Unabhängig von der subjektiven Erfahrung einzelner Frauen ist Mutterschaft eine soziale Institution und ein zentraler Bezugspunkt weiblichen Lebens. In ihrer jüngst erschienenen Untersuchung Das Märtyrerinnenmodell hat die Bielefelder Sozialphilosophin Hilge Landweer überzeugend herausgearbeitet, daß weibliche Individualität und feministische Identitätspolitiken von der historischen Formierung des Musters Mutterliebe selbst dann nicht unbeeinflußt bleiben, wenn Frauen sich bewußt für Kinderlosigkeit entscheiden. Im Anschluß an Landweers Untersuchungen bietet es sich an zu fragen, ob und in welcher Weise auch die von lesbischen Frauen geführten literarischen Diskurse über Frauenbeziehungen eben jener >Grammatik< der Weiblichkeitsnormen folgen, die Frauen immer als >Frau von< und >Mutter von< definiert.[1]
Im folgenden wird es nicht um die verschiedenen subjektiven Erfahrungen von lesbischen Frauen mit der Institution Mutterschaft gehen, sondern ausschließlich um jene literarischen Diskurse, die sich auf die eine oder andere Art mit lesbischen Beziehungen, Mutterschaft und Kinderwünschen auseinandersetzen. Anhand der Lektüre verschiedener fiktionaler Texte,[2] die in den 20er und 30er Jahren im Umfeld der women communities der Pariser EmigrantInnenkultur[3] entstanden sind, soll gezeigt werden, wie die Autorinnen die Bedeutung von Mutterschaft für lesbische Beziehungen interpretiert haben. Die vorgestellte Lektüre zielt dabei nicht auf eine literarische Wertung der verschiedenen Interpretationen.[4] Mir geht es hier allein um die Frage, in welches Verhältnis zu herrschenden Diskursen über Weiblichkeit und Mütterlichkeit die jeweiligen Autorinnen ihre lesbischen Figuren gesetzt haben, welche Modelle lesbischer Beziehungen sie im Schatten traditioneller Konstruktionen von Weiblichkeit entworfen haben und ob sich in diesen Entwürfen Ansätze (literarischer) Utopien jenseits des >Vater-Mutter-Kind< Modells der heterosexuellen Gesellschafts- und Familienordnung finden lassen.
Marina Zwetajewa: »Endlich der Schrei ... Ein Kind von dir«
Der 1932-34 entstandene, aber erst 1979 veröffentlichte Text Mein weiblicher Bruder der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa trägt den Untertitel »Brief an die Amazone«. Zwetajewa, die von 1925 bis 1939 im französischen Exil lebte, bezieht sich mit ihrem kaum 50 Seiten umfassenden, an vielen Stellen lyrisch gefärbten Prosatext auf ein schon 1920 erschienenes Buch Natalie Barneys. Barney, die bereits Anfang des Jahrhunderts aus Amerika nach Paris gekommen war, stand als Schriftstellerin und Salongastgeberin in den 20er und 30er Jahren im Mittelpunkt der women communities der Pariser EmigrantInnen-Kultur[5]und hatte 1920 eine Sammlung von Aphorismen und Erinnerungen unter dem Titel Pensées d'une Amazone veröffentlicht. Zwetajewa schreibt: »Ich habe Ihr Buch gelesen. (...) Eine Lücke in Ihrem Buch, eine einzige, unermeßliche - ist es eine absichtliche oder nicht? (...) Diese Lücke, diese weiße Aussparung, dieses schwarze Leck - ist das Kind.« (Zwetajewa 1985, S.7, S.10)
Diese vermeintliche Lücke im Text von Natalie Barney beansprucht Zwetajewa mit Mein weiblicher Bruder zu schließen. Das Kind, das Barney 1920 nicht oder nicht ausführlich thematisiert hatte, rückt bei Zwetajewa ins Zentrum des Textes und wird dabei zum Prüfstein des gesamten lesbischen »Anliegens« gemacht. In ihrer literarischen Argumentation verknüpft die Autorin dabei zwei Vorstellungen miteinander, die in ihrem Zusammenspiel schließlich das zwangsläufige Scheitern jeder Form von lesbischer Beziehung erklären werden: Zwetajewa beginnt mit der Hervorhebung der besonderen Bedeutung von Kindern für heterosexuelle Liebesbeziehungen. »Man kann nicht an der Liebe leben. Das Einzige, was die Liebe überlebt, ist das Kind. « (ebd., S.12) Wenn das gemeinsame Kind eines Liebespaares an dieser Stelle zum Garanten einer Transzendenz in die Unendlichkeit gemacht wird, die die (vergängliche) Liebe zwischen Mann und Frau allein nicht leisten kann, wird es zu einem Symbol welches die realen Erfahrungen einzelner Personen mit Mutter-, Vater- und Elternschaft mit einem neuen, Absolutheit beanspruchenden Sinn auflädt. Das Kind wird dabei nicht nur als Anfang individueller oder als Teil familiärer Traditionsbildung gesehen, sondern es wird darüber hinaus auch zur Projektionsfläche für all jene Absolutheitsansprüche, die dem Ideal der romantischen Liebe zufolge eigentlich innerhalb der heterosexuellen Liebesbeziehung erfüllt werden sollten.
