gothaer Programm von 1891 aufgenommen hatte. Wohl eher in der Tatsache, daß nun demonstrativ «politische Gegenstände» öffentlich und von Frauen verhandelt und Ansprüche angemeldet wurden, die durch nichts mehr zu beschwichtigen waren.

Der Vortrag Lily von Gizyckis, die übrigens zu diesem Zeitpunkt noch nicht der SPD beigetreten war, ist eine mitreißende Zusammenfassung aller Argumente für das Stimmrecht der Frauen, eine gründliche Widerlegung ängstlicher Vorurteile und einen flammenden Appell an die Frauen und ihre Verantwortlichkeit für Staat, Gemeinde und das soziale Wohl. Die Rednerin hatte die Geschichte der Menschen- und der Frauenrechte offenbar sehr gründlich studiert.[11] Sie berief sich auf die wichtigsten Befürworter und Vorkämpferinnen, auf .I.A. de Condorcet, auf Mary Wollstonecraft, insbesondere auch auf Olympe de Gouges, und sie zeichnete die Entwicklung und die bisherigen Erfolge der amerikanischen und englischen Frauenbewegung in leuchtenden Farben nach. Den typisch deutschen Verweis auf die Pflichten der Frau als Hausfrau und Mutter widerlegte sie durch eine einfache Rechnung:

«Ich frage: ist jede Frau Hausfrau und Mutter? 25% Mädchen bleiben in Deutschland unverheiratet; rechnen wir die Witwen und Geschiedenen hinzu, so haben wir 40% Frauen, die allein im Leben steilen. Bedenken wir weiter, ob der Beruf der Hausfrau und Mutter das ganze Leben ausfüllt...
Die Berufung auf ihre Pflichten als Hausfrau, als Mutter und Weib entlastet die deutsche Frau nicht von dem Vorwurf, daß sie ihre sozialen Pflichten vernachlässigt. Die Berufung auf ihre Arbeit im Dienste der Wohltätigkeit thut es ebensowenig... Denn auch um ihrer selbst willen muß die Frau die Bürgerrechte fordern.»[12]

Den Beschützern «echter Weiblichkeit» aber hielt L. Braun entgegen:

«Gegen die Frau auf dem Throne ist noch nie der Vorwurf der Unweiblichkeit erhoben worden, und die Rücksicht auf die Weiblichkeit hat noch keinen Mann gehindert, Frauen in die Steinbrüche und Bergwerke zu schicken. Ich kann freilich nicht einsehen, daß eine Frau, die ihren Zettel in die Wahlurne wirft, die <Weiblichkeit> mehr gefährdet, als eine andere, die Steine karrt. Und ich kann es nicht begreifen, daß der Anblick einer Frau mit dem Kinde unter dem Herzen im Wahllokal empörender sein soll, als der Anblick einer solchen Frau in den Bleifabriken.»[13]

Und sie folgerte:

«Und so verlangen wir denn freie Bahn für unsere Entwicklung um unserer selbst und der leidenden Menschheit willen. Wir verlangen durchgreifende Änderung der Vereinsgesetze, die in keinem anderen Lande den Frauen solche Fesseln anlegen, wie in Deutschland.
Wir verlangen Anwendung der Prinzipien des modernen Staates - der allgemeinen Menschenrechte - auch auf die Hälfte der Menschheit, die Frauen.
Wir, eine Armee von Millionen und Abermillionen Frauen, die wir unsere Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen so gut wie der Mann, verlangen unser Recht, an der Gestaltung der Allgemeinheit mitzuarbeiten.»[14]

Damit war ein neuer Ton angeschlagen, die deutsche Frauenbewegung war zu einer — auch im herkömmlichen Sinn — politischen Bewegung geworden. Noch wurde kein Stimmrechtsverein gegründet, wegen der Vereinsgesetze, aber die vorerst kleine Gruppe von «Frauenrechtlerinnen» entfaltete nun eine lebhafte Agitation, organisierte Vortragsreisen in die Provinz und zu anderen Frauenvereinen. Nicht zufällig hatten im Februar 1895 die Sozialdemokraten die Forderung nach dem Frauenstimmrecht zum ersten mal im Reichstag eingebracht. In seiner Begründung führte August Bebe! u. a. aus:

«Wir stellen (den Antrag) aus Gerechtigkeitsgefühl, weil wir es nicht verantworten können, daß die größere Hälfte der Nation vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Die Frauen bilden die größere Hälfte (Rufe: die bessere! Heiterkeit!); auch die bessere. Sie haben weit mehr Gerechtigkeitsgefühl als die Männer, sie sind viel weniger borniert als die Männer, sie sind das moralisch bessere Element. Die Frauen müssen zu den öffentlichen Ämtern zugelassen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß sie im höchsten Grade wohltuend auf das öffentliche Leben einwirken würden...»[15]

Für die Radikalen aber war der Kampf um das Stimmrecht, um ein gleiches, freies und geheimes Wahlrecht, nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern die Voraussetzung für den Kampf um Frauenrechte in allen anderen Bereichen, um Rechtsgleichheit in der Familie, im Beruf und im öffentlichen Leben.
Dennoch wurde der erste Stimmrechtsverein in Deutschland, der «Deutsche Verein für Frauenstimmrecht», erst 1902 gegründet, und zwar in Hamburg, weil das Vereinsrecht der meisten anderen Staaten im Deutschen Reich den Frauen eine politische Vereinigung-Verbot. Doch um die Jahreswende 1901/02 hatte Anita Augspurg — ärgerlich darüber, daß die deutschen Frauen aufgrund fehlender Organisation nicht an der Internationalen Stimmrechtskonferenz in Washington teilnehmen konnten — den «köstlichen Einfall»,[16] die einzelnen Landesgesetze zu überprüfen, um festzustellen, daß eine Hamburger Novelle zum Vereinsrecht aus dem Jahr 1894 das Verbot gegenüber den Frauen nicht ausdrücklich bestätigt, möglicherweise «vergessen» hatte. Gleich am 1. Januar 1902 wurde daher von Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann zusammen mit Minna Cauer, Charlotte Engel-Reimers, Käthe Schirrmacher und Adelheid von Welczek der Stimmrechtsverein aus der Taufe gehoben. Sein Ziel war «die volle politische Gleichberechtigung der Frau».[17] Das bedeutete als dringlichste Aufgabe die Aufhebung der vereinsrechtlichen Bestimmungen, dann aber die gezielte Agitation für das Wahlrecht der Frauen zum Reichstag und allen anderen Körperschaften des öffentlichen Lebens, also in den Gemeinden, Schulen und Berufsorganisationen und in den Kirchen.
Der Verein entfaltete sofort eine rege Propagandaarbeit im ganzen Reich. Denn die Mitgliedschaft im Hamburger Verein konnten erstaunlicherweise Frauen aus ganz Deutschland erwerben, weil die Polizeigewalt der einzelnen Regierungen nicht über die Landesgrenzen hinausreichte. Schon im März 1902 wurde eine Deputation von 35 Frauen, angeführt von Anita Augspurg, zu einer Audienz beim Reichskanzler, dem Grafen Bülow, empfangen und trug ihm die «dringendsten Wünsche der Frauenwelt» vor.[18] Nicht zuletzt der neugewonnenen Stärke der Stimmrechtsbewegung war es zu verdanken, daß auch der «Bund Deutscher Frauenvereine» bei seiner nächsten Generalversammlung in Wiesbaden nicht mehr umhinkam, sich programmatisch auf die Stimmrechtsforderung festzulegen.
Ein glänzender, wenn auch vorerst nur symbolischer Erfolg der deutschen Stimmrechtlerinnen war die Gründung des internationalen «Weltbundes für Frauenstimmrecht» am 4. Juni 1904 in Berlin im Beisein der 84jährigen amerikanischen Stimmrechtskämpferin Susan B. Anthony. Sie wurde zur Ehrenpräsidentin der neuen Organisation ernannt, die Amerikanerin Carrie Chapman Chatt wurde Präsidentin und Anita Augspurg Vizepräsidentin.
Dieser «weltgeschichtliche Akt»[19] war bewußt in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem ebenfalls in Berlin veranstalteten Internationalen Kongreß des «International Council of Women» (ICW) inszeniert worden und wurde deshalb von den Organisatorinnen im BDF argwöhnisch als Konkurrenz betrachtet, nicht ohne Grund. 
Doch letztlich sorgten beide Ereignisse, die sehr viele Frauen in die Reichshauptstadt führten, für eine große Öffentlichkeit und weltweite Beachtung der Frauensache (vgl. Kap. 6, S. 210f.)

«Frauenlandsturm» gegen das BGB

Die Frauenfragen vor allem anderen als Rechtsfragen zu begreifen war das neue an der Politik der Radikalen — im Grunde aber nahmen sie nur das Versprechen ernst, daß bürgerliche Emanzipation, daß Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte auch für Frauen gelten sollten. So selbstverständlich diese Einbeziehung der Frauen in den Kreis der Rechtspersonen, der Menschen, zu sein scheint, gerade die Inanspruchnahme der Gleichheil, dieses radikalsten der Menschenrechte, galt denen, die Macht und Vorrechte haben, die von der bestehenden Ordnung und ihrer Ungleichheit profitieren, immer als verdächtig, ja gefährlich. Das Grundrecht der Gleichheit geriet deshalb schon seit der Französischen Revolution immer wieder in Verruf und ist gerade auch vom Bürgertum in der Verteidigung seiner Vorrechte gegenüber dem vierten Stand als «Gleichmacherei», weil Bedrohung seiner Freiheit und seines Eigentums, abgewehrt worden. Um wieviel größer waren die Hindernisse und Widerstände und «schlechten (Rechts-)Gewohnheiten» gegen die Gleichheit der Frauen. Ausschlaggebend für den Mut der Frauen, diese Gewohnheiten zu durchbrechen, war ein neues Gefühl für Ungerechtigkeit, also nicht nur «taktische Gründe», sondern die selbstbewußte Inanspruchnahme der Rechtsgleichheit als Prinzip, als Menschenrecht. Anita Augspurg hat diese Erkenntnis in der ersten Nummer von «Die Frauenbewegung» programmatisch formuliert:

«Die Frauenfrage ist zwar zum großen Teile Nahrungsfrage, aber vielleicht in noch höherem Maße Kulturfrage... in allererster Linie aber ist sie Rechtsfrage, weil nur auf der Grundlage verbürgter Rechte, nicht idealer... an ihre sichere Lösung gedacht werden kann. Jede andere Bethätigung ist vorschnell und verfrüht, als diejenige, welche die Vollanerkennung der Frau als gleichwertiges und gleichberechtigtes Rechtssubjekt neben dem Manne bezweckt und die Beseitigung aller für sie bestehenden Ausnahmegesetze ins Auge faßt. Denn der Beginn mit Einzelheilen, bevor das Ganze gesichert ist, bedeutet nichts anderes als die Anbringung von Thürstöcken und Fensterrahmen bei einem Hausbau, bevor die Grundmauern aufgeführt sind. Was immer eine einzelne Frau erreicht und erringt in Kunst, in Wissenschaft, in Industrie, an allgemeinem Ansehen und Einfluß: Es ist etwas Privates, Persönliches, Momentanes, Isoliertes... - es haftet ihm immer der Charakter des Ausnahmsweisen and als solchem Geduldeten an, aber es ist nicht berechtigt und kann daher nicht zur Regel werden, kann nicht Einfluß gewinnen auf die Allgemeinheit.»[20]


