»Sag mal, Mama, bist du auch lesbisch ?«*

  • *Dieser Text basiert auf zwei Interviews mit Seher Polat, die von Uli Streib durchgeführt und zusammengefaßt wurden.

Geboren wurde ich 1960 im kurdischen Gebiet der Türkei. Zunächst wohnte meine Familie - ich habe noch drei ältere Schwestern - auf dem Land, später zogen wir in die Stadt, wo mein Vater, von Beruf Lehrer, eine attraktivere Stelle in Aussicht hatte. Entscheidend geprägt wurde meine Kindheit durch den frühen Tod meines Vaters - ich war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt -, was für meine Familie einen sozialen Abstieg in zweifacher Hinsicht bedeutete: Zum einen verschlechterte sich die finanzielle Situation,  und meine Mutter,  der keine Rente zustand,  war gezwungen, unseren Lebensunterhalt mit Heimarbeit zu bestreiten. Zum anderen ist es in der Türkei ein Grund, eine Frau zu mißachten, wenn sie ohne Mann lebt. Sie wird als 'Freiwild' betrachtet, und jeder ihrer Schritte wird mit Argusaugen überwacht.
Oft hatte ich das Bedürfnis, meine Mutter in Schutz zu nehmen. »Wohin geht deine Mutter denn?« fragten mich andere Kinder manchmal, wenn sie mit ihrem stolzen, aufrechten Gang, in Mantel und mit Kopftuch die Straße entlangging, und ich antwortete: »Sie geht arbeiten. Sie tratscht nicht den ganzen Tag wie eure Mütter!«
Doch andererseits wußte ich auch, daß meine Mutter eine sehr starke Persönlichkeit war; ich bewundere sie noch heute dafür, daß sie diese Situation, in den sechziger Jahren vier Töchter großzuziehen, gemeistert hat. Lange Zeit habe ich sie aus diesem Grund auch sehr idealisiert.
Meiner Mutter war es wichtig, daß ihre Töchter eine Schulbildung erhalten. Sie, die selbst erst von ihrem Mann lesen und schreiben gelernt hatte, setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um uns eine ausreichende Bildung zu ermöglichen. So ging sie bis zum Bürgermeister, um durchzusetzen, daß meine Schwestern ins staatliche Internat aufgenommen werden, in dem eigentlich nur Jungen zugelassen waren. Und sie hat es tatsächlich geschafft. Ich selbst blieb zunächst bei meiner Mutter; zum einen, weil ich die Jüngste war und noch nicht zur Schule ging, zum anderen als 'Schutzschild' meiner Mutter gegenüber einer Gesellschaft, die alleinlebende Frauen (auch wenn sie verwitwet waren) kaum toleriert.
Um die finanzielle Situation zu verbessern, beschloß meine Mutter, in die BRD zu emigrieren. 1970 wurde diese Idee Wirklichkeit: Meine Mutter übersiedelte nach Bayern. Während sie dort eine neue Existenz aufbaute, blieb ich zunächst in der Türkei bei Verwandten auf dem Land. Meine Schwestern blieben weiterhin im Internat. Zweieinhalb Jahre später folgte ich zusammen mit einer meiner Schwestern meiner Mutter nach Deutschland. Ich fand die erste Zeit schrecklich. Dieses Land war mir zu feucht, ich mochte es nicht. Hinzu kam, daß ich zwar sehr schnell Deutsch lernte - Milch und Brot waren die ersten Worte, die ich auf deutsch sprach, wenn ich einkaufen geschickt wurde -, aber in der Schule getraute ich mich vier Jahre lang nicht, überhaupt auch nur ein Wort zu sagen, aus Angst, die anderen türkischen Mädchen, die viel besser sprachen als ich, würden mich auslachen.
Auch hier in Bayern, in einem kleinen Dorf, in dem es nicht viel gab außer einer Metallfabrik, in der Autoteile hergestellt wurden und in der vor allem Türkinnen arbeiteten, fühlte ich mich einer starken Kontrolle ausgesetzt und in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, denn innerhalb dieser türkischen Gemeinschaft galt ich, die Tochter einer vaterlosen Familie, weiterhin als potentiell >leichtes< und >liederliches< Mädchen.
Darüber hinaus befremdete mich die Entwicklung meiner Mutter: Sie, die in der Türkei immer in eher intellektuellen Kreisen verkehrt und darauf bestanden hatte, daß wir eine gute Schulbildung erhielten, vertrat nun plötzlich die Ansicht, ich solle doch lieber früher von der Schule abgehen und in der Fabrik arbeiten, um möglichst viel Geld zu verdienen. Hier in der BRD schien Geld plötzlich das Zauberwort zu sein: In unserem Bekanntenkreis drehten sich fast alle Gespräche ums Geldverdienen, und so wandelten sich die Wertvorstellungen meiner Mutter radikal. Ich denke immer, daß sie durch ihr Leben hier, durch diese Arbeit in der Fabrik, verblödet ist.
