Einleitung:
Emanzipationsphilosophien der Frau
An sich haben an der Entwicklung der allgemeinen humanen Natur- und Lebensphilosophie, vom Anfang der Menschwerdung, in Griechenland bereits als Berufsphilosophinnen, auch weise Frauen ihren Anteil.[1]
Wie andere von Mächtigeren Unterdrückte, liegen jedoch viele Frauen bereits in der Frühgesellschaft in drückenden sozialen Ketten. Obwohl sie also, wie wir heute beweisen können, wie der Mann mit zu 96% denselben menschlichen Anlagen, d. h. überwiegend "gleich geboren" sind, sind sie praktisch oft nicht in der Lage oder entwickelt und geschult genug, um Laien- oder wissenschaftliche Philosophie intensiv und in ihrem ganzen Umfang zu betreiben. Sie müssen sich gegenüber dem Machtanspruch des Mannes erst "emanzipieren". Er nämlich macht aus seiner bloßen Geschlechterphilosophie meist sofort eine angeblich gesamthumane.[3] Die Frau dagegen entwickelt, oft schon früh, bloße weibliche Contra-, Kompensations- oder Notabwehrphilosophien, um sich überhaupt zu erhalten oder durchzusetzen.
1. Die Matriarchatsphilosophie als Metaphysik des natürlichen Vorranges
des weiblichmütterlichen Prinzips in Natur und Kultur
Zu ihnen gehört als ein Hauptphänomen die schon in der menschlichen Frühgesellschaft ("primitive society" der Ethnologen), als seit ca. 30 000 v. Chr. auch die "femina sapiens" ausgebildet ist, entstehende theoretische und praktische Matriarchatsphilosophie.[4] Frauen, in ihren tüchtigsten und geistig hervorragendsten Exemplaren, d. h. nicht nur als Mütter, sondern als besonders begabte und macht-, weisheits- wie organisationsfähige Persönlichkeiten, reißen in einigen Stämmen statt der Männer die politische Herrschaft wie das Haupteigentum und -kapital, die Erbfolge und die Bestimmung in der Familie an sich und schaffen die bis in die spätere Hochkultur des Patriarchats ab 5-3000 v. Chr. hinein wirksame entsprechende geistige Rechtfertigungsphilosophie dafür. Sie fußen also auf der wirklichen Primogenität des weiblichen Prinzips in der Natur oder entwickeln entsprechende stammesgeschichtliche bzw. religiöse Fruchtbarkeits- und Mutterrechtsmythen.[5]
Eher als der Mann, in seiner umgekehrten Geschlechterphilosophie, bleiben sie auch in ihrem Matriarchat allerdings geneigt, gewisse gesellschaftliche Funktionen partnerschaftlich zu teilen. Einmal zwingt sie ihre arteigene Sonderleistung als Mutter ohnehin schon immer wieder die Hilfe anderer zu suchen und sie dem Kind zuteil werden zu lassen. Ihr angeborener Egoismus ist also natürlicher sozial gebrochen als der des anscheinend linear-pausenlos individualistisch-egoistisch leben könnenden Mannes. Andererseits drängt der Machtanspruch des Mannes bis heute wieder schnell in die Lücke, die die Frau, zeit- und augenblicksweise, offen läßt. Ausgenommen vereinzeltes Königinnen- und Priesterinnentum und ausgenommen einige bedeutende Frauen in Griechenland, geht das Matriarchat und die Frauen-Machtphilosophie daher mit der Frühgesellschaft schon wieder zugrunde oder bildet lediglich die Untergrundphilosophie der siegreichen Patriarchatsentwicklung und -gesetzgebung in Hochreligion und Staat der Nachsteinzeit.[6]
2. Die menschenrechtliche Gleichheits- und Ausgleichsphilosophie
Zwar gibt es auch in der Frühgesellschaft, neben patriarchalischen und matriarchalischen, d. h. beiderseits herrschaftlichen Formen, auch den Versuch, eine Gesellschaft auf der Gleichberechtigung der Menschen aufzubauen.[7] Erst in Griechenland wird die Philosophie dieser An-Archie, die sich zu dem Grundsatz bekennt: »Ich will nicht herrschen und nicht beherrscht werden«,[8] allerdings zur bewußten Menschenrechtslehre und praktischen Verwendung in der Demokratie ausgebaut. Erst dort wird sie von wenigstens einigen Philosophen und Philosophinnen bzw. Frauenbewegungen überhaupt, vor allem also den Sophistinnen und Atomistinnen, von Aspasia bis zu Themista, in der Schule Epikurs, auf die neben dem Herrn und Manne "invisible men", d. h. Frauen, Sklaven und Kinder ausgedehnt. Die Frau darf entsprechend bis zur Renaissance in Italien auch beruflich an aller Philosophie und Wissenschaft geistig gleichberechtigt teilnehmen.[9]
Nach wie vor allerdings halten viele konservative und kirchlich-christliche Philosophen und Philosophinnen, wie Platon und Aristoteles oder die Phythagoreerinnen, und die in dieser Hinsicht auch nicht fortschrittlichen Denker der Neuzeit, wie Rousseau oder Thomas Paine, die deutschen Idealisten und viele Interpretationen des Art. III unserer Verfassung weiter am patriarchalischen und geistigen Vorrang des Mannes fest.[10] Die Menschenrechtsphilosophie zugunsten der Frau scheitert weitgehend, bis heute. Sie ist weder geneigt, die naturwissenschaftliche Erkenntnis, daß der Unterschied zwischen Mann und Frau, wie zwischen den "Rassen" nur ein prozentual sehr geringer (1-4%) ist, zur Kenntnis zu nehmen.[11] Noch zieht sie konsequent die rechtlich-soziale Folgerung daraus, daß die Gleichheit damit bei weitem vorrangig sein sollte; der Unterschied also leicht durch gerechten Ausgleich, statt durch ungerechte Herrschaft bewältigt werden kann.[12]
3. Die Philosophie des Nurweiblichen ohne Menschenrechte als Ersatzphilosophie und -ethik der Frau
