8. Kapitel 1908-1918

Der Krieg als «Schrittmacher» der Emanzipation?

1. «Freie Bahn für die politische Betätigung
der Frau» (Minna Cauer)

Das Reichsvereinsgesetz von 1908

«Das Jahr 1908 ist mit goldenen Lettern in die Geschichte der Stimmrechtsbewegung einzuzeichnen.»[1] Gewiß gilt diese Feststellung Für die Frauenbewegung insgesamt, denn nach mehr als einem halben Jahrhundert politischer Entmündigung, nach Verfolgung, polizeilichen Schikanen sowie Kämpfen und Protestaktionen proletarischer und bürgerlicher Frauenorganisationen wurden nun endlichdie einzelnen bundesstaatlichen Vereinsgesetze aus der Reaktionszeit um 1850 von einem einheitlichen Reichsgesetz abgelöst. Zu guter Letzt, seit 1902, hatte noch eine Verlegenheitslösung des preußis chen Innenministers, nämlich die Vorschrift, Frauen nur innerhalb eines durch eine Absperrung markierten «Segments» bei politischen Versammlungen zuzulassen, für Wirbel gesorgt und die soagierenden Staatsgewalten lächerlich gemacht.[2] Das Reichsvereinsgesetz von 1908 endlich beendete die Ungerechtigkeit und Rechtsunsicherheit. Es erwähnte die Frauen gar nicht mehr, unterstellte
sie also keinem Sondergesetz und behandelte sie nicht mehr wie «Minderjährige oder Lehrlinge». In den Gesetzesmotiven war zu lesen:

«Infolge der  erweiterten, zum teil selbständigen und mit Verantwortung verknüpften Tätigkeit sind Frauen an der Lösung öffentlicher Aufgaben in der Gegenwart in weit höherem Maße beteiligt als früher. Es würde daherweder zeitgemäß sein, noch den Aufforderungen der Billigkeit entsprechen, die gesetzlichen Bestimmungen aufrecht zu erhalten, die den Frauen die Möglichkeit verschließen, ihre Wünsche und Interessen auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens in Vereinen und Versammlungen zur Geltung zu
bringen...»[3]

Für die Frauenbewegung brach nun eine «neue Epoche» an, weil die amtlich bestätigte Politikfähigkeit ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu gleichem Staatsbürgertum der Frauen war, auch wenn sich seit der Möglichkeit, in den Parteien mitzuarbeiten, nach außen sichtbar eine noch schärfere «Scheidung der Geister»* vollzog.»[4]

«Die Bahn ist frei für das politische und öffentliche Leben der Frau! Töricht wäre es, besondere Frauenparteien zu gründen. Die Frauen müssen in das bestehende Parteileben sich einreihen, so allein lernen sie dieses Getriebe kennen und so allein wird der Mann Kenntnis von der so viel betonten Eigenart der Frau gewinnen. Begierig sind wir, wie sich der deutsche Ehemann mit seinem Philistertum der neuen Situation, gegenüber abfinden wird. Frau und Tochter fern halten, dürfte ihm schwere Vorwürfe zuziehen und ihn der Lächerlichkeit preisgeben...»»[5]

Eine recht optimistische Einschätzung! Und warum die so voreilige Ablehnung einer Frauenpartei? Denn, wie Agnes von Zahn-Harnack später anhand einer genauen Analyse der Parteiprogramme von 1908 feststellte,

«Keine der Parteien stellte die Ideale der Frauenbewegung rein dar; jede einzelne blieb grundsätzlich und praktisch weit hinter dem zurück, was die Frauen fordern mußten, keine einzige war bereit, mit der Interessenvertretung der Frau wirklich Ernst zu machen.»[6]

Immerhin bestand doch die Gefahr, daß die Meinungsunterschiede, die vorher zumindest durch die gemeinsame Fessel staatlicher Repression gebunden waren, sich nun als parteipolitische etablieren und zur Zersplitterung der Fraueninteressen führen könnten.
Am besten vorbereitet und nahezu automatisch verlief die Eingliederung der proletarischen Frauenbewegung in die SPD sowie der konfessionellen, das heißt der evangelischen in die Konservativen und der katholischen ins Zentrum.
Bemerkenswert ist, daß zumindest das «Zentrum und die Katholischen Kreise» die Frauenbewegung in dieser Zeit ausgesprochen «vorsichtig», «fördernd und zügelnd, bejahend und beschränkend, aber nie teilnahmslos» behandelten und auch in bezug auf das Frauenstimmrecht nicht so eindeutig ablehnend reagierten.[7] Problematisch und kompliziert gestaltete sich hingegen die Parteinahme der Bürgerlichen für die liberalen Parteien.

Frauenbewegung und Liberalismus

Sowohl die Vertreterinnen der Gemäßigten als auch der Radikalen verstanden sich selbst als bürgerlich in dem emanzipatorisch-aufklärerischen Sinn, den der Liberalismus als politische Bewegung und politische Philosophie einst vertreten hatte:

«Rein theoretisch betrachtet, hätte der Liberalismus eine nahe Verwandtschaft mit den Zielen der Frauenbewegung empfinden müssen. Waren doch beide Bewegungen sich ihres inneren Zusammenhanges mit denIdealen der Aufklärungszeit bewußt und vertraten die Idee der Freiheit und der Verantwortlichkeit des Individuums und das Recht der Persönlichkeit auf Entfaltung der ihr innewohnenden Kräfte. Aber in der Praxis sahen die Dinge ganz anders aus. Die bürgerlichen Kreise, die hinter den liberalen Parteien standen, litten unter dem Zwiespalt ihrer verstandesmäßigen Erkenntnis mit ihrer gefühlsmäßigen Überzeugung. Ihr Verstand ließ es sich nicht verbergen, daß die wirtschaftliche Entwicklung die Frauen mit unwiderstehlicher Gewalt in das Berufsleben und damit in die Öffentlichkeit hineinriß; mit ihrem Gefühl aber versuchten sie das alte patriarchalische Ideal von der Frau festzuhalten, die <ins Haus gehört).»[8]

Seit dem Scheitern der bürgerlichen Revolution in Deutschland 1848, erst recht seit der «Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie» in den 1860er Jahren hatten die liberalen Parteien in einer bewegten Geschichte von Abspaltungen und Wiedervereinigungen einen nicht eindeutigen Kurs geführt, als Deutsche Fortschrittspartei (gegr. 1861), Deutsche Freisinnige Partei (1884) Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung (1893) oder Demokratische Partei (1885) auf der linken Seite und rechts davon als Nationalliberale.[9] Im Konflikt zwischen links und rechts zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Volk und Staat[10] hatte das liberale Bürgertum spätestens seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 seinen Frieden mit dem «sozialkonservativen, autoritären Obrigkeitsstaat»[11] gemacht und insbesondere seit den 1890er Jahren die Flotten- und Weltpolitik, also die imperialistischen Ziele des Deutschen Reiches, mit betrieben.
Aus dem gleichen Grund hatten sich 1907, kurz vor der Verabschiedung des Reichsvereinsgesetzes, die drei liberalen Parteien im sog. Bülow-Block (unter dem Reichskanzler von Bülow) mit den Konservativen zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen, um der Regierung Rückendeckung für ihre Kolonialpolitik in Südwestafrika zu geben. Doch als dieses Bündnis schon 1909 von den Rechten aufgekündigt wurde, schlossen sich die linksliberalen Parteien (das waren zu dieser Zeit die Deutsche Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Freisinnige Volkspartei) 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammen mit dem Ziel, die liberalen Kräfte zu bündeln und zu erneuern.
Bezeichnenderweise fehlte im Einigungsprogramm von 1910 die Anerkennung der politischen Gleichberechtigung der Frauen, und dies, obwohl beinahe der ganze engere Vorstand des «Bundes Deutscher Frauenvereine», angeführt von Helene Lange und Gertrud Bäumer, der neuen Partei angehörte. Der einzige Paragraph im Parteiprogramm von 1910, der sich mit der Frauenfrage beschäftigte, der sog. «Frauenparagraph», enthielt lediglich eine Aufzählung folgender Unverbindlichkeiten:

«Erweiterung der Rechte der Frauen und ihres Erwerbsgebietes, Erleichterung der Frauenbildung und Reformen im staatlichen Berechtigungswesen. Aktives und passives Wahlrecht der Frauen für die Kaufmanns- und Gewerbegerichte, Gleichberechtigung in den Einrichtungen der Reichsversicherungsgesetzgebung. Verstärkte Mitwirkung der Frauen auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge und des Bildungswesen. Heranziehung der Frauen zur Kommunalverwaltung.»[12]

Helene Lange war sofort nach Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes der Freisinnigen Vereinigung beigetreten und im Ortsverein Berlin in den Vorstand gewählt worden. Gertrud Bäumer zog 1909 in gleicher Funktion nach.[13] Als weitere Mitglieder der 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei fusionierten Gesamtpartei werden genannt: Anna Pappritz, Alice Salomon, Alice Bensheimer (Schriftführerin des BDF), Helene v. Forster, Ottilie Hoffmann - allesamt Mitglieder im Vorstand des BDF.[14]
Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann schlossen sich gleich 1908 der Freisinnigen Vereinigung an, da deren Programm sich mit ihren Forderungen nach «revolutionärer Demokratie» und «individueller Freiheit zu decken schien. Doch enttäuscht schieden sie schon vor der Fusion wieder aus:

«Parteiinteressen, Parteivorteile, nicht humane Ziele waren ausschlaggebend. Viele Frauen bestätigten zwar, daß das in anderen Parteien noch schlimmer sei, besonders was Disziplin, Initiative, Knebelung individueller Freiheit betraf. Schon damals war uns klar, daß diese hergebrachten Methoden der Parteipolitik sich im Verlauf der Zeit katastrophal auswirken müßten und nicht fähig wären, innere wie äußere Politik zu menschenwürdigem Aufbau und großzügiger Weltwirtschaft zu erheben.»[15]

Minna Cauer, die sich selbst als «Sozialistin» bezeichnete und mehrmals in Erwägung zog, der SPD beizutreten,[16] ordnete sich einer kleinen Gruppe entschiedener Linksliberaler um Theodor Barth, Hellmut von Gerlach und Rudolf Breit scheid zu, die sich 1908 in Opposition zur Bülow-Block-Politik von der Freisinnigen Vereinigung abspaltete und die Demokratische Vereinigung gründete. Diese Gruppierung war in dieser Zeit außer der SPD die einzige Partei, die für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen und inihrem Programm ausdrücklich für die «vollste, staatsbürgerliche Rechtsgleichheit ohne Unterschied von Konfession und Geschlecht» eintrat.[17] Aus ihr rekrutierte sich auch bei Kriegsausbruch die Minderheit entschiedener Pazifisten.
Cauer verteidigte wiederholt mit großem Engagement den politischen Kurs dieser Demokratischen Vereinigung [18] und geißelte in ihren Leitartikeln immer wieder die Lauheit, «den ewig schwankenden, wankenden, hin- und herpendelnden, von des Gedankens Blässe angekränkelten Liberalismus», gerade auch in der Frauenfrage.[19]
Den beschämenden «Frauenparagraphen» im Gründungsprogramm der Fortschrittlichen Volkspartei aber nahm sie zum Anlaß einer gründlichen Abrechnung:

«Der entschiedene Liberalismus, der Liberalismus, der die demokratischen Ideen eines politisch reif gewordenen Volkes zu vertreten hat, ist tot, diesem Programm zufolge... Ach, meine Herren, von der zukünftigen <Deutschen Freisinnigen Volkspartei<… alles, was Sie zur <Lösung der Frauenfrage (?) beisteuern wollen, ist längst, längst von uns in Angriff genommen, ist teilweise schon erfüllt. Bitte, meine Herren, wie steht es um das kommunale Wahlrecht der Frauen, wie um das politische Wahlrecht?... Zum Volke gehören auch die Frauen! Das wird dem Liberalismus, wie es schien, unendlich schwer zu begreifen.»[20]

Aber auch die Kritik der weiblichen Neulinge in der Fortschrittlichen Volkspartei war deutlich, insbesondere Helene Langes Kommentar zum liberalen Einigungsprogramm war ungewöhnlich bissig und sarkastisch:

«Nun stehen wir vor der Gründung einer großen neuen liberalen Partei, ein Ereignis, von dem eine Wiedergeburt des Liberalismus erwartet werden muß... Was stellt das Programm, mit dem der Liberalismus in diese neue Phase eintritt, den Frauen in Aussicht? Nichts - oder doch so gut wie nichts.
Ein paar magere Sätze am Schluß einer langen Reihe gewichtiger und vollklingender Forderungen. Hinterher kommt nur noch der Weltfriede. Aber der Frauenparagraph bedurfte der abschwächenden Nähe des utopischen Ausblicks auf ferne, ganz ferne Zukunft gar nicht mehr. Er ist schon an sich blaß, unbestimmt und redensartlich genug. Man hat die ewige Lauheit satt, mit der der Freisinn... nur auf energisches Drängen der Frauen sich für sie einsetzt, um sie bei erster Gelegenheit wieder im Stich zu lassen.»[21]

Auch Gertrud Bäumer, die sich in der Zeitschrift «Die Frau» wiederholt mit der Stellung und der Bedeutung der Frauen für die Zukunft des Liberalismus auseinandersetzte, kritisierte den Frauenparagraphen als «Beirrung», doch sie zog eine andere Konsequenz. Ihr ging es darum, die «Idee des Liberalismus», die «leider (vom) Reich der irdischen Unzulänglichkeiten» zu unterscheiden wäre, «wieder lebendig zu machen».[22]
Nur wenige Monate später legte sie schon ein umfassendes, in allen Einzelheiten durchdachtes Programm für die Mitarbeit der Frauen in der Partei vor.[23]
Der einzige Etappensieg, den die Frauen daraufhin bei den Liberalen, aber offenbar nicht als Programmänderung, erringen konnten, war eine dem Parteitag 1912 vorgelegte Resolution, in der es jetzt u.a. hieß:

«Der Parteitag fordert... die Parteigenossen auf, die Frauen im Kampf um ihre politischen Rechte bis zur vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung zu unterstützen.»[24]

Der Grundsatz politischer Neutralität

Es muß verwundern, daß gerade die Frauen der konservativen und gemäßigten Richtung, die in Abgrenzung zu der proletarischen, sozialdemokratischen Frauenbewegung immer den Grundsatz der Neutralität der Frauenbewegung, und sie meinten damit die parteipolitische Unabhängigkeit, betont hatten (vgl. Kap. 6, S. 170ff.), so ohne weiteres die Arbeit in den männlichen Parteien aufnahmen, während die Radikalen, die in ihrem Selbstverständnis ausdrücklich Politischen, in die Opposition oder gar ins parteipolitische Abseits gerieten.
Helene Lange zog sich pragmatisch aus der Affäre, indem sie zwischen der Frauenbewegung als solcher und ihren «Führerinnen» als «einzelnen» unterschied:

«Die Frauenbewegung muß politisch neutral sein; Vereine und Verbände, die sich zur spezifischen Förderung von Fraueninteressen zusammengeschlossen haben, dürfen sich als solche nicht politisch festlegen, damit sie nach wie vor Frauen aller Richtungen zusammenfassen können.»

Und es war kein Widerspruch für sie, den «einzelnen» dennoch ihr parteipolitisches Engagement nicht zu verwehren:

«Solange man anerkennt, daß es im politischen Leben noch andere erstrebenswerte Ziele und wichtige Aufgaben gibt als die der Frauenbewegung, und wenn man nicht etwa die naive Überzeugung hat, von dem Punkte der Frauenbewegung aus alles Weh und Ach der Welt kurieren zu können, kann man seine Zugehörigkeit zu einer Partei nicht von ihrer Stellung zu den Frauenforderungen abhängig machen... Man ist eben nicht nur Frauenrechtlerin, sondern auch Bürgerin; warum soll man die Bürgerin nach wie vor zur Tatenlosigkeit verdammen?»[25]

Dieser Unterscheidung zwischen der «Nur-Frauenrechtlerin» und der «Bürgerin», im Sinne von «Staatsbürgerin», aber mußte M. Cauer heftig widersprechen:

«Die echte Bürgerin und die echte Frauenrechtlerin kommen... nicht miteinander in Konflikt, wohl aber die mit Scheuklappen versehene Nur-Frauenrechtlerin, die nicht gewohnt ist, den Blick auf das Ganze zu richten.Wenn behauptet wird, daß die Frauenbewegung an sich nicht politisch ist und nicht politisch sein darf, so liegt hier ein großer Irrtum vor. Sie ist es nämlich schon längst und wird es immer mehr werden. Von dem Moment an, wo die Frauenbewegung sich um Aenderung der Gesetze kümmerte, betrat sie die politische Arena.»[26]

In der politischen Praxis der Gemäßigten jedoch war es mit der programmatischen Neutralität niemals weit her gewesen, vielmehr hatten sich die Führerinnen auch schon vorher nicht gescheut, im Namen der Frauenbewegung zu politisch heiklen Fragen Stellung zu nehmen, ja die Frauenbewegung ausdrücklich für eine nationalistische und militaristische Politik zu mobilisieren:

«Den Frieden sichert heute noch nur die starke Hand... Darum wollen wir uns den Männern anschließen, die überall in Wort und That für die Errichtung einer starken deutschen Flotte eintreten.»[27]

Ebenso verstand es G. Bäumer, die Verteidigung liberaler Frauenpolitik, die Kultur des Individualismus und «persönlicher Eigenart» mit dem Votum für nationale Weltmachtpolitik zu verbinden:

«Den Weltmachtfragen gegenüber bedeutet dies doch wohl die Forderung, daß für deutsche Menschen unbedingt im Rahmen deutscher Kultur, auf dem Boden deutschen Staatswesens eine Existenz gesichert oder, wenn es notwendig ist, neu geschaffen werden muß. Daß, im friedlichen Wettbewerb deutscher Arbeit und deutscher Intelligenz die Bedeutung und die Ausbreitungsmöglichkeit geschaffen wird, die sie ihrem Wert, ihrer Qualität nach beanspruchen darf Es bedeutet die volle Anerkennung der großen Notwendigkeit nationaler Selbsterhaltung auch mit der Waffe.»[28]

Noch einmal: das Frauenstimmrecht

Da Preußen, wie andere Einzelstaaten auch, noch bis 1918 ein Klassenwahlrecht hatte — im Gegensatz zu dem Wahlrecht im Reich —, wurde die Wahlrechtsfrage in Preußen für alle Gegner des monarchischen Systems vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Prüfstein demokratischer Gesinnung und Politik. Entsprechend gerieten die
Auseinandersetzungen über das Frauenstimmrecht in den Strudel der Parteipolitik und sind ein Spiegel der politischen Differenzen unter den Frauen.
Nach der glanzvollen Gründungskonferenz des «Weltbundes für Frauenstimmrecht» 1904 in Berlin, erst recht nach dem Inkrafttreten des Vereinsgesetzes, bekamen die Frauenstimmrechtsvereine in Deutschland neuen Auftrieb und verzeichneten einen Zuwachs von Mitgliedern.[29] Zur Aktivierung weiterer Mitglieder wurden nach der Generalversammlung in Frankfurt 1907 Landesvereine mit straffen Organisations-Statuten gebildet. Der «Preußische Landesverein» unter der Leitung von Minna Cauer spielte dabei als Verein mit der größten Mitgliederzahl eine besondere Rolle. Aber auch der «Bayerische Verein für Frauenstimmrecht», angeführt von A. Augspurg und L.G. Heymann, zeichnete sich durch phantasievolle Aktionsformen aus, die an die Taktik der englischen Suffragetten anknüpften.

«Er veranstaltete die erste Demonstrationsfahrt für Frauenstimmrecht in Deutschland und zwar in München in blumengeschmückten Wagen mit Propagandaplakaten. Er ließ bei allgemeinen Wahlen Plakatträgerinnen mit Aufschriften für Frauenstimmrecht durch die Straßen ziehen. An Wahltagen veranlaßte er die Frauen in den Wahllokalen zu erscheinen und ihre Zulassung zur Urne zu verlangen, beziehungsweise auf die Aufnahme eines Protestes gegen ihren Ausschluß im Wahlprotokoll zu bestehen, ein Vorgehen, das auch in außerbayerischen Ortsgruppen Nachahmung fand.»[30]

Der von den englischen Suffragetten zum erstenmal geprobte «zivile Ungehorsam», eine Form bewußt gewaltfreien Protestes, auf den die Staatsmacht mit Gewalt und Repression antwortete, hatte auch auf dem Kontinent für unerhörtes Aufsehen gesorgt. Für den Vorstand des «Bundes Deutscher Frauenvereine» jedoch war dies Anlaß genug, sich öffentlich von der «Kampfesweise der Suffragetten» zu distanzieren:

«Nach unserer Überzeugung bedeutet die Anwendung revolutionärer Gewalt unter allen Umständen und für jede Frau einen Bruch mit ihrer Natur, eine Preisgabe ihrer Wesensart.»[31]

Schon diese offizielle Stellungnahme, die eine umfängliche Kontroverse auslöste, läßt erahnen, wie prekär der gemeinsame Kampf um das Frauenstimmrecht war. Zwar hatten sich in der für die Stellung der Frauen im Staat zentralen Frage seit 1902 alle Richtungen der Frauenbewegung engagiert (vgl. Kap. 7)… Doch über dieFrage, welches Stimmrecht damit nun gemeint sei — das «allgemeine, freie, geheime und  direkte Wahlrecht» oder die bestehenden «Männerwahlrechte», also auch die Übernahme des Klassenwahlrechts für Frauen -, kam es vor dem Weltkrieg zu keiner Einigung mehr. Vielmehr entstand aus der Stimmrechtsbewegung ein kompliziertes Vereinswesen mit vielen Kontroversen, Abspaltungen und überraschenden Koalitionen.
Die für die Radikalen von Anbeginn selbstverständliche Forderung nach einem «allgemeinen und gleichen», d. h. demokratischen Wahlrecht war erst 1907 auf der Generalversammlung des «Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht» in der Verteidigung nach rechts und links ausdrücklich in die Satzung unter §5 aufgenommen worden.

