Ich habe die Kinder in mein neues Lebensmuster übernommen

Briefe und Aufzeichnungen

November 1986
Zerbrochenes Porzellan kann gekittet werden, doch schon allein der Klang, den es auf sachtes Anklopfen hin von sich gibt, sagt, daß es zusammengeklebt nie wieder das ist, was es früher einmal war.
Seit wann schleppe ich mich mit der Gewißheit herum, daß mein Leben eine Mischung aus Kitt und Farbe ist? Seit wann unternehme ich diese verzweifelten Versuche, Brüchiges und Unschönes zu übertünchen in der irrigen Hoffnung, ein wenig Lack mache alles neu, glatt und heil?
Ich denke oft darüber nach, daß ich glücklich sein müßte mit meinen Lebensumständen. Ja wirklich, ich müßte es. Zwei Töchter habe ich geboren, Antje, schon so groß, daß sie fast eigene Wege beschreitet, Paula ein kleiner Wildfang an meinem Schürzenzipfel. Antje ein »ungeplantes« und Paula ein gewünschtes Kind. Beide sind gesund, ich bin es übrigens auch, und wer kann das schon ohne weiteres von sich behaupten.
Die Mädchen haben einen freundlichen Vater, meinen Mann. Er sieht gut aus mit seinem glatten Gesicht, in dem der schmal-lippige Mund, die gerade Nase und kühl blickende Augen genau die richtigen Punkte einnehmen, um einen symmetrischen Eindruck zu erzeugen. Oft genug wurde mir schon zu verstehen gegeben, daß er eine attraktive und interessante Erscheinung sei. Es gab eine Zeit, in der ich grübelte, wie es geschehen konnte, daß so ein Mann um mich, das unscheinbare Wesen, ernsthaft warb.
Wir leben in einer kleinen Wohnung. Immer stärker wird mir bewußt, daß wir uns in der zur Verfügung stehenden Enge aneinander reiben. Stets liegen irgendwelche Gegenstände herum, über die wir stolpern. Wir sehen uns ständig auf die Finger, und damit töten wir systematisch die gegenseitige Neugierde ab. Wo ist denn noch was zu entdecken, wenn alles, aber auch alles voreinander ausgebreitet werden muß.
Manchmal möchte ich gehen, aber ich weiß nicht, wohin. Und mir kommen diese Bilder in den Sinn, die mich sehr traurig machen: unterernährte Kinder, aufgedunsene Bäuche, Elendsquartiere. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Fast ist mir, als trüge ich die Schuld an dem Hunger in der Welt. Und ich fühle mich anmaßend mit meinen Ansprüchen.
Eben habe ich noch behauptet, wir leben. Dabei habe ich fast vergessen, bis zu welchem Ereignis dieses Wir noch wirklich existierte für mich. Jeden Tag löst es sich ein wenig mehr auf, um schließlich zwei Schatten hervorzubringen.

Der letzte heiße Septembertag. Wir waren mit unseren Rädern unterwegs und entdeckten einen kleinen See. Eine Lichtung im Schilf und ein zerbrochener Steg genügten uns. Wir schwammen weiter und weiter, vorbei an den Asten versunkener Bäume, die sich aus dem Wasser wie Arme heraus reckten. Je größer die Entfernung zum Ufer wurde, desto mehr schnitt uns die Kälte des klaren Wassers die Luft ab.
Unter glühender Sonne lagen wir, matt. Die Kinder bauten sich kleine Borkenflöße, die sie ins Wasser setzten.

Novembernebel. Wieder stehen wir an dieser Stelle, an der es kein Schilf und keinen Steg mehr gibt. Mir ist kalt. Er schweigt. Ich schweige.