  Anita Augspurg (geb. am 22.9.1857 in Verden an der Aller, gest. am 20.12.1943 in Zürich im Exil)
…entstammte dem kleinstädtischen, aber wohlhabenden Bildungsbürgertum. Ihr Vater war Rechtsanwalt, in dessen Büro sie sich nach der Entlassung aus der höheren Töchterschule im Abschreiben von Akten übte. Auch für sie bot die Lehrerinnenausbildung den einzigen Vorwand, um dem «Philister-Land Verden» wenigstens kurze Zeit zu entfliehen.[21] Doch gleichzeitig nahm sie privaten Schauspielunterricht und erhielt sofort ein Engagement an das Meininger Hoftheater und andere Provinzbühnen. Was ihr außer reichen Erfahrungen von diesem Tingeltangel blieb, der ihr immer weniger genügte, war ihr «wohlklingendes Organ»,[22] eine tiefe, tragende Stimme — in einer Zeit ohne Lautsprecher und Mikrofone für eine Agitatorin in Sachen Frauenrechte eine schier unentbehrliche Voraussetzung.
Nach ihrer Großjährigkeit durch ein großmütterliches Erbe ökonomisch unabhängig geworden, gründete sie zusammen mit einer Freundin, Sophia Goudstikker (1865-1924), das «Hof-Atelier Elvira» in München, ein künstlerisch ambitioniertes Fotoatelier, das sowohl in der Kulturszene wie bei Hofe gleichermaßen erfolgreich war.[23] (Aus diesem Atelier stammt die Aufnahme der Radikalen auf dem Buchumschlag.)
Doch auch dieses Atelierintermezzo war für A. Augspurg nur ein weiterer Schritt auf ihrem individuellen Emanzipationsprozeß, denn es bot Bewährung in Lebensformen auch außerhalb der Ehe. Sie hatte nun, wie sie sich selbst ausdrückte, «die letzten Eierschalen des konventionellen Lebens» abgestreift.[24]
Beim ersten Versammlungsabend des «Deutschen Frauenvereins Reform» 1891 in München war A. Augspurg bereits dabei und warb für eine Petition an den Reichstag wegen der Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. Um besser für den Kampf um Frauenrechte gerüstet zu sein, beschloß sie, Jura zu studieren, und schrieb sich 1893 an der Universität Zürich ein. Sie bestand ihr Doktorexamen 1897 und war damit die erste deutsche Juristin.
Von nun an war ihre Lebensgeschichte aufs engste mit der Geschichte der radikalen Frauenbewegung verknüpft, aber auch mit Lida Gustava Heymann, die sie 1896 kennengelernt hatte und mit der sie von nun an eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verband.
Ab 1899 war sie Redakteurin der Zeitschrift «Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung», von 1907 bis 1912 der «Zeitschrift für Frauenstimmrecht», beides Beilagen von «Die Frauenbewegung». Gemeinsam mit L.G. Heymann war sie im Vorstand des «Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine», gründete 1902 den «Deutschen Verein für Frauenstimmrecht», gehörte 1915 zu den Initiatorinnen der Haager Frauenfriedenskonferenz und engagierte sich 1918 im Wahlkampf für die Münchener Räterepublik.
Von 1919 bis 1933 gaben Augspurg und Heymann die feministische und pazifistische Zeitschrift «Die Frau im Staat» heraus und konzentrierten nun ihre Kraft auf die Frauen- und Friedensarbeit in der «Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit».
Aber ihr Leben bestand nicht nur aus Arbeit, vielmehr pflegten Augspurg und Heymann durchaus einen großbürgerlichen Lebensstil, sportlich und extravagant: dazu gehörten Reiten und Radfahren (als dies noch als sehr unweiblich galt), eine Kurzhaarfrisur und bis 1914 ein nur mit weiblichem Personal bewirtschafteter Gutshof in den bayrischen Alpen. 1928 machten beide noch den Führerschein und bereisten ganz Deutschland im selbstgesteuerten Auto.[25]
Bei einer Auslandsreise 1933 von der Machtergreifung der Nationalsozialisten überrascht, blieben sie in der Schweiz im Exil, bis zu ihrem Tod.


Anschauungsunterricht für eine nur von Männerinteressen geleitete Gesetzgebung bot die Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1896. Seine Kodifizierung war als «Jahrhundertaufgabe» schon bald nach der Reichsgründung 1871 «von einer Kommission hervorragender Juristen» in die Wege geleitet worden und hatte 1877 den ADF veranlaßt, eine Expertise über die rechtliche Stellung der Frau in Deutschland anzufertigen und als Petition an den Reichstag zu senden (vgl. dazu ausführlich Kap. 4, S. 126). Doch der endlich 1888 erschienene Entwurf und seine erste Lesung «brachte eine schwere Enttäuschung. Bis auf einige notgedrungene Konzessionen an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse... war an der Unterordnung und teilweisen Rechtlosigkeit der Ehefrauen festgehalten worden.»[26] Die 1892 vom ADF in Auftrag gegebene Broschüre von Emilie Kempin, die die (in den verschiedenen Rechtskreisen) in Deutschland gültigen Privatrechtsbestimmungen für Frauen den entsprechenden Bestimmungen des BGB-Entwurfes gegenüberstellte,[27] wurde zwar in einigen Frauenvereinen diskutiert, vermochte aber nicht so recht zu mobilisieren. Erst buchstäblich in letzter Stunde zwischen erster und dritter Lesung des Gesetzentwurfes gelang es, von Februar bis Juni 1896 einen viel bespöttelten, aber eindrucksvollen «Frauenlandsturm» zu entfachen. In verschiedenen Informations- und Propagandabroschüren, die allen Reichstagsabgeordneten und Mitgliedern des Bundesrates zugeschickt wurden, hatten der «Verein Frauenwohl»,[28] der «Rechtsschutzverein Dresden»[29] sowie die Rechtskommission des «Bundes Deutscher Frauenvereine»[30] seit 1895 den vorliegenden Entwurf einer detaillierten Kritik unterzogen und für Verbreitung ihrer Anliegen gesorgt. Einer der wenigen Juristen, die in dieser Sache mit den Frauenvereinen zusammenarbeiteten, war der Geheime Justizrat Carl Bulling, dessen Buch «Die deutsche Frau und das bürgerliche Gesetzbuch» 1896 bereits in zweiter Auflage erschien.[31] Doch dann bündelten sich die verschiedenen empörten Stimmen zu einem in der deutschen Frauenbewegung von links bis rechts selten einmütigen Protest.

«Die bis dahin vorwiegend theoretisch und abstrakt behandelte Rechtsfrage wurde ihnen (den Frauen) zum erstenmal in bestimmten, konkreten Forderungen nahegerückt, wurde zu der Frage von eminenter, aktueller Bedeutung.»[32]

Wiederum ging die Mobilisierung vom «Verein Frauenwohl» aus, aber im Gegensatz zu früher engagierten sich diesmal alle Richtungen, auch die proletarische Frauenbewegung, und beteiligten sich an Protestversammlungen, Massenkundgebungen und Unterschriftensammlungen. Keineswegs war die Empörung nur eine typisch bürgerliche «Frauenrechtelei», der es nur um die Vermögensrechte der besitzenden Klassen ging.[33] Auch Clara Zetkin unterstützte trotz ihrer sonst so scharfen Polemik gegen die Frauenrechtlerinnen den Kampf gegen das BGB und forderte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion auf, «rückhaltlos für die volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter einzutreten».[34]
Else Lüders als Chronistin des «linken Flügels» faßte die Ereignisse zusammen:

«Der Verein Frauenwohl hat das Verdienst, daß er in der so überaus wichtigen Agitation gegen den Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches die Initiative ergriffen hat.(…) Kurz vor der ausschlaggebenden zweiten Lesung wurde nochmals die Agitation unter den Frauen energisch aufgenommen und zu einer Resolution... in wenigen Wochen 25 000 Unterschriften gesammelt. Außer einer regen Broschüren- und Flugblätterverteilung fanden in verschiedenen Teilen des Reiches Versammlungen statt, um die Frauen auf die ihnen drohende Gefahr aufmerksam zu machen.»[35]

Marie Stritt, die als Vorsitzende des «Dresdener Rechtsschutzvereins für Frauen» in dieser Sache eng mit dem «Verein Frauenwohl» zusammenarbeitete und zugleich als Mitglied der Rechtskommission des BDF für die Verbindung und Verbreiterung der Rechtskampagne sorgte, hat in dieser Zeit in vielen Reden und Schriften als Nichtjuristin ihre juristische Kompetenz und ihren Weitblick unter Beweis gestellt. So fragte sie in der mit «lebhaftem» und «stürmischem anhaltenden Beifall» aufgenommenen Ansprache am 16. Februar 1896:

«Ob es keinem, (der Volksvertreter) eingefallen sei, daß hier neben der Aufgabe, ein nationales Recht zu schaffen, auch gälte, ein tausendjähriges nationales Unrecht wieder gut zu machen? Man habe dieses Unrecht durch Galanterie wieder gut machen wollen, die Frauen verlangten aber Gerechtigkeit.»»[36]

Die Frauen hatten erkannt, daß sich in dem neuen Gesetzentwurf wohl teilweise die Sprache verändert hatte — da hieß es z.B. nicht mehr «alttestamentarisch: Er soll dein Herr sein»,»[37] doch in der Sache halle sich nichts verändert. Die Hauptkritikpunkte, weshalb die Frauen das Gesetzesvorhaben einmütig als «unwürdig, als unzeitgemäß, als kulturhemmend» verwarfen, sind in einem «Aufruf»»[38] aller Frauenvereine vom Juni 1896 zusammengefaßt:

  • Die dauernde Bevormundung der Ehefrau und Mutter», in der Sprache der Juristen: das Entscheidungsrecht des Ehemannes «in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten» (rechtsgültig bis 1955 als § 1554 BGB).
  • Selbst das neugewonnene, angeblich den wirtschaftlichen Entwicklungen verdankte Recht der Frau, einen Arbeitsvertrag einzugehen, hatte deshalb faktisch keine Bedeutung, weil der Mann berechtigt wurde, den Arbeitsvertrag «ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen» (§ 1558 BGB).
  • Die «Machtlosigkeit über ihr Vermögen»,»[39] also die Enteignung der Frau durch ein neues gesetzliches Güterrecht, das anstelle der vielen — im deutschen Recht beinahe 100 — verschiedenen Güterstände, d.h. Regelungen über die Vermögensverhältnisse von Ehegatten, als Regel ausschließlich dem Mann das sog. «Verwaltungs- und Nutznießungsrecht am Vermögen der Frau» erteilte. Damit hatte die Ehefrau auch über das von ihr in die Ehe eingebrachte Eigentum keine Verfügungsbefugnis oder Nutzungsrechte mehr, es sei denn, sie hatte es sich ausdrücklich bei der Eheschließung vorbehalten (sog. Vorbehaltsgut). Lediglich das im selbständigen Geschäft oder durch Lohnarbeit Erworbene blieb gesetzlich Eigentum der Frau. Doch auch diese einzige Rechtserrungenschaft blieb wegen des oben erwähnten Kündigungsrechts des Ehemannes faktisch bedeutungslos.
  • Die Machtlosigkeit über ihre Kinder»[340] kam darin zum Ausdruck, daß die früher selbstverständliche «väterliche Gewalt» nun im Gesetzestext durch eine «elterliche» ersetzt war. Trotzdem hatte auch hier der Vater in allen Fragen der Sorge und Erziehung ein letztes Entscheidungsrecht. (Als sog. Stichentscheid hat diese väterliche Gewalt sogar noch das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 überlebt und konnte erst 1959 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig erklärt werden.)
  • Schließlich protestierten die Frauen gegen die neuen Regeln über «Die rechtliche Stellung der unehelichen Kinder», die nach ihrer Meinung «die althergebrachte doppelte Moral» sanktionierten und «jeder Menschlichkeit Hohn sprächen».[41] Die Regelung im BGB enthielt eine Schlechterstellung der unehelichen Mutter und ihres Kindes gegenüber dem Allgemeinen Landrecht, aber auch gegenüber dem Sächsischen Recht, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Rechtspraxis gefunden hatte.[42] Danach galt das uneheliche Kind als mit dem Vater nicht verwandt, konnte sich der «Erzeuger» mit der sog. Einrede des Mehrverkehrs, d.h. dem Hinweis auf einen möglicherweise anderen Vater, seiner Pflicht zur Unterhaltszahlung entziehen (rechtswirksam bis 1969, bis zur Verabschiedung eines neuen Unehelichenrechts).
  • Nicht zuletzt die Einschränkung der Scheidungsgründe wurde von den Frauen aus «sittlichen» Erwägungen scharf kritisiert, da auch früher schon die Mehrzahl der Scheidungen von Frauen angestrengt wurden.

Der Aufruf schließt mit den Worten:

«Und Ihr, gerecht denkende deutsche Männer, die Ihr Söhne, Gatten, Väter seid, und Eure Mütter, Gattinnen, Töchter nicht geringer achtet als fremde Nationen die ihren: erhebt auch Eure Stimmen für Menschenrecht und Würde deutscher Frauen!»[43]

Und doch nützten die ganzen Aktivitäten so gut wie nichts: Bis auf eine winzige Konzession — nämlich die Zulassung der Frauen als Vormund, der Ehefrauen natürlich nur mit Zustimmung ihrer Ehemänner —wurde das Familienrecht als Teil IV. des Bürgerlichen Gesetzbuches gegen die Stimmen der SPD verabschiedet. Es trat 1900 in Kraft und ist in dieser Form bis 1953 im wesentlichen gültiges Recht geblieben. M. Stritt kommentierte 1901:

«In den Beratungen über die einzelnen Titel handelte es sich trotz grosser, begeisterter Worte von links und rechts im Grunde lediglich um Interessenpolitik... Während ein ganzer, sehr stürmischer Verhandlungstag, der für die Beratung des Familienrechts bestimmt war, der denkwürdigen Hasendebatte, das heisst der Frage der Ersatzpflicht für den durch Wild verursachten Schaden, gewidmet wurde... wurde zwei Tage später das Familienrecht und die wichtigsten Lebensfragen der größeren Volkshälfte in ganz oberflächlicher Weise erledigt, wohl unter üblicher Betonung der idealen Standpunkte der (gottgewollten Ordnung), des (Schutzes des schwachen Geschlechts> - aber auch meist unter einer das gewohnte Maß übersteigenden >Heiterkeit<…»[44]

Aber die einmal engagierten und mobilisierten Frauen gaben sich nicht geschlagen, im Gegenteil: Wer den Bericht über die wiederum von Minna Cauer einberufene Protestversammlung am 29.Juni 1896 in Berlin liest, ist beeindruckt von der Demonstration eines so starken Frauenwillens und mag sich über die Euphorie wundern, mit der nun erst recht von «einem Wendepunkt in der deutschen Frauenbewegung» gesprochen wurde. «Noch so eine solche Niederlage und wir haben gesiegt», soll «Frl. Augspurg» unter losendem Beifall in die Menge gerufen haben.[45]

In der Rechts- und Geschichtswissenschaft wird das 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch dennoch ungebrochen als «Manifest bürgerlicher Rechtskultur» gefeiert, mit dem «die deutsche Nation nicht nur die formelle Rechtseinheit der privatrechtlichen Beziehungen, sondern auch Gerechtigkeit und Wohlfahrt»[46] gewährleistete. In Wirklichkeit sind alle seither errungenen Rechtsfortschritte für Frauen im heute noch gültigen BGB, die großen Reformen des Familienrechts (1953 bis 1957 durch das Gleichberechtigungsgesetz und 1977 durch die Ehe- und Familienrechtsreform) doch nicht mehr als «Abschlagszahlungen»[47] auf die Forderungen der Frauenbewegung um 1900.