An die Stelle dieses Konzepts allumfassender und unvergänglicher Liebe zwischen den Geschlechtern setzt Zwetajewa eine Vorstellung von Mutter-Kind-Beziehungen, die Mutterschaft zum einzig bedeutenden und sinngebenden Faktor im Leben einer Frau stilisiert: »Denn das Kind ist eine angeborene Habe, es ist in uns vor der Liebe, vor dem Geliebten. Sein Wunsch, zu sein, läßt uns die Arme auftun.« (ebd., S.25) Daß diese Vorstellung Zwetajewas Ansicht nach für alle Frauen gilt, macht die Autorin schon zu Beginn ihres Textes deutlich: »Ich übergehe den Ausnahmefall: die unmütterliche Frau. (...) Ich nehme einen normalen Fall, den natürlichen und dem Leben zugehörigen Fall eines jungen weiblichen Wesens, das den Mann fürchtet, sich der Frau zuwendet und das Kind will.« (ebd., S. 23 f )
An dieser Stelle kommt die zweite, für den Verlauf des Textes entscheidende Konzeption der Autorin ins Spiel: ihre Vorstellung von lesbischen Liebesbeziehungen. Die Frau, der sich das junge weibliche Wesen, das den Mann fürchtet, in Mein weiblicher Bruder zuwendet, ist eine ältere Frau, die weniger stark »sie« (ebd., S.17), d.h. >normal-weiblich< ist als die jüngere und auf das Kind verzichten kann oder zu verzichten gelernt hat, weil sie ihre mütterlichen Gefühle mit ihrer jüngeren Freundin ausleben kann. Zu dieser älteren fühlt sich die jüngere Frau hingezogen, bei ihr findet sie - für einen Augenblick - Freiheit und Glück.
Was aber wird geschehen, wenn die obengenannten Wünsche und Vorstellungen aufeinanderprallen? Wenn das Zwetajewas Ansicht nach natürliche und normale Begehren der jüngeren Frau nach Mutterschaft mit ihrer Angst vor dem Mann und ihrer Sehnsucht nach einer anderen Frau kollidiert?
Was sich in einer solchen Situation äußert, ist bei Zwetajewa nicht die Konfusion einer zwischen zwei Welten oder zwei Begehrensstrukturen geratenen Frau, sondern jener Schrei nach anderer Erde, mit dem sich Zwetajewas Ansicht nach auch Natalie Barney bereits konfrontiert gesehen haben muß: »Endlich der Schrei, verzweifelt, nackt, nicht wiedergutzumachen: »Ein Kind von dir!« (ebd., S.16).