Auch durch diese jahrhundertewährende humanistische Diskriminierung sieht sich die Frau bei der Entwicklung einer eigenen Lebensphilosophie daher immer wieder gezwungen, nur auf den ihr vom Manne zugestandenen Restbestand an allgemeiner Menschlichkeit, d. h. ihr eines Chromosom der Weiblichkeit zurückzugreifen. Immerhin macht sie, dank ihrer geistig moralischen Kraft, auch aus dieser Not an allgemeinem Menschen-Recht noch eine philosophisch bedeutsame Metaphysik und Tugendethik. Sie entfaltet die ihr verbliebene, erlaubte Persönlichkeit zu einer der höchsten, hemmungslosen Selbstaufgabe und Unterwerfung unter den Mann bis zur Selbstverbrennung, im auch körperlichen Sinne (Sati: Indien), zu absoluter Opferbereitschaft und bloßer höchster Gefühlskultur in extremem, intuitivem Irrationalismus, zum Mystizismus des Nur-weiblichen und -mütterlichen. Ihr Haremsgefängnis verwandelt sie in die allein noch menschliche hohe Heimkultur; ihre Zwangsberuflichkeit und Arbeit dort in eine, weil ohnedies unbezahlte, wenigstens auch unbezahlbar erscheinende Leistung. Selbstverständlich geht auch diese einschneidende Verkrüppelung ihrer Persönlichkeitsentfaltung als Voll-Mensch nicht ohne die entsprechenden entsetzlichen Folgen ab, von der heimlichen Rache im Putzteufel-, Xantippen-oder Klammeräffchentum bis zur echten unheilbaren Depression, vor allem im Klimakterium, das nicht zur normalen reifen Persönlichkeitsentfaltung sondern zur Abwertung oder bloß neuem Groß-Muttertum führt. Gleichwohl ist, auch im heutigen Feminismus, von allen männlichen Patriarchen und Religionsstiftern heimlich oder offen unterstützt, dies die praktisch hauptwirksamste und am meisten verinnerlichte Frauenphilosophie geblieben.[13] Nur ihr Witwenlos, die schmale Lohntüte, die mangelnde Berufschance bei Untreue des Mannes oder Scheidung und der fehlende politische Einfluß erinnert diese Frauen gelegentlich daran, daß sie mit soviel Fleiß, Geist und Hingabe doch nur ein viel zu schmales Feld ihrer wirklichen Anlagen beackern, und dies wieder nur im Interesse der Geschlechterphilosophie des Mannes, der man gerade entgehen will.
4. Notwehrphilosophien der Frau zur Rettung wenigstens von Leib und Leben
Es wundert also auch nicht, daß, im Laufe der Jahrtausende, vom eigenen Herrschaftsanspruch, über die unerfüllte Forderung nach Gleichberechtigung und Partnerschaft, auf nur diese Philosphie des Restbestandes an bloßer Geschlechtlichkeit zurückgedrängt, der Rückzug sich schließlich oft auch noch in bloße Notwehr verwandelt. Es geht für die Frau gar nicht mehr um ihre menschliche Würde, sondern nur noch um Strategien zum Erhalt von Leib und Leben gegenüber dem brutalen Druck der Gewalt der männlichen Macht und ihrer ganz unbekümmert inhumanen Rechtfertigungsphilosophie.
a.) "Gewalt gegen Frauen" muß, selbst im sogenannten Rechtsstaat wie der angeblich liebevollen Gotteskirche, erst von mutigen Vorkämpferinnen einer autonomen Frauenbewegung wieder ans Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, ehe sie, die sonst "Gewaltanwendung" überall so bereitwillig verpönen, von dieser sexuellen Art überhaupt Notiz nehmen und sie ebenfalls der gerechten Bestrafung zuführen. Der Frau bleiben nur List-Philosophien.[14]
b.) "Verstümmelung von Frauen" durch Klitorisbeschneidung bei Millionen von weiblichen Kindern, besonders in der mohammedanisch-religiös gebundenen Welt, ruft ebenfalls kaum ein Echo hervor. Die sexuelle Gleichberechtigung der Frau wird ja weiter nur konsequent, nun auch physisch statt "nur" kulturell-philosophisch-geistig, vernichtet.[15] Ihre Lebensphilosophie wird zum rein männlichen Zuschnitt auf Huri und Hure verdammt.
c.) "Die Überlastung der Frau mit Geburten" über ihr Wollen und Können, ihre Natur, ihre Würde sowie ihr Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit neben ihrem Muttertum hinaus, führt zwar auch immer wieder zu heimlichen Abtreibungsrechtfertigungsphilosophien, die selbst ganze Kirchen- und profane Gesetzbücher außer Kraft gesetzt haben, wie noch den letzten § 218 in Deutschland.[16] Aber auch damit wehrt sich die Frau meist nur noch in Verzweiflungsart; oft für ihre Gesundheit und Lebensfähigkeit in menschlicher Würde zu schwach und zu spät. Ihre Erkenntnis inhumaner Ausnutzung zur Befriedigung männlicher Gebär-, Prestige- oder ökonomischer Sklaven- und Kriegslüste gelangt nicht über eine Leid- und-Tränen-Philosophie hinaus.[17]
Insgesamt reichen daher alle die Philosophien, die die Frau als speziell weibliche zu entwickeln unternimmt oder gezwungen ist, auch im allgemeinen noch nicht über Untergrunds-, Unbewußtheits-, Restmenschlichkeitsbestands- oder, im Höchstfall, epochenweise erfolgreiche theoretische und praktische Konzepte hinaus:
Bis zum Versuch der Neuzeit, wieder reine Frauenmacht zu erlangen, Frauenparteien zu gründen oder Lysistratastrategien zu verwenden, bleibt ihr Ziel, die Frauenherrschaft, zudem unbefragt, ob dies Streben nicht auch nur eine ungute Nachahmung der unmenschlichen Haltung und Praxis des Mannes ist.
Bis heute ist, auch der Frau, die Menschenrechtsphilosophie der Gleichheit und ihre naturwissenschaftliche Begründung weitgehend unbekannt und fremd geblieben. Jahrtausendelang männlich-philosophisch indoktriniert, weiß sie nichts von ihrer überwiegend allgemeinmenschlichen, nur zu 3-4% wirklich weiblichen Natur. Sie verwechselt also nach wie vor Natur und Kultur zu ihren Ungunsten und baut ihre Philosophie auf diesem Kardinalirrtum auf.
Selbst in äußerster Not ideeller oder materieller Art läßt sie sich ihre Rechte darum auch immer wieder zu leicht durch eine falsche Humanität abkaufen. Sie begnügt sich mit bloßer Ver-Ehrung oder Ver-Sorgung, die von den gleichen Philosophen, die sie für die Frau empfehlen, schon überall als den Menschen seiner selbständigen Menschlichkeit beraubend erkannt sind, z. B. im sozialistischen Ver-Sorgungsstaat und der politischen oder religiösen Führer-Ver-Ehrung, als schon wörtlich falscher Ehrung.