2. «Wir verstehen diesen Kampf
ums Recht und ums Dasein» (Minna Cauer)
Praktische Solidarität

Als «linker Flügel» hatten sich die Radikalen zum erstenmal 1895 profiliert, als sie in der ersten Generalversammlung des BDF in München mehr oder weniger zufällig auf der linken Seite saßen. Da sie es waren, die ein Jahr vorher, bei der Gründung des Bundes, vergeblich gegen den Ausschluß der sozialdemokratischen Frauenvereine argumentiert hatten, fiel diese Sitzordnung auf und wurde zu ihrer Kennmarke. Lily von Gizycki, damals eine von ihnen, beschrieb die Situation 1895 in einem Bericht für «Die Frauenbewegung« so:

«Im festlich geschmückten Saale des Arbeiterinnenheims... saßen im Halbkreis in etwa sechs Reihen die Delegierten, vor ihnen am Vorstandstisch der aus acht Damen bestehende Vorstand, dahinter die Rednertribüne.
Zufällig fand die <Opposition> — Frau Minna Cauer, Frau Marie Stritt, Fräulein Anita Augspurg, Fräulein Elisabeth Mießner und die Schreiberin dieser Zeilen - ihren Platz auf dem linken Flügel. Nur zwei unserer Gesinnungsgenossinnen hatten sich abseits verirrt: Frau Jeanette Schwerin, der gewiß niemand zutrauen wird, das Zentrum zu vertreten, und Frau Hanna Rieber-Röhm, die zum Vorstand gehört...»[48]

Die hier genannten Namen bildeten in den nächsten Jahren keineswegs eine politische Front, im Gegenteil, nichts und niemand war so umstritten wie die Radikalen und ihre politischen Programmpunkte. Es zeigt, wie sehr sie sich exponierten, wie «unerhört» und wie kühn ihr Vorgehen war. Schon sehr bald, Anfang 1896, hatte ja Lily von Gizycki das Lager gewechselt, Marie Stritt und Jeanette Schwerin entschieden sich später im Konflikt für die Mitarbeitender Mehrheit der Gemäßigten, erst recht die in der Sittlichkeitsfrage so verdienstvolle Hanna Bieber-Böhm, die sich zu einer ausgesprochen reaktionären Sittenrichterin entwickelte. Sich selbst und ihrer Sache treu blieb Minna Cauer, die ihre konsequente Position jedoch in zunehmendem Alter mit Verbitterung und Einsamkeit bezahlte. Doch bis zur Gründung des «Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine» im Jahr 1899 entsprach diese linke Plazierung der frühen Radikalen ihrer politischen Orientierung und bestimmte die weiteren Schwerpunkte ihrer Arbeit. Wiederholt unternahmen sie daher den Versuch, Brücken zu schlagen zu den Arbeiterinnen aller Kategorien, nicht nur den Fabrikarbeiterinnen — das war das Ressort der proletarischen Frauenbewegung und wurde argwöhnisch bewacht—, sondern zu den vielen Arbeiterinnen in noch ungeschützteren Arbeitsverhältnissen. Am Ende des 19. Jahrhunderts war das die Mehrheit der erwerbstätigen Frauen: z.B. die Heimarbeiterinnen, Kellnerinnen, der neue und noch rechtlose Beruf der Ladenmädchen und nicht zuletzt die Dienstboten.[49]

Der Streik der Konfektionsarbeiterinnen

Im Jahre 1896 hatte die Frauenbewegung Gelegenheit, politische und praktische Solidarität zu üben. Der Streik der Konfektionsarbeiterinnen war ein Wiederaufflammen der Streikbewegung in den 1880er Jahren, in der die Heim- und Verlagsarbeiterinnen der Konfektions- und Wäscheindustrie, unterstützt von G. Guillaume-Schacks «Verein zur Vertretung der Arbeiterinnen», die Erhöhung des Nähgarnzolls gerade noch verhindert hatten. Doch ihre elenden Arbeitsbedingungen, das ausbeuterische System der Zwischenmeister und die Hungerlöhne waren geblieben. Zu bedenken ist: Streik war in jener Zeit ein noch nicht anerkanntes, geschweige denn legales Mittel im Arbeitskampf, und die wenigsten Arbeiterinnen waren gewerkschaftlich organisiert. So waren im «Centralverband der Freien Gewerkschaften» 1895 insgesamt erst 13,56 Prozent der männlichen, aber nur 2,35 Prozent der weiblichen Beschäftigten als Mitglieder registriert.[50]

«Den deutschen Frauen ist das Wort <Streik> noch ein Schreckgespenst, denn sie verbinden damit Vorstellungen des Fenstereinwerfens, johlender Masse, unberechtigter Ansprüche…»[51]

Jeanette Schwerin war es, die in der Presse und in öffentlichen Versammlungen den bürgerlichen Frauen ihre «Aufgabe im Streik» nahelegte, gerade in dieser typisch weiblichen Branche, sowohl im Hinblick auf die Erwerbstätigkeit wie auf Konsum.
Ungewöhnlich erfolgreich aber waren die Damen des «Dresdener Rechtsschutz/Vereins», die auf Anregung von Adele Gamper und mit dem Elan von Marie Stritt «den notleidenden Konfektionsarbeiterinnen» nicht nur mehrfach in öffentlichen Versammlungen «ihre volle Sympathie» ausdrückten, sondern die Streikenden aktiv unterstützten, 1. durch die Sammlung und Auszahlung von Streikgeldern, 2. durch Einrichtung einer Arbeitsnachweisstelle und 3. «durch öffentliche Bezeichnung derjenigen Geschäfte, welche die billigen Forderungen der Streikenden in Bezug auf Lohnerhöhung, auf gesetzliche Arbeitszeit und auf Errichtung von Betriebswerkstätten erfüllen».[52]


Jeanette Schwerin geb. Abarbanell (1852-1899)
…stammte aus einer jüdischen Intellektuellenfamilie. Seit 1872 mit dem Arzt E. Schwerin verheiratet, gründete sie gemeinsam mit ihrem Ehemann 1892 die «Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur». Seit 1888 war sie im Vorstand des «Vereins Frauenwohl» Berlin und initiierte hier zusammen mit M. Cauer die «Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfstätigkeit». Sie übernahm deren Leitung und prägte damit die Anfänge professioneller Sozialarbeit. Eine ihrer berühmtesten Schülerinnen und Nachfolgerin war Alice Salomon. Immer wieder engagierte sich J. Schwerin für die Arbeiterinnen, seit 1896 auch im Vorstand des BDF, leitete sie hier die Kommission für Arbeiterinnenschutz. 1899 übernahm sie die Redaktion des neugegründeten «Centralblattes des Bundes deutscher Frauenvereine». Sie starb im gleichen Jahr sehr plötzlich an den Folgen einer Operation.


…D. h., sie mischten sich in die Verhandlungen mit den Geschäftsinhabern und Zwischenmeistern über Mindestlöhne ein und setzten sie durch Bekanntmachung ihrer ausbeuterischen Methoden und durch Boykottdrohungen unter Druck.
Auch im Streik der Crimmitschauer Konfektionsarbeiterinnen sind die bürgerlichen Frauen nicht unbeteiligt geblieben, vielmehr haben Gemäßigte und Radikale gemeinsam zur Sammlung von Streikgeldern und zum Kampf für den Zehnstundentag der Arbeiterin aufgerufen.[53] Mit der gleichen Emphase wie früher Louise Otto plädierte Minna Cauer bei dieser Gelegenheit für ein gemeinsames Vorgehen von Arbeiterbewegung und Frauenbewegung. Ihrer Meinung nach drangen

«zwei neue, tatkräftige Faktoren in das Weltgetriebe ein - die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung - Man fürchtet nachgerade die Arbeiterbewegung, denn sie wird durch eine mächtige und eine vortrefflich organisierte Partei vertreten - die Frauenbewegung betrachtet man nach wie vor als quantite negligeable... Wir stehen der ganzen Arbeiterbewegung nicht allein sympathisch gegenüber trotz der unerquicklichen Erscheinungen des Klassenkampfes, sondern wir verstehen diesen Kampf ums Recht und ums Dasein. Die Frauen machen denselben Kampf durch, wenn auch in anderer Form und ohne Klassenkampf.»[54]

«Recht auf Sitzen»

Ein ausdrücklicher Akt der Frauensolidarität war ein «Aufruf» verschiedener Frauenvereine, angeführt vom «Verein Frauenwohl» und seiner Vorsitzenden M. Cauer, für Verkäuferinnen ein «Recht auf Sitzen» durchzusetzen. M. Cauer, auch als 2. Vorsitzende des «Kaufmännischen Hiifsvereins für weibliche Angestellte» involviert, stützte sich in der Begründung dieser initiative auf ein Gutachten des Kaiserlichen Gesundheitsamts aus dem Jahr 1894, wonach «der Zwang, die Arbeit nur stehend zu verrichten, und das Verbot, sich auch bei Abwesenheit von Kundschaft zu setzen, — bei einer 12- bis 15stündigen Arbeitszeit — schwere Gesundheitsschädigungen für die Verkäuferinnen» zur Folge hatte. Der «Aufruf» appellierte sowohl an die Solidarität der Frauen als Kundschaft als auch an die Einsicht der Geschäftsinhaber und drohte mit der einzigen wirtschaftlichen Macht, die Frauen als Verbraucherinnen besaßen, mit dem Boykott. Das Kaufhaus Wertheim in Berlin soll sich im vorliegenden Fall als eines der ersten bereit erklärt haben, für Sitzgelegenheiten zu sorgen.[55]

Das Elend der Kellnerinnen

Auf einem Fachkongreß der Gastwirtsgehilfen im März 1900 in Berlin war das ganze Elend der Kellnerinnen, ihre Beschäftigung zwischen Ausbeutung und Prostitution, für die es keine rechtliche Form geschweige denn Lohnabsprachen gab, öffentlich zur Sprache gekommen. Dies nahmen Sozialdemokratinnen zum Anlaß, Kellnerinnen-Versammlungen einzuberufen und hierzu auch bürgerliche Frauenrechtlerinnen einzuladen — eine «sicherlich glückliche Idee!», kommentierte «Die Frauenbewegung» und wirft mit ihrem knappen Bericht — aus der Sicht der Bürgerlichen — ein Streiflicht auf ein Stück Alltagsgeschichte und eine typische Initiative «Frauen helfen Frauen»:

«Man sah auffallend hübsche Mädchen mit müdem Ausdruck, elegant gekleidet in Begleitung ihres Galans; jedoch war das die Minderheit. Die Hauptmasse bildete eine Anzahl junger und älterer Mädchen, denen man vielfach die Spuren ihres trostlosen Daseins ansah. Ulk- und Radaustimmung schien vorhanden zu sein, jedoch die ernsten Ausführungen der Rednerinnen gewannen sehr bald die Oberhand; der Abend verlief ruhig. Fräulein Salomon berichtete über die Kellnerinnenfrage auf dem Fachkongreß der Gastwirtsgehilfen, Frau Ihrer beleuchtete die Sache vom wirtschaftlichen, Frl. Pappritz vom sittlichen Standpunkt aus...»


Bei dieser ersten Zusammenkunft verabschiedeten die Frauen eine Resolution, die alle Forderungen bündelte: die reichsgesetzliche Regelung mit Bestimmungen über auskömmliche Löhne, Arbeitspausen und Arbeitszeit und die Einbeziehung des Gastwirtsgewerbes in die Gewerbeaufsicht.

