Die Frage traf mich so unerwartet wie ein Regenbogen eine Pfütze. Er war gerade in der Badewanne. In meinem Badezimmer. Er ist elf. Mit Haselnußaugen und Honighaaren. Normalerweise lebt er bei seinem Vater.
»Mami, warum hast du Daddy eigentlich verlassen?«
Ehrlich. Direkt. Angemessen. In meinem Schädel hallen drei Worte aus meinem ersten Selbstbehauptungsworkshop wider. Würstchen. Bohnen. Pommes. Drei Dinge auf meinem Einkaufszettel fürs Mittagessen. Lachen. Fließen. Wasser. Drei Eindrücke aus meinem Badezimmer.
Neun Punkte: auseinandergestoben dann wie die Farben auf einem Billardtisch durch den gut getimten Direktstoß von meinem ältesten Sohn. Ich stellte mir ihn vor, später im Erwachsenenalter, sich konzentrierend, so akkurat in das Zentrum des Dreiecks auf dem grünen Tuch zielend wie seine Worte das Zentrum des rosa Dreiecks trafen, das ich trug.
Die Farben rollten, trafen die Ecken, prallten voneinander ab und verschwanden in den Löchern.
Wie erklärst du dem Sohn eines ach-so-sanften Vaters den Preis der Zwangsheterosexualität?
Neuerdings lache ich gern. Ich glaube, seit ich lesbisch bin, habe ich mehr gelacht als zuvor in den ganzen zwölf Jahren meiner Ehe. Wie kann ich meinen Sohn heil lassen, ohne seinen Vater herabzusetzen?
»Es gibt Leute, die liebst du«, sagte ich, »aber du stellst fest, daß du nicht mit ihnen zusammenleben kannst.« Mein Kind mag seinen Körper. Er geht unbefangen damit um. Seift sich überall ein und hat noch Spaß an Sprühflaschen und Blasen im Wasser. Nachts schläft er manchmal mit dem blau-weißen Teddy. Fußball-Teddy. Aber in der Schule beginnt er die Mädchen wahrzunehmen und bekommt beigebracht, ein Hetero zu sein. Sein schlimmstes Schimpfwort für seinen jüngeren Bruder ist blöde Schwuchtel, das er in der Schule gelernt hat. »Diesen Ausdruck benutzt du in meiner Wohnung niemals als Schimpfwort!« schrie ich.
Wie wird mir später zumute sein, wenn er seine Freundinnen mitbringt und ich sie mag und sie mich mögen und ich froh bin, daß sie ihn mögen, ich aber die ganze Zeit daran denke, daß sie ohne ihn einander lieben könnten?
Andererseits könnte ich die Mutter eines Schwulen werden, der als Angehöriger einer unterdrückten Minderheit meine Unterstützung braucht, auch wenn er durch sein Geschlecht und seine Entscheidungen von mir getrennt ist. Ich wäre seine Mutter, doch ich ließ ihn bei seinem Vater, als ich mich für Frauen entschied.
Dieses Kind war ein Weihnachtsgeschenk im Jahr 1974. Aber Kinder sind keine Welpen, die du ins Tierheim bringen oder in Wimbledon Common unter den Wombles, den Phantasietieren, aussetzen kannst, wenn du sie leid bist oder es dir anders überlegt hast. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn die ersten Male gebadet habe. Die krummen Arme und Beine. Die riesigen, noch nichts fixierenden, verwundbaren Augen. Eine lachende Nähe. Ein Band erotischen Vergnügens. Planschen und Freisein und Nacktheit. Ich schaute dem Baby in die Augen und sah einen Menschen. Einen Geist, der vielleicht Farben, Formen und Worte liebte. Einen Intellekt, der Küsse, Bilder, Gedichte, Raumschiffe und Raketen würde hervorbringen können. Damals war ich keine Feministin. Ich kannte keine Frauen, die sich Lesben nannten. Als ich drei Jahre später welche traf, war ich neugierig, ängstlich und besorgt. Ich setzte mich nicht neben sie - vorsichtshalber.
Nachdem Roger aus dem Badezimmer gekommen war, spielte er eine Runde 'Schmuggler' mit seinem Bruder Tom, Trish und mir. Sie hatte es ihm zum Geburtstag geschenkt, in der Hoffnung, er würde Spaß daran haben, Regeln zu brechen. Er machte sich Regeln, um sich seine Sicherheit zu erhalten. Ich habe das als Kind auch getan. Ich mußte alle vier Wände eines fremden Raumes berühren, bevor ich mich sicher fühlte. Außerdem sagte ich einen Zauberspruch, den ich allerdings Gebet nannte, bevor ich mich in dem alten Pfarrhaus auf die Toilette setzte, von der mir der Vater meiner Freundin erzählt hatte, es spuke darin. Wenn ich vor dem Hinsetzen dreimal >Jesus wird mich beschützen< sagte, würde der Geist, der unten im Klo wohnte, nicht nach oben greifen und mich packen. Das Gewicht von Rogers Regeln drückt Tom, den Neunjährigen, auf Daumengröße zusammen, und da Tom ein Riese sein will, ist das nicht einfach. Wir teilten die Schmugglerkarten aus und fingen an.