Historisch kann man darum sogar die Behauptung wagen, daß die Frau im Gesamtrahmen der Hochkultur schlechter gestellt und darum auch weniger erfolgreich und philosophisch aktiv war, als in der noch anfänglichen "primitive society". Denn die Hochkultur ist zugleich die der männlichen Geschlechtsphilosophie im profanen und religiösen Extrem. So einseitig und romantisch die Suche der heutigen Frauenbewegung nach ihren "Roots" teilweise ist, so nicht ganz unberechtigt ist sie darum andererseits. Das gilt auch für die Abtreibungsphilosophie der Frauen der Frühzeit.
I. Die systematische humanistische Lösung des Abtreibungsproblems
der Frau in einer menschenrechtlichen Ethik
Allerdings sind auch diese Abtreibungsphilosophien der Frau noch zu keiner klaren humanistischen Lösung des Problems gekommen. Ihr Anschluß an die allgemeine menschenrechtliche Ethik, die, im Rahmen unserer oder der UNO-Verfassung der Menschheit die Zustimmung nicht nur aller Männer und Frauen, sondern auch aller Parteien, Ideologien oder Religionen, soweit sie sich zu diesen Menschenrechten bekennen, hat, fehlt. Sie bleibt zwischen dem absoluten Herrschaftsanspruch der Frau über den Nasciturus - nach dem Motto: mein Bauch gehört mir - oder der umgekehrten Überbewertung dieses, noch nicht vollmenschlichen, wenn auch hominidären Wesens, also seiner Überverehrung aus einer religiösen Kind-Metaphysik heraus, stecken. Der Wert der Frau, auch als Persönlichkeit und nicht nur Mutter, wird gegen die Nicht-Vollperson des Embryo nicht so sorgfältig abgewogen, wie es eine nicht mehr metaphysische, gerechte und ausgewogene Ethik verlangt. Verführerisch-unklare Parolen wie die der "Rettung des Lebens" täuschen außerdem darüber hinweg, wie weit eine menschenrechtliche Ausdehnung des Schutzes auf die nicht- oder noch nicht ganz menschliche Natur überhaupt durchführbar und verkraftbar bleibt, sowohl für die Frau wie die Menschheit überhaupt.[18]
In dieser Sphäre undurchdachter, unsystematischer Abtreibungsphilosophie bleibt damit nicht nur das große Problem der Bevölkerungsvermehrung überhaupt zu weitgehend reinen Ideologien, Religionen oder ökonomisch-staatlichen Zwängen zur Fortpflanzungsbegrenzung oder -unbegrenztheit überlassen. Auch die Frau selbst ist ständig weiter dem Zufall oft parteiischer Gesetzgebung ausgesetzt. Sie kann ihr Leben nicht in Ruhe planen.
Praktisch wird sie dies ihr Problem vermutlich zwar bald auch ohne rechtsphilosophische Hilfe lösen. In einigen Jahren steht eine leicht anzuwendende "Pille danach" zur Verfügung, die ihr schließlich niemand mehr wird verwehren können.[19] Bis zur Ausarbeitung einer tauglichen ethischen Rechtfertigung ihres Tuns wird sie allerdings trotzdem unter starkem seelischen Druck bleiben, der sie ebenfalls erheblich schädigen kann.
Nichts ist also auch wichtiger, als daß sie selbst oder mit dem Mann eine wirklich haltbare Menschenrechtsethik auf diesem Gebiet entfaltet. Meine eigene nächste Veröffentlichung wird sich mit dieser "humanistischen Lösung des menschlichen Abtreibungsproblems" befassen. Hier gehe ich im folgenden nur auf eine Vorarbeit ein, die Geschichte der Abtreibung, und innerhalb ihrer lediglich auf die bisher stark vernachlässigte Abtreibungsphilosophie und -praxis in der menschlichen Frühgeselischaft.
II. Die historische Dimension der Abtreibungsfrage beim Menschen
Erst heute zeigt sich nämlich deutlich, wie unendlich lange, einmal humangeschichtlich gesehen, diese Abtreibungsfrage den Menschen und vor allem die Frau bereits beschäftigt und in erhebliche Nöte bringt. Zum andern wird mit der ganzen entwicklungsgenetischen Zurückverfolgung des Problems bis auf die Entstehung des "homo-femina-sapiens"-Geschlechts innerhalb der Tierwelt erst klar, warum beim Menschen eine Fortpflanzungsphilosophie nötig wird. Er kann mit diesem Problem gar nicht mehr in ungeistiger "Natürlichkeit" fertig werden. Es erfordert auch Verstand und ethische Vernunft, ohne Irrtum.
1. Die natur- und entwicklungsgeschichtliche Komponente des menschlichen Abtreibungsproblems
Was diese natur- und entwicklungsgeschichtliche Komponente des Abtreibungsproblems betrifft, so ist zwar festzustellen, daß schon in der Säugetierwelt gewisse Verhaltensweisen von Mann und Frau, wie die bereitwilligere männliche Zeugungs-"Lust" und die vorsichtigere Paarungs-"überlegung" des weiblichen Wesens, das mit ihr auch die Folgen der Schwangerschaft riskiert, angelegt sind und sich bis zum Menschen durchhalten."[20] Umgekehrt sind erst beim Menschen aber auch keinerlei sonstige "Brunftzeiten" als Grenzen des sexuellen Begehrens und der Möglichkeit von Schwangerschaft mehr "von Natur" vorhanden. Bei immer weiter abnehmender Triebgesteuertheit muß daher seine eigene rationale Zukunfts- und Zielüberlegtheit die Fortpflanzung durch die Hirntätigkeit mitregeln. Ein Sich-Überlassen an die ungeistige Natur ist ihm nicht mehr wesensgemäß. Es wird humanistisch allein angemessen, die Steuerung der sexuellen Triebe und der resultierenden Geburten im Hinblick auf den allgemeinen und individuellen gerechten Nutzen abzuschätzen und einzurichten. Anders nämlich funktioniert schließlich weder die Persönlichkeitsentwicklung und humane Beziehung von Mann und Frau untereinander, noch der Generationenvertrag, noch endlich das ökologische Gleichgewicht zwischen menschlicher Gesamtbevölkerung und der Natur, auf die sie letztlich ganz angewiesen ist.