15. Februar 1987
Urlaub in G. Nachmittags entschließen wir uns, in ein Cafe zu gehen, Henner, Paula und ich. Zwei ältere Ehepaare sitzen jeweils an verschiedenen Tischen stumm vor ihren Kaffeetassen. Ihre Augen saugen sich an Paula fest.
Eines Tages ist der Text zu Ende, oder die Darstellerinnen wissen bereits, was als nächstes kommt, und schweigen deswegen lieber. Wir stehen wieder draußen in der Schneelandschaft. Paula klagt über Stiche auf der linken Seite in Brusthöhe. Sie krümmt sich vor Schmerzen. Henner trägt sie auf den Schultern. Etwas später verschwinden die Stiche wieder, aber meine Angst bleibt noch eine Weile, und die Ohnmacht; Schmerzen lassen sich nicht auf den Körper der Mutter übertragen.
Schafe stehen angepflockt auf einer Weide. Wir gehen auf sie zu. Ich kauere mich hin, und sie kommen, so dicht es ihre Ketten erlauben, zu mir heran. Eines von ihnen sieht mich eindringlich aus Balkenpupillen an. Ich rede zu ihm, und es grinst mich mit hochgezogener Oberlippe und winzigen rosa-weißen Zähnen an. Bist blöd, blökt es schließlich.
Wir klettern auf die große Sprungschanze. Ich kann zwischen den schmalen, glitschigen Stufen hindurchsehen, das rostige Eisengitter ist kalt und wackelt gefährlich.
Situation meiner Alpträume, live. Ich steige hoch und höher; wenn ich oben angekommen bin, stürze ich ab. Ich habe Angst, mich umzudrehen, weiß, daß mir dann schwindlig wird und übel. Zurückgehen will ich aber auch nicht.
Oben stehe ich auf Wackelfüßen im kalten Wind. Frierend steigen wir hinab. Wieder gehen wir an den Schafen vorbei. Sie haben schöne, ausdrucksvolle Augen.

Abends liege ich im Bett und lese den Roman weiter. Eine Verführungsszene. Ein Mann mit einer Frau auf dem Balkon. Ich muß die Stelle nochmals lesen, damit ich ihn begreifen kann. Er will ihr weh tun... Alle Anzeichen deuten daraufhin, daß heute abend hier gleichfalls eine »Verführung« stattfinden wird.
Ich werde in die Arme genommen werden. Hände werden über meine Brüste gleiten. Ein Mund wird sich an einer Brustwarze festsaugen, bis es weh tut, nur weh tut. Eine Hand wird meine Hand ergreifen und sie zu dem erigierten Penis führen. Sein Glied wird in mich eindringen. In mir wird es sich hin- und herbewegen. Sicherlich werde ich auf das Rauschen des Baches vor unserem Fenster hören, und ich werde versuchen, dieses Geräusch in Waldesrauschen zu verwandeln. Ich werde auf die Atemzüge des schlafenden Kindes hören und Angst haben, daß es geweckt wird von dem keuchenden Atem des Mannes, der auf mir liegt. Gut daß es dunkel sein wird und der, der mein Mann ist, die Tränen nicht sieht, die ich weine, wenn alles vorbei ist und er einschläft. Heile Welt.

