Ethik der Zwischenmenschlichkeit

1. Die Achtung vor dem Menschen: eine Grundforderung für eine Ethik der Zwischenmenschlichkeit

Zwischenmenschlichkeit sollte eine Grundeinstellung im menschlichen Verhalten sein! Was heißt das? Gehen wir von der Bedeutung des Wortes "einstellen" aus, wie wir es in der Alltagssprache verwenden. Wir sagen etwa, daß wir eine Maschine "einstellen" - im Sinne von anschalten. Wir "stellen" aber auch eine verstellbare Maschine für bestimmte Funktionen "ein" - so stellt ein Metzger die Fleischmaschine für eine ganz bestimmte Dicke ein. Beim Photoapparat wollen wir durch die Einstellung erreichen, daß er ein bestimmtes Objekt aus einer bestimmten Richtung, in einer bestimmten Distanz, aufnimmt. Ganz ähnlich ist es mit der Grundeinstellung oder Grundhaltung eines Menschen, natürlich das zu Ändernde geändert. Als zwischenmenschlich Eingestellte bestimmen wir unser alltägliches Denken, Reden, Tun und Lassen aus der Richtung des anderen Menschen, bzw. lassen es auf den anderen Menschen hin bestimmt sein. Der andere Mensch bleibt immer mit im Blickwinkel. Alles Aufnehmen und Registrieren, alles Entscheiden und Handeln erfolgt aus diesem Blickwinkel. Das heißt nicht, daß wir ununterbrochen an Zwischenmenschlichkeit denken. Wohl aber ist sie bei wichtigen Entscheidungen oder Richtungsänderungen mitbestimmend, ja dominierend. Diese Einstellung meint auch nicht, daß es nur um den Anderen geht. Es geht sowohl um ihn, als auch um mich. Er ist nicht mehr oder anders "Mensch" als wie ich es bin. Ich achte den anderen als Menschen, wie auch ich mich als Menschen achte.
Die Achtung vor dem Menschen macht den Menschen erst zum Menschen. Wenn im Bereich von Philosophie das Wort "Achtung" fällt, denkt man fast unwillkürlich an Immanuel Kant (1724-1804). Nicht daß er der einzige wäre, der diesen Begriff verwendet hätte; er hat ihn aber berühmt gemacht. In seiner praktischen Philosophie spielt "Achtung" eine wichtige Rolle. Achtung entsteht nach ihm da, wo ein Wille die Anforderungen des Sittengesetzes zu den eigenen Forderungen macht, wo der Mensch also, ob angenehm oder nicht, der Vernunft in ihm folgt.
Achtung ist eine Angelegenheit nicht der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft. Die praktische Vernunft bezieht sich auf das Handeln des Menschen. Sie kann auch die Frage des richtigen Handelns aufwerfen und erweist sich dann als praktisch-moralische Vernunft.
Wer nach der Richtigkeit des Handelns fragt, sucht nach einem Kriterium, an dem die einzelnen Handlungen gemessen werden können. Dieses Kriterium kann nicht außerhalb der praktisch-moralischen Vernunft liegen, weil das Übernehmen eines solchen Kriteriums ja auch einer moralischen Rechtfertigung bedürfte. Das bedeutet m.a.W.: praktisch - moralische Vernunft muß das Kriterium des richtigen Handelns in sich selber suchen und kann es auch. Denn was kann, soll, muß ausnahmslos "allgemein" und notwendig gelten? Was kann Vernunft als moralische Instanz niemals nicht wollen? Doch sich selbst! Andernfalls könnte sie ja auch nicht als moralische Instanz fungieren. Wenn sie nicht mehr "zählen" würde, würden auch ihre Urteile nicht mehr zählen! Dann aber wäre jede weitere Überlegung zu "richtig" und "falsch" sinnlos. "Daß Vernunft herrsche" ist folglich ein Zweck, den sich praktischmoralische Vernunft immer und notwendig geben muß! Sie muß sich dies als Zweck in sich selbst geben, als ein Ansich, das zu seiner Rechtfertigung nichts weiteren bedarf - denn jede Rechtfertigung müßte von der Vernunft, die hier zur Debatte steht, beurteilt und akzeptiert werden, d. h. sie müßte, soll ihr Urteil etwas gelten, sich selbst auch als Zweck setzen. Damit kann sich Vernunft nie bloß als Mittel zu irgend etwas bejahen, sie muß sich selber immer auch als Zweck bejahen, oder ihr Urteilen wird schlichter Nonsens.