Innerhalb der Argumentation Zwetajewas ist es folgerichtig, daß dieser Wunsch der Frau nach dem Kind alle anderen Wünsche und Vorstellungen und auch alle nicht auf die Zeugung neuen Lebens fixierten Lebensrealitäten überstrahlen und schließlich verdrängen wird: »Es ist der einzige fehlbare Punkt (...), die einzige Bresche in dieser vollkommenen Ganzheit, welche zwei sich liebende Frauen darstellen.« (ebd., S.27) Der einzig fehlbare, aber auch der alles entscheidende Punkt: »Das Kind: einziger anfechtbarer Punkt, der das ganze Anliegen untergräbt. Der einzige, dasjenige des Mannes zu retten.« (ebd., S.28) Die Konsequenz, die jede >normal< empfindende, mütterliche Frau ihren lesbischen Gefühlen zum Trotz daraus ziehen muß, daß zwei Frauen miteinander kein Kind zeugen können, besteht für Zwetajewa darin, nicht nur die eine, sondern in der einen alle Frauen für immer zu verlassen.
Die jüngere Frau, die die ältere Frau um des Kindes willen verläßt, das sie nur von einem Mann, den sie vielleicht nicht einmal liebt, empfangen kann, nimmt damit gleichzeitig »Abschied vom ganzen Geschlecht, vom ganzen Anliegen« (ebd., S.30).
Kein anderer mir bekannter Text der 20er oder 30er Jahre erteilt lesbischen Beziehungen einzig und allein aufgrund der Unmöglichkeit, gemeinsam Kinder zu zeugen, eine solch radikale Absage wie Zwetajewas Mein weiblicher Bruder. In keinem anderen Text wird das >Wesen< der Frau mit vergleichbarer Konsequenz und in vergleichbar unhinterfragter Übernahme herrschender Weiblichkeitsdiskurse auf Mütterlichkeit und den Wunsch nach Mutterschaft reduziert.
Zwetajewas Text markiert damit jenen äußersten Punkt weiblicher Unterwerfung, an dem (schreibende) Frauen von Männern entworfene, (Re)Produktion[6] überhöhende und weiblichen Eigensinn verachtende Diskurse als ihre eigene, authentische Utopie mütterlichweiblicher Seinserfüllung ausgeben und daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen: Ihren eigenen Gefühlen anderen Frauen gegenüber zum Trotz sind lesbische Liebesbeziehungen ihrer Ansicht nach zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, weil heterosexuelle Beziehungen trotz aller damit verbundenen (von Zwetajewa auch beschriebenen) Schrecken den lesbischen Beziehungen zumindest immer die Möglichkeit gemeinsamer biologischer Elternschaft voraushaben und Frauen ermöglichen, ihre >eigentliche Bestimmung< Mutter zu sein, zu erfüllen.
Margaret Radclyffe Hall: Entsagung
Die englische Schriftstellerin Margaret Radclyffe Hall, die 1928 den Roman Quell der Einsamkeit veröffentlichte, orientierte sich bei ihrer Darstellung des Lebens- und Leidensweges ihrer lesbischen Protagonistin Stephen Gordon an den zu Anfang des 20. Jahrhunderts populären sexualwissenschaftlichen Theorien über die Entstehung und Ausprägung weiblicher Homosexualität. [7] Quell der Einsamkeit stellt meines Erachtens eine vergleichsweise direkte literarische Umsetzung eines psychologischen Diskurses dar, der erst Ende des 19. Jahrhunderts männliche und weibliche Homosexualität als psychopathologisches Phänomen entdeckt bzw. konstruiert hatte.