Ist die Frage der Fortpflanzung des Menschen so in den Bereich geistiger Entscheidung und Abwägung von Schaden und Nutzen gerückt, so gerät sie im Laufe der Geschichte aber notwendig auch in die Gefahr des kleinen, persönlichen, oder großen, menschheitlich bedeutsamen, ideologischen, religiösen oder politischen Irrtums. Es haben uns die kirchlichen oder patriarchalischen bzw. ökonomischen Theorien der letzten Jahrtausende daher keineswegs nur Kindersegen, sondern auch den Fluch der Überbevölkerung der Erde und der inhumanen Überlastung der Frau mit viel zu vielen, von ihr viel zu geduldig unterwürfig getragenen Geburten, die zu Millionen gleich wieder sterben, eingebracht.[21] Die Ausbeutung der Frau durch unüberlegte Mutterschaft, d. h. das Fehlen einer vernünftigen Theorie des menschlich-geistig zu erstellenden Schutzes vor zuviel Mutterschaft, hat sich schon jetzt grausam gerächt.
2. Die Regelung der Abtreibung in der menschlichen Frühgeselischaft, vor der Entwicklung von Hochideologien über menschliche Fortpflanzung
Derartig umfangreiche und folgenschwere Kulturfehler bei der Planung der menschlichen Fortpflanzung sind allerdings erst ein Ergebnis der meist männlich-patriarchalisch beherrschten sogenannten Hochkultur. Die Frühgesellschaft weist zwar gelegentlich auch schon Ansätze zu radikalen Mutterschaftsideologien dieser oder jener Richtung auf. Jedoch sind diese noch seltener als später und haben keine Folgen von so umfassender Dimension wie heute. Es geht eben nur ein kleiner Stamm an seiner Askese zugrunde oder entwickelt sich, aufgrund seiner "Wachset und mehret Euch" - Stammesideologie, um den Preis der Einengung der Persönlichkeit der Frau zugunsten ihrer Nur-Mutterschaft, in überdimensionaler Weise.[22]
Auch diese ganze Frühgeschichte der menschlichen Abtreibung ist der bisherigen Forschung, Gesetzgebung und Rechtsprechung allerdings noch entgangen. Die "normale" historische Verfolgung des Abtreibungsproblems, falls sie überhaupt schon über Abendland und Christentum hinaus zu sehen imstande ist, schließt im Höchstfall die schon wissenschaftlich bewußten Theorien der Antike und die praktischen Gebote der anderen Hochreligionen und alten "orientalischen Despotien", von Ägypten bis zu China vor 3-5000 Jahren, ein. Denn auch die Ethnologie der frühen Völker hat, selbst in ihrer ausgedehnten Familienforschung, bisher noch kaum systematisch nach Abtreibung gefragt und geforscht. Teils unterliegt sie dabei noch vielen ungewollten oder eingefleischten Vorurteilen über unseren "Natur"zustand. Teils sucht man in ihm aber auch nur das heutige, eigene, enger sozial-ideologische Interesse zu bestätigen, statt Tatsachen von pluralistischen Gesichtspunkten aus anzupeilen. Selbst die Frauen-Ethnologie, die in den letzten 20 Jahren soviel dazu beigetragen hat, ihre eigene Geschlechtsgenossin in der Frühgesellschaft überhaupt erst sichtbar zu machen, fischt hier oft noch im Trüben. In ldealisierung des Matriarchats oder der "natürlichen" Geburt und Einstellung zum Kind sieht sie lediglich die guten Seiten der Vorzeit. Daß Frauen schon damals Aussteigerprobleme gegenüber strenger Stammessitte, Untreue-, Scheidungs- und Abtreibungserlebnisse haben, wie Bedrängnisse durch patriarchalisches Herrschaftsgebaren erfahren, wird nicht ebenso wahrgenommen, geschweige denn von vornherein mit zum Forschungsprogramm gemacht.[23]
So verdanken wir es bisher nur einem zufälligen Nebeninteresse eines einzigen Forschers, daß die gelegentlich doch in die ethnologischen Berichte der Zeiten gekommenen Notizen über Abtreibungen in der Frühgesellschaft heute wenigstens schon gesammelt, wenn auch noch nicht durchgearbeitet und für eine gezieltere Deutung nutzbar gemacht worden sind.[24] George Devereux hat sie schon 1955 in seinem Buch »A Study of Abortion in primitive Society« (2. Aufl. 1976) registriert, selbst allerdings nur sehr einseitig psychoanalytisch verarbeitet. Leider hat außerdem auch die amerikanische Frauen- und Abtreibungsbewegung der 60er Jahre davon noch keine Kenntnis besessen.[24] Tatsachen und Argumente der Frühgesellschaft bei ihren Abtreibungsregelungen sind demnach auch nicht in der Diskussion über die Abortgesetze der letzten Zeit mitverwertet worden. Die Beobachtungen aus 400 Primitivstämmen harren also noch heute der wissenschaftlichen Bearbeitung wie Kritik und ihrer weiteren Verbesserung und Verwendung.[25]
III. Die sachliche "extreme Plastizität" der Abtreibungslösung in der Frühgesellschaft
Schon Devereux muß bei seinem flüchtigen und einseitigen Überblick über das zufällig zusammengekommene Material allerdings zugestehen, daß sich, im Gegensatz zu späteren Zeiten, als größere Menschenmassen in den Sog umfassenderer, aber einseitigerer staatlicher Regelungen oder religiöser Ideologien geraten, die Frühgesellschaft schon dadurch auffällig auszeichnet, daß sie eine "extreme Plastizität" im Lösungsversuch aufzeigt. Es erweist sich damit erstens, daß sie schon rational experimentiert, um die angemessenste Verhaltensweise ausfindig zu machen. Zweitens laboriert sie an dem Problem aber auch noch erheblich herum. Freilich gibt sie sich damit auch nicht so leichtsinnig, wie später angeblich, absolut wahren Lösungen hin.