Wo aber ist Vernunft für uns greifbar, wirklich? Wo werden wir ihrer inne? In uns selber! Im Menschen ganz allgemein! Wenn sich Vernunft immer bejahen muß, dann auch das Wesen, das sich als vernünftig begreift. Deshalb gilt, was von Vernunft ganz allgemein gilt, auch vom Menschen: »der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden«.[1]
Daraus ergibt sich ein zwischenmenschlicher Grundsatz für vernünftiges "moralisches" Handeln: »Handle so, daß du die Menschen sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«165.21.2***. Bestimmtere Gestalt gewinnt dieser Grundsatz, sobald er mit konkreten Situationen vermittelt wird. Wer den anderen Menschen nie als bloßes Mittel brauchen will, wird nicht darum herumkommen, sich eine Reihe von Verhaltensweisen zu gebieten bzw. zu verbieten. Das Allgemeine an ihnen nennen wir das Sittengesetz. Er kommt aber auch nicht darum herum, mit anderen zu reden und sich mit ihnen zu verständigen. Wird diese Verständigung zu einer unverbrüchlichen Regelung, die notfalls auch mit Maßnahmen, physische Gewalt nicht ausgeschlossen, verteidigt werden soll, entsteht eine Rechtsordnung.
Das Sittengesetz ist freilich nicht ein physikalisches Gesetz. Es setzt sich nicht mit Gewalt durch. Es imponiert sich wohl, zerstört aber die Freiheit nicht. Vom moralisch Gesinnten wird es als kategorisch empfunden, d. h. es beansprucht moralisch richtig und allein richtig zu sein. Wirksam bestimmt es konkretes Handeln allerdings nur, wenn es vom einzelnen Subjekt frei übernommen wird.
Wer sich dem Sittengesetz unterwirft, unterwirft sich nicht etwas Fremdem, sondern der Vernunft in ihm, seinem tieferen Wesen. Nicht bloß aus Neigungen zu handeln, d.i. nicht bloß der jeweils zufällig größeren Lust zu folgen, unterscheidet den Menschen zutiefst vom Tier. Das begründet die Würde des Menschen und weckt in uns - so Kant - ein Gefühl der Achtung oder Wertschätzung.
Nun bin nicht nur ich ein vernünftiges Wesen oder ein Mensch. Meine Selbstschätzung kann folglich nicht absolut sein. Achte ich mich, weil ich mich zu vernünftigem Handeln erhebe, muß ich auch jeden andern achten, der sein Tun nach dem Vernunft-Gesetz ausrichtet. Und weil die Vernunft immer ihre Verwirklichung fordert, in jedem Menschen, fordert sie auch die Achtung vor dem Menschen ganz allgemein.
Und derjenige, der diese Grundeinstellung nicht teilt? Der Verächter der Menschheit? Immerhin ist ihm die Möglichkeit, sich anders einzustellen, nie genommen. Und so ist er auch hier total verächtlich. Er soll sogar, so fordert es Vernunft, umkehren und dadurch achtungswert werden. Damit ist die grundsätzliche Achtung vor dem Menschen eine Forderung, die jeden Menschen - aktiv und passiv- betrifft. Ohne Achtung vor dem Menschen kann es keine zwischenmenschliche Grundeinstellung geben.

