Ein Gespräch über Vernunft

Das Gespräch, das als Einleitung der Tagung gedacht war, fand auf Grund notwendiger Veränderungen im Ablauf der Referate erst etwas später statt.

Das war nicht leicht für uns, nachdem die Referatsituation schon angefangen hatte, mit einer freien Rede und ohne den üblichen Todesernst der Wissenschaft zu beginnen. Ein Auf und Ab, höchste Ironie, ein Zögern und Nachdenken, immer wieder der Versuch in der Formulierung das erst entstehen zu lassen, wovon das Gespräch handeln sollte. Eine schriftliche Fixierung muß leider auf die Zwischentöne, die Nuancen, das extensive Ausprobieren des Formulierens, auf Lachen, auf Gestik, auf die Eindringlichkeit der Rede weitgehend verzichten. Es war ein wirklich außerordentliches Experiment.
Margaretha Huber
Ein Gespräch über Vernunft, die ja für Philosophie selbst zu stehen scheint, sollte das Symposium in Zürich einleiten. Eine Form der philosophischen Auseinandersetzung wurde gewählt, die, an Altes anknüpfend, unterschiedliche Positionen philosophischen Nachdenkens gegeneinander in Bewegung bringen würde. Der Dialog, der so entstand, näherte sich dem widerspenstigen Gegenstand in einer eigenen Dialektik, ernst und ironisch gestimmt. Diese Stimmung übertrug sich auch auf das Auditorium von rund zweihundert Frauen und einigen zerstreuten Männern unter ihnen und trug wechselwirkend auch wieder die beiden Vordenkenden. Zwar hatten diese sich in den Tagen vor diesem Gespräch etwas abgesprochen darüber, was von ihren Standpunkten her in der öffentlichen Unterredung zur Sprache gebracht werden sollte, aber ob und wie es dann eine Äußerung fand, war nicht mehr planbar. So bewegten sich Rede und Gegenrede zwischen angestrengtem philosophischen Diskurs und der fröhlichen Parodie eines solchen Diskurses hin und her, und die Vernunft thronte teils königlich teils bettelnd inmitten. Der fernher berufene Königsweg der Wissenschaft blieb eigentümlich verschlungen und von Gestrüpp durchwachsen. Dafür gab es viel Gelächter und Applaus entlang diesem Weg, und es blieb der Eindruck am Ende, daß das Ziel im Weg selbst lag.
Aber läßt sich dieser Weg als Leserin und Leser von Tonbandabschriften nun noch beschreiten, wo Laute und Stimmung fehlen? Ist der Kairos nicht räumlich und zeitlich dorthin zurückgebunden? Vielleicht. Doch kann er immer wiederkehren als ein anderer und neuer. Also lassen wir dem Gespräch seine in die Schrift gerettete Substanz oder deren Negation, und vertrauen wir der assoziierenden Kraft der Denkenden, ihrem Weiterdenken und Weiterleben.
Brigitte Weisshaupt

M: Und jetzt sprechen wir über Vernunft, angesichts dieser unvernünftigen Wirklichkeit.
B: Ein Dialog soll am Anfang unseres Symposions stehen. Das erinnert an eine philosophische Praxis, die wir hier, trotz der dominierenden Einzelreferate, wieder aufnehmen wollen. Wir versuchen, ein Gespräch zu führen und wollen uns dabei einlassen auf Gedanken und Worte der Gesprächspartnerin. Wir erinnern uns dabei an den Anfang unserer Philosophiegeschichte, an Sokrates.
M: ein Mann! Das hat uns aber nicht besonders fasziniert in diesem Zusammenhang, sondern die bekannte Tatsache, die mit dem sokratischen Dialog genannt wird - die Kunst des Philosophierens, welche mit einer sehr weiblichen Kunst zu tun hat, nämlich mit der unter dem Begriff der Mäeutik bekannten Hebammenkunst und Geburtshilfe. Das hat uns sehr angeregt, äußerst angeregt, weil diese Kunst im sokratischen Dialog ein männliches Fragen und Antworten geworden ist, könnte man behaupten. Vielleicht ist es aber auch nicht männlich, vielleicht ist es geschlechtslos, wie die Philosophie sich ja seit Jahrhunderten selbst verstanden hat, jenseits der Geschlechter, aber dennoch eines besonders betonend. Aber das können wir beiseite lassen, haben wir gedacht, das ist eigentlich vollkommen egal, erstmal. Und was heißt das, »sich Gedanken machen über...«? - Ja, wir machen uns Gedanken über die Vernunft, haben uns schon welche gemacht, seit zwei Tagen brüten wir ... halten uns im Chaos auf, das sich hier als durchaus produktive Kraft erweist; es bereitet ein Gespräch vor und es erinnert uns an einen anderen Beginn, dem wir die Kunst des Philosophierens verdanken, und der uns Frauen im sokratischen Dialog mit dem Anfang des Philosophierens verbindet. Aber nicht nur die Philosophiegeschichte hat ursprünglich mit uns zu tun, sondern was die Vernunft angeht, fangen wir heute Abend ganz von vorne wieder an.