September 1987
Meine Geliebte!
Heute ist Freitag. Es soll der letzte Tag unserer Trennung sein. Endlich kommst Du wieder zurück. Dein Urlaub ist zu Ende. Ich hatte solche Sehnsucht nach Dir. Diese Sehnsucht trieb mir vorgestern brennendes Wasser in die Augen. Symptom der Liebe. »Ombra mai fu«, unser Lied legte ich mir auf. Wieder und wieder. Ergreifend, aber es linderte nichts. Alles ist gut, wenn wir nebeneinander sitzen, diese Arie gemeinsam hören und uns spüren im Innern.
Die vergangenen zwei Wochen waren ausgefüllt. Paulas Einschulung ist vorüber. Ein Glück! Sämtliche Vorbereitungen waren wie üblich meine Arbeit. Einkaufen und nochmals einkaufen. Dampferkarten besorgen, Plätze in der Gaststätte reservieren lassen, Theaterkarten tauschen, so daß wir alle zusammen sitzen konnten. Henner lernte meinen Vater nach so langen Jahren kennen und der wiederum meine Schwiegereltern. Den Einschulungstag verbrachten wir also miteinander. Wir aßen, tranken sahen zu, wie das gemeinsame Enkel /Kind aus dem Kindergarten in die Schule geholt wurde. Zwischen den beiden Elternpaaren blieb Distanz (ich habe, ehrlich gesagt, auch nichts anderes erwartet). Sie waren in dem kleinen Hotel untergebracht, das ein paar hundert Meter von uns gelegen ist. Sie kamen und gingen getrennt.
Vier Tage nach der Einschulung wurden die Mädchen krank. Virusgrippe. Immerzu lief ich mit Medizin, Thermometer, heißem Wasser und Rotlichtlampe durch die Wohnung. Dazu Essen kochen, saubermachen, Wäscheberge bewältigen. Dann die Stunden in den Wartezimmern der Ärzte.
Wenn die Kinder leiden, wird mir bewußt, wie sehr ich sie liebe. Es schmerzte, als Paula nachts mit Fieber erwachte und schrie. Ihre Ohren. Der diensthabende Arzt, nach dem ich rief, sei unterwegs, hieß es, und es hätte Stunden dauern können, bis jemand gekommen wäre und nach dem Kind gesehen hätte. So zog ich Paula an und trug das zitternde Kind durch die Nacht zum Bereitschaftsdienst. Guck mal, sagte sie, an der Straße stehen Gespenster. Ich sah die Gespensterbäume und hatte Angst, sie zu verlieren. Henner, müde von der Arbeit, schlief, wachte nur kurz auf, als wir zurückkehrten. Am nächsten Morgen fragte er, was war denn eigentlich los?
Verstehst Du, das ist meine Einsamkeit. So allein fühlte ich mich auch, als ich die Kinder zur Welt brachte, und so allein werde ich von ihm gehen, bald.
Meine Geliebte, morgen sehen wir uns!
Elke

23. November 1990
23.30 Uhr

Der Geist ist zu wach für diese Stunde. Silke ist soeben gegangen.
Silke sieht mich an, braune Augen. Ich kann mit diesem braunen tiefen Blick nichts anfangen. Zu unergründlich, zu weit, zu nah. Verliebt bin ich schon lange in eine Frau, sagt sie. Eine Frau, die eine andere hat. Der Brief, den sie heute von dieser Frau bekam, habe es ihr wieder einmal bestätigt. Dieses verdammt schöne Kribbeln, diese Sehnsucht. Beides sichere Anzeichen.
Es ist Freundschaft, jetzt noch, und Sex würde doch alles kaputtmachen, nicht wahr, Elke? Ich schaue sie an, aber nicht zu intensiv, und frage mich, ob sie mich, Elke T., liebt. Heute nachmittag war ich es, die ihr einen Zettel unter der Tür durchgeschoben hat. Wir sind Freundinnen, aber, meine Güte, sind wir verkrüppelt! Warum sagt sie nicht, wer diese Frau ist? Und sollte ich diejenige sein, warum spricht sie es nicht aus? Und ich verbiete mir, danach zu fragen, weil ich Angst vor der Antwort, du, habe. Mit meiner Abwehr würde ich ihre Gefühle verletzen. Auch davor habe ich Angst.
Ich bringe sie zur Haustür hinunter. Engumschlungen steigen wir die Treppen hinab. Ich bin dir verbunden. Neben diesem Gedanken belustigt mich die Vorstellung der besetzten Spione hinter wispernden Wohnungstüren und der belagerten Nachtfenster. Sollen sie doch ihre Strichlisten führen.
Gestern nachmittag war es Grit, die ich hinunter begleitete. Den Büß- und Bettag haben wir gemeinsam verbracht. Als Bett-Tag sozusagen.
Ich glaube, Paula hat es diesmal für ihre neun Jahre etwas zu deutlich mitbekommen, als sie mit einem Ruck meine Zimmertür aufriß und rief, es ist halb zwei, aufstehen! Das kleine Biest hat uns dann den großen Wecker vor die Tür gestellt und ihn klingeln lassen.
Immer wieder bewundere ich den Gleichmut, mit dem sie dem Wechsel meiner Beziehungen bisher begegnet ist. Und überhaupt, es stört sie nicht, daß eine Frau in meinem Bett erwacht, sagt sie. Trotzdem habe ich sie gebeten, ihren Freundinnen gegenüber und in der Schule nichts zu erzählen mit der Begründung, das sei so nicht allgemein üblich, wie ich lebe, aber das gebe es eben auch. Was wir tun, geht Fremde nichts an. Ob meine Bitte an sie richtig ist, weiß ich nicht.
Da gibt es diese Vision in meinem Kopf. Paula, umringt von einer Horde schreiender Kinder: Lesbenbastard! Ich möchte sie beschützen, das ist alles. Für Antje ist es anders. Ihre Clique hat es ihr ziemlich leicht gemacht. Pausengespräch war das Thema Schwule und wer welche kennt. Sie sagte (mit innerlichem Flattern, wie sie mir gestand), ich. Außerdem kenne ich Lesben. Eine davon wohnt bei mir, meine Mutter. O.k., die Clique hat es akzeptiert. Seitdem sei dieses Thema erledigt, sagt Antje.
Ziemlich selten, meistens in den Ferien, sehen die Mädchen ihren Vater. Während Antje sich mehr und mehr von ihm zurückzieht, fährt Paula regelmäßig zu seiner neuen Familie in die andere Stadt. Wenn er hier ist, schmiegt sie sich oft an ihn und drückt ihn. Sie nimmt sich dann das, was ich ihr genommen habe, etwas, das bisher noch keine meiner Beziehungen ersetzen konnte. Es ist nicht die Person Vater oder Mann, die ich meine.
Es sind die guten Jahre, die wir als Familie miteinander verbracht haben, die sie in der Umklammerung sucht. Doch Paula kommt von ihren Besuchen immer wieder gern zu uns, zu Antje und mir, aus einer fest gefügten Vaterwelt zurück in unser ziemlich lockeres Leben. Anders als früher verläuft es, und wir empfinden es so als angenehm. An den Wochenenden lange schlafen, keine Pflichtbesuche, keine Pflichtgäste, kochen und essen nach Lust, keinerlei Reglementierungen. Unsere kleine Freiheit, die nichts kostet, wird von unseren Nachbarinnen schweigend hingenommen.