«Bei der zweiten Versammlung hatte man dem Wunsche einiger Mädchen, die Männer, namentlich die Wirte, auszuschließen, gewillfahrt. Die Versammlung war schwach besucht, jedoch war die Diskussion nach den Ansprachen von Frau Ihrer und Frl. Pappritz eine lebhafte und förderte dadurch mehr Material über die Lage der Kellnerinnen an das Tageslicht als am ersten Abend:... die Berichte über das Trinkenmüssen der Mädchen, die Gemeinheiten der Männerwelt, besonders der Verheirateten, spotten jeglicher Beschreibung. Die Arbeitszeit ist unerhört lange, Polizeischluß der Kneipen nominell 11 Uhr abends, dann aber beginnt erst das tolle Treiben hinter verschlossenen Thüren und zugezogenen Vorhängen. Das Sitzen ist streng verboten, Ruhe giebt es nicht; nur durch Animieren erhalten die Kellnerinnen ihren Tagelohn...» usf.[56]

Die Dienstbotenbewegung

Schließlich entpuppte sich die Dienstbotenbewegung als der Prüfstein weiblicher Solidarität, über den die Mehrheit bürgerlicher Frauen bis zuletzt gestolpert ist.

Der Dienstbotenberuf, traditionell einer der wenigen und der am häufigsten ausgeübte Frauenberuf, war zum Ende des 19. Jahrhunderts fast (zu 98 Prozent) ein reiner Frauenberuf. Insgesamt 1,3 Millionen Dienstmädchen lebten noch 1895 im Hause ihrer «Herrschaft», und zwar unter feudalen Arbeitsbedingungen, denn noch bis 1918, im Einführungsgesetz zum BGB noch einmal bestätigt, galten die Gesindeordnungen von 1810. Ein Ubergangsberuf also, in dem sich im Prozeß der Trennung von Haushalt und Betrieb «die feudale Vergangenheit und die kapitalistische Gegenwart die Hände reichten»[57] und in dem doch bürgerliche Standards wie auch die Widersprüchlichkeit bürgerlicher Verhältnisse zum Ausdruck kamen: die Abhängigkeit, Unsichtbarkeit und Abwertung von Hausarbeit. Erledigt hat sich das Dienstbotenproblem erst damit, daß es keine Dienstboten mehr gab, oder «durch die Verwandlung der Frauen in eine heimliche Dienerklasse».[58]
Als die Versammlungen von Dienstboten im Sommer 1899 zum erstenmal von sich reden machten und als «Dienstbotenbewegung» die Gemütlichkeit der bürgerlichen Häuslichkeit bedrohten, begrüßte es «Die Gleichheit»

«auf das Freudigste, daß eine der am meisten ausgebeuteten, getretenen und geknechteten Schichten des weiblichen Proletariats zum Bewußtsein ihrer traurigen Lage zu erwachen beginnt, sich wider das ihr auferlegte Elend empört und den Kampf für eine Besserstellung solidarisch aufnimmt».[59]

Doch die Dienstmädchen winkten zunächst ab, sie wollten «nicht etwa sozialdemokratische Tendenzen» verfolgen, sondern versuchten, in gemeinsamer Organisation mit wohlmeinenden «Herrschaften» unter der Führung des Journalisten Emil Perlmann — er gab auch das Vereinsorgan «Unser Blatt» heraus —ihre «wirtschaftlichen und subjektiven» Anliegen durchzusetzen. Dazu gehörten insbesondere die Abschaffung der Gesindeordnung und der sog. Gesinde-Dienstbücher, die Forderung nach einer Kranken- und Unfallversicherung und nach Bestimmungen über eine menschenwürdige Unterbringung, nicht nur in den zu trauriger Berühmtheit gelangten Hängeböden.

«Solange die Arbeiterinnenbewegung sich außerhalb der eigenen vier Wände abspielte, konnte sie bei den Frauen, die keine Unternehmer waren, noch auf Sympathien rechnen. Die Dienstbotenfrage aber machte sich in ihrem eigensten Reich, im Hause selbst, empfindlich geltend, sie verlangte direkte Opfer von ihnen und damit verwandelte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihr Wohlwollen in Abneigung, ja vielleicht in Haß.»[60]

So das scharfe Urteil Lily Brauns, die sich von sozialdemokratischer Seite sehr früh in der Dienstbotensache engagierte.
Minna Cauer widmete der Dienstbotenbewegung  1899 einen Leitartikel, «Zeichen der Zeit», ihre Diagnose lautete:

«Die Dienstbotenfrage...ist nicht allein eine ernste wirtschaftliche Frage, sondern auch eine sittliche und rechtliche, vor allem aber eine Hausfrauenfrage.»[61]

Dennoch blieb ihre sonst so unerbittliche Kritik trotz der Spitze gegen «unsere lieben, ruhig dahinlebenden, deutschen Hausfrauen» recht verhalten. Lediglich Eliza Ichenhäuser vom «Verein Frauenwohl» Berlin war in der Dienstbotenbewegung als engagierte Rednerin unterwegs und brachte unmißverständlich auf den Begriff, worum es eigentlich ging:

«Ist es nun Pflicht jedes human denkenden Menschen, einer in so trauriger Lage befindlichen Menschenklasse beizustehen, so gilt diese Pflicht für uns Frauen doppelt. ... nicht allein weil 98 Prozent aller Dienenden Frauen sind, sondern hauptsächlich deshalb, weil wir selbst ihre Unterdrücker sind, weil es überhaupt das einzige Verhältnis ist, in welchem wir Frauen uns selbst zur Rolle der Unterdrücker haben degradiren lassen.»[62]

3. «Das, was sie Liebe nennen» (Helene Böhlau)
oder: Liebe und doppelte Moral

Die Kehrseite der bürgerlichen Moral, also auch der Zuständigkeit der Frauen für die Liebe oder «das, was sie Liehe nennen»,[63] war für selbstbewußt gewordene Frauen zunehmend problematisch geworden, zumal die männliche Kumpanei zwischen staatlicher und «ehe-herrlicher» Gewalt allzu unbedenklich doppelte Standards setzte. «Es gibt nur eine Moral, sie ist die gleiche für beide Geschlechter», lautete das Motto der Sittlichkeitsbewegung,[64] die der Entrüstung der Frauen zu einer weltweiten Bewegung um andere Maßstäbe für Sitte, Recht und Gerechtigkeit Ausdruck verlieh. Im Brennspiegel der Sexualmoral aber zeigte sich endgültig, daß es um mehr als um die ökonomische und soziale Gleichstellung ging, daß die tatsächliche Emanzipation der Frau aus ihrer Abhängigkeit in der und durch die Liebe im Grunde einer Kulturrevolution gleichkam. Und gerade weil diese Erkenntnis aus individuellen Erfahrungen getroffen wurde, gab es Meinungsverschiedenheiten über den richtigen politischen Weg. Erst mußte geklärt werden, ob einer besseren Moral durch mehr Freiheit oder nur mit Zwang Geltung zu verschaffen war.

Die Gründung des «Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine» 1899

Denkwürdig war die oben erwähnte Generalversammlung des BDF von 1895, in der sich der «linke Flügel» konstituierte, auch deshalb, weil hier die Linken in einer Mehrheitsentscheidung gegen den Vorstand durchsetzten, daß die von Hanna Bieber-Böhm ausgearbeitete Petition zur Sittlichkeitsfrage, die «sehr peinliche Dinge berührte», von dieser öffentlich verlesen und verhandelt wurde. Lily von Gizycki schildert dieses Ereignis in ihrem schon erwähnten Bericht für «Die Frauenbewegung» wie folgt:

«Bleich, mit zuerst leiser, dann immer klarer werdender Stimme verlas Frau Hanna Bieber-Böhm ihre Petition. Mit athemloser Spannung lauschten nun auch diejenigen, welche sich so sehr vor dem <Anstößigen> gefürchtet hatten. [...]Ich werde es nie vergessen, wie eine ältere Dame, die mir persönlich unbekannt war, mir mit zitternder Stimme und gerungenen Händen sagte: <Und ich habe zwei erwachsene Söhne und weiß nichts von alledem!. [...] Es wurde schließlich einstimmig beschlossen, der kurzen Petition von Fräulein Auguste Schmidt die Arbeit von Frau Bieber-Böhm als Anlage beizufügen und in dieser Form möglichst bald dem Reichstag und zwar allen Mitgliedern desselben zuzusenden. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß es sich um die Forderung der Aufhebung der staatlichen Reglementierung der Prostitution handelt...»

Doch so selbstverständlich war diese Forderung nicht. Einig waren sich die Frauen zwar in der Entrüstung und Empörung über so unsittliche Zustände. Ihre Wege trennten sich aber sehr bald in der Frage, welche Schlußfolgerungen hieraus zu ziehen, welche juristischen Forderungen zu stellen wären. Schon 1894 und in den folgenden Jahren war H. Bieber-Böhm energisch nicht nur für Abschaffung der staatlich reglementierten Prostitution, sondern auch für ihre strafrechtliche Verfolgung und für eine Reihe strafverschärfender Maßnahmen eingetreten, darunter auch die Zwangseinweisung und -erziehung der Prostituierten — Vorschläge, mit denen sie selbst beim Reichsinnenminister, Graf Pückler, Gehör und Aufmerksamkeit fand.[67]


Hanna Bieber-Böhm, geb. 1851,
wird in keinem der greifbaren Lexika oder Biographien geführt, obwohl sie mehr als fünfzehn Jahre — wie es im Nachruf im «Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine» heißt — «eine der tapfersten Kämpferinnen und Ruferinnen im Streit, eine hochverehrte Führerin der deutschen Frauenbewegung» war. «So ernst nahm es diese Frau mit ihren Bestrebungen», schrieb Anna Plothow 1907, «daß sie, eine begabte Malerin, ihrer Kunst entsagte, um sich ganz der sozialen Arbeit zu widmen.» Sie gründete 1889 den «Verein Jugendschutz» und übernahm damit zunächst die Initiative im Kampf gegen die «doppelte Moral», war als Mitglied im ADF und Delegierte 1895 eine der drei Frauen auf dem Internationalen Frauenkongreß in Chicago, die den entscheidenden Anstoß zur Gründung einer deutschen Dachorganisation aller Frauenvereine, des BDF, gaben. Doch sie schuf sich auch in der Frauenbewegung seit dem Jahrhundertende offenbar «ehrliche Widersacher», da sie rigid für die Bestrafung der Prostitution und eine Anzeigepflicht der Ärzte eintrat. Sie starb am 17.4.1910.


Erst 1899, als Minna Cauer vom Londoner Kongreß der «Internationalen Föderation zur Abschaffung der staatlich reglementierten Prostitution», gegründet und geleitet von Josephine Butler, als überzeugte Abolitionistin (abolition = Abschaffung) heimkehrte, kam es zum endgültigen Bruch mit Bieber-Böhm, und es gelang dem «linken Flügel», an die vergessene Radikalität von Gertrud Guillaume-Schack und ihre frühen abolitionistischen Pläne anzuknüpfen. Denn nicht der Verschärfung staatlicher Repression, sondern der Freiheit und der Selbstbestimmung der einzelnen gerade auch in Fragen der Sexualmoral, der Geschlechterverhältnisse diente der Kampf gegen die doppelte Moral, dem sich die Radikalen nun vor allem verschrieben.

Äußerlich vollzog sich die auch organisatorische Trennung des «linken Flügels» vom «Bund Deutscher Frauenvereine» durch Gründung des «Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine» am 6.10.1899 in Berlin. Er verstand sich als Zusammenschluß all der «fortschrittlichen» oder Schwestervereine «Frauenwohl», die entschiedener für «die wirkliche Idee der Frauenbewegung», für bestimmte gemeinsame politische Ziele eintraten, als «Propagandavereine» wirken wollten und sich nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner gemeinnütziger Bestrebungen im BDF zufrieden gaben.[68] Die Idee zu einem wirksameren einheitlichen Vorgehen war schon früher aufgetaucht, doch erst nach den vergeblichen Versuchen der Radikalen, die ihrer Meinung nach schwerfällige und undemokratische «Verfassung des Bundes», seine Satzung, Geschäftsordnung und insbesondere die Organisation der Kommissionen zu ändern,[69] und nachdem die prinzipiellen Unterschiede gerade in der Sittlichkeits- wie in Rechtsfragen zu immer schärferen Auseinandersetzungen geführt hatten, beschloß die «Opposition», ihre Kräfte gezielter und wirkungsvoller einzusetzen. Und zwar gar nicht unbedingt im Gegensatz zum BDF - die Vereine «Frauenwohl» blieben dem BDF angeschlossen, und selbst der «Verband Fortschrittlicher Frauenvereine» trat 1907 unter Protest von M. Cauer dem Bund bei -, doch eben als «Salz» oder Sauerteig der deutschen Frauenbewegung.