B: Also beginnen wir wieder einmal von vorne. In der Philosophie ist das ja durchaus nicht ungewöhnlich.
M: Eben.
B: Im Rückblick auf den sokratischen Dialog wäre zu erwähnen, daß wir ja auch Monologe führen können; aber wahrscheinlich haben alle Soliloquien doch ihren Ursprung im Gespräch. »Seit ein Gespräch wir sind, und hören können voneinander«, seitdem gilt auch, daß wir Gespräche und Selbstgespräche nur auf dem Hintergrund führen, daßwirschon immer im Gespräch sind -, wie auch immer das zu interpretieren sein mag. Und dieses Gespräch, um wieder an die Mäeutik anzuknüpfen, soll nicht so sein, daß jetzt die eine die Weise, die Kundige, die Geburtshelferin ist, die allein fragt zwischen uns, sondern wir wollen zusammen etwas ans Licht bringen, es aufscheinen lassen dadurch, daß wir miteinander sprechen. Es ist noch daran zu erinnern, daß zu einem Gespräch ganz fundamental das Verstehen gehört. Das heißt nicht, daß wir von vorneherein sagen können: wir verstehen uns. Wir sind unterschiedlich in unserer Rede und in dem, was wir geschrieben haben. Aber wir sind daran interessiert, uns zu verstehen. Das wiederum heißt nicht, daß Nichtverstehen eine ausgeschlossene Möglichkeit ist. Nichtverstehen ist die Grenze am Verstehen. Unsere Verschiedenheit im Reden und Verstehen hat u. a. auch ihren Grund in der bestimmten einzelnen Sozialisation, der spezifischen Kondition, im unterschiedlichen Temperament, und so weiter. Obwohl wir lange die gemeinsame Sache der Philosophie studiert haben, haben sich andere Sprechweisen entwickelt und andere Gedanken nach vorne gedrängt. Aber darüber hinaus, trotz oder gerade wegen der Differenz geht es uns um ein interessiertes Miteinander-Reden.
M: Ja, das ist nicht so einfach, wie man das formulieren kann. Ein Gespräch ist sehr außergewöhnlich innerhalb einer philosophischen Tagung. Normalerweise werden immer lange Monologe gehalten. Außergewöhnlich ist es auch, das hatten wir gemeinsam festgestellt, über Vernunft zu sprechen. Das mag absurd klingen, denn dauernd wird über Vernunft gesprochen, fortwährend sie zitiert. Man wird sozusagen dahin getrieben, man muß dahin gehen, wo groß angeschrieben »Vernunft« steht. Was das sein soll, was für ein Ort das ist, wo man da hingelangt, na ja, das wird sich irgendwie in diesem Gespräch herausstellen müssen. Wir wissen tatsächlich jetzt noch nichts Genaueres zu sagen, was es sein könnte, »Vernunft«.
B: Du meinst, wir wollen dahin gehen, wohin das Gespräch uns führt?
M: Ja. - Wer weiß, ob das Vernunft ist! Das werden wir sehen.
B: Zu deiner Bemerkung, daß das Wort Vernunft vielfältig und allerorten benutzt wird, wäre hinzuzufügen, daß wenig ernsthaft darüber gesprochen wird. Vernunft ist in der Alltagssprache, in der unser Handeln bestimmenden Plakatierung, im Gebrauch, den unsere menschliche Umwelt mit diesem Wort macht, ein inflationärer Begriff geworden: »Reisen mit Vernunft. Nehmt die Bundesbahn!« Oder: »Seid doch endlich vernünftig und wählt das und das, oder: seid vernünftig, paßt euch an!« und so weiter. Solches und anderes wird mit Vernunft alltäglich verbunden. Dieser alltägliche Gebrauch muß auch mal in Frage gestellt werden, obwohl wir anerkennen, daß der gesunde Menschenverstand, das alltägliche Bewußtsein, der Common sense - ihre Berechtigung haben. Aber sie müssen auch reflektiert werden. - Dies als Bemerkung zu dem inflationären Gebrauch der Vernunft in der Alltagssprache. Wir wollen Vernunft in einem anderen Sinne umkreisen.