Äußerst lebendig ist auch noch die Aussage der Frauen oder der gesamten Stammessitte selbst über die Gründe ihrer Entscheidungen. Es fehlt also die jetzige künstliche Scham und das angezüchtete Schuldgefühl, ob es human erwünscht oder fehlgeleitet ist. Auch die Hauptmotive, die die Frau, ihre Umgebung, den Stamm, seine Wirtschafts- und sonstige politische Lage zu ihren Entschlüssen führen, treten damit viel offener zutage als in denjenigen Hochkulturen, in denen sie, noch heute, unter der Decke der Not oder der Heuchelei im großen Stil verschwinden. Leider reicht die Zeit hier nicht, um auch nur einige dieser Zeugnisse frühgeschichtlicher Einstellung zur Abtreibung im Original vorzuführen. Ich beschränke mich also auf die Wiedergabe der ohnehin schon dürren, wie, zum Teil hinsichtlich der Beobachter wie der Kontexte, auch kritiklosen Zusammenstellung, die Devereux in seiner Einleitung selbst gibt. Sie ist nur gelegentlich um ein paar Worte erweitert, die das Verständnis erleichtern.
Folgende Hauptmotive und Anlässe der Abtreibung treten hervor:
A. Medizinische und biologische Erwägungen
1. Prophylaktische Aborte
- aus Angst vor Geburten überhaupt, die man durchaus honoriert
- aus Absicht, die Zweitgeburt zu erleichtern,
- wegen Jugend der Mutter
- oder ihrer Kleinheit bzw. ihres zu engen Baus wegen ihres fortgeschrittenen Alters
- oder ihres schon erreichten, vorherigen freien Sexuallebens
- bei der Gefahr von Mehrfachgeburten, z. B. Drillingen
- wegen möglicher Risse, die Schönheitsfehler bedeuten
- aus Angst vor sozialen oder anderen Diskriminierungen der Frau bei Kindern aus Ehebruch
2. Speziellere therapeutische Aborte
- bei angeblicher oder abergläubisch angenommener »Monstergefahr«
- bei Schuld an der Krankheit der Mutter
- bei Gefahr nicht lebensfähiger Geburten
3. Geburten vor einem bestimmten, durch Initiationen festgelegten Alter nach der Stammessitte
4. Geburten nach einem bestimmten Alter, nach fester Stammessitte oder wenn »man« keine Kinder mehr bekommt
5. Abtreibung zur Erzielung gesunder Kinder, z. B. bei einem Stamm bis zum Alter von 34 Jahren (oft bis zu 16 Aborte!)
6. Eugenische Aborte
- von fremden, zu alten oder kranken Vätern
- bei irregulären Heiraten nach der Stammessitte
- bei »Monstervermutung«
7. Sozialprophylaxe
- Abtreibung von Bastarden, zugunsten der Stammes»rassen«reinheit
- Abtreibung von angeblich Unglück bringenden Nascituri etc.
8. Stammeseigene Geburtenkontrollmittel:
- Auslachen der zu oft Schwangeren
- Sitte bestimmter Kinderzahl
- Sitte des Kinderkaufs in anderen Stämmen, um sich selbst anderen Beschäftigungen zuzuwenden, z. B. Ferkel zu säugen
- Altersvorschriften
- Sitte des Abbruchs erster, letzter oder Schwangerschaften in bestimmten Zwischenräumen oder in der (jahrelangen!) Stillzeit
B. Politische und bevölkerungspolitische Gründe
1. Dynastische Faktoren
- Nachfolge- und Erbprobleme der Herrscher
- Reduzierung der Zahl der Haremskinder Beseitigung von Sklavenkindern
2. Absolutistisch herrscherliche Exzesse
- Massenabort-Anordnungen, wenn der eigene Sohn der Königin stirbt
3. Kriegs- und Eroberungsfolgen
- Aborte, um den Kindern die Sklaverei zu ersparen
- Rassenselbstmord der Unterlegenen
- Allgemeine Demoralisation eines Stammes
- (christliche Mission: als Hindernis des Aborts aus gewohntem Grund oder als Ursache, weil gewohnte Kinderaussetzung nun verpönt)
- Veränderte ökonomische und Lebensbedingungen nach der Unterwerfung des Stammes
- Gefahr der Rassenmischung nach der Eroberung (Tötung der Mischlinge)
- Ablehnung fremder Väter
C. Probleme der Störung der Familien-Struktur des Stammes
1. »Unrichtige« Väter wie z. B.
- unbekannte
- Vergewaltiger
- Irrtümer über seine Rechte zum Beischlaf
- außereheliche Väter
- Vielvaterverdacht bei Vorehelichkeit der Schwangerschaft
- Stammesfremde Väter, auch Kriegsgefangene oder Sklaven
- Ungesetzliche Heiraten, Ehebruch
- Nicht standesgemäße Paarungen (Prinz und Sklavin)
- Tote Väter, angeblich dämonische Väter
2. Sozialer Druck auf die Frau, durch
- Liebhaber Ehemann
- Mutter der Tochter, bei vorehelicher Geburt
- Schwestern
- Stammessitte und Religion
- Medizinmann
3. Übereinkunft über den Abort
- Mit dem Ehemann, nach zwei Kindern
- Mit der Stammessitte
- Mit den Eltern
D. Ökonomische, berufliche, die Persönlichkeitsentfaltung berücksichtigende Faktoren
1. Nomadismus
- Abtreibung wegen Platzwechsels
- aus Angst, nicht mitzukommen
2. Wirtschaftliche Notlagen
- Überbelastung der Frau durch Kinder und Beruf
- Armut der Gesamtgruppe, Armut des Bodens etc.
- Abtreibung zugunsten der eigenen Freiheit zum Beruf und zum Beitrag zum Lebensunterhalt
- Empfindung von Kindern als Last und Zerstörung des eigenen Lebens
- Aufschub der Schwangerschaft, um bei Beginn der Ehe erst ökonomische Grundlagen zu schaffen
- Zweikindersystem als Grundsatz
- Direkte Hungersnöte: der abgetriebene Fötus und die Plazenta dienen der Ernährung der anderen Kinder oder der Eltern
- Posthume Kinder der Witwe, die der Stamm nicht versorgen kann
3. Scheu vor den Schwierigkeiten der Kinderaufzucht überhaupt- Zuviel Arbeit mit zuviel Kindern, bei zu wenig Nahrung oder Geld
- Abort kleiner Kinder und Kauf großer, "fertiger", um die Aufzuchtsmühe zu sparen
- Nomadismus: Last des Kindermitschleppens
- Vorzug anderer Lebensausfüllung mit kulturellen oder wirtschaftlichen Aufgaben (Kauf von Kindern im anderen Stamm, statt Aufzucht eigener etc.)
