Wie soll denn Dein Spiegelbild zustande kommen, Du kleine Narzißtin


Briefwechsel zweier Schwestern


Berlin, den 15. September 1990

Liebe Irina,

heute morgen habe ich Deine Karte aus der Toscana in meinem Briefkasten gefunden. Wie ich Dich beneide um die zwei Wochen Urlaub, während ich mich ausschließlich zwischen Theater und meiner Wohnung - die inzwischen schon so verwahrlost aussieht, daß ich keine Worte finde, um dieses Chaos zu beschreiben - hin- und herbewege. Doch immerhin ist ein Ende abzusehen: Bald, am 5. Oktober, ist Premiere und damit das Schlimmste überstanden.
Warum ich aber vor allem postwendend auf das langersehnte Lebenszeichen von Dir antworte, hängt mit einem Traum letzte Woche zusammen, dessen Bilder so eindrücklich waren, daß ich sie am nächsten Morgen noch so klar wie sehr selten vor Augen hatte (denn meistens bleibt mir nur ein vages Gefühl, und alles andere ist mir beim Aufwachen bereits entglitten).

In diesem Traum bin ich der Feuervogel - eine Figur, die ich tanze und im übrigen sehr liebe: ich spiele sie mit meiner ganzen Leidenschaft! Ich trage ein rotes wallendes Gewand, ähnlich einem Hochzeitskleid (tatsächlich, das heißt in Wirklichkeit, trage ich ein enganliegendes gelbes). Plötzlich sehe ich, daß ich schwanger bin, stocke in meinen Bewegungen, beginne nicht zu fliegen, sondern betrachte meinen Bauch im Spiegel, erstaunt, fasziniert und erschrocken zugleich; allmählich weicht die Angst und ich fühle mich machtvoll und stark. Doch plötzlich winde ich mich in Wehen, schreie, und obwohl ich allein bin, fühle ich keine Angst, ich gebäre - doch als ich mich voller Freude meinem Neugeborenen zuwenden will, sehe ich, daß ich kein Kind, sondern eine Puppe geboren habe, und starr vor Entsetzen entdecke ich, daß dort, wo eigentlich der Kopf sein sollte, nur eine Sprungfeder aus dem Rumpf ragt... schaudernd wende ich mich ab, schweißgebadet wache ich auf.

Ich habe keine Ahnung, wie dieser Traum psychoanalytisch zu deuten ist, für mich jedenfalls hat er Grundsätzliches aufgewühlt, mich wieder mit meinem seit langem in die Versenkung verbannten Kinderwunsch konfrontiert, mir diesen Wunsch wieder ins Bewußtsein gebracht, den ich mittlerweile vergessen glaubte.
Und doch: Es ist ja auch gleich die Auflösung, die Desillusionierung dieses Wunsches enthalten! Ich kann ja gar nicht gebären, vielmehr: ich gebäre ein Nichts, schlimmer noch: eine kaputte Puppe, herzlos, kopflos.

Vielleicht sollte ich kopflos handeln, sollte ich Vorbehalte, Gegenargumente und Zweifel einfach hinter mir lassen und mir den Wunsch zugestehen, ihn verwirklichen und sie, meine Tochter, gebären und mit ihr das leben, was ich mir ersehne, immer wieder: mit ihr möchte ich durch den Wald rennen, um die Wette, um atemlos an eine Quelle zu gelangen, staunend lauschen wir ihrem Sprudeln, das wie ein kleines Lachen scheint ... Verstehst Du, ich möchte mit ihr mein Kind-Sein wiederentdecken, mit ihren Kinderaugen all das sehen, was uns Erwachsenen verlorengegangen ist!