 

Da sich aber bis zu dieser Zeit nur die SPD eindeutig zu dem demokratischen Wahlrecht auch für Frauen bekannt hatte, wurde dies als parteipolitische Orientierung interpretiert. Es organisierte sich deshalb innerhalb des Stimmrechtsverbandes eine Opposition, der die Forderung nach einem Wahlrecht «unter den gleichen Bedingungen, wie Männer es haben und haben werden» genügte.[32] Diese Opposition schloß sich 1911 zur «Deutschen Vereinigung für Frauenstimmrecht» zusammen, an ihre Spitze trat Li Fischer-Eckert aus Hamburg.
Aber auch unter den im Verband Zurückbleibenden fand man keine Einigkeit mehr, auch nicht über den Kompromißvorschlag, der sich auf einen «nur frauenrechtlerischen» Standpunkt zurückzog und nur noch von Frauen sprach: «Volle Staatsbürgerrechte für alle Frauen!»[33] Erst die Eisenacher Generalversammlung des Verbandes im Jahre 1913 klärte die Fronten. Die Radikalen, die «Anhänger desoffenen Bekenntnisses zum allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Frauen und Männer»,[34] gründeten jetzt den «Deutschen Bund für Frauenstimmrecht». Zu ihm gehörten Augspurg und Heymann und in der Sache auch Cauer.
Somit gab es bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges insgesamt drei Stimmrechtsorganisationen: den «Deutschen Verband für Frauenstimmrecht» unter der Führung von Marie Stri tt und Anna Lindemann, die «Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht» (Li Fischer-Eckert) und den «Deutschen Bund für Frauenstimmrecht»(A. Augs purg und L. G. Heymann). Erst im Dezember 1917, vom Krieg gebeutelt und mit anerkannten Verdiensten um «Volk und Vaterland», einigten sich die Frauen aller Richtungen auf einen gemeinsamen Vorstoß, eine «Erklärung zur Wahlrechtsfrage», die von Marie Juchacz für die sozialdemokratischen Frauen, von MarieStritt für den «Deutschen Verband für Frauenstimmrecht» und von Minna Cauer für den «Deutschen Bund für Frauenstimmrecht» unterschrieben wurde (vgl. dazu Seite S. 322).

2. «Heldinnen des Leids» (Gertrud Bäumer)
Frauen an der Heimatfront

«Als am 1. August 1914 in Extrablättern und Maueranschlägen verkündet wurde, daß der Kaiser die Mobilmachung der gesamten deutschen Streitkräfte zu Wasser und zu Lande befohlen habe, da stand uns allen einen Augenblick das Herz still. Es war das eingetreten, woran im letzten Grunde der Seele doch nur sehr wenige von uns geglaubt hatten. Aber zu irgendwelchen Reflexionen war keine Zeit. Die Maschine Mobilmachung setzte ihre unzähligen Räder in Bewegung und griff mit ihnen in beinahe alle Häuser und Familien ein. Jeder hatte noch ein Letztes anzuordnen, einzukaufen oder abzuschließen; bald begannen die Züge nach Ost und West zu rollen, und wenige Tage später saßen in Stadt und Land, in Vorderhäusern und Hinterhäusern, in Luxuswohnungen und armen Hütten viele Hunderttausende von Frauen allein. Plötzlich war ihr Leben leer und schwer zugleich geworden; das große Problem <der Krieg und die Frauen» war auf ihre Schultern gelegt worden und brannte auf ihren Seelen; wie sollten sie es lösen?»[35]

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 kam nicht unvorbereitet. Der Auslöser, die Ermordung des österreichisch- ungarischen Thronfolgerpaares am 28. Juni 1914 in Sarajewo, war lediglich der Funke, der die schon lange gelegte Lunte in Brand setzte. Die Großmächte England, Frankreich und Rußland, die sog. Entente, auf der einen Seile und das kaiserliche Deutschland im Bündnis mit Österreich-Ungarn auf der anderen standen sich waffenstarrend und unfähig, den Konflikt politisch oder zumindest diplomatisch zu lösen, gegenüber. Besonders Deutschland, zu einer der größten Industrienationen aufgerückt, hielt den Krieg für unvermeidbar, um seine nationalen und imperialen Interessen zu befriedigen. Und auch die Mehrheit der linken und liberalen Kräfte war sich angesichts der russischen Mobilmachung einig in dem Glauben, das Vaterland gegen das zaristische Rußland verteidigen zu müssen.
Die Sozialdemokratie schloß einen «Burgfriede n» mit dem Kaiserreich und stimmte am 4.August der Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag zu. Am 2. August 1914 hatten bereits die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände die Einstellung allerArbeitskämpfe für die Kriegsdauer vereinbart.
Immer wieder ist der Kriegstaumel der ersten Wochen beschrieben und als «Schicksalsmacht», «zweier Zeiten Schlachtgebiet»[36] erlebt worden. In Gertrud Bäumers Kommentaren, so schwer erträglich sie auch heute wirken, kommt dennoch ohne Zweifel ein Zeitgefühl zum Ausdruck. Sie sprach von einer «Sehnsucht nach Volkseinheit», «Volksgemeinschaft» — trotz der sich in Wirklichkeit verschärfenden Klassengegensätze — und scheute sich nicht, immer wieder und als kontinuierliche Aufgabe[37] die grausame Realität des organisierten Massenmordes als «heiligen Schauer» zu verherrlichen.

«Ja, wir Frauen sind in diesen Augustwochen wie in eine neue Welt getreten. Wir sind nicht nur Zeugen des gewaltigsten Stücks Geschichte gewesen, das die Menschheit noch erlebte, wir haben auch in unserer eigenen Seele Neuland gefunden. Alle diese großen Tatsachen: das Einswerden dies rauschende Zusammenfließen unserer Volkskraft in einem ehernen Willen, die heroische Stimmung unserer Truppen, die tausend kleinen Züge, in denen die große Gesinnung unseres Volkes sich zeigt: auf das alles antwortete unsere Seele - und antwortet sie noch jeden Tag - mit heiligen Schauern, die wir so groß, so bis in die Tiefe aufwühlend nicht kannten.
Keine Liebe, so sehr sie uns beseligte oder schmerzte, keine Kunst, so sehr sie uns erhob und hinriß, keine Arbeit und kein Glück haben uns diese Erhebung kennen lehren. In uns sprach, fühlte, wollte Deutschland, unsere persönliche Seele ging auf in der Seele unseres Volkes.»[38]


Gertrud Böumer (geb. am 12.9.1873 in Hohenlimburg, gest. am 25.3.1954 in Bethel bei Bielefeld).
... Der Vater Gertrud Bäumers war Pfarrer, er verstarb früh, so daß die Mutter ihre drei Kinder mit einer kärglichen Rente durchbringen mußte. In Halle an der Saale besuchte G. Bäumer die höhere Töchterschule und danach ein Lehrerinnenseminar. Nach ersten Volksschullehrerinnenstellen in Halberstadt. Kamen und Magdeburg lernte sie hier, 1896, über den Allgemeinen deutschen Lehrerinnenverein» Helene Lange kennen. Um die Berechtigung zur Immatrikulation an der Berliner Universität zu erlangen, siedelte sie 1898 nach Berlin über und besuchte zunächst das Viktoria-Lyceum. Sie bot in dieser Zeit der vorübergehend augenleidenden Helene Lange ihre Hilfe an - der Beginn einer mehr als drei Jahrzehnte währenden Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Ein erstes gemeinsames Werk war die Herausgabe des fünfbändigen «Handbuches der Frauenbewegung», eines bis heute nicht überholten Standardwerkes. H.Lange sah in Bäumer schon bald eine geeignete Nachfolgerin für ihr Lebenswerk im Dienste der Frauenbewegung und förderte sie, wo immer sie konnte.
1904 promovierte Bäumer an der Berliner Universität zum Dr. phil.
Wichtige Stationen im Dienste der Frauenbewegung waren:
1907—1910 die Redaktion der Zeitschrift «Neue Bahnen» vom «Allgemeinen Deutschen Frauenverein»;
1910—1919 war sie Vorsitzende des «Bundes Deutscher Frauenvereine »;
1912—1944 Mitredakteurin der Zeitschrift «Die Hilfe», die von Friedrich Naumann herausgegeben wurde, dem sie persönlich und politisch sehr verbunden war;
1916—1944 gab sie, zunächst zusammen mit H. Lange, dann allein die wichtigste Zeitschrift der gemäßigt-bürgerlichen Frauenbewegung, «Die Frau», heraus.
Nach ihrer Parteimitgliedschaft in der Deutschen Fortschrittspartei, wurde sie 1919 Reichstagsabgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei, ab 1930 umbenannt in Deutsche Staatspartei, und blieb es in der Führungsspitze ihrer Partei bis 1932.
1920 war sie als erste deutsche Ministerialrätin in die kulturpolitische Abteilung des Reichsministeriums des Innern berufen worden.I hr Aufgabengebiet waren das Schulreferat und die Jugendwohlfahrt. Obwohl Bäumer während des Ersten Weltkrieges und danach zunächst jegliche internationalen Kontakte der organisierten Frauenbewegung abgelehnt hatte, wurde sie doch 1926 beim Beitritt Deutschlands zum Völkerbund als weibliche Delegierte in die Kommission für soziale und humanitäre Fragen entsandt.
1933 mit Volksschullehrerpension ihrer Ämter enthoben, zog sie sich nach Schlesien zurück, aber gab von hier aus, trotz Gleichschaltung, bis 1944 weiter die Zeitschrift «Die Frau» heraus. Dieses Sicharrangieren und Durchhalten hat ihr nach dem Krieg schwere Vorwürfe eingetragen. Neben einer langen Reihe von politischen Veröffentlichungen verfaßte sie nach 1933 vorwiegend historische Romane. Die 1946 erschienene Schrift «Der neue Weg der deutschen Frau» ist ein erschütterndes Beispiel für die «Unfähigkeit zu trauern».
1948 zog Bäumer nach Bad Godesberg, gehörte 1949 zu den Mitbegründerinnen der CSU. Nachdem ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit von da an erheblich nachgelassen hatte, wurden ihre Auftritte von beteiligten Frauenpolitikerinnen zunehmend als Belastung empfunden. Sie starb 1954 in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel.


Der «Nationale Frauendienst»

Gertrud Bäumer war es, die 1914 als Vorsitzende des «Bundes Deutscher Frauenvereine» schon vor Kriegsausbruch, «als die Kriegswolken sich immer schwerer und drohender über unserem Vaterlande zusammenballten... sofort die Initiative ergriff, um eine große, ganz Deutschland umfassende Organisation ins Leben zu rufen, damit der BDF gerüstet sei, wenn die Schicksalsstunde schlägt».[39] Die Organisation war der sog. «Nationale Frauendienst».
Und es zeigte sich, daß die Frauenbewegung gut «gerüstet» war für den Kriegsdienst an der «Heimatfront».
Innerhalb weniger Tage entstanden überall im Land, in jeder Stadt, «Ortsgruppen» des «Nationalen Frauendienstes» (NFD), die das vom «Bund» aufgestellte Arbeitsprogramm mit Eifer und Akribie ausführten - wie wenn sie lange auf diese Chance, sich zu bewähren, gewartet hätten. «Die mächtige Spannung des Wartens löste sich auf in den Anforderungen der Stunde», schrieb Helene Lange in der ersten Kriegsnummer ihrer Zeitschrift «Die Frau» unter der Überschrift «Die große Zeit und die Frauen».