2. Zwischenmenschlichkeit als Beziehungsvorgang

"Zwischenmenschlichkeit als Beziehungsvorgang" will deutlich machen, daß der Mensch weder im Ich noch im anderen Menschen aufgeht, sondern aus einem "Zwischen" lebt. Werden wir bei der "Achtung" vor dem Menschen an Immanuel Kant erinnert, so beim "Zwischen" an Martin Buber 1878-1965. Bubers Bedeutung liegt vor allem darin, daß er das prinzipielle Verständnis des Menschseins auf die Mitmenschlichkeit - oder, wie er selber lieber sagt, auf das Zwischen(menschliche) - ausgerichtet hat. Seine Anthropologie gipfelt in der Erkenntnis: »Die fundamentale Tatsache der Existenz ist nicht der Mensch, sondern der Mensch mit dem Menschen«.165.21.3***
Buber gesteht, entscheidende Anregungen von Ludwig Feuerbach (1804-1872) erhalten zu haben. Letzterer schreibt einmal: »Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten - eine Einheit, die sich ... auf die Realität des Unterschiedes von Ich und Du stützt«165.21.4*** Daraus folgt »die Wahrheit, daß kein Wesen, es sei und heiße nun Mensch oder Gott oder Geist oder Ich, für sich selbst allein ein wahres, ein vollkommenes, ein absolutes Wesen (ist), daß die Wahrheit und Vollkommenheit nur ist die Verbindung, die Einheit von zwei sich wesensgleichen Wesen. Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des Menschen mit dem Menschen«.165.21.5***
Im Unterschied zu Feuerbach ist Bubers Ausrichtung auf die Mitmenschlichkeit nicht primär philosophisch motiviert. Sein Denken wird wesentlich aus dem jüdischen Wurzelgrund genährt, näher: aus den Gehalten der Chassidim. Das christliche Gebot der Nächstenliebe - Liebe deinen Nächsten; er ist wie du - ist für Buber lediglich eine akzentuierende Wiederholung der alttestamentlichen Forderung: "Halte lieb deinen Genossen, dir gleich".165.21.6*** Diese Grundhaltung, die eine auf Gott ausgerichtete Gemeinschaft sucht, bildet den Nährboden von Bubers "Zwischenmenschlichem". Aber und das ist für uns das Bedeutsame - es erhebt sich auf diesem Boden zu anthropologischer Grundsätzlichkeit.
Buber hat seine entscheidende Einsicht zuerst in "Ich und Du" (1923) ausgesprochen. Das "Zwischen" verwirklicht sich im eigentlichen Sinne dort, wo Menschen einander so gegenübertreten, daß sie zueinander "Du" sagen können; und dies nicht so nebenbei, sondern aus der Tiefe der wechselseitig sich erschließenden Wirklichkeit heraus. Die vielfältigen alltäglichen Berührungen der Menschen bleiben meistens an der Oberfläche. Die Andern heben sich darum kaum aus den Dingen, die uns in der Welt begegnen, heraus; wir weichen andern Menschen auf der Straße meist nicht viel anders aus als Bäumen, Autos oder anderen Hindernissen. Der andere Mensch erscheint da als dritte Person, als Er oder Sie, zum Teil sogar als Es.
In bestimmten Situationen kann es jedoch geschehen, daß uns plötzlich die tiefere Wirklichkeit eines anderen Menschen erfaßt. Der andere Mensch wird dann zum Du und steht mir damit in einer völlig neuen Weise gegenüber. Vorher ging ich mit ihm neutral um, gleichgültig, distanziert, objektiv-korrekt; nun bricht auf einmal eine zweite, menschliche Dimension auf. Der Andere erscheint nun als Ich, das auf mich zugeht, und auf das auch ich zugehe. Fast verwundert möchte jeder sagen: Du, ein Mitmensch! Eine solche Ich-Du-Beziehung ist für Buber die wesentliche Gestalt des Zwischenmenschlichen. Da ist ein echtes Verhältnis von Ich und Du, im Unterschied zu einem neutralen Ich-Es-Verhältnis, wie wir es vor allen Dingen gegenüber gewohnt sind.
Dieses Ich-Du-Verhältnis ist überhaupt erst wirkliche Beziehung, das heißt: nicht bloß eine beliebige Relation, sondern das gegenseitige, freiakzeptierte Bezogensein, in dem Menschen einander begegnen und miteinander verbunden sind. Solche Beziehung ist der wahrhaft menschliche Ort. Denn da begegnet das Ich dem Ich, trifft bejahende und selbst bejahte Freiheit auf bejahende und selbst bejahte Freiheit, leuchtet ein Mensch dem Andern als Mensch auf. Und so ist die Beziehung von Ich und Du der eigentliche Ort der Verwirklichung beider. In der Beziehung wird aus dem Es ein Du bzw. Ich. Damit ist auch schon gesagt, daß eine Beziehung immer gegenseitig sein muß; und auch, daß es dabei keine Verschmelzung untereinander gibt. Mein Ich ist dem Andern ein Ich und ein Du; und das Du ist mir ein Du und ein Ich. Ein einseitiges Verhältnis zu einem Du, in welchem das Ich unterginge, würde das "Zwischen" zerstören.