Welche Klischees du im Kopf hast, welchen Träumen du nachhängst, wirst Du mir antworten, ich seh Dich ganz genau vor mir mit Deinem entschlossenen Mund, in den Augen ein spöttisches Lächeln. Denk doch, was es heißt, einen Alltag mit einem Kind zu haben: Windeln, Geschrei und Nächte, in denen du nicht schlafen kannst. Lange Jahre bindest du dich, Jahre, die dich zermürben. Bis von deinen Träumen nichts mehr übrig sein wird. Das wirst Du sagen - und auf eine Weise hast Du sicher recht, aber ich fühle, daß ich es dennoch ausprobieren muß: Ich muß spüren, wie es ist, schwanger zu sein, zu gebären und Mutter zu sein. Und mit aller Macht werde ich mich weigern, das Klischee »Mutter« zu erfüllen! Ich werde Mutter sein, ohne mich zu einer Glucke zu entwickeln, ohne in die Kategorie »Das Mutti« zu passen, die Fee Zschocke entworfen hat - und ohne zu werden wie unsere Mutter, die wir oft mitleidig belächelt haben, weil sie intellektuell nicht so - wie Du einmal gesagt hast - »gesegnet« sei. Obwohl wir ja später, im Zuge der Frauenbewegung begriffen haben, daß es weniger eine Frage des Gesegnet-Seins als des »Ein-Zimmer-für-sich-allein«-Habens ist - eine Voraussetzung, die ihr gefehlt hat wie die Energie, die ihr in einem Alltag mit drei Kindern nicht mehr blieb, um sich in hochgeistigen Gesprächen, wie Vater sie geschätzt hat, zu echauffieren, um ihre Intellektualität überhaupt zu entwickeln...
Gestern habe ich mit Ann gesprochen. Zaghaft habe ich ihr angedeutet, daß dieser Kinderwunsch wieder in meinem Kopf spukt. Aber mir schien, als habe sie nicht richtig zugehört, als sei sie mit ihren Gedanken woanders vermutlich bei dem Thema für ihre Dissertation, zu der sie sich jetzt - nach langem Hin- und Herüberlegen - entschlossen hat.
Aber ich denke sowieso, daß ich mich allein unabhängig von der Beziehung zu ihr - für oder gegen ein Kind entscheiden muß. Denn wer besitzt schon hellseherische Fähigkeiten und könnte vorhersagen, wie lange wir noch zusammenbleiben - vielleicht verändert sich unsere Beziehung irgendwann, so wie Evas und Deine, oder wir trennen uns: Dann bin ich letztendlich doch allein für das Kind verantwortlich.
Irina, ich weiß gar nicht, ob es richtig ist, ausgerechnet Dir wieder - in aller Ausführlichkeit mein Innerstes zu offenbaren. Vor allem, wo Du mir doch schon vor Jahren (nun gut, damals war ich auch erst 22!) die Hölle heiß gemacht hast, als ich Dir von meinem Kinderwunsch erzählt habe.
Aber schließlich kennst Du mich am besten, und all diese grundsätzlichen Lebensfragen muß ich einfach mit Dir diskutieren. Und ich hatte auch einfach das Bedürfnis, mir meine Gedanken von der Seele zu schreiben.
Gespannt und ein bißchen aufgeregt warte ich auf Deine Antwort. Ich hoffe, Du schreibst bald!
Sehen wir uns eigentlich am 28., wenn Mutter Geburtstag feiert, oder bist Du da noch gar nicht zurück?

Ich umarme Dich, Yola


Zürich, 1. Oktober 1990


Liebe Yola,

seit vorgestern sind wir wieder zurück. Heute ist ein wundervoller Herbsttag, so warm und mit leuchtendblauem Himmel, daß ich Lust hätte, mich am See - ganz wie im Urlaub - in der Sonne zu räkeln, statt wieder im Alltag gefangen zu sein. Doch so grau ist mir gar nicht zumute.

Dein Brief hat mich erstaunt, entsetzt, wütend gemacht und gerührt. Alles zusammen. Berührt hat mich Deine träumerische Art, Deine bemerkenswerte Fähigkeit, Dich ganz Illusionen hinzugeben, Utopien und Bilder zu spinnen, die für mich endlos weit hergeholt scheinen.