In mir wuchs der Wunsch, aus diesem Dorf wegzugehen, um woanders freier zu leben. Gleichzeitig wußte ich, daß es nur eine einzige Chance gab, diese Idee zu verwirklichen: Ich mußte heiraten. Doch darauf, so hatte ich mir geschworen, würde ich mich nicht einlassen, bevor ich 25 wäre. Überhaupt müßte dieser eine, den ich dann heiraten wollte, hohen Ansprüchen genügen: kochen müßte er ebenso wie putzen, schließlich sei es für mich undenkbar, so vertraute ich meinen Freundinnen an, daß mein Mann nicht die Hälfte der Hausarbeit übernähme. Die Realität sah dann jedoch anders aus: Zwar wirkte Mustafa, der sieben Jahre älter war als ich, sehr erfahren und zunächst auch vertrauenerweckend, doch kurz nach der Hochzeit - wir lebten inzwischen in Hamburg - zeigte er sein wahres Gesicht. Ich kannte es von zu Hause nicht, daß Frauen von Männern herumkommandiert wurden. Alle Frauen in meiner Familie - meine Mutter, meine Tanten, meine Großmutter - habe ich als sehr starke Persönlichkeiten wahrgenommen, und nie habe ich erlebt, daß sie ihre Männer bedient hätten! Im Gegenteil: Ich sah Männer Tee kochen und wußte, daß sie ihre Socken wuschen, wenn sie vom Feld kamen.
Ich sah mich nun in meiner Ehe plötzlich einer völlig fremden Situation ausgeliefert: Mein Mann erwartete, daß ich ihn von vorn bis hinten bediente; er verlangte, daß ich ihm alles servierte. Sicher diente das auch seiner Bequemlichkeit, noch viel mehr aber habe ich es als Machtdemonstration empfunden, denn er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus mir, die ich in seinen Augen allein deshalb als 'unehrenhaft' galt, weil ich in der BRD aufgewachsen war, die unterwürfige türkische Frau zu 'formen', die seiner Vorstellung entsprach. Nachdem er mich das erste Mal geschlagen hatte, wagte ich nicht mehr, mich ihm zu widersetzen; meine einzige Form des Widerstandes war, daß ich manchmal, wenn ich ihm ein Glas Wasser bringen sollte, hineingespuckt habe, um fast vor Schadenfreude zu platzen, wenn er es trank. Ob ich ihn anfangs geliebt habe, weiß ich nicht; ich gewöhnte mich an ihn, er war eben einfach da.
Ich wußte bald, daß ich mit diesem Mann nicht alt werden würde, trotzdem ertrug ich diese Ehe sechs Jahre lang - eine für mich heute unvorstellbar lange Zeit. Ich glaubte immer wieder seinen Beteuerungen, er würde sich bessern, mich nicht mehr schlagen. Ich hoffte auf eine Veränderung, als ich mit meiner ersten Tochter schwanger war, hoffte wieder, als ich das zweite Mal schwanger war und verharrte vor allem deshalb in dieser unerträglichen Situation, weil ich mich für eine Trennung noch nicht stark genug fühlte. Zwar bestärkten mich meine Mutter und auch meine Schwestern in dem Entschluß, mich von Mustafa zu trennen, doch ich fühlte mich zu unsicher, um etwas Neues zu wagen und allein zu leben. Denn eines wußte ich ganz sicher: zu meiner Mutter nach Bayern zurückzukehren, wäre für mich keine Alternative gewesen.
Ganz wichtig war es mir auch, den Zeitpunkt der Trennung selbst zu bestimmen. Als ich mich gefestigter fühlte, mich zu einer Ausbildung zur Bürokauffrau entschlossen hatte und vor allem, als ich begann, mich selbst zu lieben, was ich als wichtige Voraussetzung für einen solchen Schritt sehe, plante ich die Trennung bis in alle Einzelheiten: Wenn Mustafa, der zu dieser Zeit arbeitslos war, seine neue Stelle antreten würde, hätte ich in seiner Abwesenheit genügend Zeit, alles Nötige zusammenzupacken... Doch es sollte schließlich alles ganz anders kommen: Als ich mit meinen beiden Töchtern, Mehtap und Seda, bei meiner Schwester in Bremen zu Besuch war, droht Mustafa, mich umzubringen, falls ich nicht augenblicklich zurückkäme. Ich beschloß, nicht mehr zurückzukehren, sondern dies als Schlußpunkt meiner Ehe zu betrachten.