Zur wirklichen Beziehung gehört sodann die Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit. Zwischen Ich und Du steht kein Drittes. Der Andere ist als er selbst unmittelbar da. Und darum ist die Beziehung nicht nur unmittelbar, sondern auch wirklich gegenwärtig. Das alles spielt aber nur, wenn die Sich-Begegnenden geistig nicht irgendwo in der Vergangenheit oder in der Zukunft, sondern in der unmittelbaren Gegenwart leben.
Damit ist klar, daß Zwischenmenschlichkeit nicht als ein Zustand beharren kann, sondern sich immer neu in Gegenwärtigkeit realisieren muß. Beziehung istfür Buberwesentlich Beziehungsvorgang. Sie ist nicht ein für allemal erreicht; sie wird nicht Besitz. Sie muß immer wieder neu Ereignis werden. Und deshalb liegt es sozusagen im Wesen einer Beziehung, daß sie immer wieder auch zurücksinkt in das neutrale Verhältnis, worin der Andere nicht wirklich ein Du, sondern ein Es ist. Buber nennt es die »erhabene Schwermut unseres Loses, daß jedes Du in unserer Welt zum Es werden muß«l. Auch die Liebe, die höchste Gestalt des Ich-Du-Verhältnisses, »kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren, sie dauert, aber im Wechsel der Aktualität und Latenz«[8].
Es ist schon angeklungen, daß sich ein Ich-Du-Bezug "ereignet". Tatsächlich ist er, im Gegensatz zum Ich-Es-Bezug, nicht machbar. Wir verfügen nicht darüber, obwohl wir darauf hin angelegt sind. Wenn wir nicht darüber verfügen, will das aber nicht heißen, daß wir nichts dafür tun könnten. Wir können mindestens für das Ich-Du-Ereignis den Boden bereiten. Vorzügliches Mittel dafür ist der Dialog, denn der Ausdruck einer Ich-Du-Beziehung ist nach Buber primär an das Gespräch gebunden. Dabei ist nicht nur an das Gespräch als Austausch von Wörtern und Sätzen zu denken, sondern an alles, was das menschliche Aufeinander-Zugehen fördert. Zum echten Dialog gehört z. B. auch das Schweigen, Schweigen allerdings nicht aus Leere, sondern aus Fülle, die das gesprochene Wort als unzulänglich erfährt. Erfülltes Schweigen ist allerdings gleichsam der Feiertag einer Beziehung, es ist die Ausnahme. Und so kann man Hans Kohn zustimmen, der sagt: »Sprache ist für ihn (Buber) der Urakt des Geistes, dessen menschlichem Vollzug die Laut- und alle Zeichensprache als Helfer und Werkleute dienen«.[9]
Es würde ein wesentlicher Punkt fehlen, wenn das Ich-Du des Dialogs nicht noch ausdrücklich in ein umfassenderes Ich-Du-Verhältnis eingebettet würde. Ein Art Ich-Du kann selbst dem Untersprachlichen (Tiere, Pflanzen, Natur ganz allgemein) gegenüber empfunden werden. Die Erfahrung des Ich-Du kann aber auch in Bezug auf das Übermenschliche, das Göttliche, gemacht werden. Ja, erst diese gibt dem mitmenschlichen Ich-Du-Verhältnis die letzte und tiefste Fundierung. »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzeite Du spricht das Grundwort das ewige an. Aus diesem Mittlertum des Du aller Wesen kommt die Erfülltheit der Beziehungen zu ihnen, und die Unerfülltheit. Das eingeborene Du verwirklicht sich an jeder und erfüllt sich an keiner. Es vollendet sich einzig in der unmittelbaren Beziehung zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann«.165.21.0*** So ist für Buber die Gottesbeziehung dasjenige, das der zwischenmenschlichen Wirklichkeit Eigentlichkeit zu geben vermag; zu geben vermag, unverfügbar! »Wir sind die Laute, die der Urmund spricht, / Und doch sind wir nur Wörter, Worte nicht. / Wann werden wir zu Worten, die sich -fügen / Zu Einem Satz, dem Urspruch zu genügen?«165.21.11***

3. Ethik der Zwischenmenschlichkeit eine Angelegenheit des Glaubens?

Eine Ethik der Zwischenmenschlichkeit müßte m.E. Immanuel Kant und Martin Buber zusammenbringen. Ist das aber überhaupt möglich und sinnvoll? Sind sie nicht, nicht nur zeitlich, sondern auch von ihrem Denkansatz her, zu weit auseinander und zu verschieden? Das ist nicht nur eine rhetorische Frage. Immerhin hat Martin Buber 150 Jahre nach Kant gelebt. Er hat Kant gekannt, und sich dennoch nicht einfach auf ihn berufen. Das "Zwischen" war für ihn eine Glaubenserfahrung, während Kants "Universalismus" eine Folge der transzendentalen Hinterfragung von moralischen Urteilen ist.