Die wichtigsten Ziele und Aufgaben des neuen Verbandes waren:

  1. Der Verband will durch allgemeine Aufklärung und durch Schaffung örtlicher Organisationen im Dienste der Sittlichkeitsfrage den Grundsalz der doppelten Moral und seine Folgerungen bekämpfen.
  2. Der Verband will die Frauen zur Wertschätzung politischer Rechte, insbesondere des Frauenstimmrechts führen.
  3. Der Verband erstrebt Umgestaltung der Mädchenschulbildung, Zulassung der Mädchen zu den höheren Knabenschulen, Gründung von Mädchengymnasien und Mädchenobenrealschulen und der Einheitsschule.
  4. Der Verband erstrebt vereinigtes Vorgehen der bürgerlichen Frauen und der Arbeiterinnen im Interesse der Gesamtheit.»[70]

Gegen die staatliche Duldung der Prostitution

Wohl selten ist so viel über Prostitution, sexuelle Verwahrlosung und Unsittlichkeit räsoniert und diskutiert worden wie zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die ungeheure Aufmerksamkeit, die z.B. der Mordprozeß gegen das Zuhälterpaar Heinze von 1891 und die dabei zutage getretene «Halbwelt» in der wilhelminischen Öffentlichkeit, in Zeitungsberichten und wissenschaftlichen Publikationen erlangte, ist symptomatisch für ein repressives politisches Klima und für die einem extremen Männlichkeitswahn und militärischer Machtpolitik verfallene Epoche.
Dieser Mordprozeß wurde schließlich zum Auslöser für eine Verschärfung des Sexualstrafrechts, das im Jahr 1900 als sog. Lex Heinze trotz vieler Proteste der linken und liberalen Öffentlichkeit verabschiedet wurde. Neu eingeführt wurden dabei nicht nur der Talbestand der «Zuhälterei», § 181 a StGB, sondern auch eine Verschärfung der Strafbestimmungen des Jugendschutzes und der Strafandrohungen wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften und damit die mögliche Knebelung und Zensur von Kunst und Literatur.
Tatsächlich war die Prostitution — obwohl angeblich ältestes Gewerbe der Welt — im Prozeß der Industrialisierung und der Expansion der Großstädte zum Ende des Jahrhunderts zu einem sozialen Problem geworden und nun zum ersten mal als Massenphänomen sichtbar. Laut Schätzungen hatte sich in Berlin die Zahl der Prostituierten allein zwischen 1859 und 1871 verdoppelt und wuchs von 15 000 1871 bis zum Jahrhundertende auf 50 000.»[71] Selbstverständlich sind solche Zahlen mehr als ungenau, sie basieren auf Zählungen der von der Polizei registrierten und kontrollierten Prostituierten, sie sagen nichts über die heimliche Prostitution, über das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Frauen, über die alltäglichen Formen des Mädchenhandels und der Verführung und Erpressung Abhängiger. Denn den größten Anteil der sexuell Ausgebeuteten stellten — das belegen alle Untersuchungen — die Dienstmädchen,»[72] gefolgt von den Kellnerinnen, keineswegs die Fabrikarbeiterinnen — also überwiegend Frauen und Mädchen, die als einzelne vom Land in die Städte gekommen waren, um hier eine neue und eigene Lebensgrundlage zu finden.
Dabei stellten diese Erscheinungsformen der «Unsittlichkeit» nur die Kehrseite bürgerlicher Ehemoral dar und einer durch und durch patriarchalischen «Ordnung der Familie», die für Mann und Frau ungleiche Standards setzte und eine doppelte Moral praktizierte. Während die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft die strengen Regeln der Monogamie zu garantieren hatte, ihre Sexualität ein Tabu war und allenfalls der Fortpflanzung diente, wurde das Interesse des Mannes an außerehelicher Sexualität durch die verschiedenen Formen und Milieus der Prostitution gesellschaftlich toleriert und kanalisiert.

«Obwohl dies eine Bedrohung der bürgerlichen Moral darstellte und als solche auch bekämpft wurde, wurde sie (die Prostitution) zum Teil ganz offen und bewußt im Sinne sexualhygienischer Vorstellungen als Stützung eben dieser Moral legitimiert und für notwendig angesehen, damit die jungen Männer Gesundheit und guten Humor bewahren konnten und die jungen Mädchen aus besserer Familie ihre Tugend).»»[73]

Und es ging dabei nicht nur um Moral oder sittliche Grundsätze. Bedrohlich für den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich gefährlich für jede(n) einzelne(n) war die Prostitution ja allein schon deshalb, weil sie erwiesenermaßen die Ursache für die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten war, die - folgt man dem medizinischen Diskurs dieser Zeit - den Charakter von Volksseuchen hatten.
Trotzdem wurde Prostitution sogar von Staats wegen als «notwendiges Übel» geduldet, ja zum gesundheitlichen Schutz der Männer wurden die Prostituierten, also nur die Frauen, gesundheitlich kontrolliert und bei Zuwiderhandlung bestraft. Zu dieser Überwachung diente das zu Anfang des 19. Jahrhunderts nach napoleonischem Muster «in fast allen Kulturstaaten» eingeführte System der staatlich reglementierten Prostitution.[74] Es legitimierte eine doppelte Moral, da «gewerbsmäßige Unzucht» — so der strafrechtliche Begriff—, insbesondere das Halten von Bordellen, gemäß § 180 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 zwar verboten war, trotzdem von den Staatsorganen stillschweigend geduldet, sogar mit Steuern belegt wurde unter dem Vorwand, so eine bessere Überwachung zu gewährleisten. Das bedeutete, alle irgendwie beteiligten Männer, das rücksichtsvoll so genannte «konsumierende Publikum»,[75] aber auch die Kuppler, Zuhälter, selbst die Bordellbesitzer blieben straffrei und unbehelligt, soweit nur die beteiligten Frauen eine sittenpolizeiliche Erlaubnis und Gesundheitskontrolle vorweisen konnten. Die Rechtsgrundlage für diese Überwachung und gesundheitliche Kontrolle und damit für die Möglichkeit, jede auch nur irgendwie verdächtige «Weibsperson» ohne Haftbefehl oder richterliche Kontrolle festzunehmen und einer ärztlichen Zwangsuntersuchung zu unterziehen, war § 361, Nr. 6 StGBG

«Mit Haft wird bestraft... eine Weibsperson, welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist, wenn sie den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandelt, oder welche, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht treibt.»

Weibliche Kritik und Empörung setzten auf drei Ebenen an:

  • Die Frauen fanden sich nicht damit ab, daß Prostitution «notwendig» wäre. Schon in der Petition von H. Bieber-Böhm hieß es dazu:
    «Wir bestreiten, dass die Prostitution ein notwendiges Übel sei, weil angeblich der Fortpflanzungstrieb durchaus befriedigt werden müsse. Bedeutende Aerzte und Hygieniker haben diese für den Fortschritt der Kultur so verderbliche Ansicht widerlegt...»[76]
  • Als Betroffene, als Opfer solcher «Herrenmoral», ging es den Frauen darum, die wirklichen sozialen und gesellschaftlichen Ursachen der Prostitution bloßzulegen. Während etwa in «Meyers Konversations-Lexikon» von 1896 unter dem Stichwort «Prostitution» nur von den Frauen die Rede war:
    «Schlechte Erziehung der Mädchen, Not, die Fabrikarbeit der Kinder, namentlich der heranwachsenden Mädchen, die sozialen Verhältnisse, welche die Begründung von Familien erschweren, Arbeitsscheu, Putzsucht und namentlich auch die Verführung seitens junger Männer führen der P. stets neue Opfer zu»,

…nannte Anna Pappritz klipp und klar drei Ursachen: «die Geringschätzung des Weibes überhaupt, die schlechte, wirtschaftliche Stellung der Frau, die starke Nachfrage von Seiten des Mannes».[77] D.h. es ging den Abolitionistinnen mit der Beseitigung der sozialen und ökonomischen Abhängigkeit der Frauen zwar um die Abschaffung der Prostitution, nicht aber um ihre Bestrafung.


Anna Pappritz (geb. 1861 in Radach/Mark Brandenburg, gest. 1939 ebd.)
...war eine der führenden Abolitionistinnen, die sich seit der Mitte der 1890er Jahre für die Abschaffung des staatlichen Reglementierungssystems einsetzte. Sie gründete 1899 in Berlin den Zweigverein der «Internationalen Abolitionistischen Föderation» und war nach K. Scheven von 1905 bis 1933 Herausgeberin der Zeitschrift «Der Abolitionist». Pappritz kämpfte zeit ihres Lebens gegen staatliche Zwangsmaßnahmen und die Willkür der Polizei und erwarb sich große Verdienste um die Einrichtung einer Gefährdeten-und Gefangenenfürsorge und um die Anstellung von Polizeiassistentinnen den sog. Polizeimatronen»


  • Den Kampf vorrangig gegen die staatliche Reglementierung haben die Abolitionistinnen mit der «himmelschreienden» Ungerechtigkeit begründet:
    «Das ist die Reglementierung der Prostitution. - Ihrem obersten Grundsatz: <Gesunde Frauen für ausschweifende Männer», ordnet sie ohne geringste Bedenken die Freiheit und Würde des weiblichen Geschlechts unter und stempelt dasselbe, soweit es ihrer Macht verfallen ist, zur Ware und Sache.»[78]

Moralische Entrüstung und das engagierte Eintreten der Frauen für eine bessere Moral waren und sind dennoch zweischneidig. Die Sittlichkeits- und Mäßigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts (dazu gehörte auch der insbesondere von Frauen geführte Kampf gegen den Alkoholismus), die sog. Moralisierungskampagnen entsprachen im Grunde der frauenspezifischen Zuständigkeit für Anstand und gute Sitte und verhalfen ihnen zu gesellschaftlicher Anerkennung, ja sogar zu mehr Rechten — z.B. im US-Staat Wyoming bereits 1870, in Australien und Neuseeland um 1890 zum Frauenstimmrecht. Doch es bedeutete zumindest in den genannten Fällen auch, daß sie zum Beweis ihrer «Wohlanständigkeit» politische Anpassung praktizierten, ihre «Radikalität» einer gesellschaftlichen «Respektabilität» opferten.[79] Denn moralische Reformen setzen, sobald sie Strafgesetze, Staat und Polizei zu Hilfe rufen, immer soziale Kontrolle und mehr staatlichen Zwang voraus. Die Fortschrittlichkeit aber bestand darin, die Verdienste der von Josephine Butler bereits 1875 begründeten «Internationalen Abolitionistischen Föderation», daß sie, ausgehend von den «gleichen natürlichen Rechten der Frau wie des Mannes», in § 3 ihrer Satzungen unmißverständlich dekretierte:

«Die Föderation strebt, speziell auf dem Gebiet der Sittengesetze, die Anerkennung der persönlichen Freiheit an, welche in der persönlichen Verantwortung ihr Gegengewicht findet.»[80]

Und Anna Papprilz lag daran festzuhalten:

«Nicht aus einer laxen Moalauffassung, sondern aus dem sittlichen Grunde der Gerechtigkeit tritt die Föderation für die Straflosigkeit der Prostitution ein...
Sie verwirft die gesetzliche Regelung der Prostitution, weil dieselbe ihren Zweck, die Gesundheit des Volkes zu schützen nicht erfüllt, und weil jede sittenpolizeiliche Ausnahmeregelung eine soziale Ungerechtigkeit und eine moralische Ungeheuerlichkeit ist; denn, indem der Staat eine Regelung einsetzt, welche dem Manne Sicherheit und UnVerantwortlichkeit zu verschaffen sucht und mit den gesetzlichen Konsequenzen eines gemeinsamen Aktes nur die Frau belastet, verbreitet er die unheilvolle Idee, als ob es für jedes Geschlecht eine besondere Moral gäbe.»[81]

Hier also lag die prinzipielle Differenz, die in dieser Frage erst zum Ende des Jahrhunderts in der deutschen Frauenbewegung zwischen dem «Verein Jugendschutz», vertreten von H. Bieber-Böhm, und den Radikalen und Abolitionistinnen deutlich wurde. Jetzt erst entstanden in verschiedenen Städten Deutschlands Zweigvereine der «Internationalen Abolitionistischen Föderation», zuerst 1898 in Hamburg unter der Leitung von Lida Gustava Heymann, 1899 in Berlin mit der Vorsitzenden Anna Pappritz, dann 1900 auch in Dresden unter dem Vorsitz von Katharina Scheven sowie in Colmar, München, Bremen, Halle, Kassel und Frankfurt a. M.[82] Aber auch die «Vereine Frauenwohl», ja ausdrücklich auch der «Verband Fortschrittlicher Frauenvereine» hatten diese Kehrseite der Bürgerlichkeit zu ihrer Angelegenheit gemacht. Denn die herrschende Sexualmoral führte ins Zentrum der Geschlechterverhältnisse und wurde nun zum Brennspiegel ihrer Gesellschaftskritik. Die Anlässe waren vielfältig und die Aktionen der Vorkämpferinnen einer gleichen Moral für Mann und Frau überaus mutig, listig und phantasievoll. Wiederum können nur Beispiele geschildert werden.