Auch wenn Du bereits versucht hast, mir den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem Du meine Reaktion ein Stück vorweggenommen hast, werde ich Dir dennoch in aller Deutlichkeit jene Bilder vorhalten, die ich in bezug auf Mutterschaft für die realistischeren halte:
Meine Liebe, Du wirst mit Deinem Kind nicht atemlos durch den Wald laufen, Du wirst Dich mit vollbepackten Einkaufstüten und einer schreienden Göre im Kinderwagen in den Bus quälen und innerlich die Göttin anflehen, Dich ohne größere Katastrophe und vor allem ohne Nervenzusammenbruch zu Hause ankommen zu lassen. Du wirst zwischen Kindertagesstätte, Theater und zu Hause hin- und herhetzen, und Du wirst fluchen, wenn Dir zu allem, was Du außer Mutter-Sein noch vorhast, die Energie fehlt. Du wirst schließlich das Theater schmeißen und Dich womöglich zu einem zweiten Kind entschließen, damit sich der Aufwand auch lohnt - und um diesen schwerwiegenden Schritt vor Dir selbst rechtfertigen zu können. Und dann wirst Du nicht mehr den ~>Feuervogel«, sondern »Häschen in der Grube« spielen, aber Dein Tanztalent kommt sicher auch bei »Ringelreihen« oder »Schwesterchen, komm tanz mit mir« zur Geltung - nur applaudieren müßtest Du Dir dann selber.
Das Thema Alltag hast Du in Deinem Brief bemerkenswert schnell abgehakt, finde ich! Lange genug habe ich mit Eva und Lilli zusammengelebt, um mitzukriegen, was es tatsächlich bedeutet, »letztendlich allein« die Verantwortung zu tragen und die Gratwanderung zwischen Kind, Freiräumen und Schuldgefühlen immer wieder neu zu wagen. Lilli ist jetzt sieben, Eva hat - wie sie selbst sagt - die schlimmsten Jahre überstanden.

Weißt Du, ich glaube nicht, daß es reicht, mit aller Kraft zu wünschen, nicht so eine Gluckenmutter zu werden: Um das zu realisieren, mußt Du entweder finanziell so abgesichert sein, daß Du Dir problemlos Tagesmutter, Babysitter und am besten noch >ne Putzfrau dazu leisten kannst, oder Du bist gezwungen, all diese Arbeit allein zu machen, es sei denn, Du hättest mindestens eine, besser drei und idealerweise fünf Co-Mütter.

Und überhaupt: ein Mädchen! Wie soll denn Dein Spiegelbild zustande kommen, Du kleine Narzißtin? Über Parthenogenese vielleicht? Bantu sucht die Demeterblume? Oder wie willst Du beeinflussen, daß es keinen strammen Buben gibt? Vielleicht wirst Du mir jetzt aber antworten, daß Du einen Sohn ebenso lieben würdest. Dem könnte ich nichts entgegensetzen? O doch! Was ist, wenn Du Dir einen kleinen Macker ranzüchtest? Wirst Du ihn dann aussetzen, ins Heim geben oder dem Erzeuger vor die Tür setzen?
Er kann ja auch schwul werden, hör ich Dich bereits sagen. Stimmt. Aber er könnte es auch genausogut nicht werden. Deine Chancen, würd ich schätzen, stehen bei 1:10, wenn überhaupt... Aber lassen wir das, kommen wir zum zentralen Punkt, der Zeugung. Wie soll's denn entstehen, Dein Wunschkind? Willst du nach Oakland fliegen und Dir in der feministischen Samenbank Sperma von einem smarten Boy aussuchen, der, wenn Du ehrlich bist, doch Ann ein bißchen ähnlich sehen soll? Kommen nicht heimliche, uneingestandene Wünsche nach »einem Kind von dir« zum Vorschein?

Doch versteh mich nicht falsch, mein Unbehagen an dieser Art der Befruchtung rührt nicht daher, daß ich sie als »künstlich« kritisiere, würde dies doch bedeuten, daß wir die gute alte heterosexuelle Kopulation als das einzig Wahre und Natürliche setzen und denken - und das tun wir ja beileibe nicht mehr.