Davon ausgehend, daß Homosexualität kein frei gewähltes Verhaltensmuster, sondern eine angeborene, infolgedessen auch nicht therapierbare Normabweichung sei, entwirft Radclyffe Hall mit Stephen Gordon ein klassisches Opfer der Inversion, für deren Leiden sie mit ihrem Roman Verständnis und Toleranz wecken will. Bei ihrer Darstellung des Lebens und der Beziehungen Gordons stellt Radclyffe Hall weder Heterosexualität als Norm(alität) noch das von zeitgenössischen Psychologen entworfene >butch-femme<-Modell lesbischer Beziehungen in Frage. Im Roman verkörpert Gordon den Idealtypus der >butch<-Lesbierin, die, obwohl als Frau geboren, das >richtige< (nämlich männliche) Leben im >falschen< (nämlich weiblichen) Körper zu führen hat. Fast alle im Text geschilderten Frauenbeziehungen funktionieren nach einem an heterosexuellen Verhaltensweisen orientierten Muster, dessen auf den ersten Blick problemloser Ablauf dadurch gewährleistet wird, daß eine (meistens die ältere) der beiden beteiligten Frauen die traditionell >männliche<, die andere die traditionell >weibliche< Rolle übernimmt. Obwohl sich die Erzählerin in Quell der Einsamkeit darüber ausschweigt, ob die die männliche< Rolle spielende Stephen jemals mit den eigentlich zu dieser Rolle gehörenden Väterlichkeitswünschen oder -gefühlen konfrontiert wird, machen Stephens Überlegungen zu Beginn ihrer das Buch bestimmenden Liebesbeziehung zu Mary Llewellyn deutlich, daß sie sich sehr wohl über Marys möglicherweise auftauchenden Wünsche nach einem >normalen< weiblichen Leben mit Mann und Kindern Gedanken gemacht hat:
Was konnte ihr ein Mann geben, das sie ihr nicht geben konnte? Ein Kind? Aber sie würde dafür Mary mit Liebe überschütten, einer Liebe, die sich selbst genügte, ohne Kinderkriegen. Wenn Mary sich zur ihr bekannte, würde es in ihrem Herzen, ihrem Leben keinen Raum mehr für Gedanken an ein Kind geben. Kam es zu solcher Verbindung, dann würde diese alles in sich einschließen, dann würde sie Mary alles sein: Vater, Mutter, Freundin und Geliebte, schlechthin alles, die wunderbare Erfüllung. Und Mary wäre das Kind, die Freundin, die Geliebte. (Radclyffe Hall 1976, S.366f.)
Gerade weil Radclyffe Hall sich bei ihren Darstellungen lesbischer Beziehungen so stark am heterosexuelle Beziehungen kopierenden >butch-femme<-Modell orientiert, rückt die im Text selbst nur einige wenige Male angesprochene Kinderfrage schließlich wie von selbst ins emotionale Zentrum ihres Romans. Es liegt auf der Hand, daß die oben zitierten Überlegungen Stephen Gordons dazu dienen sollen, eine von ihr und in der Liebesbeziehung stets tabuisierte Leerstelle mit Absolutheitsansprüchen zu überdecken, die wiederum dem Diskurs romantischer Liebe geschuldet sind. Was Zwetajewa in ihrem Text radikal in Frage stellt die Möglichkeit des Liebespaares, einander ohne ein Drittes zu genügen -, wird bei Radclyffe Hall zur existentiellen Notwendigkeit: Nur wenn es den lesbischen Liebenden gelingt, der jeweils anderen die Welt zu sein und Ehe und Familie zu ersetzen, wird die Beziehung den immer wiederkehrenden Anfeindungen der Außenwelt trotzen können.
Im zweiten Teil des Romans, der Stephen Gordons Beziehung zu Mary Llewellyn zum Thema hat, beschreibt Radclyffe Hall vergleichsweise ausführlich das Bemühen Stephen Gordons, in einem gemeinsamen Alltag mit Mary eine Beziehung zu schaffen, die den oben zitierten Absolutheitsansprüchen tatsächlich gerecht wird. Im Verlauf des Textes wird jedoch sowohl Gordon als auch den LeserInnen des Romans deutlich, daß diese Ansprüche weder von Gordon noch von irgendeiner anderen lesbischen Frau jemals zu erfüllen sein werden. Während Gordon sich mehr und mehr in ihre schriftstellerische Arbeit vertieft und diese Arbeit als zumindest passiven Widerstand gegen die sozialen Anfeindungen versteht, versinkt die als klein, schwach und schutzbedürftig geschilderte Mary mehr und mehr im Elend ihrer geächteten Lebensweise. Wie viele ihrer Freundinnen beginnt auch Mary zu trinken, »vielleicht nicht zuviel, aber immerhin genug, um das Leben in rosigerem Licht zu erblicken. Am Morgen darauf war sie oft stark deprimiert und hatte das heulende Elend.« (ebd., S.488) Radclyffe Hall betont in ihrem Roman immer wieder den Zusammenhang zwischen den Lebensumständen lesbischer Frauen und dem Scheitern ihrer Beziehungen - es sind die Reaktionen der Außenwelt, die die >lnvertierten< nicht akzeptieren und ihre Liebesbeziehungen nicht anerkennen, die Frauen wie Stephen und Mary solche Schwierigkeiten bereiten, daß letztlich auch die eigentlich intakten und funktionierenden Beziehungen davon bedroht werden.