Das erste Frauenzentrum in Hamburg

Es bedurfte nur eines Anstoßes. Anita Augspurg hatte ihre Freundin über den Londoner Kongreß von 1898 und die Ziele der «Abolitionistischen Föderation» informiert, da gründete Lida Gustava Heymann in Hamburg den ersten deutschen Zweigverein der «Internationalen Abolitionistischen Föderation» und nahm den Kampf gegen das Bordellwesen in ihrer «Vaterstadt» auf. In ihren «Memoiren» erläuterte sie diesen Schritt:

«Bordelle? Ich war 27 Jahre alt geworden, ohne zu wissen, was ein Bordell ist. Ich ging den Dingen nach und erfuhr, daß die Männer unter dem Vorwand hygienischer Notwendigkeit zur Befriedigung ihres überzüchteten Sexuallebens wahre Lasterhöhlen schufen, in denen die Frauen mißhandelt, zur Ware gestempelt, ausgebeutet und obendrein ab Paria gebrandmarkt wurden.»[83]


Lida Gustava Heymann (15.3.1868-31.7.1943)
…war die Tochter eines reichen Kaufmanns in Hamburg. Sie führte zunächst im Kreis von vier Schwestern das typische unfreie Leben einer Tochter aus gutem Hause mit Privatunterricht, höherer Töchterschule und Pensionsbesuch in Dresden. Sie entdeckte früh ihre sozialen und politischen Interessen und litt unter der Ziellosigkeit und unfreiwilligen Untätigkeit. Doch als die anderen Schwestern sich verheirateten und das Haus verließen, zog der Vater sie mehr und mehr in seine geschäftlichen Angelegenheiten hinein und machte sie 1896 bei seinem Tod zur Testamentsvollstreckern! eines Sechs-Millionen-Nachlasses. Der Kampf um ihre Anerkennung in diesem Amt, die Erfahrungen mit Behörden, mit Steuerbeamten, Juristen und Kaufleuten aller Art waren eine harte Schule, aber gaben ihr Gelegenheit, sich zu bewähren und sich durchzusetzen. Erst «durch die Feststellung, daß schon im 13. Jahrhundert eine Frau einmal das Amt eines Testamentsvollstreckers in Hamburg unbeanstandet bekleidet hatte ... (wurde) der Einspruch der Behörde gegen meine Person hinfällig».[84]
1896, beim Besuch des Internationalen Frauenkongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen (vgl. Kap. 6) lernte sie Anita Augspurg kennen, mit der sie bald eine mehr als vier Jahrzehnte dauernde Arbeits- und Lebensgemeinschaft verband.


L.G. Heymann wußte ihre pekuniäre Unabhängigkeit im Fraueninteresse einzusetzen. Sie kaufte zunächst eine Etage in der Rathausstraße 9, dann ab 1897 in der Paulstraße 25 ein erstes Frauenhaus und richtete hier ein — im heutigen Sinn — feministisches Frauenzentrum ein mit sehr vielfältigen Aufgaben und Angeboten:

  • einem Mittagstisch für Arbeiterinnen, «da der Besuch von Restaurants 1896 in Hamburgfiir junge Mädchen ohne Begleitung nicht in Frage kam... Es kamen: Bureau- und Handelsangestellte, Verkäuferinnen, Schauspielerinnen und Arbeiterinnen aller Branchen bis zu den in Hamburg verpönten Kaffeeverleserinnen.»[85]
  • einem Kinderhort sowie Badeeinrichtungen mit Wannen und Duschbrausen, die von allen Bewohnern der Umgebung benutzt werden konnten;
  • einer Beratungsstelle für beinahe alle Lebensfragen, insbesondere Rechtsschutz und Sozialberatung;
  • Veranstaltungen aller Art, Unterhaltungsabende, Vorträge, Gesang und Deklamation und Vereinsversammlungen.

Auch das Spektrum der von L.G. Heymann angeregten und diesem Zentrum angegliederten Vereinsaktivitäten war beachtlich:

  1. Die Handelsangestellten organisierten sich in dem Vereine Industria, verbunden mit einer Stellenvermittlung und einer Handelsschule.
  2. Eine zweite Berufsorganisation war eine Zentrale für weibliche Bühnenangehörige, die bestrebt war, jungen Bühnenkünstlerinnen ihr Vorwärtskommen zu erleichtern.
  3. Ein Verein für Kleider-Reform wirkte für eine vernunftgemäße, gesunde, von der schnell wechselnden Mode unabhängige Frauenkleidung.
  4. Der Hamburger Verein der Abolitionistischen Föderation, dessen Ziel die Abschaffung der Kasernierung und Reglementierung der Prostitution war. Sein Wahlspruch lautete: Es gibt nur eine Moral, und die gilt für Mann und Frau.
  5. Der Verein Frauenwohl, der für die Gleichberechtigung der Frauen auf allen Gebieten arbeitete, den Mädchen gediegenere Bildung zu eröffnen strebte, eine Reformschule für Mädchen und Knaben gründete, die mit dem Abitur abschloß.»[86]

Den größten Anstoß erregte offenbar der abolitionistische Zweigverein. Denn sehr schnell kam Heymann nun mit den Hamburger Behörden, der Sittenpolizei und den Honoratioren der Stadt in Konflikt, weil sie in öffentlichen Versammlungen Aufklärung forderte und die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf die skandalösen Zustände der in einer Hafenstadt wie Hamburg üblichen, aber dennoch gesetzwidrigen kasernierten Prostitution lenkte. Nicht die Bordelle selbst, doch «die Wahrheit über die Bordelle», so mußte sie feststellen, erregten «öffentliches Ärgernis». Sie hatte es geschafft, sich gründlich Einblick zu verschaffen. Zuerst als Vormund einer sechzehnjährigen Prostituierten, dann als findige «Sozialforscherin», die dem Mädchenhandel und Machenschaften im Hafenviertel auf die Spur kommen wollte, wagte sie sich nachts zusammen mit einem Hafenarbeiter und einer Gemeindeschwester, «schäbig und unauffällig gekleidet... auf die Wanderschaft durch die Kneipen und Tanzlokale...» Um die Prostituierten über ihre geringen Rechte aufzuklären und ihnen Rechtsbeistand zuzusichern, versuchte sie auf sehr unkonventionelle Weise, mit ihnen Verbindung aufzunehmen. So beschwatzte die gleiche «Schwester Baumgarten» etwa die Garderobenfrauen und ließ den Besucherinnen eines «Prostituiertenballs» heimlich Handzettel in die Manteltaschen stecken. Als L.G. Heymann bald darauf in einem öffentlichen Vortrag unter dem harmlosen Titel «Ein Gang durch unsere Vaterstadt» über ihre Erkundungen berichtete, wurde die Versammlung prompt vom wachhabenden Beamten geschlossen. Nun wichen die Frauen in das benachbarte Altona aus, damals preußisches Gebiet, und der Kampf ging weiter.
Den Höhepunkt der Propagandaarbeit des Hamburger Zweigvereins bildete 1902 die Anzeige gegen einen Bordellbesitzer wegen Kuppelei und, nachdem die Staatsanwaltschaft die Angelegenheit niedergeschlagen hatte, die Klage gegen den Hamburger Senat wegen «Justizverweigerung». Natürlich lehnte der Bundesrat, das in diesem Fall zuständige Verfassungsorgan des Reiches, die Verfolgung der Anklage ab. Doch nun hatte die Angelegenheit bereits so viel Staub aufgewirbelt, daß es — von M. Cauer und A. Augspurg über politische Freunde lanciert — zu einer peinlichen Befragung des Hamburgischen Senators im Reichstag kam. Die «Dame», deren «Übertreibungen» hier zur Sprache kamen, saß derweil als Beobachterin auf der Tribüne und meinte in ihren «Memoiren»:

«Vor diesem Männerstaat mit seinen unwürdigen Einrichtungen verloren wir den letzten Schimmer von Achtung.»[87]

Geschlechtsjustiz

Nicht nur Solidarität oder wohltätige Hinwendung zu den «gefallenen Schwestern» waren das Motiv der Frauen im international geführten Kampf gegen die reglementierte Prostitution, vielmehr war ihr Engagement durchaus eigennützig. Denn im Grunde waren alle Frauen betroffen, zum einen, weil weder die Ehegesetze noch das Sexualstrafrecht verhindern konnten, daß die Gefahr der Ansteckung bis in die ehelichen Schlafzimmer getragen wurde, zum anderen, weil offensichtlich keine Frau in der Öffentlichkeit vor polizeilicher «Sittenkontrolle», Verhaftung und zwangsweiser Untersuchung sicher war.
Die Frauenzeitschriften der Jahrhundertwende berichten von unzähligen Vorfällen, in denen die Polizei irrtümlich oder vorgeblich eine Frau ohne Begleitung als Dirne festgenommen und zur Zwangsuntersuchung abgeführt hatte.

«In (zwei) Fällen wurden ganz junge unerfahrene und schutzlose Mädchen in brutalster Weise von Schutzleuten arretiert, ohne den geringsten Versuch, ihre Persönlichkeit und ihren Leumund festzustellen, auf die Polizeistation geschleppt, in derselben ehrenrührigen Weise... bis zum übernächsten Tag in Polizeigewahrsam gehalten, dann körperlich untersucht, völlig gesund und unberührt gefunden und ohne Entschädigung, ohne Entschuldigung, vermutlich noch mit Grobheiten... des hohen Herrn Schutzmannes ent- und ihrem Schicksal überlassen.»[88]
«Die deutsche Frau ist... vogelfrei, der §361, Z. 6 gibt jedem Schutzmann das Recht, jede Frau auf Verdacht hin zu arretieren, daß er sie für eine Dirne hält. Weder arm noch reich, weder hoch noch niedrig, weder die Frau in üppigster Toilette, noch diejenige im schlichten Gewande, weder die Langsamgehende., noch die Schnelleinhereilende, weder die mit langem, noch die mit kurzem Haar und so ad infinitum, ist sicher vor der brutalen Behandlung eines Schutzmannes...»[89]

Ein anderer, zufällig prominenter Fall aber belegt, wie es Frauen erging, die auch aus ganz anderen Gründen in die Mühle der Justiz und der Rechtlosigkeit geraten waren. Was der Sozialdemokratin und später ersten Frau im SPD-Vorstand Luise Zietz widerfuhr, die in Hamburg im Jahr 1900 wegen Verstoßes gegen das Presserecht zu drei Tagen Haft verurteilt wurde, wirft ein grelles Licht auf die Zustände:

Diese bösen Erfahrungsberichte erklären, warum sich die Frauenbewegung — wenigstens als Zwischenschritt — so vehement um die Einstellung von weiblichen Polizeibeamtinnen, ja auch Gefängnisärztinnen bemüht hat. Die erste bei der Sittenpolizei angestellte Ärztin Dr. med. Agnes Hacker, mußte sich allerdings gegenüber den Abolitionistinnen verteidigen in der Frage, inwieweit ihre Tätigkeit mit abolitionistischen Grundsätzen vereinbar wäre und nicht ein für Frauen so schmachvolles System stützte.[90] Die erste «Polizeimatrone», die 1903 beim Stadtpolizeiamt Stuttgart eingestellte Schwester Henriette Arendt, wurde zu einer Pionierin der Gefangenen- und Gefährdetenfürsorge. Sie hat ihre Tätigkeit und ihre schweren Kämpfe mit der staatlichen Bürokratie und gegen die Auswüchse der Reglementierung in mehreren Schriften dokumentiert.[91]
Auf dem Höhepunkt der Frauenkampagnen gegen die «Mißgriffe der Polizei», gegen Ausnahmegesetze und Geschlechtsjustiz[92] im Herbst 1902 aber unterlief einem Schutzmann der «Großherzog]. Sächsischen Haupt- und Residenzstadt Weimar» das peinliche Versehen, die führende Frauenrechtlerin Anita Augspurg auf dem Bahnhof in Weimar unter dem Verdacht des §361 Nr. 6 StGB zu verhaften. Nun, «Doktor juris Anita», wie sie in einem Spottgedicht[93] zu diesem Vorfall genannt wurde, wußte sich zu helfen. Wer ihre Beschwerdeschrift und Gegendarstellung in der Presse liest, könnte auf den Gedanken kommen, daß — nachdem der Beamte seine Anmaßung wohl schnell eingesehen haben muß — es schließlich mehr der Ordnungshüter war, der da zur Wache gezerrt wurde, als die «wegen auffälligen Gebarens» -verdächtigte Suffragette. Mit Fug und Recht aber haben die radikalen Frauenvereine dieses Musterbeispiel polizeilicher Willkür propagandistisch ausgeschöpft mit Kundgebungen überall im Land, einer riesigen Protestversammlung in Berlin, Grußadressen und Resolutionen. Sie forderten die Achtung der Freiheit der Person, nach englischem Vorbild eine «Habeaskorpusakte» auch für Frauen und deshalb die Beseitigung des §361 StGB als «Ausnahmegesetz für das gesamte weibliche Geschlecht, das im Widerspruch zu allen verfassungsmäßigen Freiheitsgarantien steht».[94]
Bis 1927 sollte es trotz dieser Bemühungen dauern, bis die Sittenpolizei durch das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten abgeschafft wurde. Doch neben solchen inzwischen überholten Rechtsmißbräuchen gibt zu denken, daß andere, um die Jahrhundertwende bereits benannte Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten heute noch ebenso brisant und aktuell sind wie damals. Etwa die Erfahrung üblicher, alltäglicher Gewalt gegen Frauen, die die «Bewegungsfreiheit der weiblichen Bürger zur Nachtzeit wie bei Tage» einschränkte. M. Cauer thematisierte diese «unsere gesellschaftlichen Zustände» kennzeichnende «strukturelle Gewalt»:

«Die absolute Rechtlosigkeit der Frau auf Straßen und Plätzen, sobald das nächtliche Dunkel jeden Insult gegen sie seitens eines feigen Mannes deckt, ist noch so tief im Volksbewußtsein eingewurzelt, und wird durch unsere gesellschaftlichen Zustände... so sehr unterstützt, daß noch Jahrzehnte vergehen werden, bis man sich daran gewöhnt, der weiblichen Steuerzahlerin auch nächtlicher Weile die ungehinderte Mitbenutzung der öffentlichen Verkehrswege... zu überlassen...»[95]

Wie wahr! Schließlich haben die Radikalen auch die Gerichtspraxis in Vergewaltigungsfällen bereits als Musterbeispiele «krasser Geschlechtsjustiz» aufgegriffen und diese Form männlicher Kumpanei öffentlich angeprangert. Ein beispielhaftes Urteil des Schwurgerichts in Hamburg-Altona aus dem Jahr 1905 war der Anlaß für zahlreiche Protestversammlungen und eine Pressekampagne. Die radikalen Frauenvereine, denen sich die Sozialdemokratinnen, aber auch die linke und liberale Presse angeschlossen hatten, charakterisierten die Rechtspraxis als «ein Klassenurteil, wenn auch in einem anderen Sinn, nämlich ein Urteil der herrschenden Klasse Mann gegen das rechtlose Weib».[96] Es handelte sich in diesem Fall um den Freispruch von vier jungen Männern, die gemeinschaftlich eine Vergewaltigung begangen hatten. Angeblich hatte das Opfer, ein Dienstmädchen, «sich nicht gesträubt». Die Begründungen der Richter wie die Urteilsschelte der Frauen könnten aus der Gegenwart stammen.

  

4. «Klarer zeigt sich... nirgends die ganze Brutalität menschlicher
Zustände als auf sexuellem Gebiet» (Helene Stöcker)

Eine neue Ethik

Wieviel Selbstbewußtsein und Zivilcourage es erforderte, im kaiserlichen Deutschland der Jahrhundertwende als Frau Fragen der Sexualmoral, der Sexualität zur Sprache zu bringen und öffentlich zu diskutieren, können wir heute nur noch schwerlich ermessen. Es erklärt immerhin, warum die «heißesten Eisen» doch nur von einer Minderheit, einer Avantgarde ungewöhnlicher und auch privilegierter Frauen angepackt wurden.
Eine, die es wagte, den Zusammenhang zwischen Sexualität und Politik oder, anders gesagt, zwischen Liebe und der Rechtsstellung der Frauen zu denken und auszusprechen und dafür die ganze Häme der Antifeministen, Diffamierungen und die Schelte der Mehrheit auch der Frauen erfuhr, war Helene Stöcker.

«Klarer zeigt sich doch vielleicht nirgends die ganze Brutalität menschlicher Zustände als auf sexuellem Gebiet.»[97] Dies war eine Erkenntnis, die ihre politische Arbeit prägte als Frauenrechtlerin, Sexualreformerin wie später auch als Pazifistin.


Helene Stöcker (geb. 13.11.1869 in Elberfeld, gest. 24.2.1943 in der Emigration in New York)
…stammte aus einem streng calvinistischen Elternhaus. Gerade die dogmatische Enge dieses Elternhauses hat ihren «Weg ins Freie» und zu geistiger Unabhängigkeit bestimmt. Als älteste Tochter von acht Kindern, im Haushalt unentbehrlich geworden, gelang es ihr erst nach heftigen Kämpfen — «übrigens mit Hilfe (ihrer) Mutier» —, 1892 in Berlin mit der Lehrerinnenausbildung zu beginnen.[98]
Auffällig ist, wie früh und oft sich die Wege der aktiven Frauen in der Bewegung dieser Zeit kreuzten, es zeigt aber auch, wie eng der Kreis und wie groß die «Gefahr der Ansteckung» war.
Helene Stöcker z.B. hatte Minna Caucer bereits bei einem Berlinbesuch Ende der 1880er Jahre kennengelernt und bei ihr Ermutigung im Kampf um Gleichberechtigung und Frauenstudium erfahren. Nach ihrem Lehrerinnenexamen besuchte sie dann die Gymnasialkurse von Helene Lange, arbeitete mit in einer Kommission zur Schaffung einer «Bibliothek zur Frauenfrage»[99] und war im Herbst 1896 eine der ersten weiblichen Studierenden an der Universität Berlin, die nur auf besondere Genehmigung des einzelnen Professors die Vorlesungen besuchen durften. Ihre Studienfächer waren Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Als sie nach einer Protestveranstaltung zur Durchsetzung von Mädchengymnasien als Rednerin neben Marie Stritt und Anita Augspurg ins Kreuzfeuer konservativer Pressekritik geriet und einer ihrer Professoren ihr daraufhin den Besuch seiner Vorlesung untersagte, beschloß sie, den Studienort zu wechseln. Sie ging für ein Semester — weil sie sich verliebt hatte — nach Glasgow und promovierte 1901 in Bern mit einer Dissertation «Zur Kunstanschauung des 18. Jahrhunderts. Von Winckelmann bis Wackenroder».
Nach Berlin zurückgekehrt, lebte sie von ihrer literarischen Tätigkeit, hielt Vorträge sowie Vorlesungen in der Lessing-Hochschule «Über die Frauen der Romantik», «Die Philosophie Friedrich Nietzsches» etc., redigierte vorübergehend «Die Frauen-Rundschau» (eine Zeitschrift, die vorher als «Dokumente der Frauen» von der österreichischen Feministin Marie Lang herausgegeben wurde) und war Vorstandsmitglied im «Verband Fortschrittlicher Frauenvereine». Seit 1905 bis zu dessen Tod im Jahr 1931 lebte sie mit dem Rechtsanwalt Bruno Springer in einer Lebensgemeinschaft zusammen und praktizierte damit ihre Grundsätze von «freier Liebe» «mit dem Willen zur Verantwortlichkeit und zur Dauer» gegen alle Verfemungen.[100]
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges folgte für H. Stöcker aus der Idee des Mutterschutzes der «Menschenschutz», und sie, die schon 1892 der von Bertha v. Suttner gegründeten Friedensgesellschaft beigetreten war, wurde zur engagierten und radikalen Pazifistin. Sie beteiligte sich an pazifistischen Initiativen und Organisationen, am Internationalen Frauenfriedenskongreß in Den Haag, wurde Mitglied des «Bundes Neues Vaterland», aus dem sich später die «Liga für Menschenrechte» entwickelte, wurde 1919 Vizepräsidentin der «Deutschen Friedensgesellschaft», 1921 Mitbegründerin der «Internationale der Kriegsdienstgegner» und 1926 der «Gruppe revolutionärer Pazifisten». Bis Ende 1932 gab sie die Zeitschrift «Die Neue Generation» heraus, in der sie entschieden Stellung nahm für das Recht der Frau auf Geburtenkontrolle und eine Geburtenplanung unter sozialen Gesichtspunkten, gegen Rassismus und Antisemitismus und jedwede Gewalt.
Sofort nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ die über Sechzigjährige Berlin, um nach einer beschwerlichen und von Krankheit gezeichneten Odyssee über die Schweiz, Schweden und die Sowjetunion 1941 schließlich in den USA eine Bleibe zu finden. Sie ist in New York am 24. Februar 1943 gestorben. Ihr gesamtes kostbares Archiv wurde von den Nationalsozialisten konfisziert, ihre Autobiographie ist bisher nicht veröffentlicht.


Schon früh hatte Stöcker das Werk Friedrich Nietzsches kennengelernt, war von seiner Philosophie und «Absage an die lebensverneinende Moral» gefesselt worden.[101] Seine immer wieder zitierte «Frauenfeindschaft» erläuternd und modifizierend,[102] aber stellte sie seinem «Übermenschen» ein um den Feminismus erweitertes Konzept einer «neuen Menschheit» gegenüber:

«Nein, nein, nicht Mann sein wollen, oder wie ein Mann sein wollen, oder mit ihm verwechselt werden können: was sollte uns das helfen! Unser Gewissen spricht jetzt: <Werde, die du bist> Alle in uns liegenden Kräfte zu entwickeln, den Mut zu uns selber, zu unserer eigenen weib-menschlichen Natur zu haben; lernen, uns selber Gesetze zu geben, die Rangordnung der Werte durch uns für uns zu bestimmen; das ist die Befreiung vom Banne der asketischen Moral vergangener und vergehender Kulturen und Traditionen, das ist auch die Befreiung von der männlichen Weltanschauung, die wir widerstandslos angenommen haben, ohne zu fragen, ob sie die für uns richtige sei, ohne unsere eigene Wertung der Dinge dagegen zu setzen...
Aber wie vereinigt man das Unvereinbare: ein freier Mensch, eine eigene Persönlichkeit und ein liebendes Weib zugleich zu sein? Das war für uns beinahe das Problem der Probleme.»[103]

Die Frage, «wie sich die geistige Unabhängigkeit mit der Liebe, die ja immer einen großen Teil seelischer Abhängigkeit mit sich bringt, vereinigen ließe,[104] war das Problem, das Helene Stöcker mit ihrer «neuen Ethik» und Bewegung für Mutterschutz zu lösen versuchte. Denn es war für sie widersinnig, Mutterschaft und Mütterlichkeit «als große Leistung der Frauen für die Welt» zu predigen und doch nicht die Bedingungen zu schaffen, unter denen ein Kind ohne Not und Schande auch außerhalb einer Ehe zur Welt zu bringen und zu erziehen war. Es war ihrer Meinung nach heuchlerisch, Frauen auf die Liebe einzuschwören und das Sexualleben doch nur «in der vom Staat offiziell anerkannten Form der Ehe» oder — für den Mann — als reglementierte Prostitution zuzulassen.[105]
Zwar hatten die radikalen Feministinnen mit der Kritik der Ehe und der falschen Moral auch schon vorher Anstoß erregt. Sie hatten nicht nur eine Eherechtsreform gefordert, sondern bisweilen auch «als Propaganda der Tat» zum Eheboykott aufgerufen, weil nach der Bestätigung der Privilegien des Mannes im BGB ihrer Meinung nach nur die «freie Ehe» mit der Selbstachtung von Frauen vereinbar war.[106] Doch was Helene Stöcker mit der Gründung ihres «Bundes für Mutterschutz» im Jahr 1905 beabsichtigte, rief nicht nur die allgegenwärtigen Philister auf den Plan, sondern bedrohte offenbar die Grundfesten der bürgerlichen Ordnung:
Denn «neue Ethik» und Sexualreform meinten — im heutigen Sprachgebrauch — die Anerkennung der «nichtehelichen Lebensgemeinschaften», die Gleichstellung der unehelichen Kinder, die Einführung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung, Sexualaufklärung und Empfängnisverhütung, ökonomische Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Frau, ja ein Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren eigenen Körper und ihre Sexualität, in den Worten Stöckers, schon 1893: «ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf Liebe».[107]

Der «Bund für Mutterschutz und Sexualreform»

Der Sozialpolitiker und Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann, den Stöcker um einen Redebeitrag in der Gründungsversammlung des «Bundes für Mutterschutz» gebeten hatte, soll erwidert haben:

«Ich teile ihre Auffassung... Aber es ist klar, daß jeder, der diese Probleme öffentlich erörtert, sich in den Verdacht bringt, die Ehe selber anzugreifen... (das) würde meine ganze politische Arbeit gefährden. Sie müssen schon dies Odium allein auf sich nehmen.»[108]

Dabei wurde alles gut vorbereitet: Programm und Statuten waren von einem Komitee, dem späteren Vorstand, ausgearbeitet. Vorstandsmitglieder waren neben Helene Stöcker und Maria Lischnewska, einer Gefährtin aus dem Vorstand des «Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine», u.a. Dr. med. Max Marcuse, Prof. Werner Sombart sowie Lily Braun. Aus der Frauenbewegung kamen u. a. Hedwig Dohm, die Gräfin Gertrud Bülow von Dennewitz, die unter dem Pseudonym Gisela von Streitberg als eine der ersten Frauen für die Aufhebung des § 218 eingetreten war,[109] ferner Henriette Fürth, Adele Schreiber und Marie Stritt, dennoch insgesamt mehr Männer als Frauen. Die erste öffentliche Versammlung fand im Februar 1905 unter unerwartet großem Andrang statt.