Sagte ich oben, daß man beim "Zwischenmenschlichen" an Martin Buber erinnert werde, so ist damit ein bereits 45-jähriger gemeint. Damals - im Jahre 1927 - erschien seine erste Schrift, die seine dialogische Kehre und Wende im literarischen Schaffen darstellt[12]. Auch wenn Buber meint, daß sich sein Schreibstil gegenüber den frühen Werken (diese umfassen bis 1927 über 200 Publikationen) verändert hätte, so ist doch auch sein neuer Stil eher beschreibender als reflektierender Art. Er selber meint, bei seinen Frühwerken habe sich der Stil am frühen Hofmannsthal orientiert: »Diese Leichtigkeit des den Urzeit-Schatz verschwendenden Erben bezauberte mein Herz; sie drang in mein Reden und Schreiben ein. Zwei Jahrzehnte vergingen, bis ich mich im Sturm des Weltkrieges, der die innerste Bedrohung des Menschen offenbar machte, zum strengen Dienst am Wort durchgerungen hatte«.[13] Sein Denken im Ich-Du ist für Buber nicht das Resultat philosophischer Anstrengungen, sondern eine Art Offenbarung. Er bezeichnet sie wenigstens als eine »Glaubenserfahrung«,[14] d. h. als eine Erfahrung, »die den Menschen in all seinem Bestande, sein Denkvermögen durchaus eingeschlossen, hinnimmt, so daß durch alle Gemächer, alle Türen aufsprengend, der Sturm weht«[15]. Diese persönliche Erfahrung hat aber in seinen Augen nicht nur für ihn Wert, sondern ist »eine für andere und auch für andersartige Menschen gültige und wichtige Einsicht. Da ich aber keine Botschaft empfangen habe, die solcherweise weiterzugeben wäre, sondern nur eben Erfahrungen gemacht und Einsicht gewonnen habe, mußte meine Mitteilung eine philosophische sein, das heißt, ich mußte das Einmalige und Wesenseinzige in "Allgemeines", von jedem in seinem eigenen Dasein Auffindbares verwandeln, mußtedas seinem Wesen nach Unbegriffliche in Begriffen, die "wenn auch zuweilen mit Schwierigkeiten" gehandhabt und übermittelt werden können, aussagen. Genauer: ich mußte aus dem Ich-Du und als Ich-Du Erfahrenen ein Es machen«[16].
Trotzdem ist Bubers Sprache nicht durchgängig philosophisch. Er selber meint dazu: »Da ich eine metaphysische Ganzheit nie zu fassen und demgemäß ein metaphysisches System nicht zu bauen bekommen habe, habe ich an Impressionen Genüge finden müssen«.[17] Deshalb bleibt der Anteil des dichterischen, beschreibenden Elementes in Bubers Sprache und Denkweise groß. Zudem ist es wichtig, darauf zu achten, daß beinahe alle Schriften Bubers in dialogischpädagogischer Ansicht geschrieben wurden. Buber spricht nicht nur über das Dialogische, er versteht sein ganzes Werk als dialogische Praxis. Sein philosophisch bedeutsamstes Werk, »Ich und Du«, ist ein gutes Beispiel dafür. Er hat es zunächst "in Frankfurt) mündlich vorgetragen und zwar bezeichnenderweise unter dem Titel »Religion als Gegenwart«.[18] Buber hatte immer den Hörer und Leser mit im Blickfeld. Das erklärt den Reichtum der Bilder, die er verwendet. Seine Sprache ist daher immer aus dem Kontext heraus zu verstehen. Er schreibt aus der Situation des Gesprächs heraus, und in pädagogischer Absicht. Das formte seine Sprache wie sein Denken, und bestimmte auch sein Leben. Nach seinem eigenen Bekenntnis liebte er Menschen mehr als Bücher.[19] Bubers Schrifttum ist voll von einem Engagement für den Menschen, das aus ihm so etwas wie einen Zaddik, einen Weisen und Führer des Volkes Israel und der Menschheit überhaupt machte. Buber sagte einmal: »Jetzt freilich schließe ich zuweilen die Tür meiner Stube und ergebe mich einem Buch, aber nur, weil ich die Tür wieder öffnen kann, und ein Mensch blickt zu mir auf«.[20] Noch etwas muß vermerkt werden: Martin Buber versteht sich und sein Schrifttum als religiös. Wenn die Erstauflage von »Ich und Du« unter dem Motto steht: »So hab ich endlich von dir erharrt, in allen Dingen Gottes Gegenwart« so ist das ein deutlicher Hinweis dafür". Das Motto von der Gegenwart Gottes, die in allen Dingen erharrt wird, zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch »Ich und Du« hindurch.