Sie müssen in meinem Vorderzimmer schlafen. Jeden Morgen rollen wir die Matratzen zusammen, bevor wir anfangen können. Ich kann nicht mehr Spielraum schaffen, weil ich nicht genug Platz habe. Ich kann nicht mehr Platz bekommen, weil ich nicht mehr Spielraum habe. Sonnenschein bedeutet Park und Benzin oder Fahrgeld und Getränke und Hamburger und Debatten über Geld. Regen bedeutet Museen und Benzin oder Fahrgeld und Canasta und Mah Jong und Scrabble. Ich sollte Monopoly kaufen, weil das fünf Stunden dauert.
Beim letzten Besuch der Jungen fuhren wir mit einem Schiff die Themse hoch. Wir betrachteten gerade die Sonne auf den Wellen, als wir Cuckold's Corner erreichten. Der Bootsmann sagte, früher hätten die Männer einen Penny dafür bezahlt, daß ihre Frauen auf einen Stuhl gebunden und in den Fluß getaucht wurden. Er sagte, leider habe man diesen Brauch aufgegeben. Von den vier Schmugglern in meinem Vörderzimmer gab Roger den Whisky, die Kronjuwelen und die beiden Uhren an - und gewann die Runde.
Wenn eine Frau durch das Fenster eines Glashauses ins Freie springt, läßt sie hinter sich die scharfzackigen Kanten zurück, die das Fleisch der Kinder zerreißen, und in dem zerrupften Teppich stecken Glasscherben, die sich leicht in deren bloße Füße graben. Aber wenn sie überleben will, braucht sie Zeit, um ihre eigenen Wunden zu heilen.
»Mami, wenn du dir aussuchen könntest, ob du Mädchen oder Jungen haben möchtest, was würdest du nehmen?« Warum fragte Tom mich dies im Berufsverkehr an einer gelben Ampel? Kupplung, Schalten, Bremse. Zeit gewinnen.
»Ich habe euch beide, und das finde ich schön. Du kannst ja nicht wissen, was für ein Baby kommen wird. Na, ich meine, sie können heutzutage die Flüssigkeit um das Baby herum testen, um zu sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, weißt du, aber das geht erst, wenn es schon im Bauch der Mutter wächst. Ihr beide seid eben geboren worden. Ich kenne euch doch, wie könnte ich mir also jetzt etwas anderes aussuchen?«
»Macht Sinn«, sagte Roger.
Soweit ich weiß, bin ich an ihrer Schule nicht als Lesbe registriert. Also werden sie nicht als psychisch krank abgestempelt, wenn sie etwas falsch machen oder keine guten Noten erreichen. (Was heißt erreichen?) Ich gehe mit ihrem Vater zu den Elternabenden, und ich spiele die Rolle der Getrennten, aber Gleichberechtigten. Ich nehme meine Buttons, meinen silbernen Anhänger und den Ring von meinem kleinen Finger ab. Ich nehme die Hände aus den Taschen, passe meinen Gang an, ändere die Art, wie ich sitze und rede, und wähle die Farben mit Bedacht. Keines von diesen gestreiften feministischen Sweatshirts, keine pinkfarbenen Socken. Ein Kleid trage ich nicht, denn darin würde ich mich wie in >Weiberkleidung< fühlen. Ich setze ein Lächeln auf, lasse die Schultern hängen, so daß ich entspannt aussehe, und halte das für ganze zwei Stunden durch.
Nach meiner Rückkehr nehme ich ein Bad, in dem ich die Tränen herauslasse.
Tom hat die Kamera und den Brandy nicht angegeben und versuchte dann, uns weiszumachen, er hätte sie nicht geschmuggelt. Roger warf verärgert seine Karten auf den Tisch. »Siehst du, ich kann ihm nicht mal trauen, wenn er schummeln soll!« Roger weinte dicke Tränen, ohne Regenbogen. Sie kommen alle drei Wochen, so oft, wie sie und ich das Warten, die Vorbereitung auf die Begegnung, die Begegnung und das Verabschieden bis zum nächsten Mal aushalten können. Um die Intensität zu bewältigen, benutzen sie Fluchttechniken wie das Fernsehgerät in meinem Schlafzimmer, und ich benutze das Schreiben in der Küche. Oder wir backen alle zusammen Kuchen - was sie beide sehr mögen -, den sie zu Daddy mit nach Hause nehmen können, und wir können besser verbergen, daß wir Getrennte sind, solange wir etwas mit unseren Händen tun. Manchmal will Tom mich schuldbewußt sehen. Er steht da wie ein junger Patriarch, ein kindlicher König in bestickter Robe, und verlangt von mir, daß ich mich seinen Launen füge. »Ich komm nie wieder in deine Wohnung! Ich komm dich nie wieder besuchen!«
»Das ist schade, Tom. Ich werde dich vermissen. Na, gehst du jetzt ein anderes Hemd anziehen, so daß du mitkommen und bei Smith's nach Legos gucken kannst?« »Das ist Bestechung.«
»Bestechung ist, wenn ich etwas will. Was ich meine, ist, wenn du mit mir ausgehen willst, brauchst du ein sauberes Hemd, auf dem nicht dein ganzes Abendessen klebt. Du wolltest, daß ich dich zum Einkaufen mitnehme.«
»Wenn du jetzt gehst, kannst du die Wohnungstür nicht abschließen, weil ich hier drin bin.«
»Ja, das stimmt. Tu ich auch nicht. Dann wird eben vielleicht bei uns eingebrochen, und das ist sehr ärgerlich, aber Roger und ich sind fertig, und wir gehen jetzt. Wechselst du also jetzt dein Hemd und kommst mit?«
»Nein, mach ich nicht. Du bist gemein!«
»Ich warte drei Minuten draußen im Auto, dann fahre ich los. Okay?«
Er blieb auf seinem Thron sitzen, die Krone etwas wacklig. Unterwegs machte ich mir insgeheim Sorgen, er würde sich rächen, indem er die Friteuse in Brand steckte oder das Bad unter Wasser setzte. Als wir wieder nach Hause kamen, war er ruhig in ein Buch vertieft.