Grit umarmte mich, bevor sie mich verließ, küßte mich innig und flüsterte: Scheiße. Sie sprach es aus. Ging zu ihrem Mann, von dem sie sich nicht trennen will, zu ihren beiden Söhnen. Machte sich also auf, zurück in ihr Leben. Ich fordere nichts und mache nichts kaputt.

Mit dir möchte ich zusammen alt werden, sprach ich, zweiunddreißigjährig, nach zwölf Jahren Ehe zu meinem Mann und meinte es vollkommen ehrlich. Eine Woche später verliebte ich mich in eine Frau. Erst die überwältigende geistige Beziehung, dann die Entdeckung, die Gewißheit. Mein Körper und der andere weibliche Körper. Hab danach gesucht und nichts davon gewußt. Ist das Verdrängung, wenn ich jetzt, mit sechsunddreißig, nicht einmal mehr sagen kann, ob ich je einen Orgasmus mit einem Mann erlebt habe? Waren das alles nur Andeutungen, die ich in diesen Jahren empfand, die nie vollendet wurden, nie vollendet werden konnten, weil ich unfähig war, aus ihm zu schöpfen, von ihm zu nehmen? In den letzten drei Ehejahren fühlte ich mich als das Gefäß meines Gatten. Ein Gefäß, gefüllt mit Angst, das nicht die Kraft besaß, sich zu verweigern. Da war diese ungeahnt tiefe Beziehung, die sie und ich nach außen hin verbargen, und mein schlechtes Gewissen. Meine Verweigerung hätte zweifelsohne Offenbarung nach sich gezogen. Die Frau, die ich liebte (vielleicht liebe ich sie auch heute noch aus weiter Ferne), drang auf Geheimhaltung. Ich respektierte ihren Wunsch. Anfangs hegte und nährte ich die Illusion, mit beiden Lebensmustern zurechtzukommen - mit Mann und Kindern und mit Frau. Aber mein Körper und mein Geist standen Qualen aus. Diese Frau verließ mich. Sie hielt es nicht aus mit mir und suchte sich eine andere. Genauer gesagt, erst suchte sie die andere, und dann verließ sie mich. Einen einzigen Raum gab es in unserer Neubauwohnung, in dem ich mich verstecken und weinen konnte. Minutenweise verbarrikadierte ich mich in unserem winzigen Bad, hellhörig und ohne Fenster.