>Zufällig< erscheint in dieser Situation tiefer Depression ein alter Freund Stephens auf der Bildfläche, der sich schon nach wenigen Seiten als potentieller Retter Marys erweist. Anders als in Zwetajewas oben dargestellter Version ist in Quell der Einsamkeit die jüngere, schutzbedürftigere und >weiblichere< der beiden Frauen keineswegs bereit, ihre ältere Freundin um eines Mannes oder der Möglichkeit von Mutterschaft willen zu verlassen. In Quell der Einsamkeit ist es Stephen Gordon, die - ihre >männliche< Rolle damit restlos erfüllend - für ihre >weibliche< Freundin die Entscheidung trifft, daß ein gesichertes heterosexuelles Leben Mary letztlich glücklicher machen wird als eine Fortführung der bestehenden lesbischen Beziehung. Je größer Gordons Zweifel an ihrer eigenen Vision zweier einander genügender Frauen werden, desto schneller wächst ihre Bereitschaft, die soziale Überlegenheit traditioneller Verhaltensweisen zu akzeptieren. Ist die Dominanz des >normalen< Modells erst einmal anerkannt, ist das endgültige Scheitern der eigenen Utopie vorprogrammiert: »Niemals hatte sie so klar erkannt, was alles Mary Llewellyn entging. Kinder, ein allgemein geachtetes Heim, eine leidenschaftliche Bindung, die die Welt für heilig hielt« (ebd., S.529). Am Ende eines langen und schmerzhaften Erkenntnisprozesses ist Stephen Gordon davon überzeugt, daß sie Mary Llewellyn dieses Schutz und Glück versprechende, ihrem durch und durch >weiblichen Wesen< entsprechende Leben nicht länger vorenthalten darf. Sie entsagt Mary und dem Glück, das sie in der Beziehung zu ihr offensichtlich empfunden hat, und >übergibt< Mary nach einem inszenierten Verrat dem bereits erwähnten, als Retter bereitstehenden Mann.
Wie Zwetajewa stellt auch Radclyffe Hall in ihrem Text die Vorherrschaft traditioneller Weiblichkeits- und Sexualitätsnormen nicht in Frage. Anders als Zwetajewa beschreibt sie den Wunsch lesbischer Frauen nach Transzendenz und damit zwangsläufig der zumindest partiellen Teilhabe an der Welt der >Normalen< jedoch nicht als ureigenste >weibliche< Utopie, sondern als individuelles Scheitern schwächerer lesbischer Frauen im heterosexuellen System. Nur wenigen Frauen, die wie Stephen Gordon stark genug sind, gelingt es, die Folgen der Normabweichung in einer repressiven Gesellschaft zu ertragen. Sie werden durch den erlittenen Schmerz zu Heldinnen geläutert. Ihr Daseinszweck besteht darin, durch ungewöhnliche kulturelle Leistungen und verantwortungsvolle Entsagung bei den >normalen< Menschen Verständnis und Toleranz für die Belange homosexueller Frauen zu wecken. Wenn andere Frauen nicht stark genug sind, um lesbisch leben zu können, sondern heterosexuell und eventuell auch Mütter werden, hat das bei Radclyffe Hall nichts mit authentischen Wünschen zu tun. Das >schwachen< Frauen wie Mary Llewellyn von allen Seiten unterstellte Bedürfnis nach Mutterschaft und sozialer Sicherheit erscheint in Quell der Einsamkeit eher als Projektion, die mehr über lesbische Ohnmachts- und männliche Allmachtsphantasien als über die wirklichen Bedürfnisse dieser Frauen aussagt.