M: Gut, jetzt haben wir also die Vernunft schon mal sehr kritisch im Verkehr lokalisiert. Gehen wir wieder zur Philosophie zurück, zur Philosophiegeschichte, wo uns die Vernunft eben auch in einer gewissen Weise immer sehr empfohlen worden ist, als Lektüre -; und nicht nur empfohlen, sondern es gibt einen ganz bestimmten exakten Begriff von Vernunft innerhalb der Philosophiegeschichte. Den werden wir vielleicht jetzt mal in Frage stellen, oder? Also nehmen wir einmal an: der Vernunftbegriff des Deutschen Idealismus, wo er wirklich erblühte, Selbstbewußtsein auf der Höhe des männlichen Verstandes, das Absolute ; das können wir ja mal als den einen Pol sehen: eine Formulierung, eine Vorstellung, die den Begriff der Vernunft mit einem absoluten Geist zusammenbringt.
B: Das Absolute, das absolut Gültige, das, was nicht antastbar ist, damit willst du jetzt Vernunft verbinden, vielmehr du sagst, damit sei sie verbunden worden. Aber das wollen wir so sicher nicht beibehalten. Wenn ich mich an ein Vorgespräch erinnere, so verbindest du mit dem Absoluten doch auch Vernunft in einem anderen Sinne, als ich es bisher gelesen habe.
M: Ja, ich wollte sagen, in diesem Zusammenhang auch des Philosophiegeschichtlichen, der Lektüre, der Ausbildung an der Universität und so weiter, habe ich wirklich mit der Zeit eine äußerste Skepsis gegen diesen Zusammenhang »Vernunft = das Absolute« entwickelt gehabt. Aber inzwischen und auch durch unser Gespräch kommt mir diese Vorstellung gar nicht mehr so absurd vor.
Klar: die Vernunft wurde natürlich immer als Gegenteil unserer Natur, jenseits unseres Geschlechtes, als das Andere einer weiblichen Welt gedacht. Wir sind ja sozusagen die Negation dieses ganzen wunderbaren Erkenntnisbereichs, aus der man sehr viel schöpfen kann. Und im Anschluß daran dachte ich bisher: nein das ist nichts, wenn Frauen über Vernunft sprechen, wenn wir über Vernunft sprechen. Das hat mit uns nichts zu tun, »so was Absolutes«. Aber schließlich soll das Absolute alles und gerade, was es ausschließt - wie paradox -, auch noch sein ...
B: Wir reden also wieder von dem Absoluten. Du sagtest, wir sind eigentlich die absolute Negation der Vernunft, beziehungsweise, man hat uns als vernünftige Wesen negiert ...
M: ... als relative Negation, würde ich in diesem Falle sagen, als relative, leider nie absolute Negation.
B: Also als relative Negation, das stehe groß im Hintergrund, dann brauchen wir das nicht immer zu sagen. Und jetzt können wir uns die Frage stellen: Wie, wenn weibliche Vernunft nur aufschiene in der Abwesenheit von gängiger Vernunft? Vernunft erschiene dann in der Verleugnung, als verleugnete in fremden Positionen und Fixierungen. Wir können dann sagen: die Vernunft ist mitnichten bisher bestimmt; sie ist nicht enthüllt. Aber nur vor ihr, in ihrem Licht könnte das Unvernünftige eingekreist werden.
Das hiesige, von der geltenden Vernunft bestimmte Unvernünftige, das können wir immerhin aufzeigen.
Gehen wir vom Unvernünftigen aus. Es ist das Bestimmte und im Alltag bestimmbar; es ist in philosophischen Theorien auffindbar. Also demgegenüber würde ich einmal sagen, was wir zum Teil, relativierend auch als das Unvernünftige entlarven könnten, dazu ist Vernunft das jeweils Andere. In einem simplen assertorischen Satz formuliert kann ich sagen: die Vernunft ist das Andere. Das Andere zu diesem Einen, was jetzt vernünftig genannt wird, und zu diesem Vielen, was jetzt unvernünftig heißt. Zu all diesem Bestimmten ist Vernunft das Andere, aber nicht als ein Absolutes.