Um vor seinen Drohanrufen sicher zu sein und aus Angst, Mustafa würde mich ausfindig machen, ging ich ins Frauenhaus und ertrug dort vierzehn Monate lang ein Leben auf engstem Raum. Zu sechst teilten wir uns ein Zimmer: zwei Frauen und vier Kinder unter sieben Jahren; meine Töchter waren zu dieser Zeit zwei und sechs Jahre alt. Wie in Trance erledigte ich die notwendigen Behördengänge, beantragte Sozialhilfe, reichte die Scheidung ein, begab mich auf Wohnungssuche und verscheuchte immer wieder die nagenden Zweifel an der Richtigkeit meines Entschlusses. Wenn ich diesen Mann nicht so hassen würde, dachte ich manchmal, würde ich zurückgehen, raus aus diesem Chaos und dieser ungesicherten Situation.
Rückblickend jedoch schätze ich die Monate im Frauenhaus als gute und fruchtbare Zeit ein, die es mir ermöglicht hat, meine Gewalterfahrungen mit anderen (betroffenen) Frauen zu reflektieren und damit auch ein Stück zu verarbeiten. Im Frauenhaus sah ich mich zum ersten Mal bewußt mit lesbisch lebenden Frauen konfrontiert. Ich merkte, daß ich von dieser Existenzmöglichkeit fasziniert war und erinnerte mich an Situationen und Erlebnisse, in denen ich diese Faszination schon einmal gespürt hatte, sie aber nicht einordnen konnte, weil ich keinen Namen dafür wußte: Damals, als ich vor dem Kino zwei Frauen sah, die sich küßten, und ich das Bedürfnis hatte, sie vor Mustafas abfälligen Bemerkungen zu schützen. Und einmal, als ich zusammen mit ihm die Straße entlangging und meinen Blick von einer Frau, die ich ganz spontan wunderschön fand, nicht abwenden konnte und verträumt sagte, was ich fühlte, hörte ich mich Mustafas lauernde Frage, ob ich auf Frauen stehe, mit einem lässigen »Spinnst du?!« abwehren.
Und an Tülay erinnerte ich mich. Als Tülay und ich Teenager waren, verband uns über Jahre eine enge Freundschaft. Tülay war in meinen Augen das wunderschönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, und weil sie zwei Jahre jünger war als ich, hatte ihre Mutter mich gebeten, auf sie aufzupassen. Das habe ich natürlich mit Freuden gemacht, denn ich war über die Maßen eifersüchtig auf die Jungen, die scharenweise hinter ihr her waren. Ich erinnere mich gut an die Nachmittage, die ich mit Tülay verbracht habe. Eine unserer Lieblingsbeschäftigungen war es, heimlich die Kleider unserer älteren Schwestern anzuprobieren, uns mit ihren Lippenstiften zu schminken und ihr Parfüm zu benutzen, um uns dann begeistert vor dem Spiegel zu drehen und gegenseitig zu bewundern. Noch viel heimlicher aber lagen wir zusammen auf dem Sofa, küßten uns und streichelten uns vorsichtig. Für mich waren das atemberaubende Erlebnisse, von denen aber - und das wußte ich intuitiv ganz sicher - unter keinen Umständen irgend jemand erfahren durfte.
Jetzt, wo ich sah, daß es Frauen gab, die offen lesbisch lebten, rückte dies für mich in den Bereich des Möglichen. Und noch während ich mich fragte, was Lesbisch-Sein mit mir zu tun haben könnte, verliebte ich mich Hals über Kopf in eine Frau, die mir jedoch unerreichbar schien und bei der ich mir sicher war, daß diese Liebe unerfüllt bleiben würde. Irgendwann viel später gestand ich ihr meine Liebe doch, und wider Erwarten entwickelte sich zwischen uns eine Liebesbeziehung, die jedoch für uns beide unglücklich verlief. Es war ein einziges Chaos zwischen uns. Ich empfand sie als sehr narzißtisch und egoistisch; gleichzeitig fühlte ich mich ihr ausgeliefert, weil ich sie so sehr liebte, was von ihr nicht in der Weise, wie ich es mir wünschte, erwidert wurde. Ich habe sehr unter dieser mangelnden Übereinstimmung gelitten, habe geweint und gejammert. Ich glaube, ich habe sie sehr idealisiert, und außerdem war es das erste Mal, daß ich mich so heftig verliebt habe. Vielleicht war es deshalb so dramatisch.