Djuna Barnes: Die Gier nach Mutterschaft
Im Zentrum des 1936 erschienenen Romans Nachtgewächs[8] der amerikanischen Schriftstellerin Djuna Barnes steht die Liebe Nora Floods zu Robin Wood. Anders als Zwetajewa und Radclyffe Hall geht Barnes bei ihren Schilderungen weder von einem >butch-femme<-Modell lesbischer Liebesbeziehungen noch von einer >ältere Frau-jüngere Frau<-Beziehungsstruktur aus. Trotzdem spielen die bereits erwähnten Weiblichkeits- und Mütterlichkeitsdiskurse auch in Nachtgewächs eine zentrale Rolle.
Robin erscheint als ein Wesen, das sich mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen den Polen traditioneller Dichotomien bewegt: Sie wird nicht nur in den »Intervallen«[9] zwischen Vernunft und Instinkt oder zwischen Mensch und naturhaftem Wesen angesiedelt, sondern erscheint auch als eine jener androgynen »Prinz-Prinzessinnen«, denen andere Menschen verfallen, weil sie »zwar das eine nicht ganz, dafür aber halb das andere« sind (Barnes 1976, S.152).
Obwohl Djuna Barnes den LeserInnen ihres Romans kaum etwas über den gemeinsamen Tagesablauf von Nora und Robin erzählt, wird in Nachtgewächs mehrmals die Puppe erwähnt, die eine Frau einer anderen Frau als Symbol des Kindes, das die beiden gemeinsam nicht haben können, geschenkt hat: Sie bedeutet »das Leben, das sie zusammen nicht führen können: es ist ihr Kind, heilig und profan.« (ebd., S.158) Ohne daß Djuna Barnes Nora und Robin heterosexuelle Beziehungsmuster kopieren ließe, wird trotzdem auch in Nachtgewächs zumindest Mutter- bzw. gemeinsame biologische Elternschaft als entscheidender Vorteil heterosexueller Beziehungen akzeptiert. Wie in Quell der Einsamkeit werden deshalb auch bei Barnes die Gründe für das Nicht-Funktionieren der lesbischen Liebesbeziehung in der Abweichung von traditionellen Normen und Regeln gesucht. Die Unmöglichkeit, gemeinsam ein Kind zu zeugen, wird dabei zumindest von Nora Flood als eine Erklärung für das Scheitern ihrer Beziehung herangezogen. Diese kritiklose Übernahme herrschender Vorstellungen von der Bedeutung gemeinsamer biologischer Elternschaft für Liebesbeziehungen führt in Nachtgewächs dazu, daß Nora sich im Verlauf des Romans immer tiefer in Selbstanklagen und ein masochistisches Leiden verstrickt, das sie schließlich blind für alternative Interpretationen oder Lösungsmöglichkeiten macht.
In Nachtgewächs geht es jedoch nicht nur um das Kind, das Nora und Robin gemeinsam nicht zeugen können. Es geht gleichzeitig um eine inzestuöse Dynamik, die den Verlauf der Beziehung entscheidend bestimmt. Nora erinnert sich: »Ich wurde Gast in allen Cafés, in denen Robin ihr Nachtleben geführt hatte (...), aber alles, was ich erfuhr, war, daß andere mit meiner Geliebten und meinem Kind geschlafen hatten. Denn Robin bedeutet auch Inzest, das ist eine ihrer Mächte.« (ebd., S.173)
In keinem anderen mir bekannten Text dieser Zeit wird dieser sexuelle Aspekt der >mütterlichen Gefühle<, die Frauen möglicherweise füreinander hegen, so deutlich benannt wie in Nachtgewächs. Die »Gier nach Mutterschaft«, die Dr. O'Connor in einem Gespräch mit Nora mit lesbischen Beziehungen in Verbindung bringt, bezieht in Nachtgewächs ein vom psychoanalytisch-psychologischen Diskurs anscheinend ein für allemal tabuisiertes, wechselseitiges inzestuöses Mutter-Tochter-Begehren mit ein. Daß dieses Begehren den Regeln der Diskurse zufolge gar nicht existieren darf, wenn die Allmacht des Vaters als zentraler Bezugsperson für das Ge- oder Mißlingen der Entwicklung zur >reifen Weiblichkeit< garantiert werden soll, liegt auf der Hand. [10] Obwohl die Inzest-Phantasien Noras als Modell eines jenseits der >Vater-Mutter-Kind'-Struktur klassischer Psychoanalyse angesiedelten Begehrens gelesen werden können, bleibt Barnes bei ihren Darstellungen dem Wertesystem der Psychoanalyse verhaftet. Auch ihre Protagonistinnen erscheinen als tragische Figuren, die letztlich an ihren psychopathologischen Begehrensstrukturen scheitern.