M: Ich wollte auch noch mal einen Bogen schlagen. Was du gerade gesagt hast, mit dem Unvernünftigen, ich wollte noch mal näher meine Faszination, meine allerneueste Faszination an dem Begriff des Absoluten sagen. Das wäre genau etwas sehr Unvernünftiges, das immer dieser wunderbare, herrliche, exakte, großartige, männliche Begriff an sich hatte. Das taucht allmählich auf. Weil diese - gut, ich stülpe jetzt wirklich die Philosophiegeschichte um, nicht auf die Beine, - weil diese absolute Wirklichkeit der Vernunft, mit der man uns entzweit, im Grunde herrlich unvernünftig ist!
B: Ich stimme dir mal so zu, weil ich damit etwas assoziieren kann, und nehme das auch wieder auf: die Vernunft als das Abwesende, aber doch als das Nicht-sein, in dessen Licht vielmehr das Vernünftige aufzuzeigen wäre. Die Vernunft in ihrer Abwesenheit anzugehen, fordert eine (neue) Phänomenologie der Vernunft. Wieder ein Wort, das wir so gelernt haben! - Eine neue Phänomenologie der Vernunft kann sich nicht mehr mit einer isolierten Vernunft beschäftigen, sie muß sich vielmehr auf diejenigen richten, die sich mit Vernunft "beschäftigen". Eine neue Phänomenologie muß sich auf die Person im ganzen beziehen. Sie kann nicht mehr länger uns Menschen reduzieren auf »Subjektivität«, auf »das ego cogito«, usw. Wir müssen die integralen Funktionen und Erkenntnisleistungen der Vernunft wieder aktivieren. Dann können wir sagen: wir erkennen mit Herz und Verstand, mit Wille und Sinnen, - aber nicht nur mit einer davon abgegrenzten "Vernunft". Vernunft erschiene vielmehr in einer Gestalt, in der dies alles mit ihr vereinbar wäre.
M: Also darf ich auch noch ihr Erscheinen ankündigen. Wir gehen gerade parallel miteinander. Noch einmal zurück zur absoluten Wirklichkeit der Vernunft: ihrer zauberhaften Logik. In der Gestalt erscheint sie uns nicht sehr vernünftig; und doch ist nur das Absolute - welche Unvernunft - ganz und gar das Höchste der Vernunft! Ja, und damit hätten wir also dieses schwierige Problem gerettet: auch das Unvernünftige ist Vernunft. Auch das, was uns immer zugeschrieben worden ist, uns Frauen: das weibliche Denken, falls es das überhaupt gibt! - Man hatte nicht »Denken« gesagt, man hat gesagt »das Weibliche« -, und das Denken sei weit weg davon! Es sei nur »Natur«; als ob Natur nichts mit Denken zu tun hätte! Das Weibliche also, als unvernünftig klassifiziert, haben wir nach dieser Beweisführung als vernünftig erkannt.
B: Wenn du sagst, daß das Unvernünftige auch Vernunft sei, dann heben wir schon mal die unselige Dichotomie: Vernunft - Unvernunft auf.
M: Ja, das war das große Problem bei dieser Vernunft, bei dem Vernunftgespräch: Wie kommt man aus dieser Dualität heraus? An die Abwesenheitsthese von Brigitte anknüpfend: kaum sagt man das eine Wort, kaum sagt man Vernunft, erscheint Unvernunft. Kaum sagt man Abwesenheit, erscheint Anwesenheit. Ja, schwierig, sehr schwierig. Versuchen wir mal, das erscheinen zu lassen, was nicht da ist. Etwas außerhalb dieser ganzen Hin- und Her-Geschichte. Nehmen wir nur zum Spaß die Frage auf, ohne daß uns das in schreckliche, höllische Dualitätspositionen zurückführt: Was wurde immer, außer uns Frauen, als nicht der Vernunft zugehörig gezählt?
B: Ein weiteres Gegensatzpaar war: Vernunft und Natur. Und auch hier wird die Frau mit dem Anderen zur Vernunft identifiziert. Wir können es bei Platon und Aristoteles bis in alle Neuzeit verfolgen: Die Frau ist der Natur näher als der Mann. Ich habe große Bedenken, ob wir das so ohne weiteres übernehmen sollen. Mir wäre es zwar recht, wenn ich der Natur näher wäre, ich hätte gar nichts dagegen.