4. Beseitigung unwillkommener Erben
E. Familiäre, maskulin-feminine und- Klassengründe
1. Illegitimität entsprechend der Stammesvorstellung
- Abort trotz Straflosigkeit oder wegen Stammesstrafen
- aus Angst vor späterer Sterilität in der Ehe, bei Vorehelichkeit
- bei verminderten Ehechancen
- bei Furcht vor Tod oder Strafe für den Liebhaber
- bei Angst vor Familienschande oder für die Mutter
- bei Angst vor eigener Bestrafung mit Tod, Gegessenwerden, Verlachtund Verpöntwerden, schlechten sozialen Bedingungen für das Kind etc.
2. Ehebruch und ehelicher Streit
- Zwang durch den Ehemann
- Rettung der Frau vor dem schädlichen Fötus
- Bei Strafbarkeit des Ehebruchs
- Durch Schläge seitens des Ehemannes
- Bei Verlassenwerden durch ihn
- Rache am Mann, der eine andere Frau nimmt, oder dem Liebhaber, unter magischer Benutzung von Fötusteilen zur Impotentmachung, oder der Gesellschaft, die zuviel Kinder vorschreibt.
3. Als Mittel zur Bewahrung fraulicher Schönheit und Reize
- Schutz der Schönheit der Brüste oder des Körpers
- Schutz des Berufsrisikos bei der Konkubine etc.
4. Abtreibung bei Bruch von Koitus-Tabus während Schwangerschaft oder Stillzeit
- Abort bei Auftreten von Menstruationsblutungen - Aborthäufung bei monogamen gegenüber polygamen Stämmen - Aus Angst vor Verlust des Ehemannes, der Geschlechtsverkehr fordert
- Bei Vorzug der sexuellen Freude vor Kindern bei beiden Eheleuten.
5. Widerwillen gegen die Elternrolle
- Die Frau verwirft die Mutterrolle
- Beide Geschlechter lehnen die Elternrolle ab
- Die Frau zieht das freie Geschlechtsleben vor
6. Enttäuschung bei der Elternrolle
- Durch Verlust vieler Kinder, in vorgeschriebenen Trauerzeiten
- Vorzug von Sterilisation und Abort gegenüber Kinderaufziehung
- bei posthumen Kindern
7. Klassenbedingte Aborte
- in den oberen Klassen: Luxus-Verderb-Prostitution etc.
- in den unteren Klassen: Armut, Sklaverei, schlechte Ehen etc.
Unbewußte, magisch-mythische oder willkürliche Motive
z. B., um dem Forscher zu demonstrieren, wie man schnell und geschickt durch einige gezielte Bewegungen abortiert.
Jeder, der die, gewiß auch in sich noch nicht ideale Liste durchsieht, wird zuerst sofort bemerken, daß sich die Abtreibungsmotive des Menschen insgesamt, wie der Frau speziell, in den letzten 30 000 Jahren kaum geändert haben. Vom bevölkerungspolitischen bis zum persönlichkeitsbestimmten, dem ökonomischen wie dem familiären Anlaß ist alles im Grunde gleich geblieben. Warum auch nicht, da der "homo sapiens" selber sich inzwischen genetisch und kulturell kaum verändert hat, sowohl in seinem Versuch, humanistische Kulturen aufzubauen wie in ihrem Scheitern. Nur die Dimensionen sind gewachsen. Auffällig ist, wie schon gesagt, nur die noch große Phänomenoffenheit der Beteiligten wie die ungeschminkt zugegebene Zuständigkeit des Stammes für seine Bevölkerungspolitik, die sich den Erfordernissen der wirtschaftlichen, sozialen oder Lage der Natur ungezwungener anpaßt als heute, wo das Individuum mehr im Vordergrund steht und der Blick auf das Wohl der ganzen Menschheit bei der Fortpflanzungsregelung zu sehr ins Hintertreffen geraten ist.
Das bedeutet natürlich eine teilweise inhumane Einschränkung der entsprechenden Wünsche des Einzelnen oder der Familie. Allerdings zeigt das Material auch, daß sich der individuelle Wille der Eltern oder der Frau unter Umständen mehr Raum verschaffen kann als in einem heutigen übersteigerten Sünden- oder Schuldbewußtsein bei Massenideologien oder -religionen. Die Wahl und der Kompromiß zwischen beruflicher und persönlicher Entfaltung der Frau und ihrer Geburtsleistung sind wesentlich flexibler. Die >bedingte Rechtfertigung< der Abtreibung erscheint daher als notwendige Regel, die unbedingte oder ein absolutes Verbot als Ausnahme.
Das gilt auch für die Gründe zur Abtreibung im einzelnen. Neben den "klassischen" Indikationen, wie der ethischen, der eugenischen, der wegen zu großer Jugend oder zu hohem Alter der Mutter, der zu vielen oder gesundheitsgefährlichen Schwangerschaften und der sozial-wirtschaftlichen Notlage, werden auch sonstige Pausen erlaubt, die zartfühlend auf die allgemeine körperliche und seelische Schwierigkeit, wie die Angst vor der Mutterschaftsleistung, Rücksicht nehmen. Selbstverständlich steht diesem Befund in autoritär- patriarchalisch geordneten Stämmen die andere, starke Brutalität der Gewalt oder Strafe für die Frau, Konkubine oder Sklavin entgegen.
Wie auf das körperliche oder seelische Trauma der Frau bei Geburt oder Abtreibung geachtet werden kann - sie stellt in der Tat die einzige menschliche Tötungshandlung dar, die den Täter mitverletzt; nur der Mann treibt beim Nasciturus ganz ungestraft durch eigenen Schmerz ab -, so auch auf den angemessenen Schutz des Embryos. Obwohl ihm, durchaus berechtigterweise, bei vielen Primitivvölkern noch nicht der Status und die Rechte einer Vollperson gegeben werden,[26] entwickelt man ihm gegenüber vielfach wenigstens andere Formen der Achtung, die unsere Zeit nicht nur an Phantasiereichtum, sondern an Einfühlsamkeit wie Angemessenheit übertreffen, d. h. nicht in das andere Extrem seiner Unterschätzung verfallen. Statt ihn nach der Abtreibung, wie in unseren Kliniken, zum berechtigten Entsetzen des Personals, achtungslos in den Müll zu werfen, würdigt man ihn wenigstens eines Begräbnisses, wenn auch niedereren Grades, oder der Mitaufnahme in die Kindertafel bzw. der Namensgebung, so wie noch heute jede Schwangere heimlich mit den Geburten auch ihre übrigen abgebrochenen Schwangerschaften mitzählt. Er erhält also seinen speziellen Würdeplatz, jedoch auch nur zwischen den Polen der Bevölkerungspolitik, im Raum des ganzen Stammes in der Natur, und seiner eigenen Natur als noch nicht Vollperson, im Gegensatz zur Mutter. Erst Hochreligionen und Metaphysiken schaffen jenen undifferenzierten, viel zu hoch angesetzten Begriff vom Schutz allen oder allen angeblich schon "menschlichen" Lebens, der diese Unterscheidungen wieder verwirrt.