«Was auch der einzelne fehlen mag, das deutsche Volk sollte sich die hohe Freude an dem einmütigen Zusammenwirken von Männern und Frauen zur Größe unseres Vaterlandes nicht nehmen lassen. Die hohe Freude daran, daß alle Sonderinteressen schweigen, nun es gilt, die Nation durch die schwere Krisis hindurchzubringen, die ihr der Neid und die Feindschaft anderer Völker bereitet haben.»[40]

Ähnlich wie in Berlin entstanden in allen größeren Städten des Reiches lokale Organisationen des «Nationalen Frauendienstes» in perfekter Zusammenarbeit mit den kommunalen Ämtern und städtischen Verwaltungen, mit dem «Roten Kreuz» und den ihm angeschlossenen «Vaterländischen Frauenvereinen» und mit den dem BDF nicht angeschlossenen konfessionellen Verbänden, z.B. dem «Deutschkatholischen Frauenbund» und der «Evangelischen Frauenhilfe». Auch die Vertreterinnen der sozialdemokratischen Frauenvereine beteiligten sich und arbeiteten vor Ort mit dem NFD Hand in Hand. Denn auch für die Mehrheit der Sozialdemokratinnen galt der «Burgfrieden» und das vielzitierte Kaiserwort vom 4.August 1914: «Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche.» [41]
Praktisch die gesamte Wohlfahrtspflege und das Fürsorgewesen lagen nun plötzlich in der Hand von Frauen. Der neue Wirkungskreis reichte von der Erziehung zur Sparsamkeit mit Hilfe eines «Fortlaufenden Kriegskochbuches des Nationalen Frauendienstes[42] über die Mitwirkung bei der Rationierung der Lebensmittel bis zur Wohnungs-, Kranken- und Kinderfürsorge, von der Einrichtung von Arbeitsstätten oder der Organisation von Heimarbeit bis zur Wöchnerinnen- und Schwangerenhilfe.

«Es ging um Strickstuben und Brotpreise, um Mietbeihilfen und die Petroleumfrage, um Kochkisten und Rezepte. Von Monat zu Monat stiegen alle Zahlen und Quanten, vermehrten sich die Arbeitsgebiete. Heute mußte eine Hilfseinrichtung für Angehörige der freien Berufe, morgen eine Beratungsstelle für Handwerkerfrauen bei den zuständigen Stellen angeregt oder mit ihnen zusammen geschaffen werden. Jeden Tag gingen Tausende von sorgenbeladenen, verängstigten oder verbitterten Frauen durch unsereKommissionen — bis zu 27 000 in einer Woche.»[43]

Die Frauen schickten sich an, «den Kriegsdienst in der Küche» zu leisten, und er wurde nachgerade «generalstabmäßig» organisiert. Immerhin waren 1915 neun Millionen Männer als Soldaten eingezogen, davon waren mehr als die Hälfte verheiratet, und das bedeutete, daß die Familien ohne das Einkommen des «Ernährers» auskommen mußten.[44] Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurde der Kampf an der «Heimatfront» zur Überlebensfrage hochstilisiert, die über Sieg oder Niederlage entscheide.
Und absurd mag erscheinen, daß vieles, was vor dem Krieg als soziale Maßnahme unerreichbar schien, wofür die Frauenbewegung immer wieder petitioniert hatte, «unter dem Donner des Weltkrieges... überraschend schnell» möglich wurde,[45] z.B. eine Wöchnerinnenbeihilfe sowie eine Kriegsunterstützung für die Angehörigen der eingezogenen Soldaten, die sich deutlich von der diskriminierenden Armenunterstützung unterschied — sogar auch für die unehelichen Kinder. Damit wurde — neben der Zahlung von Arbeitslosenunterstützungen in manchen Städten — ein erstes, wenn auch rissiges Netz sozialer Sicherungen geschaffen.

Sozialarbeit als Beruf

In der Geschichte der Sozialpolitik unterschlagen wird in der Regel die Vorarbeit, die die Frauenbewegung auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung und Berufsberatung geleistet hat. So war u.a. das 1911 vom BDF geschaffene «Frauenberufsamt» unter der Leitung von Josephine Levy-Rathenau das Modell für die 1914 errichtete «Reichszentrale für Arbeitsnachweise».[46]
Tatsächlich wäre «ohne die Vorarbeit (die Schule) der Frauenbewegung» dieser Kriegseinsatz der Frauen kaum durchführbar gewesen.
Denn was er vor allem erforderte, war ein großer Stab von geschulten Frauen. Nun kam all das zum Zuge, was die Frauen in den Organisationen der Frauenbewegung unter dem Stichwort «soziale Hilfstätigkeit» inzwischen gelernt hatten und dabei waren, als Sozialarbeiterin zu ihrem Beruf zu machen. «Pionierin auf dem Gebiet der sozialen Berufsausbildung»,[47] die den Kampf gegen den Dilettantismus der Wohltätigkeit aufnahm und zugleich in der Frauenbewegung eine bedeutende und besondere Rolle gespielt hat, war Alice Salomon.


Alice Salomon (geb. am 19. April 1872 in Berlin, gest. am 30. August 1948 in New York)
... stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die der «Tochter aus gutem Hause» selbst die Vorbereitung auf den Lehrerinnenberuf untersagte. Wie bei vielen anderen Frauen ihrer Generation lagen ihre Kräfte brach, und die Möglichkeit, 1893 als 21jährige Mitglied der «Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit» zu werden, ist ihr wie eine Befreiung vorgekommen. Die von Jeannette Schwerin geleiteten «Gruppen» waren «mehr eine Bewegung als ein Verein»[48] und wurden A.Salomons Wirkungsfeld, von dem aus sie die Professionalisierung der Sozialarbeit als ihr Lebenswerk betrieb. Zunächst Jeannette Schwerins «rechte Hand», übernahm A. Salomon bei deren Tod 1899 die Leitung der «Gruppen». Schon im gleichen Jahr organisierte sie die ersten Jahreskurse für Wohlfahrtspflege unter Mitwirkung so prominenter Persönlichkeiten wie Max Weber und dem Stadtrat Emil Muensterberg, dem damals führenden Vertreter einer staatlich organisierten Wohlfahrtspflege. Aus der regen Nachfrage von bildungshungrigen und sozial engagierten Frauen, aber auch aus dem Bedarf an geschulten Kräften für alle Bereiche kommunaler und fürsorgerischer Tätigkeit entwickelte sie ein pädagogisches Konzept, das vorbildlich für die bezahlte Sozialarbeit in der Welt wurde.
A. Salomon muß eine persönlich beeindruckende Lehrerin gewesen sein, die dem Leben der vielen unausgefüllten höheren Töchter einen sozialen Sinn gab, eine Identifikationsfigur für eine Generation von Frauen, die durch die Schule der Frauenbewegung gegangen waren, «liberal in bezug auf die Rechte des Individuums, fortschrittlich im Sinne der sozialen Gerechtigkeit und konservativ in sittlichen Fragen».[49]
Von 1902 bis 1906 absolvierte Salomon aufgrund persönlicher Genehmigung einflußreicher Professoren das Studium der Nationalökonomie und beendete es mit dem Dr. phil. zu einem überaus interessanten Thema: «Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit».
Auch in der Frauenbewegung hatte inzwischen für sie eine steile Karriere begonnen. Bereits 1900 wurde sie als weitaus jüngstes Mitglied in den Vorstand des BDF und in die Kommission für Arbeiterinnenschutz gewählt. Sie wurde zunächst Schriftführerin, später, bis 1920, stellvertretende Vorsitzende des Bundes. Von 1909 an war sie außerdem ehrenamtliche Schriftführerin des «Internationalen Frauenbundes» (ICW) und führte in dieser Eigenschaft in enger Zusammenarbeit mit der Präsidentin des ICW, Lady Aberdeen, einen umfangreichen Schriftwechsel in unterschiedlichen Sprachen und bewegte sich auf dem internationalen Parkett der Frauenbewegung.
Gleichzeitig gründete und leitete sie 1908 in Berlin die «Soziale Frauenschule», der insbesondere während des Weltkrieges viele entsprechende Gründungen folgten. Die zur Vereinheitlichung einberufene Konferenz «Sozialer Frauenschulen Deutschlands» führte unter dem Vorsitz von Alice Salomon 1918, noch vor Kriegsende, zur staatlichen Anerkennung als sozialpädagogische Fachschulen, genannt Wohlfahrtsschulen.
Der Kriegsbeginn 1914, der sie im Hause Lady Aberdeens in Schottland überraschte, stürzte sie in schwere innere Konflikte wegen ihrer internationalen Orientierung. Dennoch gab sie dem Druck der BDF-Spitze zunächst nach, jegliche pazifistischen Bestrebungen scharf zu verurteilen.
Nach dem Krieg aber nahm sie als eine der ersten ihre Auslandskontakte wieder auf und geriet damit in Widerspruch zur BDF-Führung. Hinzu kam, daß der BDF entgegen früheren Zusicherungen nicht mehr bereit war, «eine Frau mit einem jüdischen Namen zur Präsidentin zu wählen».[50] Alice Salomon fühlte sich durch diese antisemitische Haltung so getroffen, daß sie von allen Ämtern im BDF zurücktrat. Auf dem Gebiet der Sozialarbeit und der internationalen Frauenbewegung aber sammelte sie weitere Erfolge: In der «Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit» in Berlin verwirklichte sie 1925 den Gedanken einer «Hochschule für Frauen», einer wissenschaftlichen Einrichtung zur Weiterqualifizierung für verschiedene weibliche Berufe, vor allem den sozialen Beruf, und zur Durchführung von Frauenstudien.[51] Es folgten viele Ehrungen, z.B. 1932 die Verleihung des Ehrendoktors der Medizin der Berliner Universität, die Umbenennung der «Sozialen Frauenschule» in die «Alice-Salomon-Schule».
Doch 1933 bedeutete für sie den Verlust aller öffentlichen Ämter, Verfolgung und Vereinsamung. Nach einem Verhör durch die Gestapo 1937 wurde sie aus Deutschland ausgewiesen. Sie starb in der Emigration in New York, nachdem sie doch 1945 noch zur Ehrenpräsidentin des «Internationalen Frauenbundes» (ICW) und der «Internationalen Vereinigung der Schulen für Sozialarbeit» ernannt worden war. Ihre letzte Enttäuschung war, daß sie, deren Publikationsliste, abgesehen von den Editionen, 245 eigene Schriften enthält, keinen Verleger für ihre in der Emigration geschriebenen Memoiren fand.[52]


Frauen im Kriegsamt

Zu einem staatlich organisierten Einsatz von Frauen in der Kriegswirtschaft kam es erst nach 1916, mit dem sog. Hindenburgprogramm und dem «Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst» vom 5. Dezember 1916. Dieses Gesetz markiert das Ende des sich angeblich «frei» regulierenden Arbeitsmarktes und den Beginn einer totalen Kriegswirtschaft. Die schlechte Versorgungslage infolge des verschärften U-Boot-Krieges und der Hungerblockade
nach dem sog. Steckrübenwinter sowie die militärischen Niederlagen hatten Staatsmacht und Heeresleitung zum Handeln gezwungen. Um nach den Menschenverlusten den Bedarf an Arbeitskräften «sicherzustellen», wurde zwar für Frauen kein Arbeitszwang eingeführt, statt dessen aber im Kriegsamt, der Spitze der Militärregierung, eine besondere Abteilung für Frauen «zur Beschaffung, Verteilung und Festhaltung der erforderlichen Arbeiterinnen» geschaffen. In die Leitung dieser «Frauenarbeitszentrale» wurde Marie-Elisabeth Lüders berufen, zu ihrer Stellvertreterin Agnes von Zahn-Harnack benannt, beide Doctores der Philosophie.