Henner war Offizier bei der Nationalen Volksarmee. Sogar ein ziemlich hochkarätiger. Was ich an ihm schätzte, war, daß er tatsächlich von seiner Arbeit überzeugt war und daß er aus seiner Position keinerlei Vorteile schöpfte. Was ich nicht mochte, war daß er die Politik der Partei- und Staatsführung hinnahm und für alles Entschuldigungen, Erklärungen, Rechtfertigungen zurechtbastelte, Kritik einfach nicht annahm.
Zehn Monate Lehrgang an der Militärakademie genügten. Wir konnten über Politik nicht mehr vernünftig reden. Wir stritten darüber und schrien uns an. Ein wenig arrogant ist er dort geworden und ziemlich träge. Abends saß er abgeschlafft mit den Kindern vorm Fernseher, Bier vor dem Gesicht und rein in den Bauch, der allmählich zu wachsen begann, und klopfte seine langweiligen Sprüche. Ich glaube, das war die Zeit, die das Band zwischen uns schließlich zerreißen ließ.
Eines Morgens im Januar duschte er sich (das tat er jeden zweiten Morgen) und kroch dann eiskalt zu mir ins Bett. Er nahm mich. Später, im Büro, blätterte ich in einer Fotozeitschrift. Gedankenverloren. Bis mich die Netzhaut eines Insektenauges anstarrte und nicht mehr losließ; aus einer Gänsehaut ragten Millionen von Stacheln. Welch Sinnbild für meinen Körper.
Dieser Januarmorgen war der Morgen unseres letzten »Beischlafes« (welch grauenvolles Wort). Im April, nach Antjes Jugendweihe, erfuhr er den Grund meiner Verweigerung. Männertränen. Sie prallten nicht an mir ab. Aber sie wogen auch nicht die meinen auf.
Stehe nachts auf einer Brücke. An mir rauschen Straßenbahnen vorbei, unter meinen Füßen rasen Autos.  Ich habe mir ein Taschentuch in den Mund gestopft, beuge mich vor, hänge mit dem Oberkörper über dem eisigen Geländer, klammere mich fest. Und schreie.
Irgendwann ist es vorbei. Ich springe nicht, werfe nur das Taschentuch irgendwo zwischen die Straßenbahnschienen. Ich schleppe mich im Regen nach Hause.

Maisonntag. Antje liegt auf dem Bett und hat sich in einen Roman vertieft. Ich gehe durch das Kinderzimmer. Auf und ab, hin und her. Schaue aus dem Fenster. In der Sandkiste sitzen ganz Kleine und spielen.
Ich muß es ihr sagen, daß ich nicht mehr zurück kann. Daß wir uns scheiden lassen wollen. Jetzt. Und wenn ich jetzt nicht ehrlich bin, verbaue ich mir die nächsten Jahre. Will mich nicht mehr verstecken müssen. Vielleicht wird mir meine Toleranz, aus der ich niemals einen Hehl gemacht hatte, helfen. Immer schon versuchte ich den Kindern zu vermitteln, daß Schwule und Lesben auch nichts anderes sind als andere.
Warum gerade du?
Warum gerade ich? Beide haben wir geweint.
Unsere behütete Tochter. Am darauffolgenden Tag fuhr sie für zwei Wochen in den Süden, in ein Trainingslager. Ich glaube, sie war froh darüber, daß sie wegkonnte.
Als sie zurückkam, erklärte sie ganz ruhig, sie hätte uns beide lieb und es sei ihr egal, zu wem sie ginge. Paula, bei der es etwas leichter ging - ihr genügte die Erklärung, daß Vater und Mutter sich nicht mehr lieb haben -, wollte bei mir bleiben.
Gekämpft hat er nicht um seine Kinder. Die Rolle des alleinerziehenden Offiziers hätte er nicht bewältigt, das wußte er selbst.

