Ineinander leben

Die Traumzeit in die Frauenkörper holen

Für Miriam, meine Tochter

»... wirklich lohnende Beziehungen verlangen, daß wir noch weiter gehen, noch tiefer graben ... Um eine ehrenhafte Beziehung zu dir zu haben, muß ich nicht unbedingt alles verstehen oder dir sofort alles sagen, und ich muß auch nicht schon im voraus wissen, was ich dir alles sagen möchte. Es bedeutet, ... daß ich mich stark genug fühle, um deine suchenden, tastenden Worte anzuhören. Daß wir beide wissen, wir bemühen uns unausgesetzt weiter um die Möglichkeit von Wahrheit zwischen uns. Die Möglichkeit von Leben zwischen uns.[1]

  • Sie, die Ahninnen, sagen, Zeit und Raum sind eine unendliche Spirale. Sie sagen, darin finden wir uns. Darin, sagen sie, hinterlassen wir gegenseitig unsere Spuren. Sie sagen, dass auf diese Weise unversehens sie, die Ahninnen, als Töchter den Raum betreten können. Die Zeit rundet den Raum, sagen sie, und der Raum schenkt der Zeit Berührungspunkte, damit sie ihre Muster weben kann.

Du hast meinen Bauch gerundet. Ich barg dich in diesem Raum, durch den vages Licht fällt, zu dem gedämpfte Töne vordringen. Unsere Rhythmen sind sich begegnet - ZeitRaum - Spuren deines Gesanges in meinen Adern, Spuren meines Gesanges in deinem Blut. Schon damals hast du mich zum Aufbruch gezwungen, aus dem Rahmen, der mich bis dahin gehalten hatte. »Was tu ich hier?« dachte ich an vielen Tagen, während ich dir Raum zum Wachsen gab. »Sie wird wissen wollen, was ich hier tue. Ich werde ihr sagen, Frauen sind stark, Tochter, voller Kraft sind sie. Und sie wird mich ansehen und die Lüge entdecken, wenn ich hier bleibe, hier, wo die Grenzen abgesteckt sind, in denen ich mich bewegen kann.«

  • wir sagten, um für sie da zu sein, um zu hören, was sie brauchte, um auf sie zu hören, mussten wir uns von den Ärzten trennen. wir mussten ihre autorität leugnen und uns selbst die autorität zuerkennen. Wir sagten, es ist unmöglich, beides gleichzeitig zu hören, die Stimme der Ärzte und die Stimme der Frau.[2]

Deine Hebamme war lesbisch. Wir vertrauten ihr, du und ich. Nicht nur den Ärzten, auch ihrem Gott hatte ich den Kampf angesagt. Liebesakte gehören nicht in die Klinik. Geburt ist keine pathologische, schmerzhafte Angelegenheit. Die Intimität unserer Trennung, die Intensität unserer Begegnung gehörte nicht in diese Räume. Zwei Gleiche, die sich begegnen. Du ahnst noch und beginnst zu lernen, ich ahne wieder und beginne zu lehren. Du lehrst mich, meinen Ahnungen nachzugehen und die Komplexität von Frauenwahrheit zu entfalten.
Und dennoch, vom ersten Tag an, während der Geburt schon, gibt es einen einzigen Augenblick, den ich nicht atmen kann, zwischen uns. Später erlebe ich, daß ich diesen Augenblick nirgends atmen kann, auch nicht in der Berührung mit dem Körper einer anderen Frau. Da ist eine Tür in mir, verschlossen, eine, durch die ich mich nicht zeige, auch dir nicht, nicht einmal dir. Ein winziger Atemriß. Wir sind einander nicht ergeben. Wir sind getrennt. Ein Spalt, der ohne Brücke ist. Eine tonlose Weite, ohne Mit-Teilung. So haben wir das Schicksal unserer Mütter aufgenommen. Auch diese Wahrheit, diese Ratlosigkeit untereinander, der Augenblick des Ge-Trennt-Seins anstelle des Mit-Teilens hat Spuren in unseren Körpern hinterlassen.

  • SIie sagen, Mütter und Töchter sind einander zugeneigt wie die Uruborosschlange, die ihren eigenen Schwanz im Maul trägt. Sie sind nicht aneinander gekettet, sagen sie. Mütter und Töchter sind Liebende, sagen sie. Son scheint es heute nicht mehr zu sein.
    Aber es ist immer so gewesen, sagen sie. Das Leugnen der Liebe kettet sie aneinander,
    sagen sie.