Marie-Elisabeth Lüders (geb. am 25.6.1878 in Berlin, gest. am 23.3.1966 ebenda)
…hatte sich von 1901 bis 1906 in der von A. Salomon organisierten «freiwilligen sozialen Hilfstätigkeit» bewährt, 1910 ihr humanistisches Abitur abgelegt und — seit 1909 als eine der ersten Frauen regulär immatrikuliert — bereits 1912 den Doktor der Staatswissenschaften gemacht. Von 1912 bis 1914 war sie die erste staatlich
angestellte Wohnungspflegerin in Berlin-Charlottenburg und von 1914 bis 1916, bis zu ihrer Berufung in die Leitung der Frauenarbeitszentrale, Leiterin der Charlottenburger Kriegsfürsorgestelle bzw. schon im Kriegseinsatz, in der Sozialfürsorge im «General-Gouvernement Belgien» tätig.
So bezeichnete M.-E. Lüders das von deutschen Truppen besetzte Belgien 1963 in ihrer Autobiographie «Fürchte Dich nicht». Und so anschaulich und informativ ihre Ausführungen über «Persönliches und Politisches aus mehr als 80 Jahren» sind, gerade weil sie eine der wenigen Frauen war, die sich als angesehene Politikerinnen nach 1945 ausdrücklich auf die Tradition der alten Frauenbewegung bezogen, muß es befremden, wie bewußt sie in diesen Lebenserinnerungen über ihre Veröffentlichung aus dem Jahr 1936 schweigt. Denn in dieser Schrift, «Das unbekannte Heer», mit einem Geleitwort des Reichskriegsministers von Blomberg, hatte sie den Kriegseinsatz der Frauen im Ersten Weltkrieg in einer Weise heroisiert, als «erschütterndes Erlebnis... einer letzten und tiefsten Gemeinsamkeit» geschildert,[53] die den nationalsozialistischen Machthabern nur recht sein konnte.
Von 1919 bis 1932 war Lüders als Abgeordnete der DDP Mitglied der Nationalversammlung und des Reichstages und als Sozial- und Rechtspolitikerin in vielen Ausschüssen aktiv. Sie gründete 1926 zusammen mit A. v. Zahn-Harnack den «Deutschen Akademikerinnenbund» sowie das Berliner Studentinnen-Tagesheim. 1937 war sie drei Monate in Gestapo-Haft und erhielt danach Arbeits- und Publikationsverbot. Von 1948 bis 1950 war sie FDP-Stadtverordnete in Berlin, von 1953 bis 1961 Mitglied des Bundestages und hier von 1957 bis zu ihrem Ausscheiden Alterspräsidentin.


«Mobilisierung der Frauen durch Frauen» war die Devise nach der die Leiterin der Frauenarbeitszentrale im Frühjahr 1917 in kürzester Zeit und in enger Verbindung mit dem militärischen Behördenapparat bei allen Kriegsämtern im Reich Frauenreferate aufbaute, die die systematische Erfassung der Frauen leiten und ihre verstärkte Verwendung in der Kriegswirtschaft auch gegen den Widerstand von Unternehmern und Gewerkschaften durchsetzen sollten.[54]
Mit Sachkompetenz, Organisationstalent und patriotischem Eifer ging die «systematische Organisation des Krieges»[555] durch die Frauen offenbar rasch vonstatten. Schon innerhalb eines Jahres waren neben den Frauenarbeitsstellen 450 Fürsorgevermittlungsstellen geschaffen worden, in denen schon im Januar 1918 etwa 1000 Frauen tätig waren. Zugleich wurden nun massenweise Fabrikpflegerinnen eingestellt, eine Gewerbeaufsicht, für die die Frauenbewegung vorher Jahrzehnte gekämpft hatte. Kriegsdienst, Fürsorgetätigkeit und sozialpolitische Errungenschaften vermischten sich bei der Mobilmachung dieses weiblichen Ersatzheers und schienen sich wechselseitig zu rechtfertigen. Doch die Sprache, in der M.-E. Lüders die Kriegsleistung der Frauen, «das industrielle Frauenheer im Kampf» verherrlichte, war so militaristisch und mörderisch wie die Sache selbst:

«Wer die Arbeit all dieser Frauen in Staub und Hitze bei Kälte und Regen, zu jeder Tages- und Nachtzeit immer wieder beobachtete, wird sie niemals vergessen. Soviel körperliche und seelische Volkskraft sie auch zerstörte, esdurfte ihr doch niemand in den Arm fallen, denn in i hr lag die Verteidigung des Vaterlandes.»[56]

Frauen als Kriegsgewinnlerinnen?

Die Annahme, der Krieg habe die Emanzipation der Frauen beschleunigt, wird in der Regel mit der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit begründet. Die Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Frauen war allein äußerlich sichtbar in der Tatsache, daß überall im Transportwesen und Verkehr, in Ämtern und Büros, insbesondere auch in den Fabriken der Kriegsindustrie - Frauen die Plätze der eingezogenen Männer einnahmen. Und doch stellt sich die Frage, ob der Weltkrieg wirklich eine grundlegende Veränderung und Beseitigung der Hindernisse gegen Frauenerwerbstätigkeit bewirkt hat oder ob es sich lediglich um einen kontinuierlichen Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen handelte, der im Trend des Jahrhunderts liegt.[57]

Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg

Von Anfang und Ende des Krieges liegen keine Erwerbsstatistiken vor. Vielmehr gibt es in den Reichsstatistiken zwischen 1907 und 1925 eine große Lücke. Die Experten müssen deshalb auf etwas kompliziertere Berechnungen anhand der Mitgliederkarteien der gesetzlichen Krankenkassenversicherungen oder auch auf die Mitgliedschaften in Gewerkschaften zurückgreifen — wohlwissend, wie ungenau gerade auch diese Statistiken den wirklichen Umfang der
Frauenarbeit abbilden. Immerhin umfaßte die Krankenkassenversicherung aufgrund der Reichsversicherungsordnung von 1914 auch die Dienstboten und landwirtschaftlichen Arbeiterinnen, wenn auch unvollständig, aber immer noch nicht die mithelfenden Familienfrauen oder die Heimarbeiterinnen, da ihr Arbeitsschutz und ihre Versicherungspflicht mit Kriegsbeginn aufgehoben wurde.
Richtig ist, daß der Frauenanteil in der Industrie insgesamt erheblich zugenommen hat und am Ende des Krieges insbesondere in den Rüstungsindustrien mehr (bis zu 60 Prozent) Frauen als Männer beschäftigt waren.[58] Diese Verschiebung aber könnte allein darauf beruhen, daß Frauen anstelle der eingezogenen Männer gerade auch
die Arbeitsplätze einnahmen, die ihnen vor Aufhehung der Frauenarbeitsschutzbestimmungen vor dem Krieg versperrt waren, die Zunahme des Frauenanteils also lediglich der abnehmenden Männerquote zuzuschreiben ist.
Doch auch ein Vergleich des Bestandes von krankenversicherten Frauen von 1914 und 1918 zeigt eine beachtliche Steigerungsrate, nämlich von 17 Prozent. Dabei ist zu bedenken, daß zunächst insbesondere Frauen von der  durch den Kriegsausbruch bedingten Arbeitslosigkeit betroffen waren, weil ihre Erwerbsbranchen, die Nahrungsmittel-, Textil- und Bekleidungsindustrie, zu den sog. Friedensindustrien gehörten, deren Produktion mit dem Kriegsbeginn erheblich zurückging. 1918 arbeiteten hier nur etwa halb soviel Frauen wie vor dem Krieg. Mit Hilfe des Hilfsdienstgesetzes und unter der Ägide der Frauenarbeitszentrale rückten dann erst in der zweiten Hälfte des Krieges die Frauen auf die Männerarbeitsplätze ein, in die Metall-, Hütten-, elektrische und chemische Industrie, ja auch in die Bergwerke oder in das Baugewerbe.Zwei Beispiele seien genannt:

«In 2594 Betrieben der Metallindustrie waren im August/September 1916 266 530 Frauen beschäftigt gegenüber 63 570 vor dem Krieg; dies bedeutete eine Steigerung von 319%.» [59]
«Die Firma Krupp, die vor dem Krieg nur etwa 2000bis 3000Frauen eingestellt hatte, zählte am 1. Januar 1918 28 000 Frauen auf ihren Lohnrollen.»[60]

Und doch deuten diese Steigerungsraten - so die Expertinnen keinen grundlegenden Umbruch an, denn einerseits sind sie auf Umschichtungen innerhalb der verschiedenen Industrien oder auf den Zustrom aus anderen Erwerbsbereichen, etwa aus der Landwirtschaft, zurückzuführen. Andererseits liegen sie, auf die gesamte Frauenerwerbstätigkeit bezogen, im Entwicklungstrend weiblicher Erwerbstätigkeit seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts,[61] der bei auch absolut steigenden Beschäftigtenzahlen einen kontinuierlichen Anstieg der lohnabhängigen, versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit von Frauen aufweist.
Bemerkenswert ist jedoch der Strukturwandel der Frauenarbeit der schon vor dem Weltkrieg eingeleitet, nun aber dramatisch beschleunigt wurde:
Zwischen 1895 und 1907 hatte sich die Zahl der Arbeiterinnen in Handel und Industrie allein um 60 Prozent erhöht; noch schneller war die Zahl der weiblichen Angestellten gewachsen, im gleichen Zeitraum von 20 000 auf 150 000. Doch während um die Jahrhundertwende noch die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen in der Landwirtschaft als Mägde, Landarbeiterinnen und mithelfende Familienangehörige arbeiteten,[62] waren zwischen 1907 und 1916 allein eine Million Frauen aus diesen traditionellen Beschäftigungen ausgeschieden und suchten nun ein Unterkommen in der Kriegsindustrie.[63]
Seit Kriegsausbruch galt die Arbeitsteilung zwischen Männer- und Frauenarbeit nicht mehr. Doch unter welchen lebensfeindlichen Bedingungen wurde dieser emanzipatorische Schritt getan. Gleich zu Beginn des Krieges werden alle gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen außer Kraft gesetzt, die Kriegswirtschaft konnte sich diesen Menschenschutz nicht leisten. Überstunden und Nachtarbeit auch für Frauen, Arbeitsunfälle und Erkrankungen waren die Folge. Sinkende Reallöhne — die Frauen erreichten trotz gleicher Arbeitsplätze nur 50 bis 70 Prozent der Männerlöhne — bei gleichzeitiger Verteuerung der Lebensmittel, Hungersnöte, Erschöpfung und viele Krankheiten führten zur Verarmung breiter Volksschichten und zur Verschärfung der Klassengegensätze,[64] denn natürlich konnten sich Wohlhabende, insbesondere Unternehmer und Kriegsgewinnler, auf dem schwarzen Markt das Notwendigste leisten. Zunehmend machte sich Verbitterung breit; die Masse des Volkes war immer weniger für expansionistische Kriegsziele zu gewinnen. Brotkrawalle, Demonstrationen und wilde Streiks gerade auch unter den Rüstungsarbeiterinnen bereiteten den Boden für die Massenbewegung zur Novemberrevolution, die nicht nur im privaten Bereich[65] sehr stark von Frauen getragen wurde.
Die stärkere Beteiligung, ja das selbstverständliche Einrücken der Frauen in die Männerarbeitsplätze hatte große Auswirkungen. Bisherige Rollenklischees waren damit außer Kraft gesetzt. Die Faszination, die von dieser Erfahrung ausging, wird in vielen Texten gerade auch aus der Frauenbewegung und immer gleichen, zum Teil recht geschmacklosen Bildern deutlich:

«Heute überschütten Näherinnen, Plätterinnen, Ladenmädchen und in der weitaus größten Zahl bisher berufslose Frauen und Haustöchter die Feinde mit Bomben und Granaten. Ehemalige Dienstmädchen halten zu Tausenden für die Männer das Rad unserer Volkswirtschaft mit in Schwung.»[66]

Und doch haben die elenden Rahmenbedingungen dieses zweifelhaften «Modernisierungsschubs» von Anbeginn dafür gesorgt, diese Form der Emanzipation nur dem Kriegs- und damit Ausnahmezustand zuzuschreiben. Aus diesem Grund haben sich auch die Vertreterinnen der Frauenbewegung auf der «Kriegstagung» des BDF schon 1916 laut Gedanken darüber gemacht, wie die Errungenschaften zu bewahren, wie bei Rückkehr der Kriegsteilnehmer «die Überleitung der Frauenarbeit aus dem Kriegszustand in den Friedenszustand» zu bewerkstelligen sei:

«Wir dürfen keine Vogel-Strauß-Politik treiben... Die Frage einfach dadurch zu lösen, daß man die Frauen, die Kriegsvertretungen übernommen haben, zwingt, ihre Arbeitsplätze zu verlassen, ist schon deshalb nicht angängig, weil in manchen Berufen die durch den Krieg gerissenen Lücken überhaupt nicht ausgefüllt werden könnten, wären nicht Frauen da, die an die Stelle der gefallenen Männer treten könnten. Ebenso falsch aber wäre es auf der anderen Seite, wollte man sich auf den Standpunkt stellen, der während des Krieges eingetretene Zuwachs an Frauenarbeit müsse als unbedingte Bereicherung der Volkswirtschaft angesehen und deshalb beibehalten werden.»[67]

Eine Rückzugsbereitschaft aus den erworbenen Positionen deutet sich also bereits an, und doch vermochten solche Kompromisse die Frauen nicht vor noch viel größeren Enttäuschungen zu schützen.

3. «Kampf für die Gewalt des Rechts
gegen das Recht der Gewalt» (Margarethe I.Selenka)

Der Internationale Frauenkongreß 1915 in Den Haag

Aber es gab in der Frauenbewegung auch Frauen, die den Kriegsdienst verweigerten und an ihrem internationalen Feminismus und einem konsequenten Pazifismus festhielten: die Minderheit der radikalen Stimmrechtlerinnen um Anita Augspurg, L. G. Heymann, Helene Stöcker u.a. sowie linke Sozialistinnen um Clara Zetkin (und Rosa Luxemburg).

«Zwei Dinge waren uns klar. Erstens: Hilfe konnte nur von Frauen kommen. Zweitens: wir würden keine Arbeit für direkte Kriegszwecke leisten, wie Hospitaldienst, Verwundetenpflege. Halbtot geschundene Menschen wieder lebendig und gesund machen, um sie abermals den gleichen oder noch schlimmeren Qualen auszusetzen? Nein, für solchen Wahnsinn würden wir uns nicht hergeben.»[68]

Daß gerade die Frauenrechtlerinnen bei Ausbruch des Krieges zu aktiven Pazifistinnen wurden, ist ihrem Rechtsverständnis nach nur konsequent. Denn mehr Rechte auch für Frauen, geregelte und gerechtere Verhältnisse waren für sie die einzig denkbare Alternative zu Gewalt und damit auch zum Krieg als ihrer brutalsten Form. Sowohl die Frauen- als auch die Friedensbewegung aber führte «einen Kampf für die Gewalt des Rechts gegen das Recht der Gewalt»[69] — so die Formulierung der frühen Friedenskämpferin Margarethe Lenore Selenka (1860— 1923, Mitglied des Münchener «Stimmrechts-Vereins» und des «Bundes für Mutterschutz»), die bereits 1899, anläßlich der Ersten Haager Friedenskonferenz, unterstützt von Bertha von Suttner, einen Aufruf an die Frauen aller Länder auf den Weg gebracht hatte. Mehrere Millionen Frauen aus 19 Ländern hatten daraufhin in Telegrammen, Manifestationen und insgesamt 565 Kundgebungen ihren Friedenswillen demonstriert und die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes und einer Schiedsgerichtsbarkeit zur Vermeidung von Kriegen gefordert. Auch der BDF hatte sich auf Anregung von M. L. Selenka programmatisch zur Verbreitung der Friedensidee verpflichtet, ja durch seinen Beitritt in den «Frauenweltbund» (ICW) eigentlich erste Schritte in Richtung Völkerverständigung unternommen.
Doch im Seplembcr 1914 fühlte sich der «Deutsche Verband für Frauenstimmrecht» mit der Vorsitzenden Marie Stritt gezwungen, seine Einladung zu dem für Juni 1915 in Berlin geplanten Kongreß des «Weltbundes für Frauenstimmrecht» («International Alliance for Woman's Suffrage») zurückzuziehen.[70] Auch die Präsidentin des Weltbundes, Marie Chapman Catt, sah sich nach einer Umfrage bei allen Mitgliedsverbänden nicht in der Lage, den Kongreß unter den Kriegsbedingungen zu veranstalten. Da ergriffen L. G. Heymann und A. Augspurg die Initiative und appellierten an die Schweizer Frauen, die Frauen der neutralen Staaten aufzurufen und mit einer
Frauenkonferenz gegen den Krieg ein Zeichen weiblicher Solidarität zu setzen.
Schon im Februar 1915 traf sich ein kleines Vorbereitungskomitee aus England, Belgien und Deutschland bei Aletta Jacobs, der führenden niederländischen Frauenrechtlerin, und entwarf ein Programm für einen außerordentlichen Frauenkongreß, der schon Ende April in Den Haag stattfinden sollte. Einladungen wurden in aller Frauen Länder verschickt, Jane Addams, Sozialreformerin, Mitbegründerin der amerikanischen Women's Peace Party[71] und Friedensnobelpreisträgerin von 1931, sagte zu, das Präsidium zu übernehmen. Aber bis zur Eröffnung des Kongresses am 27. April 1915 waren noch viele Hindernisse zu überwinden.
Absagen und verständnislose Reaktionen kamen von mehreren nationalen Frauenverbänden oder Einzelpersonen. So schrieb z. B. der «Conseil National des Femmes Francaises»:

«Wie sollte es möglich sein, in dieser Stunde den Frauen aus den Ländern unserer Feinde zu begegnen? Haben sie die politischen Verbrechen... ihrer Regierung verurteilt? Haben sie protestiert gegen die Verletzung der Neutralität Belgiens?»[72]

Um so mutiger war der Entschluß von fünf Belgierinnen, trotzdem teilzunehmen, obwohl eine zu bedenken  gab:  

«Obgleich  mein Frauenherz mir sagt, daß der Krieg nicht weitergehen kann, können wir keinen Frieden um jeden Preis wollen... Ich kann nicht denken wie sie alle, je suis Belge avant tout!»

Kanadische Frauen sagten die Teilnahme ab, weil sie glaubten,

«daß die Zeit für einen Frieden noch nicht gekommen sei»[73]

Übereifrig und scharf war die Reaktion des BDF. Er veröffentlichte kurz vor der Konferenz, in der Presse breit gestreut, folgende «Erklärung»:

«Der Bund Deutscher Frauenvereine hat eine Beteiligung an dem Internationalen Frauenkongreß im Haag abgelehnt. Er erklärt die Propaganda für diesen Kongress sowie die Beteiligung daran für unvereinbar mit der vaterländischen Gesinnung und der nationalen Verpflichtung der deutschen Frauenbewegung. Auf Grund der Einmütigkeit, die sich in der Ablehnung des Kongresses bei den Vereinen der organisierten Frauenbewegung gezeigt hat, muß der Bund jede Propaganda deutscher Frauen für den Kongreß als einen Verstoß gegen die Solidarität der deutschen Frauenbewegung betrachten. Eine solche Propaganda, sowie den Besuch des Kongresses erklärt der Bund für unvereinbar mit jeder verantwortlichen Stellung und Arbeit innerhalb des Bundes deutscher Frauenvereine.[74]

Dieses Vorgehen rief bei vielen Entrüstung und Empörung hervor.
Minna Cauer, die dem Bundesvorstand ebenfalls in einem Anschreiben «autokratisches Regiment» und «Bevormundung» vorwarf, notierte in ihrem Tagebuch:

«Am 25. April erhielt ich die Resolution des Bundes über die Boykottierung derjenigen, die den Kongreß im Haag mitmachten. Unerhört, schamlos, schmachvoll!»[75]

Trotz aller Schwierigkeiten und Gefährdungen - überall an den Grenzen wurden die Frauen aufgehalten oder erhielten erst gar kein Visum, die Präsidentin Jane Addams kam buchstäblich in letzter Minute, weil das Schiff mit der amerikanischen Delegation vor Dover vier Tage festgehalten wurde — nahmen rund 1200 Delegierte, insgesamt aber 2000 Frauen an dem Kongreß teil. Aus Deutschland hatten insgesamt 28 Frauen den Mut zu kommen und mischten sich zum Teil lebhaft in die Debatten ein; darunter neben A. Augspurg und L. G. Heymann als Delegierte auch Helene
Stöcker, Elisabeth Rotten, Constanze Hallgarten und Auguste Kirchhoff.