S., den 10. Juni 1989
Liebe Murzel-Mutter,
den Brief, den ich Dir heute schreibe, würde ich Dir zu gern ersparen, das kannst Du mir glauben. In Gedanken schreibe ich ihn schon wochenlang ...
Folgendes ist geschehen: Vor drei Wochen reichte Henner auf meine Bitte hin die Scheidung ein. Am Dienstag haben wir Termin bei Gericht. Man wird dort von uns erfahren, daß wir uns die ganzen Jahre in sexueller Hinsicht nicht besonders gut verstanden haben. Das heißt, daß ich mich Henners Annäherungen entzogen habe. Für ihn war es eine Liebesheirat, für mich hingegen ein Ausweg aus der Enge bei uns zu Hause: Ich wollte unbedingt eine eigene Wohnung, vor allem, nachdem Antje geboren war. Wenn Du möchtest, gebe ich Dir gelegentlich die Schriften zum Lesen. Es geht daraus der einmütige Wunsch hervor, uns zu trennen. Ich könnte Dir auch eine Erklärung bieten, die all das, was ich eben geschrieben habe, verständlich machen würde. Ich könnte ausführen, daß Henners Arbeit, die ihn von zu Hause fern hielt, belastend war, seine Weltanschauung, die ich nicht teilte, und überhaupt seine zu ruhige Art, die manchmal auf Herzlosigkeit schließen lassen könnte. Aber ich hatte andere Gründe, Henner zu bitten, sich zu trennen.
Kannst Du Dir vorstellen, daß ich lesbisch bin, und zwar seitdem ich sexuelle Empfindungen habe, nur daß ich dieses Fühlen verdrängt hatte? Versuch, es Dir vorzustellen - es ist so! Immer und immer wieder habe ich mich in Frauen verliebt - verrückt, nicht? Die erste Frau war übrigens Gisela, unsere Nachbarin. Ob sie es geahnt hat, weiß ich nicht (es waren ja ausschließlich seelische Beziehungen).
Das Schlimme ist, dieses Lieben muß man ganz allein durchstehen, immer darauf bedacht, daß niemand etwas merkt. Jedenfalls galt das für mich in den letzten zwanzig Jahren. Henner war und ist gut zu mir. Das macht alles sehr schwer und rechtfertigt nach außen hin überhaupt nichts. Was ich den Kindern (Antje weiß es bereits), Henner und Euch antue, ist vom Verstand her nicht faßbar und überhaupt unbegreiflich nach den vielen Jahren des Zusammenlebens. (In diesem Zusammenhang habe ich sehr viel nachgedacht über vorgefertigte Erziehungsmuster, in die die Menschen hineingeboren werden, in denen sie sich zu bewegen haben. Könnte ich heute die Zeit um sechzehn Jahre zurückdrehen, glaube mir, es würde in diesem Leben keine Antje und auch keine Paula geben. Mit meinem heutigen Wissen würde ich Henner als Episode oder als Experiment ansehen. Und in diesem Experiment würde ich nicht die Verantwortung für Kinder tragen wollen und können. Doch alles ist Realität. Sie sind da, die beiden Mädchen, und werden geliebt. Doch für sie soll das Leben nach allen Seiten offen sein ...)
Du hast, Murzel, immer gesagt, ich wäre so vernünftig. Bis wir hierher in diese Wohnung zogen, traf das zu. Wir, Henner und ich, hatten immer ein Ziel: den Kindern ein harmonisches Zuhause zu bieten. Sexuell hat es auch gestimmt für mich. Ich habe allerdings nie kapiert, wie das mit der riesengroßen Leidenschaft so ist, an der Du damals fast zerbrochen wärst. Ich fand so gar nichts an den Umarmungen. Und Küsse gaben mir wenig. Nur dieses Ineinandersein gefiel mir in den ersten Jahren. Damit meine ich das rein Mechanische der Vereinigung. Dabei empfand ich nur für mich und nicht für zwei. Ich dachte, das muß so sein. Aber immer habe ich gespürt, daß mir etwas ganz Wichtiges fehlt. Eine wahnsinnige Sehnsucht verspürte ich nach Tiefe, nach einem Austausch.
Später, als Paula schon etwas größer war, hat mich dieses ganze Zusammenleben eher bedrückt. Ich wußte und spürte, das ist überhaupt nicht, was ich will. Arbeiten, Geld verdienen, Essen ranschaffen, abends vor der Kiste sitzen (Henner schlief meistens davor ein) und dann ab ins Bett. Mit der Zeit begann ich mich zu ekeln, wenn Henner sich auszog und so vor mir stand. Ganz froh war ich, wenn er dann ins Bett ging und ich mit meinen Stricknadeln noch bis in die Nacht sitzen konnte.
Am 10. Juli 1985 war ich beim Nervenarzt (hab meinen Sozialversicherungsausweis extra herausgesucht, um nachzusehen). Kannst Du Dich an meine Depression erinnern und an den Haarausfall? Ich hatte damals überhaupt keine Lust mehr zu leben. Alles war mir zuviel, sogar die Kinder gingen mir auf die Nerven. Wie sollte ich das, was so heil schien, ändern? Ich mußte diese Pillen einnehmen und schlief daraufhin fast ein im Betrieb. Das fand ich verlogen. Daraufhin beschloß ich, alles anders zu machen, mir aus eigener Kraft zu helfen, gesund zu werden. Denn das hatte ich nun erkannt, daß das sogenannte Normale mich krank gemacht hat.
Henners Studium hat dann alles verändert. Er kam nur an den Wochenenden nach Hause. Ich fand das schön so allein. Ich hab das richtig ausgekostet. In dieser Zeit lernte ich meine große Liebe kennen. Murzelchen, ich habe es ausgelebt. Alles, was ich vermißt hatte, fand ich. Berührungen, an denen ich verbrannte. Küsse, die mich in den Himmel hoben. Wo war und ist nur meine Vernunft geblieben? Weg. Meine große Liebe hatte ich leider nicht lange. Sie verließ mich. Was hab’ ich gelitten! Tag und Nacht habe ich geheult. Ich dachte, Tränen müßten irgendwann mal alle sein, aber ich hatte schon fast keine Augen mehr im Kopf, und immer noch flossen sie. War ich verzweifelt! Und mit wem sollte ich reden? Der ganze Druck, der auf mir lastete. Henner, der mir immer fremder wurde, wollte an den Wochenenden etwas von mir, wofür ich nun überhaupt nichts mehr übrig hatte, nachdem ich wußte, wie es richtig für mich war…