Später blieb Roger bei Trish, und Tom und ich gingen spazieren. Wir hielten Händchen zwischen den Azaleen und gingen laut singend auf Zehenspitzen durch die Tulpen. Wir sprachen kaum. Sangen nur alles aus uns heraus, improvisierten, übersprangen. An diesem Abend kam er und umarmte mich. »Weißt du, wegen heute«, sagte er, »na ja, es tut mir leid.« Er las neben mir eine halbe Stunde und schlief tief bis zum nächsten Morgen um acht. Nicht allein ich trauere über den Spielraum, auch meine Mutter und mein Vater trauern. Sie sind auch Angehörige einer Minderheit. Papa war Arbeiterpriester mit winzigem Einkommen in einer Bergarbeiterstadt im Norden. Meine Mutter sagte immer, wenn du eine Ziege mit einer roten Rosette auf einen Tisch stelltest, würden sie und all die anderen lieber die Ziege wählen als die Tories. Die Minderheit ging sonntags zur Kirche und dann in den Pub, durstig nach Rechtschaffenheit. Wir konnten tanzen und singen und Tennis spielen und alles, solange wir vorher zur Kirche gingen. Aber >alles< bedeutete nach der Heirat, und Heirat ist etwas Heterosexuelles.
Sie brachten mir mein Politikverständnis bei, und nun bezahlen sie dafür. Sie haben mit angesehen, wie ich Marxistin wurde, Antirassistin (es war immer eine weiße Ziege), Feministin und Lesbe. Sie sagen, sie lieben mich, aber in ihren Augen spiegeln sich die Gerichtshöfe. Ihre Minderheit steht unter königlicher Schirmherrschaft.
Gerade als sie sich zur Ruhe setzen wollten, beide Töchter verheiratet und die Zukunft um ihre vier Enkelkinder arrangiert, wurde ich lesbisch.
»Wir alle haben Freundinnen«, sagte Mama. »Du hast die Dinge immer schon übertrieben.«
»Wenn du dich nur einem Experten anvertrauen würdest, Liebes«, sagte Papa.
Zwei Jahre später hatten sie Angst vor dem, was sie meinen verderblichen Einfluß auf ihre Enkelkinder nannten. Mein Vater schrieb mir: »Das kann doch nicht die richtige Atmosphäre sein, um Jugendliche zu heterosexuellen Erwachsenen zu erziehen und auf die Ehe vorzubereiten.« Und obwohl ich das Gefühl hatte, daß mir seit meinem Sprung aus dem Fenster eine neue Haut gewachsen und ich wieder gesund und ganz und heil war, zogen mir seine Worte in diesem Moment das Pflaster von den nackten Armen, rissen die Haare mit aus und legten etliche Splitter bloß, die immer noch in der Haut steckten.
Die Vorfahren meiner Mutter waren werktätige Leute auf einer gälischen Insel gewesen, wo Homosexualität immer noch ungesetzlich und Lesbisch-Sein unsichtbar ist. Ich werde meinen Söhnen ihr gälisches Erbe nahebringen. Ich möchte, daß sie die Klippen mit dem gefiederten Steilflug der Vögel am gefiederten Himmel sehen, daß sie auf den Atlantik hinausschauen und sich vorstellen, daß der Ozean unendlich ist - daß sie den Klang und den Singsang hören, die heute dort in den Stimmen sind; daß sie fragen, warum auf den Runenkreuzen matriarchale Drachen eingeritzt sind, und daß sie die Geschichten von den erbarmungslosen Forderungen des Meeres hören über Generationen bis in die mythischen Zeiten zurück, in denen die Feen grüne Spitzenschleier über die Endmoränen der Gletscher woben.
Aber wenn meine Söhne überleben wollen, müssen sie sich vielleicht dem Widerspruch stellen, daß es im Geburtsland ihrer Mutter einen Hügel gibt, von dem man sie in alten Zeiten in einem nagelgespickten Faß hinuntergerollt hätte, weil sie die Heterosexualität und die christliche Kirche ablehnte.
Aus dem Englischen von Cornelia E. Kähler