Auguste Kirchhoff (geb. am 23.Juni 1867 in Ansbach, gest. am 12.Juli 1940 in Bremen)
…war Senatorengattin, hatte fünf Kinder und führte in Bremen ein  großbürgerliches und geselliges Haus.  Sie selbst war zeitweise als Gesangslehrerin tätig. Trotz dieses Hintergrundes war sie, unterstützt von ihrem Mann, außerordentlich aktiv in der Frauenbewegung, und zwar auf ihrem radikalen Flügel. Sie engagierte sich im Kampf um das Frauenstimmrecht, für die Ziele des Mutterschutzes und der Sexualreform und für den Frieden. Schon
sehr früh hat sie in Bremen die entscheidenden Anregungen gegeben zur Gründung des «Vereins für Frauenstimmrecht» im Jahr 1905, eines Mütter- und Säuglingsheims 1906, der Bremer Ortsgruppe des «Bundes für Mutterschutz und Sexualreform» 1909 und des «Bremer Hausfrauen Vereins» 1915. Als Teilnehmerin des Haager Frauenkongresses war sie es auch, die von 1919 an die Bremer Sektion der «Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit» leitete. Sie verfaßte zahlreiche politische Schriften[76] und gehörte zu den frühen Warnerinnen vor Nationalsozialismus und Antisemitismus. Nach 1933, aller politischen Handlungsmöglichkeiten beraubt, verstummte sie, und es scheint, als ob ihre dann einsetzende geistige Verwirrung ihr in den letzten Lebensjahren Schutz vor Verfolgung bot.


Voraussetzung für die Teilnahme am Haager Frauenkongreß war die Zustimmung zu zwei Grundsätzen - ein ungewöhnliches, aber wohl sehr wirksames Mittel, um die Grundsatzdebatten zu verkürzen und schnell zu Vereinbarungen zu kommen. Diese Grundsätze beinhalteten,

  1. daß internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel beigelegt werden sollen,
  2. daß den Frauen politische Gleichberechtigung mit den Männern zu gewähren sei.

Ferner wurden «Erörterungen über die relative nationale Verantwortlichkeit für den gegenwärtigen Krieg» ausdrücklich untersagt.
An den nur vier Verhandlungstagen wurden insgesamt zwanzig Resolutionen verabschiedet, u. a. über die schiedsgerichtliche Austragung internationaler Streitigkeiten, über den Aufbau einer internationalen Organisation als «Vereinigung der Nationen», über Abrüstung und Waffenkontrolle, gegen die internationale Kapitalverflechtung und Handelskriege usf.
Beachtenswert ist, daß die Pazifistinnen sich nicht mit moralischen Appellen begnügten, sondern sehr realistisch und kompetent insbesondere auch die wirtschaftlichen Ursachen und machtpolitischen Ziele des Krieges diskutierten. Eine, die dem internationalen Auditorium so recht aus dem Herzen zu sprechen wußte, war die Ungarin und «Weltpatriotin» Rosika Schwimmer (1877—1948), deren «Feuergeist» den Kongreß wesentlich bestimmt hat:[77]

«Wir wollten mit der Weise, in der wir verhandelten, mit der kühlen, geschäftsmäßigen Weise zwei Sachen demonstrieren: unsere ungebrochene und unzerbrechbare Solidarität, unsere unzerbrechliche, internationale weibliche Solidarität, und unser kaltes Blut, unser, - wie man sagt - staatsmännisches Gleichgewicht... die Schlußresolution... war eine Demonstration für zwei Tatsachen. Die Tatsache unserer internationalen Solidarität und die Tatsache der weiblichen Stärke...
Die Männer der Welt sind heute aufgefordert, Mut zu zeigen, den Mut, den wir so überschätzt haben, auch wir Frauen... Was ist aber physischer Mut im Vergleich zum moralischen Mut? Und heute, wo die größte Probe, die jemals von Männern verlangt wurde, abgelegt wird dafür, daß die Wahnidee des physischen Mutes zur Zerstörung der Welt führt, heute stehen wir vor einer Frage der Zukunft, der Menschheit...»[78]

Die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz bündeln sich in den Beschlüssen, Deputationen zu den einzelnen Regierungen zu schicken sowie «Internationale Frauenkomitees für dauernden Frieden» neben nationalen Ausschüssen einzurichten.
Die Deputation mit Gesandten des Kongresses, in der Frauen sowohl aus neutralen wie kriegführenden Ländern mitwirkten, sollte

«die Regierungen der Welt veranlassen, dem Blutvergießen ein Ende (zu) machen und einen gerechten und dauernden Frieden zu schließen.»[79]
«Die Frauen überreichten die Haager Beschlüsse und versuchten, zwischen den Regierungen der kriegführenden Länder zu verhandeln, zu diesem Zwecke hatten sie in einigen Ländern, so in England, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten wiederholte Audienzen. (…] Überall interessierte man sich für ihre Mission, versicherte sie der wärmsten Sympathie, und— dabei blieb es.»[80]

Die Ausführung des anderen Beschlusses war im kriegführenden Deutschland deshalb besonders schwierig, weil pazifistische Aktivitäten verboten waren und jegliche Propaganda einer scharfen Zensur unterlag. Trotzdem bildete sich 1915 ein «Nationaler Ausschuß für dauernden Frieden», der an 27 Orten lediglich Geschäftsstellen unter Führung einer Vertrauensperson unterhielt. Dieser hatte keine Satzung und keine Mitglieder und konnte keine Beiträge, nur «Geschenke» entgegennehmen.
Nur unter schwierigsten Bedingungen wurden

«Versammlungen abgehalten, Proteste beschlossen, Manifeste versandt. Die Regierung, die um die Demoralisierung der Bevölkerung fürchtete, antwortete mit Auftrittsverboten, Hausdurchsuchungen, Überwachungen, Briefzensur und Verhören. Lida Gustava zum Beispiel erhielt 1915 Redeverbot und wurde im Februar 1917 aus Bayern ausgewiesen. Trotz Schikanen und Verfolgungen wurde der Frauenausschuß jedoch nicht gänzlich verboten und blieb bis Kriegsende aktiv.»[81]

Erst nach Kriegsende, auf dem Kongreß des «Internationalen Frauenkomites für dauernden Frieden» 1919 in Zürich, wurde als organisierter Zusammenschluß die «Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit» (IFFF) mit Sitz in Genf gegründet.
Inwieweit die «14 Punkte Wilsons», die 1918 Grundlage des Friedensschlusses wurden, tatsächlich auf den Beschlüssen der Haager Frauenkonferenz beruhten oder von ihnen angeleitet wurden, wird sich in unserer bisher männerorientierten Geschichtsschreibung nicht abschließend klären lassen. Im Bericht der «Internationalen
Frauenliga» jedenfalls werden die Zusammenhänge ausführlich belegt. Da heißt es u. a.:

«Der Inhalt der Haager Beschlüsse, welche die Frauen im Mai 1915 faßten, hat notorischerweise Anregung und Grundlage für Wilsons bekannte Vorschläge geboten. Als nämlich Jane Addams vor Wilsons Reise nach Europa eine Unterredung mit ihm hatte und auf die Arbeit der Frauen im Haag hinweisen wollte, sagte Wilson: «über Ihren Kongreß im Haag bin ich unterrichtet« und zog gleichzeitig ein Exemplar der ihm damals von der Deputation des Kongresses überreichten Haager Beschlüsse aus seiner Tasche, welches merklich zerlesen und abgegriffen war und die offenbaren Spuren eifriger Benutzung aufwies.
Dieses Vorkommnis ist abermals ein Beweis dafür, wie verschieden die Betätigung von Männern und Frauen eingeschätzt wird und wie dementsprechend auch die Wirkungen verschieden sind. Als Frauen 1915 weitblickend ihre Forderungen aufstellten, um die Welt aus dem Chaos des Wahnsinns zur Vernunft zurückzuführen, wurden sie verhöhnt, verlacht, ihre Unfähigkeit politisch zu denken und zu handeln an den Pranger gestellt, als einige Jahre später ein Mann dieselben Forderungen proklamierte, jauchzte ihm die Masse aus allen Ländern zu und feierte ihn wie einen Erlöser.»[82]

4. «Die Zwillingsschwester des Krieges
ist die Not» (ClaraZetkin)

Die Internationale Friedenskonferenz sozialistischer Frauen 1915 in Bern

«Die Friedenssehnsucht des internationalen Proletariats hat sich als ohnmächtig erwiesen, den Weltkrieg zu bannen. Wie Kanonen über schwache Grashalme dahinrollen, zu Boden drückend, was sich eben noch im Winde wiegte, also sind die vom Kapitalismus entfesselten und vorwärts getriebenen Kräfte des Imperialismus über die proletarischen Friedenskundgebungen und Friedenshoffnungen hinweggegangen. Nun steht die Welt in Flammen, der Krieg rast mit Schrecken, wie sie noch kein Ringen um die Macht begleitet haben...»[82]

Dies schrieb Clara Zetkin in ihrer Zeitschrift «Die Gleichheit» im September 1914 in der ihr eigenen Dramatik und Anschaulichkeit, und es scheint so, als ob hier ein anderer, widerständiger Ton angeschlagen wird. Doch in diesem Leitartikel unter der Überschrift «Frauenpflicht» steht auch wiederum Frauenspezifisches, das heute irritiert:

«Die Zwillingsschwester des Krieges ist die Not. Mit dürrer, erbarmungsloser Faust klopft sie an die Tür der meisten Familien, deren Ernährer im Felde steht... Die Arbeitslosigkeit greift rascher um sich als eine verheerende Seuche; Sorge, Hunger, Kränklichkeit, Kindersterblichkeit folgen ihr auf dem Fuße. Und noch sind wir am Anfang des Krieges und im Sommer!
Wie soll das werden? Diese Frage - hier eine flehende Bitte, dort ein trotziger Fluch - drängt sich auf Millionen Lippen. Eine befriedigende Antwort darauf ist so wichtig wie die Entscheidung, die auf dem Schlachtfeld fallen wird. Ja, mehr noch: die gewaltigen Opfer des Krieges an Gut und Blut können vom Volk nur getragen werden, wenn dem Feind im Innern erfolgreich gewehrt wird: der Not.
Hier ist das weite Brachfeld, auf dem die sozialistischen Frauen Schlachten schlagen, die zugleich Schlachten für ihre Bürgerrechte sind. Das Gebot der Stunde fordert hier Zusammenfassung edler Kräfte. So wirken denn die Genossinnen friedlich-schiedlich neben dem bürgerlichen Nationalen Frauendienst.»[83]

Also Burgfrieden auch an der Frauenfront! Konnte Zetkin wirklich glauben, das Engagement der Proletarierinnen im Dienst für «Volk und Vaterland» werde die Regierung kompromißbereiter stimmen und sich später als Bürgerinnenrecht auszahlen? Es ändert nicht viel, wenn betont wird, daß bürgerliche und proletarische Frauenbewegung «als Organisation weiterhin voneinander getrennt» blieben.[84] Die die Wohlfahrtsarbeit organisierende Luise Zietz, einzige Frau im Parteivorstand, arbeitete doch ausdrücklich mit dem «Nationalen Frauendienst» «Hand in Hand».
Doch schon im Dezember 1914 zerbröckelte der «Burgfrieden» zumindest auf dem linken Flügel der SPD, als Karl Liebknecht sich auch im Reichstag nicht mehr der Fraktionsdisziplin beugte und gegen die Kriegskredite stimmte. Die «Gruppe Internationale», die von ihm und Rosa Luxemburg angeführt wurde und sich später «Spartakus» nannte, sah in der Bewilligung der Kriegskredite eine Unterwerfung unter die herrschende Klasse und kämpfte für die Internationale und die revolutionäre Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse. «Nieder mit dem Krieg!» war die Losung, unter der R. Luxemburg diesen Standpunkt in ihrer im Gefängnis geschriebenen «Junius»-Broschüre 1915 programmatisch darlegte.[85]


Luise Zietz (geb. am 25.3.1865 in Bargteheide/Holstein, gest. am 27. 1.1922 in Berlin)
…mußte als Tochter eines Wollwirkers früh ihr Brot verdienen. Sie arbeitete zunächst im väterlichen Betrieb, dann
als Kindermädchen und erhielt später eine Ausbildung als Kindergärtnerin. Im Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896 trat sie zum erstenmal als Rednerin auf. Luise Zietz, gilt neben Clara Zetkin als die große Agitatorin der sozialistischen Frauenbewegung und wurde deshalb auch als «weiblicher Bebel» bezeichnet.[86]
Zietz wurde 1908 als erste deutsche Frau Vorstandsmitglied einer politischen Partei. Ihre Zugehörigkeit zur Parteibürokratie und ihre «Linientreue» brachten sie häufig in Konflikt mit C. Zetkin. Doch während des Krieges geriet sie wie Zetkin zunehmend in Opposition zur Parteiführung. Sie trat 1917 der USPD bei, wurde 1919 in die
Nationalversammlung gewählt und nahm auch ihr Reichstagsmandat bis zu ihrem Tod 1922 wahr.