Nicht nur von dieser ersten Liebesbeziehung, auch von der lesbisch-feministischen Szene wurde ich enttäuscht. Je mehr ich mich darin bewege, desto größer ist meine Trauer darüber, daß sich meine Erwartungen nicht erfüllen. Ich habe einfach dieses Ideal gehabt, Feministinnen seien antirassistisch, und ich bin mittendrin und sehe, wie ausländerfeindlich, wie rassistisch sie sind. Meine Erwartung, Feministinnen hätten sich kritisch mit Rassismus auseinandergesetzt und Lesbisch-Sein bedeute etwas Offenes, eröffne viele neue Lebensmöglichkeiten und -Perspektiven, sehe ich nicht erfüllt. Auch wenn Diskriminierung hier weniger direkt, weniger offen als zum Beispiel auf der Straße oder in der U-Bahn auftaucht, wo viele Deutsche ihren Unmut über >Überfremdung< deutlich zum Ausdruck bringen, stelle ich fest, daß ich in der feministischen Szene als >die Andere< ausgegrenzt, nicht mitgedacht werde und vor allem auch hier Klischees begegne, die mich zutiefst erschrecken, weil ich sie in einer Bewegung mit kritischem Bewußtsein und linkem Anspruch nicht erwartet hätte. In der Lesbenszene ist es mir öfter passiert, daß mich Frauen gefragt haben, ob ich Italienerin sei oder vielleicht Spanierin. Wenn ich dann geantwortet habe: »Ich komme aus der Türkei, ich bin Kurdin.«, waren sie sehr erstaunt und wollten es nicht glauben. »So siehst du gar nicht aus!« höre ich dann meistens. Dies ist ein rassistisches Moment, das den Frauen meistens überhaupt nicht bewußt ist; im Gegenteil, sie glauben, mir mit dieser Äußerung ein Kompliment zu machen und merken nicht, wie sehr sie mich damit verletzen. Viele Frauen reproduzieren unreflektiert das Klischee, türkische Frauen hätten lange Haare, trügen ein Kopftuch, verhielten sich schüchtern und unterwürfig, seien gewohnt, von ihrem Mann mißhandelt zu werden, erlebten Sexualität lediglich als Last und nicht als Lust, würden sie ja ohnehin täglich von ihrem Mann vergewaltigt. Aufgrund solcher Vorurteile wird 'die türkische Frau' als ihrer Unterdrückung verhaftet gesehen, der deutsche Frauen erst einmal beibringen müssen, wie sich sich emanzipieren kann/sollte.
Diese Erfahrungen wie auch der Dogmatismus, der von einigen Gruppen der Lesbenbewegung ausgeht und den ich als überaus lähmend empfinde, läßt mich immer wieder an meiner Zugehörigkeit zur Lesbenszene zweifeln. Ich empfinde viele Lesben im Umgang miteinander als bitter, humorlos und cool, und das, denke ich, hängt mit ihrem hohen Anspruch zusammen, Autonomie und Radikalität zu leben, zum Beispiel, wenn sie jeglichen Kontakt zu Männern ablehnen und sogar regelrecht verabscheuen. Dies ist für mich in keiner Weise nachvollziehbar, das lebe ich anders, obwohl ich auch nur zu zwei Männern näheren Kontakt habe.
Vor allem die Kinderfeindlichkeit vieler Lesben finde ich erschreckend. Mir ist unerklärlich, warum viele Lesben Mutterschaft so vehement ablehnen. Diese Ideologie, sich gegen Mutterschaft zu stellen und Mutter-Sein als etwas zu sehen, was zusammen mit Lesbisch-Sein nicht lebbar ist, halte ich für etwas Lebensfeindliches. Es ist so ein starres Prinzip, das mir fremd ist. Für mich stehen Lesbisch-Sein und Kinderhaben nicht im Widerspruch zueinander. Doch weil anscheinend die meisten Lesben so denken, sage ich mir, dann bin ich eben keine Lesbe, denn zu dieser Szene, die solche Meinungen vertritt, fühle ich mich nicht zugehörig.