Was die Zeit der Abtreibung betrifft, so gibt es auch in der Frühgesellschaft, wie heute wieder, im Grunde keine grundsätzlich unüberschreitbaren Grenzen für sie. Der Abort kann bis an die Grenze des Infantizids, also "bei" der Geburt, hinausgeschoben werden. Es gibt aber, wie die Verhütung davor, auch schon die "Pille danach", die beide tatsächlich aus alten Stammesrezepten solcher früherer Naturkenntnisse wiedergewonnen worden sind. Selbstverständlich ist trotzdem der Frühabort in den ersten drei Monaten (Fristenlösung) aus vielerlei für ihn sprechenden Gründen, von der Noch-Nicht-homo-sapiens- Eigenschaft des Embryo bis zur Entscheidungsmöglichkeit der Mutter in "privacy",[27] der schon damals üblichste.
Trotz des mit ihm verbundenen traumatischen oder sogar suizidalen Effekts, den schon die Natur als Hemmschwelle, damit aber auch als schon "Strafe" genug in ihn einbaut, ist der Abort noch häufig nicht nur Allein-Entscheidung der Frau sondern ihr und höchstens ihren engsten Verwandten, einschließlich des Ehemannes, zur Durchführung überlassen. Erst in höher kultivierten, arbeitsteilig organisierten Stämmen entwickelt sich die Fachkenntnis und das Fachpersonal dafür, von dem die Frau damit aber auch abhängig wird, sowohl im guten wie im bösen Sinne. Von Anfang an fehlt es ihr darum aber auch nie ganz an eigenen Kenntnissen technischer oder chemischer Art davon. Später entwickeln sich sogar schon Märkte und Handelspraktiken für Abortica. Das dabei auch viele abergläubische Vorstellungen und unwirksame Mittel unterlaufen, ist selbstverständlich. Jedoch hat es zugleich niemals an solchen gemangelt, die die Frau doch zum Ziele führen, selbst wenn sie sich damit unmenschlichen Torturen unterwirft. Unter Umständen erscheint die Mutterschaft selbst eben immer noch als die viel schwerere Last.
Schluß: Die Lehre aus dem Abtreibungsbefund in der Frühgesellschaft
Nimmt man die historische Lehre aus der Frühzeit der Menschheit zum heutigen Kenntnisstand aus der weiteren Geschichte dieser Notwehrphilosophie der Frau und Mutter in der ständigen Situation ihrer Überbelastung durch Geburten hinzu, so kann man zumindest folgende Schlüsse daraus ziehen:
- Als "homo und femina sapiens" hat der Mensch seine Fortpflanzung von Anfang nicht nur der Natur überlassen und überlassen können, sondern mußte gleichzeitig kulturell über sie entscheiden, d. h. sie planen.
- Trotz ständig verbesserter Verhütungsmaßnahmen vor der Zeugung bleibt wegen der Nochmitbestimmtheit des Menschen durch sexuelle Triebe von großer Stärke und andere Leidenschaften, sowie durch Planungsfehler aller Art ein dauernder gewisser Bedarf an Abtreibung, sei es im großen bevölkerungspolitischen Rahmen oder bei der kleinen individuellen Tragödie der Überwältigung oder Fehlentscheidung übrig; auch heute.[28]
- Dies Problem kann nicht allein, wie in der Frühgesellschaft oft, durch "trial and error"-Verfahren, oder, wie in der Hochkultur, durch absolute Ideologien gelöst werden. Es bedarf einer wohlüberlegten allgemein-menschenrechtlichen, humanistisch ethischen Lösung aufgrund der Verarbeitung aller wissenschaftlichen Kenntnisse über die Natur des Menschen, von Mann und Frau, dem Nasciturus und ihrer Stellung im Kosmos.
- Zu diesen Erkenntnissen, die in Zukunftsverhaltensnormen als Werte umschlagen, gehört vor allem auch die von der identischen Anlagenatur von Mann und Frau als Menschen mit Persönlichkeitsentfaltungsrecht, bis auf ihre prozentual geringe Unterschiedlichkeit als Sexualwesen, die statt Gleichheit gerechten Ausgleich erfordert.
- Damit istzugleich die prinzipielle Einschränkung der Mutterschaftsleistung der Frau auf ein menschenwürdiges, persönlichkeitsentfaltungsgerechtes Maß - nur in Selbstbestimmung, im geeignetsten Alter, unter ökonomisch-sozial erträglichen Bedingungen und in angemessenem Umfang und Verhältnis, auch zur Gesamtbevölkerung der Erde und dem Schutz der Natur - als Grundgesetz menschlicher Fortpflanzungsphilosophie gerechtfertigt.
- Erst in zweiter Linie ist zu überlegen und zu entscheiden, wie weit dieser Menschenrechtsschutz für geborene Vollpersonen, wie die Mutter, auch auf hominidäre Vorstufen des Menschen, wie den Embryo, als bis zu 10-12 Wochen Noch-nicht-homo sapiens (ohne entsprechende Gehirnorgane: ein Körper ohne Geist, ähnlich dem Hirntoten) oder wenigstens schon den nicht (geistig) krank zur Welt kommenden Fötus (jetzige eugenische Indikation)[29] ausgedehnt werden kann. Angemessene Einschränkungen dabei, wie bei ähnlichen Erweiterungen der Menschenrechte auf juristische Personen, als Geist ohne Körper,[30] schließen andere spezifische Achtungseinrichtungen dabei natürlich nicht aus, sondern empfehlen sie geradezu.