In keinem der bisher vorgestellten Texte finden die beschriebenen Frauen eine Möglichkeit, sich den Weiblichkeitszuschreibungen herrschender Diskurse in bezug auf Mutterschaft zu entziehen. Es gibt Unterschiede in der Art, wie sie sich auf diese Diskurse und ihre Anforderungen an eine >reife Weiblichkeit< beziehen. Ob sie die ihnen unterstellten Bedürfnisse als ihre ureigensten Wünsche bezeichnen, ob sie entsagend in der Rolle der Märtyrerin Zuflucht suchen oder wie Nora Flood an ihrer Liebe verzweifeln - sie sind und bleiben einem System verhaftet, in dem Frauen nur in der Rolle passiver Objekte männlicher Zuschreibungen (über) lebensfähig sind.
Djuna Barnes: »Ich bin mir Rache genug«
Eine literarische Alternative zu den bisher vorgestellten Thematisierungen von Mutterschaft liefert neben dem 1928 veröffentlichten Roman Orlando von Virginia Woolf Djuna Barnes' im gleichen Jahr erschienener Ladies Almanach.
Während Virginia Woolf in ihrem Roman mit der Doppelgeschlechtlichkeit Orlandos eine ironisch gebrochene Utopie vom Ende der Grenzen des Geschlechts entwirft, setzt sich Barnes im Almanach wie in Nachtgewächs explizit mit lesbischen Liebesbeziehungen und im Zusammenhang damit auch mit Mutterschaft auseinander. In Nachtgewächs zeigt Barnes mit Hilfe der Figur Noras exemplarisch auf, was mit Frauen geschieht, die sich an dem traditionellen »Frau-als-Mutter«-Bild orientieren und trotzdem versuchen, mit anderen Frauen erfüllende Liebesbeziehungen zu leben. Im Ladies Almanach hingegen werden lesbische Beziehungen als positive Alternative zu heterosexuellen Lebensmodellen und der traditionellen Frauenrolle dargestellt.
Der Almanach liefert in zwölf Monatskapiteln satirische Beschreibungen und Inszenierungen eines Zirkels von lesbischen Ladies der gehobenen Pariser Gesellschaft und beschäftigt sich außerdem in satirisch-parodistischer Form mit allgemeinen Aussagen über »women and their ways«, mit der männlich dominierten Kulturgeschichte und den Vor- und Nachteilen lesbischer Beziehungen. Dabei setzt sich Barnes auch mit traditionellen Argumenten gegen lesbische Liebesbeziehungen auseinander: Zum einen mit der These, daß die daran beteiligten Frauen schon deshalb nicht glücklich sein können, weil ihnen ein sexuell differentes Gegenüber zur Abgrenzung und Ergänzung fehle. Zum anderen thematisiert Barnes im Almanach jene Unmöglichkeit gemeinsamer biologischer Elternschaft in lesbischen Beziehungen, die in Nachtgewächs als ein Grund für das Scheitern der Liebe Noras zu Robin dargestellt wird.