Im Januar, nach meiner Verweigerung, hat Henner mich gefragt, ob ich ihn noch liebe. Ich habe mit nein geantwortet. Auch wenn er weint, kann ich nicht mehr zurück. Wir werden uns also scheiden lassen. Gegenwärtig schlafen wir im hinteren Zimmer, zwischen uns passiert nichts mehr. Wir kommen gut miteinander zurecht. Die Kinder leiden natürlich unter der Situation. Sie bleiben bei mir.
Mit Illusionen gehe ich nicht in die Zukunft. Es kann schon passieren, daß ich kaputtgehe. Aber das wäre mir so auch passiert, als Ehefrau.
Im wesentlichen weißt Du jetzt, was los ist - vielleicht hast Du auch schon bei Deinen letzten Besuchen gespürt, daß da etwas nicht stimmt.
Nimm's nicht zu bitter. Wichtig ist, daß es mir wieder gut geht, nach langer Zeit. Allmählich weicht der Druck von mir. Ich habe glückliche Stunden, die ich nicht missen möchte. Ich denke, alles weitere können wir bereden, nicht wahr? Daß Du Dich von mir abwenden wirst, glaube ich nicht. Du könntest mir lediglich zum Vorwurf machen, daß ich das alles erst jetzt ausspreche und mich fragen, ob ich kein Vertrauen zu Dir hatte.
Doch, hatte ich. Nur mußte ich mich erst einmal selbst annehmen, weißt Du?