- Über diese Fortpflanzungsregelungen entscheidet letzten Endes die ganze Menschheit, mit all ihren Individuen und Gruppen bzw. Nationen, in nur ihrem selbst zu produzierenden und verantwortlich einzuhaltenden Menschen-Recht. Einseitige Ideologien wie Religionen, bzw. ihre vor allem maskulinen Stifter oder Verwalter, haben sich, wie der Erfolg aller Orten und aller Art zeigt, dazu als weitgehend untauglich erwiesen.
- Jedoch hat die Frau bzw. ihre Repräsentationsgruppe auch ein besonderes Wort dabei mitzureden. Sie ist das erste, direkte Mitopfer der durch die Abtreibung eintretenden Verletzung (Trauma) körperlicher oder seelischer Art, wie umgekehrt die einzige genaue Kennerin von Mutterfreuden und -überlastungen, d. h. die Expertin par excellence, deren Rat damit allein gewisse Grundlagen sachlicher Art enthalten kann.
- Weil schon die Natur bei der Mutter eine Tötungshemmung durch Schmerz eingebaut hat, ist damit ein zusätzlicher Grund zu Punkt 6 für die Rechtfertigung einer Fristenlösung gegeben. Schon die Geschichte beweist auch, daß die Frau, obwohl sie sich stets Abtreibungsmittel beschaffen konnte, im ganzen gesehen eher zuviel als zu wenig Kinder geboren hat. In den Körper der Frau sind die Anlagen zur Fortpflanzung außerdem so solide eingebaut, daß sie schon deshalb schwer auf die Auslebung von Mutterschaft überhaupt verzichten kann. Ihre Freistellung zur gewissen eigenen Abort-Entscheidung ist also als weniger gefährlich erkennbar, als die der Zeugungslust und -fähigkeit bzw. der entsprechenden sexistischen Macht- und Unterdrückungsneigung des von Natur dabei ungehemmteren und stärker nur emotional-geistig-kulturell Vater werdenden und sein könnenden Mannes.
Diskussion zu: »Abtreibungsethik in der primitiven Gesellschaft«, von Walesea Tielsch
Diskussionsleitung: Brigitte Weisshaupt
A.: Eine kurze Frage. Sie behaupten, die Frau sei ungeschützt empfängnisbereit und der Mann stark triebbestimmt. Ist es richtig, daß Sie, unter anderem auch darin einen Grund sehen, warum Abtreibung notwendig wird?
W. T.: Ja, durchaus, obwohl sich da zwei Folgerungen überschneiden. Einmal hat man festgestellt, daß die Entwicklung der Zweigeschlechtlichkeit in der Natur schon bei den Säugetieren dahin tendiert, daß nur der Mann noch, seinen Samen sein Leben lang und häufig verstreuend weiter, "unendlich" viele Kinder zeugen kann, die Frau dagegen, wegen der ohnehin langen und anstrengenden Austragezeit etc., immer weniger, wenn auch »qualifizierte« Nachkommen und sie wählerischer "zeugt" und gebiert. Im Höchstfall werden es kaum mehr als zwanzig. Allerdings ist sie zwischen Menstruationsbeginn und Klimakterium, d. h. in ihrer begrenzten Zeugungszeit, kaum mehr durch andere natürliche Hemmnisse, wie Brunstzeiten (lediglich also ihre unfruchtbaren Tage: Knauss-Ogino-Methode!) geschützt. Wenn der Mannestrieb sich durchsetzt, muß sie also trotzdem zu viele Kinder bekommen, zu viele um noch genügend Zeit zu haben, Mensch zu sein. Sie ist z. B. in Indien, wenn sie es überlebt, von 13-45 Jahren schwanger. Ich will damit darauf hinweisen, daß es für jede Kultur und Soziatisation auch gewisse Naturvoraussetzungen gibt. Allerdings nicht die, daß die Frau allein zum Muttertum bestimmt sei. Hier beweist die Naturwissenschaft heute das Gegenteil. Mann und Frau haben 22 gemeinsam-gleiche, allgemeinmenschliche Chromosome bzw. Gene, als Naturanlagen. Auch der Frau steht daher nur ein einziges X-Chromosom als >angeborener< Weiblichkeitsanteil ihres Lebens zu. Sein Ausmaß wird in aller Kultur eines "Weiblichkeitswahns" oder "Nur-Muttertums", auch von Frauen, gerade gegen ihre Natur übersteigert.
B.: Also für mich ist die Vorstellung, daß Abtreibung überhaupt noch als Lösung nötig sein soll, ohnedies schrecklich. Männer sollten ihre Triebprobleme selbst und eigen verantwortlich meistern; die Frauen zunächst ihre eigene Sexualität entwickeln, ob mit Männern oder ohne. Außerdem brauchen wir keine Kinder zu gebären, wenn wir es nicht wollen. Ich glaube auch nicht, daß die Penetration unsere Form der Sexualität ist.
C.: Mir gefällt Ihre Sprache nicht, z. B. daß Sievom >Funktionieren(der Frau sprechen und nur von der Triebhaftigkeit des Mannes. Ich vermute, Sie sind der Überzeugung, daß allein der Mann sexuelle Bedürfnisse und Lust hat und nur die Frau Opfer ist.
W. T.: Zunächst zum letzten Beitrag: Nein, ich vertrete seit je die schon epikureische Philosophie, die die naturwissenschaftlich belegbare (Entdeckung der Klitoris und der eigenen Zeugungsfähigkeit der Frau, contra Aristoteles), gleiche Möglichkeit, Berechtigung und Freude am Sexuellen bei Mann und Frau konstatiert und fordert. Das besondere Problem der Frau ist nur, daß ihre Organe so gestaltet sind, daß es bis zum Klimakterium mühsamer, künstlicher Mittelanwendung bedarf, um sexuelle Freuden, die auch mit der Penetration verbunden sein können, von der Folge unerwünschter Schwangerschaft zu trennen. Das klappt beim höchsten Genuß oft am wenigsten. Der Mann dagegen geht schon von Natur aus "straflos" aus! Zur ersten Frage: Daß der Mann seine angeborene Triebhaftigkeit ebenfalls verantwortlich kontrollieren muß, ist selbstverständlich. Sie kann bei beiden Geschlechtern grundsätzlich gleich stark sein. Daneben äußert sie sich aber auch in spezifischen Formen, die der Partner nicht von der eigenen Natur aus kennt, also nur verstehend begreifen und befriedigen kann. Für Mann und Frau dürfte die Penetration speziell mehr der Zeugungs- als der Sexuallust zuzuordnen sein.