Aber: Kannst Du denn diese kleine private Selektion, die Du beim Samenauswählen betreibst, ganz abkoppeln von Deiner Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologie, die Du sonst so vehement vertrittst? Würdest Du nicht doch einen qualifizierten weißen Mittelschichtmann einem türkischen Arbeiter vorziehen? Oder wie ist es mit Sperma von einem afrodeutschen - oder auf Oakland bezogen afroamerikanischen Spender? Würdest Du nicht im Geiste schon Ma »das arme Kind« bedauern hören? Beeinflußt es Deine Wahl, wenn Du von der zunehmenden rassistisch motivierten Gewalt hörst und liest? Denkst Du nicht auch, daß wir diese Wahl nicht unabhängig von Kriterien treffen, die in der herrschenden Gesellschaft »gelten«, und selbst beginnen, ein perfektes, ideales Wunschkind basteln oder bestellen zu wollen? Yola, es sind Fragen, die ich stelle, Fragen, auf die ich auch nicht sofort eine Antwort weiß, aber ich denke, daß wir sie nicht einfach wegschieben und ignorieren können!

Meine Liebe, Deine Premiere naht! Ich hoffe sehr, einen billigen Flug nach Berlin zu ergattern, um Dich zu sehen...
Irina
Berlin, den 10. Oktober 1990

Liebste Irina,
nun habe ich ihn überstanden, meinen großen Tag. Ann hat mir schon Tage vorher Bachblüten zur Beruhigung verabreicht - und sich selbst auch. Ich glaube, ich habe sie mit meiner Aufregung auch ganz verrückt gemacht. Schade, daß Du nicht kommen konntest! Dein Telegramm hat mich noch, kurz bevor ich mich mit zitternden Knien auf den Weg machte, erreicht.
Also: Ich bin weder gestolpert, noch habe ich eine meiner Figuren vergessen, noch bin ich ohnmächtig geworden. Es ist nichts davon passiert, was ich mir an möglichen Katastrophen ausgemalt hatte ... Ich konnte es. Und war vollkommen glücklich. In solchen Momenten möchte ich die Zeit anhalten, aber vielleicht - und dem würdest Du, die Rationalere von uns beiden, sicher zustimmen - würden wir soviel Glück gar nicht ertragen. Trotzdem: den Wunsch habe ich. Wie meinen Kinderwunsch. 

Gestern habe ich mich mit Ann gestritten. Sie hat mir vorgeworfen, daß ich meinen Kinderwunsch mystifiziere, daß ich ihn behandle, als sei er vom Himmel gefallen zumindest redete und verhielte ich mich so. Sie, die Soziologin, dozierte dann etwas von der Entstehung der Mutterliebe als Verhaltensmuster, die schließlich so irrwitzige Sehnsüchte wie den Kinder-»Wunsch« produziert habe.
Gut, versuche ich ihn eben zu entmystifizieren, indem ich ihn als elementaren Teil des Lebensentwurfes für Frauen sehe, doch ich stelle fest, daß sich der Wunsch davon nicht in Luft auflöst. Vielleicht ist es auch meine trotzige und starrköpfige Art, die es mir unmöglich macht, diese Argumente (die mir ja schließlich nicht brandneu sind!) bis zu meiner Seele vordringen zu lassen.
Dein Brief hat mich im übrigen auch getroffen, Deine zynischen Bemerkungen haben mich verletzt. Von der Alltagsorganisation bis zur Samenbankbenutzung unterstellst Du mir eine unkritische Herangehensweise und schlichtweg Blauäugigkeit!!
Über das »Häschen in der Grube« mußte ich dennoch lachen, gibt es doch das Kinderbild von uns beiden - erinnerst Du Dich? Allerdings bist Du da das Häschen.
Viele Deiner Fragen, vielleicht auch Deiner Vorwürfe, sind sicher nicht unberechtigt. Doch an diesem Punkt stelle ich fest, wieviel lieber ich mit Dir reden würde, wie schwer es mir fällt, meine Antwort in Worte zu fassen, die Dich auch erreichen. Und außerdem ist Streiten per Brief so mühsam.
Meinst Du, Du könntest mir in Deinem vollgepackten Terminkalender ein Weckend reservieren? Vielleicht eins, das nicht in endlos weiter Ferne liegt? Es gibt nämlich noch eine total spannende Neuigkeit, aber die möchte ich Dir auch erst verraten, wenn wir uns sehen ...
Am besten wir telefonieren in den nächsten Tagen mal, ja?!
Yola

Autor(en)