Ganz anders, so scheint es zunächst, Immanuel Kant. Kant hat die Frage nach dem, was Forschung und Wissenschaft zu bieten haben, fast bis zur Verzweiflung beschäftigt. Er wurde inne, daß er seinen Beruf als philosophischer Lehrer aufgeben kann, wenn es in der Wissenschaftsproblematik keine befriedigende Antwort gibt. Ihm ging es darum, ausweisbare, vernünftige Kriterien freizulegen, und zwar sowohl für das Erkennen, als auch für das Tun und das Hoffen.
Dennoch, Kants Philosophie schließt Glauben nicht aus. In der Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" (1787) schreibt Kant den berühmten Satz: »ich mußte ... das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.[22] Für die praktische Philosophie ist "moralischer" Glaube unabdinglich. Man muß sich ja in Freiheit der Vernunft öffnen, auf sie setzen. Ohne an Vernunft zu glauben, kann sich auch wahre Moralität nicht entwickeln. Und Vernunft, die sich in ihren letzten Konsequenzen durchschaut, entwickelt Sinn für Religion, jedenfalls so weit diese auf moralisches Handeln bezogen bleibt. So gehörtfür Kants Verständnis des Menschseins, in den letzten und tiefsten Bezügen gesehen, moralischer Glaube, der, je nach Verhalten, zum hoffenden Glauben werden kann. Dieses "Kann" berücksichtigt, daß dieser Glaube nicht ohne Freiheit zustande kommt. Dabei ist natürlich Freiheit nicht mit Ungebundenheit zu verwechseln. Freiheit wird ja erst am Sittengesetz bewußt, ist an dieses rückgebunden, und wird zur vernünftigen und damit wahren Freiheit nur da, wo sie sich im und durch das Sittengesetz verwirklicht.
Damit ist bereits klar, daß die Differenz zwischen Kant und Buber nicht so groß sein kann, wie es zunächst scheinen mochte. Beider Philosophieren kommt ohne Glauben nicht aus. Freilich ist ein Unterschied unübersehbar. Bubers Glaube ist eher das Resultat einer "Offenbarung", Kants Glaube dagegen eher das Resultat eines persistenten Analysierens des erfahrenen "Sollens". Doch darf auch dieser Gegensatz nicht überbetont werden. Immerhin ist sowohl Kants Vernunft als auch Bubers Zwischen dem Individuum voroder übergeordnet. Beide stehen nicht im Belieben des Menschen. Wir stehen in ihnen, sind von ihnen umgeben. Sie machen sich uns.