Dieses Argument wird im Almanach vor allem von Patience Scalpel, der einzigen heterosexuellen Figur des Textes, gegen ihre lesbischen Freundinnen ins Spiel gebracht. Diesem Vorwurf begegnet die Erzählerin des Almanach mit einer höchst erstaunlichen Argumentation. Im November-Kapitel spricht Evangeline Musset, die Hauptfigur des Textes, lesbischen Frauen eine Weisheit zu, die in direktem Bezug zu ihrem Nicht-Mutter-Sein steht: »Und mit fünfzig, was hat der Mann da, wenn nicht lauter Weisheit, und was hat dann die Frau, als auf plötzlichere und folglich angenehmere Weise ebenfalls diese Weisheit, (...) zur Frau kommt sie, wenn sie keine Veranlassung zu Kindern hat und nicht säuglingstauglich ist. Dann ist sie weise!« (Barnes, 1985, S.80) Gleichzeitig ordnet die Erzählerin im Januar-Kapitel die heterosexuelle Patience, die Kinder geboren hat, explizit dem von ihr als unfruchtbar beschriebenen Monat Januar zu. Folgen wir der Weisheitsdefinition des November-Kapitels, so kann Patience auch gar nicht über die spezifische Weisheit Evangelines und ihrer Freundinnen verfügen, denn sie hat »Veranlassung zu Kindern« gehabt und hat sich somit als »säuglingstauglich« erwiesen. Im Januar-Kapitel bedient sich Patience statistischer und mathematischer, also sogenannter vernünftiger Mittel, um damit das >Problem lesbische Frau<, das sie nicht versteht, analytisch-intellektuell zu bewältigen. Evangeline, die im November-Kapitel über Nacht zur spezifisch lesbischen Weisheit gelangt, ist im Gegensatz zu Patience künstlerisch und kreativ. Sie bedient sich gerade nicht der von Patience und vom herrschenden wissenschaftlichen Diskurs favorisierten analytischen Mittel, sondern arbeitet statt dessen mit Rätseln und Reimen, wenn sie anderen Frauen etwas erklären will - und wird auch dafür im Verlauf des Textes heiliggesprochen.
Darüber hinaus wird Evangeline, die im Mai-Kapitel über sich sagt: »Ich bin mir Rache genug!«, im Almanach auch jenes ewige Leben gewährt, das Zwetajewa zufolge Menschen nur über Reproduktion erlangen können. Im Almanach geht es im Gegensatz dazu nicht um eine über Kinder vermittelte Transzendenz, sondern um die konkrete Auferstehung des Körpers und des Geistes, die Evangeline am Ende eines Lebens widerfährt, das sie jener >Liebe< geweiht hat, die Zwetajewas Ansicht nach niemals >genug< sein kann und Radclyffe Hall zufolge immer an den Widerständen einer homophoben Gesellschaft scheitern muß. Im Almanach werden so Bezüge zwischen Heterosexualität, biologischer Eltern- bzw. Mutterschaft und geistiger Unproduktivität auf der einen und Homosexualität, Kinderlosigkeit und Kreativität auf der anderen Seite hergestellt, die zwar die herrschenden Dichotomien nicht aufbrechen, traditionelle Wertungen jedoch radikal in Frage stellen. Gerade die als Mangel definierte und immer wieder als Problem thematisierte Kinderlosigkeit wird dabei zur Quelle einer Kreativität, die im Almanach als spezifische Qualität lesbischer Frauen erscheint.
Der Almanach, der in satirischer Form eine selbstbewußte, elitäre Gruppe lesbischer Künstlerinnen im Paris der 20er Jahre porträtiert und inszeniert, ist einer der wenigen frühen Texte, der Frauen nicht länger als Objekte patriarchaler Herrschaftsausübung darstellt. Die Ladies des Almanach, die jenen Ort außerhalb der Diskurse erobert haben, der in der neueren französischen Theorie zum Symbol eines >anderen< weiblichen Lebens geworden ist, sind Subjekte ihrer Geschichte, ihrer Leidenschaften und ihres Körpers, die zu Recht von sich sagen können, sie seien sich Rache genug. Sie sind nicht mehr darauf angewiesen, >Normalität< durch heterosexuelle Beziehungen und Mutterschaft unter Beweis zu stellen. Da sie sich selbst und ihre Lebensweise nicht als defizitär betrachten, entziehen sie sich der Normierungsmacht traditioneller Weiblichkeitsvorstellungen und können sich im Idealfall frei entscheiden, ob sie Mütter sein wollen oder nicht, ohne daß diese Entscheidung das Scheitern ihrer jeweiligen Frauenbeziehungen vorbestimmen würde.
Ich danke Inge Meier und Agnes Lütke Föller für ihre Anregungen und ihre Kritik.