Als ich sah, wie sanft Lornas Hand in den Haaren meiner Mutter war ...

Auszüge aus Die malvenfarbene Wüste

Ich sprang ins Leben, die Augen wild vor Arroganz. Ich war fünfzehn. Es war ein Genuß wie eine Macht, zu sterben oder in die Nacht zu versinken, mit Ringen um die Augen, schwindelerregende Räume vor mir.
Ich kannte die Wüste und die Straßen, die sie durchquerten. Lorna, die Freundin meiner Mutter, hatte mir die Erosion, alle Geister, die in Stein und Staub leben, nahegebracht. Sie hatte mir Landschaften beschrieben, einige vertraut, andere ganz und gar unvereinbar mit der Vegetation und dem ausgedörrten Boden meiner Kindheit. Lorna erfand. Ich wußte, daß sie erfand, denn ich konnte zwischen dem Gestirn des Westens und der gehörnten Klapperschlange, zwischen dem Troglodyten und der traurigen Turteltaube unterscheiden. Lorna erfand. Manchmal schien es mir, als ob sie bellte, so rauh und unglaublich waren ihre Worte. Lorna hatte keine Kindheit gekannt, nur die Mädchen nach der Schule, mit denen sie sich aus Angabe in der Mittagspause verabredete. Die Mädchen liebten es, sie auf den Mund zu küssen. Sie liebte die Mädchen, die sich auf den Mund küssen ließen.
Als ich Lorna das erstemal sah, fand ich sie schön, und ich sagte das Wort »Schlampe«. Ich war fünf. Beim Abendessen lächelte meine Mutter sie an. Sie schauten sich an, und wenn sie sprachen, waren ihre Stimmen voller Anspielungen. Ich achtete genau auf ihre Münder. Wenn sie Worte aussprachen, die mit einem M begannen, verschwanden ihre Lippen einen Augenblick, um dann mit unglaublicher Geschwindigkeit wieder zu schwellen. Lorna sagte, daß sie wilden Knoblauch und Mousse von Lachs besonders möge. Ich kippte mein Milchglas um, und die Tischdecke verwandelte sich in Amerika mit einem Florida, das sich bis unter den Salzstreuer hinzog. Meine Mutter wischte Amerika weg. Meine Mutter tat immer so, als sei nichts geschehen, wenn etwas beschmutzt wurde. [...]
Lornas Gegenwart wird in meiner Erinnerung immer mit meinen ersten Schuljahren verbunden sein und ganz besonders mit meinem Schreiben- und Lesenlernen. Ich las gern, aber ich erinnere mich nicht, je gelesen zu haben, wenn Lorna nicht da war. Sie beobachtete mich, statischer Ausguckposten, überwachte jeden meiner Lidschläge, lauerte auf jede Spur innerer Bewegung, das kleinste Zeichen, das in meinem Gesicht eine Empfindung zu verraten schien. Ich folgte ihrem Tun aus den Augenwinkeln, aber wenn ich sie direkt ansah, konnte ich meinerseits auf ihren Lippen das seltsame Alphabet verfolgen, das in ihren Augen einen Traum entstehen zu lassen schien. Ich stellte dann immer die gleiche Frage: »Was gibt's zu essen?«, als könnte dies sie entfernen oder die Intimität dessen schützen, was ich beim Lesen empfunden hatte.
Eines Tages, als ich leere Blätter zum Zeichnen suchte, sah ich hinten in der Küche Lorna und meine Mutter auf einem Stuhl sitzen. Meine Mutter auf Lornas Schoß, die mit ihrem rechten Arm Mutters Taille fest umschlang. Mit der linken Hand kritzelte Lorna etwas. Ihre Beine waren ineinander verschlungen, und die Schürze meiner Mutter war über Lornas Schenkel geschlagen. Ich fragte Lorna, was sie schrieb. Sie hielt inne und sagte gedehnt, daß sie nicht lesen könne, was ihre Hand skizziert hatte. Ich wollte gerade ausrufen, sagen, daß das keinen Sinn hatte, als ich sah, wie sanft Lornas Hand in den Haaren meiner Mutter war. [...]
Grazie war zwei Monate älter als ich. Wir waren »entfernte Schwestern«, das heißt Mädchen, die von ihren Müttern so genannt worden waren, eines Abends, als sie, beide schwanger, sich verführt und wie eine Hoffnung vierundzwanzig Stunden miteinander verbracht hatten. Wir waren erhoffte Mädchen in der Nacht unserer sich liebenden Mütter. Ich kenne die Wirklichkeit. Meine Mutter hatte mir von einer Fahrt zum Dante's View erzählt, hatte mir Spaziergang und Ausblick beschrieben, den ergreifendsten von Dante's View, die schönsten in Badwater und Artist Drive. Dann hatte sie hinzugefügt: »Melanie, aber die Nacht.«
Ich fahre langsam auf die einfache Gewißheit zu, daß Grazie mich in Albuquerque erwartet. An der Kreuzung der Highways 10 und 25 eine Menge Motorräder, Jungen, die rauchen und dabei in den Himmel gucken. Zwei Mädchen, die miteinander reden. Eine schickt mir ein peace and love, und die andere, dicht daneben, zeigt mir mit Finger und Ellbogen ein brutales >fuck<. Ich gebe Gas. Ich kenne die Realität. Die Angst macht nichts, wenn man beschleunigt; die Angst verschwindet wie ein dunkler Punkt im Rückspiegel. [...]
Grazie wurde zärtlich und Gespielin. Sie begeisterte sich, neckend und neugierig, für die Tätowierung auf meiner linken Schulter, folgte ihrem Umriß mit sanften Fingern, sagte, eines Tages würde sie sich ein Einhorn auf die Hinterbacke zeichnen lassen. Dann haben wir wie in unserer Kindheit sandwitches zubereitet, und ich habe zwei Liter Wasser getrunken. »Geht es dir gut? Ja, morgen ist Tanz. Mein Kleid, und schau, du wirst sehen, es ist toll.« Sätze zwischen uns. Wer hat das gesagt? »Ich bin müde, morgen. Dann gehen wir dahin. Es ist wundervoll. Es war schön. Ich habe mich am Zeigefinger verletzt. Es ist wie in eine Falle oder ein blaues Wort zu geraten. Ich habe ein Foto neben den großen Spiegel gehängt. Es ist sehr ähnlich. Im Halbdunkel hat mich ein krummes Stück Holz zum Nachdenken gebracht. Ach ja! Was soll's? Uns geht es gut hier, zusammen.«
Ich denke an Lorna, die sich nicht die Zeit nimmt, zwischen den Sätzen zu atmen. Lorna ist nur in den Armen meiner Mutter verständlich.
»Mach mir ein bißchen Platz im Bett. Mach dich klein. Gut, ich schalte das Licht an, und ich lese die ganze Nacht. Grazie, du weißt, daß sich schon unsere Mütter geliebt haben. Es ist Zeit zu schlafen. Wenn du wachbleiben willst, ich dir ich nicht ich ja dann schlaf sonst ... Was! Ja, es ist gut. Du nimmst das ganze Kopfkissen. Das ist meine Seite. Grazie ... nur einmal noch, es ist so gut.«
Das Leben ist wie ein Gefühl an tausend Stellen gleichzeitig.
Diese Nacht werde ich am Rand der Wüste, neben Grazie und ihrem Schlaf voller Duft schlafen.

Aus dem kanadischen Französisch von Traude Bührmann

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