Buber selber meinte einmal, er befinde sich auf dem Feld, das Kant eröffnete: »Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß wir heute auf den Trümmern des Hochbaus stehen, dessen Söller Kant errichtet hat«. Und ein andermal meinte er, »Kants Prolegomena seien ihm noch vor den Universitätsjahren zu der entscheidenden Lektüre geworden, die ihm die philosophische Freiheit geschenkt habe«.[23] Bei Kant lernte Buber, »daß das Sein selber der raumzeitlichen Endlichkeit und der raumzeitlichen Unendlichkeit gleicherweise entrückt ist, weil es in Raum und Zeit nur erscheint, aber in diese seine Erscheinung nicht selber eingeht«.[24] »Damals«, so fährt er fort, »begann ich zu ahnen, daß es das Ewige gibt«.[25]
Dieses Ewige kann sich - und das würde auch Kant nicht ausschließen - sowohl im vernünftigen als im religiösen Handeln zeigen. Vom positiven religiösen Ansatz her, der Buber bestimmte, ist Vernunft als von Gott so gemacht zu betrachten. Von Kants kritischem Ansatz her, der sich immer von den Bedingungen der Möglichkeit (des Erkennens, Wollens... ) leiten und bestimmen lassen will, kann Vernunft als von Gott so gemacht betrachtet werden. »Religion ist "subjektiv betrachtet" die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote«.[26] Allerdings ist das Wort subjektiv nicht als "rein subjektiv" zu verstehen. Es hat zwar mit dem Subjekt zu tun und ist damit nicht erzwingbar, denn ein Subjekt ist durch Freiheit ausgezeichnet. Aber die Freiheit darf, auf Gund des moralischen Gesetzes, nicht nur beliebige oder Willkür- Freiheit sein. Das moralische Gesetz verlangt nach moralischer Freiheit. Moral, gelebte Moral, aber »führt unumgänglich zur Religion«.[27]
Im Anschluß daran kann an Buber die Frage gerichtet werden, was ihn denn zu seinem Engagement drängte? Warum mußte er das »Einmalige und Wesenseinzige« in »Allgemeines«, von jedem in seinem eigenen Dasein Auffindbares verwandeln? Warum mußte er das seinem Wesen nach Unbegriffliche in Begriffen, die "wenn auch zuweilen mit Schwierigkeiten" gehandhabt und übermittelt werden können, aussagen? »Warum mußte er auf die beiden Weisen des In-der-Welt-Seins als auf eine »vernachlässigte«, verdunkelte Wirklichkeit und die große Voraussetzung für den Anbeginn des Philosophierens hinzeigen«?[28] Woher kommt ein solches Drängen? Kant würde es ein Sollen nennen. Und ein Sollen hat den Grund im moralischen Gesetz, das in der Tiefe unserer Vernunft west. Es ist das moralische Gesetz, das sich in Fragen des Dürfens und Müssens kategorisch meldet, sich aber nicht automatisch durchsetzt. Es will frei realisiert werden, von jedem einzelnen, auch wenn es Haltungen verlangt, die jeden angehen, wenn er ein moralischer, vernünftiger, wirklicher Mensch sein will.
Von Kant her kann man sagen, Martin Buber habe sich genau darauf eingelassen, ganz gewiß in seiner pädagogischen Haltung, die eine Haltung des Auf-den-Andern-Zugehens ist, die den anderen Menschen achtet, ja sich erst vom anderen Menschen her als Mensch erfaßt. Buber hat dem aber auch in seinen philosophierenden Schriften theoretischen Ausdruck gegeben, wenn auch nicht in der kritischen (= nach ausweisbaren Kriterien philosophierenden) Weise Kants. Das ermöglichte ihm auch wieder einzubringen, was Kant aus methodischen Erwägungen heraus ausklammern mußte: das Emotionale und Gemüthafte in menschlichen Beziehungen.
Als Fazit meiner Überlegungen möchte ich folgende These aufstellen: Kant und Buber kann man so lesen und interpretieren, daß sie einander ergänzen. Für eine Ethik der Zwischenmenschlichkeit ist Kants sittengesetzliches Denken von Buber her durch das Emotionale, das Gemüthafte, zu ergänzen. Eine Ich-Du-Beziehung wäre durch bloße Achtung vor dem Menschen nicht genügend umschrieben. Dazu gehören auch Gefühle und das ErgriffenWerden durch das sich ereignende "Zwischen". Umgekehrt ereignet sich auch das "Zwischen" nicht ohne bestimmte Voraussetzungen. Eine davon, und zwar eine unabdingliche, ist die grundsätzliche Achtung vor dem Menschen.

Diskussion zu: »Ethik und Zwischenmenschlichkeit« von Imelda Abbt

Diskussionsleitung: Brigitte Weisshaupt

MA: Was bedeutet »zwischenmenschliche Beziehung« für Dich persönlich?
J. A.: Für mich ist diese Ausführung von der zwischenmenschlichen Beziehung etwas wie eine Bestätigung, weil Bestätigung auch für die Bemühungen, die bei dieser Tagung vorhanden sind, und auch eine Antwort. Ich glaube, daß es nur eine einzige Menschenwelt gibt, nicht eine Frauen- und Männerwelt, sondern eine Welt, wo zwischenmenschliche Beziehungen in allen Varianten gepflegt werden, wo also nicht das eine oder das andere ausgemerzt wird, sondern es ergänzt wird, und wo alle eigentlich gleichstehen, so wie du es ausgeführt hast.

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