«Die sechsstündigen Verhandlungen gehören zu den bedeutungsvollsten, welche das letzte Jahrzehnt der deutschen Frauenbewegung aufzuweisen hat. Die Gefahr, daß sich der Bund für Mutterschutz in rein praktischen Maßnahmen, als Gründung von Mutterschutzhäusern, Herbeiführung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung erschöpfen könne, war für immer beseitigt.
Der Kampf für eine neue geschlechtliche Sittlichkeit, für eine neue und freie Ehe, die ihre Gebundenheit hat in dem Verantwortungsgefühl von Mann und Frau, der Kampf für Ehre und Würde der seit Jahrtausenden niedergetretenen Opfer der konventionellen Moral - das ist und bleibt die Losung des Bundes für Mutterschutz.»[110]

D. h. der «Bund für Mutterschutz» versuchte, praktische soziale Tätigkeit mit Aufklärung im weitesten Sinn und der Reform der sexuellen Ethik zu verbinden.[111] Zugleich aber verbargen sich in dieser Vielseitigkeit sehr unterschiedliche Strömungen und Interessen, die bald aufbrachen und zu Abspaltungen führten: Die mehr praktischen Ziele wurden von Ruth Bré vertreten, die damit jedoch merkwürdig mutterrechtliche und erdverbundene Pläne verfolgte. Sie wollte den unehelichen Müttern «auf dem Land», «auf eigener Scholle eine dauernde Existenz» und durch eine Alimentationspflicht des Staates ein neues «Mutterrecht» schaffen.[112]- Sie verließ schon einen Monat nach der Konstituierung des Bundes die Organisation. Demgegenüber ging es Stöcker und M. Lischnewska vor allem um die «weibliche Persönlichkeit», darum, «die sozialen Bestrebungen zum Schutz von Mutter und Kinde... mit der vorurteilslosen Erörterung des sexualethischen Problems überhaupt zu verbinden»,[113] während ein großer Teil der männlichen Wissenschaftler vom Interesse an den neu aufgekommenen sog. Sexualwissenschaften und der Diskussion um Rassenhygiene und Eugenik geleitet war.[114] Die bis 1933 weitgefächerte Debatte um Bevölkerungspolitik und Sexualreform ist in den Zeitschriften des Mutterschutzbundes nachzulesen, die von H. Stöcker redigiert wurden: von 1905 bis 1907 in der Zeitschrift «Mutterschutz, Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik», von 1908 bis 1933 in der Zeitschrift «Die neue Generation». H. Stöcker beteiligte sich an dieser Debatte, ließ auch die Gegner in ihrer Zeitschrift zu Wort kommen, aber sie widersprach überall da, wo Geburtenplanung als «staatlicher Gebärzwang» im Interesse der Zahl oder gar eines biologistischen Rassezüchtungsprogramms erwogen wurde.[115]
Irritierend ist, daß hier ein Rassebegriff verwendet wurde, der später im Nationalsozialismus zum todbringenden, vernichtenden Auslesekriterium wird. Stöcker selbst war Vertreterin des Neumalthusianismus, d.h. einer Bevölkerungspolitik, die soziale Probleme auch durch Empfängnisverhütung, eine verantwortliche Geburtenkontrolle zu lösen versuchte. In diesem Sinn verstand sie wie viele fortschrittsgläubige Ärzte und Wissenschaftler jener Zeit, die weltweit in der «Malthusian League» organisiert waren, soziale Hygiene — «Rassenhygiene» — als ein Mittel sozialer Reform. Aus diesem Grund erwartete man von der Verbesserung der sozialen und ökonomischen Bedingungen auch eine «Höherentwicklung der Menschheit», der «menschlichen Rasse».[116] Dies war aus der Sicht der engagierten Frauen mit Rasseverbesserung gemeint. Denn sie beharrten gegenüber allen männlichen Vertretern auf dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gerade auch in der Frage der Geburtenregelung.

Diskussion über den §218

Kennzeichnend hierfür und wegweisend für eine von Frauen bestimmte Sexualpolitik war daher die von H. Stöcker 1908 durchgeführte Enquete zur Strafbarkeit der Abtreibung. Die Umfrage unter «600 bekannten Persönlichkeiten» ergab, daß die überwiegende Mehrheit der Befragten zumindest für eine Milderung, wenn nicht für Straflosigkeit der Abtreibung eintraten.[117]
Diese Enquete stand in engem Zusammenhang mit auch im BDF sehr kontrovers geführten Debatten über die anstehende Strafrechtsreform. Die Rechtskommission hatte unter der Federführung von Camilla Jellinek Vorschläge zur Streichung des §218 ausgearbeitet, die jedoch in der Generalversammlung des Bundes 1908 in Breslau — mit Hilfe der noch eilig beschafften Stimmberechtigung der Delegierten des «Deutsch-Evangelischen Frauenbundes» — mit knapper Mehrheit abgelehnt wurden.[118]
Beeindruckend ist die Offenheit, mit der z. B. Camilla Jellinek (1860—1940, Juristin, jahrzehntelang Leiterin der Rechtsschutzstelle in Heidelberg) ihren Sinneswandel in dieser auch damals schon als zentral erkannten Frage zugab und darauf hinwies, daß «man doch meist sehr konservativ zu sein (pflegt) in Dingen, über die man nicht genügend nachgedacht hat». Sie ging so weit, sich in einem Sondervotum «unumwunden und rückhaltlos für Abschaffung von §218» zu erklären.[119] Um so erstaunlicher ist, daß die in der SPD und unter Arbeiterfrauen wenig später geführte Gebärstreikdebatte[120] noch hinter diese Positionen zurückfiel.
Ebenso entschieden hat H. Stöcker schon 1911 zu weiblicher Homosexualität und gegen ihre Bestrafung nach § 175 StGB Stellung bezogen.[121]
All diese Ideen und Konsequenzen der Bewegung für Mutterschutz und Sexualreform waren für den BDF Anlaß genug, dem «Bund für Mutterschutz» die Aufnahme in den BDF zu verweigern. Die Mehrheit versuchte auszugrenzen, sich von solcher «Dirnenmoral»[122] abzugrenzen (mit Ausnahme von M. Stritt, ihre Solidarität mit den Radikalen in dieser Sache war ein wesentlicher Grund für ihre Abwahl als Bundesvorsitzende im Jahr 1910). Die gemäßigte Mehrheit war schließlich konservativ, weil sie zwar die Doppelmoral der Männer ablehnte, im übrigen aber die bürgerliche Sexualmoral als Ehemoral verteidigte.

«Man hat die Frauenbewegung einmal die organisierte Mütterlichkeit genannt. Will sie sich diesen Ehrentitel wahren, so hat sie heute die Pflicht,unsere Jugend aus dem Banne der gefährlichen Suggestion zu befreien, die das Glück und die höchsten Lebenswerte auf dem Weg des <Sichauslebens> suchen will.«[123]

So Helene Lange, die Stöcker an anderer Stelle noch sehr viel polemischer «feministische Gedankenanarchie» vorwarf.[124]
Selbst die Abolitionistin Anna Pappritz glaubte, gegen diese neue Moral die «Einehe» als «ersten Sieg des sittlichen Prinzips über die rohe Willkürherrschaft des Mannes» verteidigen zu müssen. Und Alice Salomon meinte klipp und klar: «Man schützt die Mutterschaft am besten, wenn man die ledige Mutterschaft als Programm bekämpft.»[125]
Lediglich im «Verband Fortschrittlicher Frauenvereine» fand Stöcker Anerkennung für ihren Mut oder zumindest solidarische Kritik.

«So war es stets, so wird es vielleicht immer sein. Alle großen, edlen und hohen Ideen werden zuerst bekämpft, ihre Vertreter gekreuzigt und verbrannt und. dann?—ja. dann nimmt man die Idee nach und nach an, wenn sie nicht mehr gefährlich erscheint und ruft sie als die eigene aus...»[126]

Gemessen an dem Aufsehen und der Aufregung, war der «Bund für Mutterschutz» ein verhältnismäßig kleiner Verein: 1909 hatte er insgesamt nicht mehr als 4000 Mitglieder. Es gab zu dieser Zeit bereits elf Ortsgruppen in verschiedenen Städten Deutschlands, die Beratungsstellen sowie Kinderheime unterhielten. Wegweisend war eine Reihe von Petitionen, die der Bund an den Reichstag richtete und die die Erweiterung des Arbeitsschutzes und eine Mutterschutzversicherung betreffen.[127] Durch viele Vortragsreisen auch ins Ausland und ein weltweit geknüpftes Netz gelang es der Vorsitzenden H. Stöcker im Jahr 1911, den ersten «Internationalen Kongreß» in Dresden zu veranstalten, der zur Gründung einer «Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform» führte.

Zwischenbemerkung

Aus heutiger Sicht verblüfft die Erkenntnis, daß im Grunde in den von den Radikalen thematisierten Streitfragen bereits alle gegenwärtigen, noch immer nicht gelösten Probleme der Frauenbefreiung angesprochen und öffentlich diskutiert wurden. Denn hinter dem anscheinend altmodischen Begriff «Sittlichkeitsbewegung» verbirgt sich das ganze Spektrum moderner Frauenfragen, die wir heute als explizit feministische Anliegen bezeichnen würden. Das sind nicht nur Fragen der politischen, sozialen und rechtlichen Ungleichheit — und dies ist nicht wenig, denn es sind schließlich die Fragen gesellschaftlicher Macht—, sondern auch die Probleme des sogenannten Privaten, die Verquickung von Liebe und Gewalt im Geschlechterverhältnis, in den Geschlechtsbeziehungen. Hierzu gehörten neben den Protesten gegen Geschlechtsjustiz und Gewalt gegen Frauen eben auch schon die Auseinandersetzung um den § 218 StGB und die Kritik einer «Weiblichkeit», die sich - so ihre bisherige Bestimmung und die herrschende Moral — erst in der Unterwerfung, zumindest Unterordnung unter den Mann vollendete. Das heißt, mit der Forderung nach Anerkennung der Frau als Person und ihrem Selbstbestimmungsrecht gerade auch auf sexuellem Gebiet wurde bereits der Dreh- und Angelpunkt der Frauenunterdrückung zur Sprache gebracht und als politische Aufgabe formuliert.
Aus diesem Grund ist der heute noch übliche Verdacht, eine radikale Gleichberechtigung der Frauen meine «Gleichmacherei», intendiere die «Angleichung an die Mannesstellung»,[128] ein ebenso gründliches Mißverständnis wie die Abgrenzungen und Unterstellungen der «gemäßigten» Schwestern um 1908. In der «einseitigen Betonung des Menschentums in der Frau» hätten die Frauenrechtlerinnen, die Radikalen, «die Hände nur nach <Männerrechten> ausgestreckt», anstatt «das Frauentum als das Wesentliche», die «besondere Eigenart der Frau, die spezifischen Kulturwerte, die von der Frau geschaffen wurden», ja auch «ihre Bestimmtheit zur Mutterschaft» angemessen zu berücksichtigen. So das harte Urteil Alice Salomons in einer ausführlichen Rezension über «Literatur zur Frauenfrage».

Sie bestätigte darin die von Helene Lange so präzis gezogenen «Intellektuellen Grenzlinien zwischen Mann und Frau» als «Erfüllung der sexuellen Bestimmung der Frau», deren «Tragik aus dem Leben der Frau nicht wegzuschaffen» sei.[129] Ganz abgesehen davon, daß das, was «weibliche Eigenart», «Weiblichkeit» genannt wurde, doch erst einmal von seinen bisherigen Bedeutungen und Bestimmungen, nämlich «dem Mann zu gefallen» (so J.-J. Rousseau), zu befreien und endlich von Frauen selbstbestimmt zu definieren war, die unbequeme und deshalb so lange verleugnete politische Praxis der Radikalen beweist anderes: Mit der Forderung nach mehr Recht und Gerechtigkeit ging es um die «Grundlage der Gesellschaftsordnung» (s. S. 216) und damit um die Veränderung bisheriger Politik, um eine andere Kultur, um eine bessere Moral und eine «neue Ethik»:

«Und was wir nun wollen, wir in der jungen strebenden Frauengeneration, das ist mehr als die Philister hüben und drüben sich träumen lassen. Nicht nur die Möglichkeit, Zahnarzt und Rechtsanwalt zu werden... alles und viel mehr verlangen wir, eine neue Menschheit...
Nein! Nein! nicht Mann sein wollen, ... was sollte uns das helfen!»[130]