Und dennoch stehe ich dazu und bin glücklich darüber, daß ich lesbisch lebe und Frauen liebe. Meine inzwischen sechs und neun Jahre alten Töchter haben diese Veränderung zu akzeptieren gelernt. Das erste Gespräch, das ich mit ihnen über mein Lesbisch-Sein geführt habe, ergab sich bei einem überregionalen Frauentreffen, wo Mehtap und Seda dabei waren. Beide waren ganz fasziniert, auf so viele lesbische Frauen zu treffen, waren neugierig und stellten tausend Fragen. Eines Abends fragte mich Mehtap ziemlich unvermittelt: »Sag mal, Mama, bist du auch lesbisch?« Ich fragte sie, was sie darunter verstehe. »Wenn Frauen sich lieben«, antwortete sie ohne zu zögern. »Wenn du Lesbisch-Sein so verstehst, dann bin ich lesbisch. Ich liebe Frauen«, erklärte ich. »Heißt das, daß du Anna liebst?« bohrte sie nach kurzem Überlegen weiter. »Ja, das heißt es«, antwortete ich und nahm sie auf den Schoß, doch sie riß sich los und rief erbittert, während ihr die Tränen in die Augen schossen: »Ich will aber nicht, daß du lesbisch bist!« Ich fragte sie, warum. »Weil ich Angst habe, daß du mich und Seda dann nicht mehr lieb hast«, antwortete sie schließlich leise. Ich atmete auf. Einen Vorbehalt dieser Art aus der Welt zu schaffen, schien mir möglich, und als ich versuchte, ihr den Unterschied zwischen meiner Liebe zu ihr und Seda und der Liebe zu meiner Geliebten zu erklären, schien sie es zu verstehen und zu akzeptieren.
Dieses Gespräch bewirkte, daß sich das Verhältnis zwischen Anna und meinen beiden Töchtern spürbar entspannte. Die anfängliche Distanz und gegenseitige Vorsicht wurde immer mehr aufgegeben, und auch Anna, die anfangs betont hatte, daß sie zwar mit mir eine Liebesbeziehung haben, nicht aber automatisch auch Verantwortung für meine Kinder übernehmen wolle, ist von dieser Einstellung etwas abgerückt. Inzwischen haben die drei ein herzliches, sogar inniges Verhältnis zueinander.
Ich bin über diese Entwicklung sehr froh, bedeutet es doch, daß ein Zusammensein zu viert entspannter ist. Diese Veränderung hat außerdem mein Gefühl der Verbundenheit mit Anna vertieft.

Seit ich aus dem Frauenhaus ausgezogen bin, arbeite ich in einer Beratungsstelle und lebe allein mit meinen Töchtern. Ich genieße es, daß außer mir niemand einen Schlüssel hat, der oder die meinen Freiraum wieder einengen könnte. Ich ziehe diese Lebensform einem Zusammenleben mit meiner Geliebten oder mit Freundinnen vor, auch wenn es bedeutet, daß ich so nicht nur allein die Verantwortung für die Kinder trage, sondern auch den Alltag allein organisieren muß. Fast jeder Kinobesuch ist mit einigem Organisationsaufwand verbunden, weil ich entweder eine Freundin als Babysitter engagieren oder aber die Kinder zu meiner Schwester, bringen muß. Doch unsere wechselseitige Kinderbetreuung funktioniert problemlos, und dies ist mir lieber, als auf 'Gnadendienste', wie ich die Angebote von Freundinnen manchmal empfinde, angewiesen zu sein. Ich stehe nicht gern in jemandes Schuld, ich bitte nicht gern um etwas. Es ist ein hoher Anspruch, den ich an mich stelle: alles allein zu bewältigen. Und eine Erfahrung die mich mit meiner Mutter verbindet.
Zu meiner Mutter habe ich immer noch ein herzliches Verhältnis, auch wenn ich keine Möglichkeit sehe, offen mit ihr über mein Lesbisch-Sein zu sprechen. Ich weiß nicht, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr sagte, daß ich Frauen liebe. Sicher würde sie irgendwann einmal damit leben können, doch sie meint nach wie vor, daß es besser für mich sei, wenn ich wieder heiratete, denn in mir sieht sie ihre eigene Geschichte widergespiegelt: allein, ohne Ehemann Kinder großzuziehen, mit der Doppel- und Dreifachbelastung, die das bedeutet.
Meine Mutter kennt und mag Anna und fühlt sich in unserer Gesellschaft wohl. Vermutlich ahnt sie, daß Anna und mich mehr verbindet als Freundschaft, doch ich glaube, für sie ist Lesbisch-Sein etwas, das sie nicht ernst nimmt, sondern als Spielerei abtut. Daß sie etwas ahnt, vermute ich, seitdem sie einmal ein Foto betrachtete, das Anna und mich zeigt, als wir uns zum Christopher-Street-Day in Schale geworfen hatten: Ich trug ein Ballkleid, Anna Hosen und Jackett. Sie betrachtete das Foto sehr lange - mir jedenfalls schien es eine Ewigkeit - und sagte dann mit einem Beben in der Stimme, das Unsicherheit und Erstaunen verriet: »Da seht ihr aus wie Mann und Frau!«