Deine Tochter Elke

Scheidung im Juni. Fünfunddreißig Minuten sitzen wir vor dem Hohen Gericht. Zu meinem Entsetzen muß ich feststellen, daß einer der Schöffen ein Arbeitskollege von mir ist. Bin zu feige, ihn abzulehnen. Weiß auch gar nicht, ob diese Möglichkeit überhaupt besteht. In dieser Verhandlung geht es um meine Frigidität, die wir als Trennungsgrund angegeben haben. Ständig vor meinen Augen dieser Kollege. Ich gratuliere uns in Gedanken für die Umgehung der Wahrheit. Die Frage nach einem anderen Partner kann ich mit gutem Gewissen verneinen. Bei Henner wird sich nach einer Partnerin erkundigt, die es seit zwei Tagen gibt. Diese Tatsache nimmt das Gericht gegen ihn ein, und sie vereinfacht alles.

Januar 1991
Die Sache mit Grit hat sich inzwischen anders entwickelt, als es vorgesehen war. Es sollte keine feste Beziehung zwischen uns werden, allenfalls ein Beieinandersein, das in unsere Terminkalender hineinpassen würde, so ganz zwanglos. Aufgrund unserer Berufe verfügen wir jedoch über sehr wenig Freizeit. Grit arbeitet täglich außer sonntags etwa zwölf Stunden und ich zehn. In Anbetracht der ständig steigenden Zahl der Erwerbslosen und Kurzarbeitenden mag das unglaublich erscheinen, aber es ist so. Unsere Unternehmen haben uns geschluckt.
Grit hatte vorgehabt, ihr zweites, so ganz anderes Leben heimlich zu führen, so daß ihr Status als Mutter und Ehefrau nicht in Frage gestellt werden kann. Was zwischen uns geschah, ließ sich nach einer Weile nicht mehr auf eine sexuelle Leidenschaft reduzieren, gelebt in wenigen Momenten und immer die Zeit im Nacken. Im Dezember standen wir vor der Entscheidung: Entweder wir lassen voneinander, weil der jetzige Zustand für die Seele unbefriedigend ist, oder wir versuchen, uns und die Kinder mehr in ein gemeinsames Leben einzubringen. Wir entschieden uns füreinander.
Daß es Liebe geworden ist, habe ich gespürt, als am Neujahrsmorgen das Telefon klingelte und meine alte große Liebe sich nach langer Zeit des Schweigens meldete, um mir ein gesundes neues Jahr zu wünschen. Das Gespräch mit dieser anderen, vorher zu jedem Zeitpunkt ersehnt, riß nichts mehr auf und ließ nichts mehr offen. Es setzte den Schlußpunkt und öffnete mich für Grit.
So oft es möglich ist, bin ich mit Paula bei Grit, während Antje mit ihrer Clique beschäftigt ist. Grits Mann akzeptiert die Tatsachen.
Schwer fällt mir, mich ihren beiden Jungen zu nähern, die noch keine Ahnung haben, was unsere Beziehung bedeutet. Ich spüre, daß Marcel, der große Sohn, einen Wall um sich errichtet, der mich zurückprallen läßt. Er sieht, daß die Zärtlichkeiten und Küsse der Mutter, die doch dem Vater zustehen, an mich gerichtet sind und von der »Außerirdischen« erwidert werden. Solange Grit nicht mit ihm über unsere Beziehung spricht, werde ich es nicht schaffen, diesen Wall niederzureißen.
Mit Manuel, dem Kleinen, ist einfacher umzugehen. Für ihn ist es egal, woher die Zärtlichkeiten kommen; er holt sie sich auch von mir ab. Gelegentlich bringen Grit und ich ihn morgens gemeinsam in den Kindergarten. Zum Abschied drückt er erst die eine Mutter und dann die andere.

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