Rosa Luxemburg (geb. am 5.März 1871 in Zamocz/Polen, ermordet am 15. Januar 1919 in Berlin)
…verließ Polen aus politischen Gründen, studierte und promovierte in Zürich und arbeitete seit der Jahrhundertwende in der deutschen Sozialdemokratie. Wegen ihrer leidenschaftlichen Opposition gegen Monarchie und Militarismus wurde sie als Staatsfeindin verfolgt und brachte fast den ganzen Weltkrieg im Gefängnis zu, von wo aus sie dennoch politisch einflußreich blieb. Obwohl eng mit Clara Zetkin befreundet, kann Rosa Luxemburg
nicht zur proletarischen Frauenbewegung gerechnet werden. Die Frauenfrage stand nie im Vordergrund ihres theoretischen und praktischen Engagements. Als exponierteste Vertreterin der äußersten Linken trat sie für den Massenstreik als politisches Kampfmittel ein. Sie war Herausgeberin von «Die Rote Fahne», die die Revolution
anleiten sollte. Im Januar 1919 wurde sie zusammen mit Karl Liebknecht von Soldaten der Reichswehr in Berlin verhaftet, mißhandelt und ermordet.[87]


Auch Clara Zetkin, die zu der «Gruppe Internationale» gehörte, kam wegen ihrer Haltung gegen den Krieg zunehmend in Konflikt mit der Mehrheitsfraktion der SPD und dem Parteivorstand. Als Sekretärin der «Sozialistischen Fraueninternationale» versuchte sie, zumindest in der «Gleichheit» unerschrocken gegen den Krieg zu agitieren und ihre internationale Orientierung nicht aufzugeben. Viele weiße Flecken und leere Seiten in dieser Zeitschrift zeugen vom Eingreifen des Zensors. Eine zentrale Bedeutung in der Verschärfung des schwelenden Konfliktes mit der Staatsmacht, und der SPD aber hatte die 1915 von Zetkin einberufene Frauenkonferenz in Bern, mit der sie demonstrieren wollte, daß zumindest die Frauen der internationalen Solidarität treu geblieben waren.[88]
Insgesamt nahmen nur 70 Frauen aus Rußland, Polen, Holland, Deutschland, Österreich, England, Italien, Frankreich und der Schweiz an dieser Konferenz teil, darunter aber viel sozialistische Prominenz: z. B. Nadeshda Krupskaja, die Frau Lenins, Alexandra Kollontay, die österreichische Sozialdemokratin Therese Schlesinger, die Deutschen Toni Sender, Käthe Duncker und Lore Agnes. Während Frau Krupskaja eine Resolution durchbringen wollte, die die Kriegspolitik der sozialistischen Parteien in den einzelnen Ländern verurteilen sollte, wollte Zetkin zu dieser Zeit noch den völligen Bruch mit ihrer Partei vermeiden und setzte eine Kompromißresolution durch: Die Friedenskonferenz «habe nur eine Aufgabe: eine zielklare und kraftvolle einheitliche internationale Friedensaktion der Genossinnen in die Wege zu leiten». In dieser Resolution wurde ferner beschlossen, ein Manifest als Flugblatt zu verbreiten.[89]
Dieses Flugblatt, das — wie es heißt - in 300 000 Exemplaren verteilt wurde, um den Friedenswillen der Frauen zu mobilisieren, führte nicht nur zur Ablehnung durch den SPD-Parteivorstand, obgleich L. Zietz noch zu vermitteln suchte, sondern auch zu einem Strafverfahren gegen Zetkin wegen Landesverrats.
Zetkin wurde Ende Juli festgenommen, aber nach etwa zehn Wochen aus dem Gefängnis wegen Krankheit und gegen Kaution entlassen. Verhöre, Hausdurchsuchungen und ständige Überwachung haben ihr bis zum Kriegsende viel Kraft geraubt. Nachdem die Gewerkschaften schon im Juli 1915 die Abonnements der «Gleichheit» gekündigt hatten, wurde Zetkin 1917 auch die verantwortliche Redaktion der Zeitschrift durch Beschluß des SPD-Vorstandes entzogen. Statt dessen wurde die Schriftleitung Marie Juchacz übertragen.
Nach dem Ausschluß aus der SPD im Januar 1917 gründeten die Gegner des Burgfriedens die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Zetkin und Zietz traten dieser Fraktion sofort bei.
Damit war auch die proletarische Frauenbewegung gespalten.
Auf Initiative der englischen Delegation hatte die Berner sozialistische Frauenkonferenz in einem Grußtelegramm «dem Internationalen Friedenskonferenz im Haag die Sympathie» ausgedrückt.[90] Wie
bedauerlich, daß die feministische und die sozialistiscbe Friedensinitiative nicht zusammenfinden konnten. Sie wären gemeinsam stärker gewesen.

5. «Abdankung des Kaisers, Ausbruch der Revolution…
Ich sterbe als Republikanerin» (Minna Cauer)

Endlich: das Frauenstimmrecht

Ein Jahr vor Kriegsende schafften es die Stimmrechtsvereine aller Richtungen, zusammenzugehen und eine gemeinsame «Erklärung zur Wahlrechtsfrage» an den Deutschen Reichstag und alle Landesparlamente zu schicken. Sie enthielt die Forderung, den Frauen endlich im Reichstag, aber auch in allen Landesparlamenten ein gleiches Stimmrecht zu geben. Auch der BDF hatte im Oktober 1917 eine Denkschrift veröffentlicht über «Die Stellung der Frau in der politisch-sozialen Neugestaltung Deutschlands», in der er das aktive und passive politische Wahlrecht als wesentlichen Bestandteil der Neuorientierung bezeichnete.[91]
Im Dezember 1917 kam es dann zu jener denkwürdigen Erklärung, bei der Marie Juchacz für die sozialdemokratischen Frauen Deutschlands, Marie Stritt für den «Deutschen Verband für Frauenstimmrecht» und Minna Cauer für den «Deutschen Frauenstimmrechtsbund» unterschrieben.[92]

Die Wahlrechtsfrage in Preußen, d.h. die endgültige; Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts im führenden deutschen Bundesstaat, hat eine lange Vorgeschichte, war aber nach Ausbruch des Krieges erst 1917 wieder in Gang gekommen. Sie wurde zu einer politischen Prinzipien- und Machtfrage zwischen den Konservativen, der Kriegs- oder Vaterlandspartei im Verbund mit Militär und Monarchie, und der Reichstagsmehrheit, die sich auf das Zentrum, die
Fortschrittspartei und die Sozialdemokraten stützen konnte. Dem Dissens in der Frage der Demokratisierung und Parlamentarisierung entsprach die politische Spaltung zwischen denen, die für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen eintraten, und der Vaterlandspartei, die bis zum bitteren Ende auf einen sog. Siegfrieden um der eigenen Machterhaltung willen setzte. Im Streit um die Kriegsziele brachen zugleich, je länger der Krieg dauerte, die Klassengegensätze um so schärfer hervor. Immer häufiger war es seit 1917 zu Demonstrationen, Hungerrevolten und Streiks gekommen, an denen insbesondere die für das tägliche Brot zuständigen, aber nicht gewerkschaftlich organisierten Frauen beteitigt waren. Seit dem Januar 1918 weitete sich die Verbitterung und Unruhe zu einer
Massenbewegung gegen die Militärdiktatur aus und durchsetzte zunehmend auch die unteren Ränge der Armee. Im Generalstreik in Berlin im Januar 1918 hatten erstmals Arbeiterräte an Stelle der Gewerkschaften die Forderungen der Streikenden formuliert; sie verlangten:

«... schleunige Herbeiführung des annexionslosen Friedens, sodann die durchgreifende Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen...Die Berliner Arbeiter wollten einen gemäßigten Frieden, Brot und bürgerliche Demokratie, das heißt  die Beseitigung der Militär- und Junkerherrschaft. Klassenmäßig sozialistische Forderungen lagen jenseits ihres Horizonts.»[93]

Noch im Mai 1918 lehnten die Junker, Industriellen und die militärische Aristokratie im preußischen Abgeordnetenhaus das gleiche Wahlrecht für alle preußischen Bürger (auch die Frauen) mit großer Mehrheit ab. Erst drei Wochen vor dem militärischen Zusammenbruch, im Oktober 1918, waren die Herren bereit, ihre angestammten Bastionen zu räumen und wenigstens einer Wahlrechtsreform zuzustimmen. Doch mittlerweile war es zu spät, auch das preußische Abgeordnetenhaus wurde von der Revolution am 9. November überrascht.
Am gleichen Tag notierte Minna Cauer in ihrem Tagebuch:

«Abdankung des Kaisers, Ausbruch der Revolution. Meine Wohnung fast erstürmt von Menschen, - ich bleibe zu Hause. Ich bin freudig erschüttert, habe nur die Hände am Abend gefaltet, und die Tränen sind mir über die Wangen gelaufen. Traum meiner Jugend, Erfüllung im, Alter! Ich sterbe als Republikanerin. Eine Erschütterung geht durch die Welt, wie sie nie gewesen.«[94]

Am 12.November 1918 wurde das Frauenwahlrecht in Deutschland durch einen Aufruf des «Rates der Volksbeauftragten» an das deutsche Volk eingeführt. Er bestimmte im vorletzten Absatz:

«Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht aufgrund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens zwanzig Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.»[95]

Lesetips

Frauen gegen den Krieg, hg. v. G. Brinker-Gabler, Frankfurt 1980
Frauen riefen, aber man hörte sie nicht: die Rolle der deutschen Frauen in der internationalen Frauenfriedensbewegung zwischen  1892 und 1955 hg. v.S. Hering, C.Wenzel. Kassel 1986. '
Ilka Riemann: Soziale Arbeit als Hausarbeit. Von der Suppendame zur Sozialpädagogin, Frankfurt 1985.
Alice Salomon: Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, Weinheim Basel 1985.