Aufgewachsen bist du zwischen meinen Gefährtinnen und mir. Du hast unseren Mut erlebt und unsere Verzweiflung, unseren Zorn und unsere Angst. Ich wollte dir gerecht werden und strandete an den Erinnerungslücken, wo ich weder dir noch mir gerecht werden konnte. Was wir gemeinsam hatten, war unser Wunsch nach Würde und Wahrheit, einander in die Augen sehen zu können, auch die Ratlosigkeit zu verantworten. Das war viel, aber nicht genug. »Wir sind jahrhundertelang damit verrückt gemacht, planmäßig um den Verstand gebracht worden, daß in einer Kultur, die nur männlicher Erfahrung Wert beimißt, unsere eigenen Erfahrungen und Instinkte widerlegt wurden. Die Wahrheit unserer Körper und unserer Psyche wurde verschleiert, mystifiziert. Daher haben wir eine wesentliche Verpflichtung anderen Frauen gegenüber: nicht aus Eigennutz unseren Realitätssinn zu untergraben - uns nicht gegenseitig um den Verstand zu bringen.«**144.26.3***
Ich hatte dich nicht eingeladen in diese Welt, um dich um deinen Verstand zu bringen. Also mußte ich meinen Verstand von dem Irre-Sein befreien, das ich gelernt hatte, für Kommunikation und Realität zu halten.

  • MÜTTER UND TÖCHTER SIND EINANDER EBENBÜRTIG, SAGEN SIE. SIE STEHEN EINANDER GEGENÜBER, MIT DER SCHÄRFE DER UNBEKANNTEN VERTRAUTHEIT. SIE ZWINGEN EINANDER zur Wahrheit, sagen sie. wenn sie sich einander ERGEBEN, SIND SIE REICH.

Zum Abschied hast du eine Vorstellung gegeben, einen Tanz, ein Geschenk. So war ich sicher, daß ich dich gehen lassen konnte. Ich war glücklich. Und ich verstand deinen Wunsch, fortzugehen, dich zu erproben, draußen in unbekanntem Land. Wir sind einander ebenbürtig, doch noch immer ist der Atemriß zwischen uns. Wir haben uns einander nicht ergeben. Da ist die Angst, dir zu nahe zu treten, dir zu wenig Entwicklung zur Fremdheit zu lassen. Und deine Angst, zu sehr einbezogen zu sein in meine Welt, vereinnahmt zu werden, besetzt.
Mutter und Tochter auf dem Weg zur Freiheit, noch bevor sie die Verbundenheit in allen Zellen geatmet haben. Wir gehen auseinander, sehen einander an und wissen, daß es diesen Riß gibt, diese Tonlosigkeit, und daß wir aneinander gebunden bleiben, solange wir den Mut nicht haben, diesen Atemzug zu tun. Ob wir es je erfahren, miteinander oder mit einer anderen Frau? Wenn ich jetzt meinen Atem mit dem deinen kreuze, um den nicht beatmeten Raum wahrzunehmen, wende ich mich zurück, als Tochter zu meiner Mutter, und finde dieselbe Atemlosigkeit. Es ist das Erbe aus den Jahrhunderten der Männerwelt, in der die Mütter nicht die Bräute der Töchter waren und die Töchter nicht die Bräute der Mütter sein durften.**144.26.4***
Unsere Traumkörper leben ineinander. Wir träumen uns in den Schlaf der anderen hinein, geben uns Botschaften und Rat, trösten einander und grüßen uns von weitem. Der Atemriß betrifft den Tag, den Frauenkörper.
Du hast geträumt, wir kriechen durch einen Gang in ein verbotenes Land. Du sagst: »Das ist der Weg in die Freiheit; das habe ich in der Schule gelernt.« Doch dein Wecker hat zu früh geklingelt. Du weißt nicht, wie es drüben aussieht, im Land, das eine nur mit dem Losungswort erreicht. Wir werden die Traumzeit in die Frauenkörper holen und uns atmen lernen, jederzeit, in jeder Zelle. Den Mut haben wir beide, die Lust an der Herausforderung und die Zugeneigtheit. So bewegen wir uns gegenseitig weiter, um unseretwillen, um der Freiheit von Frauen willen.

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