M: Aber ich habe etwas dagegen! Eine Verwechslung von Ferne und Sein.
B: Ich war noch nicht fertig. Ich habe auch etwas dagegen, und ich möchte erklären, warum: Wenn wir Natur als Gegenbegriff zu Vernunft sehen und die Meinung übernehmen, wir seien der Natur näher, dann müssen wir bedenken, daß dies von der Position her gesagt wurde, daß wir dadurch "konsequenterweise" auch ferner von Vernunft seien. Vernunft war und ist in der Regel höher bewertet und gilt als das Herrschende. Was der Vernunft fern steht und mit Natur zusammenhängt, das wird von der Vernunft ausgeschlossen und ihr als dem männlichen Prinzip unterstellt. Von daher gesehen ist die Identität von Frau und Natur zunächst einmal eine männliche Setzung, eine männliche Projektion, die eine Objektivierung der Frau bedeutet. Die Identität von Frau und Natur ist der Ausdruck einer beherrschbar gemachten Natur. Als solche ist sie ein männliches Wunschprojekt. Natur, wie sie sein könnte, und die Naturnähe, die wir vielleicht anstreben, ist nicht inkarniert in den vorgeblich der Natur näherstehenden Frauen. Es ist ein Trick der männlichen Ratio, uns der Natur zuzuordnen, und geschah in der Absicht, unsere Unterwerfung zu legitimieren. Wie genau wir uns selbst als Natur- und Kulturwesen verstehen wollen, das bleibt unsere eigene Aufgabe. Auf alle Fälle akzeptieren wir diesen männlich dekretierten Ausschluß der Frauen aus der Vernunft nicht mehr. Der Natur sollten wir uns wieder nähern können, sie in einem neuen Sinne verstehen lernen. Dazu gibt es die Möglichkeiten der Wanderungen zurück: in Vorgeschichte und Mythos, in unser verschüttetes Bewußtsein. Das kann für den Weg der Frauen hilfreich und nützlich sein. Aber, was Vernunft sein kann, und was wir vielleicht besonders als Frauen in dieser Weit wollen, das liegt vor uns; es aufzusuchen und zu bestimmen ist unsere Aufgabe. Es ist aber weder jene Natur, mit der man uns identifiziert hat, um uns zu beherrschen, noch jene Vernunft, die man uns abgesprochen hat, um uns mit ihr zu beherrschen.
M: Brigitte, wir liegen also selber vor uns, wenn ich dich wörtlich nehme.
B: Ja, warum nicht. Wir haben eine Zukunft.
M: Und wir haben eine Gegenwart.
B: Ganz gewiß.
M: Jetzt sage ich mal, was mich an diesem Trick schon seit ewigen Zeiten stört: diese - es ist wirklich ein absoluter phantastischer Einfall gewesen diese Distanz, die Erfindung der Distanz. - Dieses Mehr-Sein, Ferner-Sein von irgend etwas; und dann diese Zwangszusammenschiebung, der man diesen huldvollen Namen »Identität« gegeben hat. Ich bin nicht näher an Natur, ich bin nichtfernervon Natur, ich bin Natur! Jeder Mensch ist Natur; der Mann ist doch auch Natur. Gut. Beiseite gelegt, sonst müßten wir uns über den Naturbegriff unterhalten. Über das Atmen, ob wir atmen oder nicht. - Aus dieser Distanz kommt die ganze Dualitäts-Geschichte. Die Vernunft soll auch hin und her geschoben werden; nicht nur - jetzt sind wir einen Schritt weiter -: Vernunft - Unvernunft; sondern: mehr oder weniger Vernunft. Mehr Vernunft wäre in diesem Geschiebe zum Beispiel, wenn man in den ganzen intellektuellen Bereich hinein sich bewegt, in den ganzen Verstandesbereich. Weniger Vernunft, wenn man zu Gefühlen tendiert, und so weiter. Ach, ich glaube, das kann man beiseite lassen, dieses Hin-und-Her-Gerücke.
B: Unter diesem Hin-und-Her-Gerücke hast du u.a. Vernunft in ihrer Form als Rationalität angedeutet. Gegenüber dieser Form möchte ich ein anderes Interesse an Vernunft artikulieren: Ich habe Vernunft durchaus nicht satt, sondern ich habe insofern ein tiefergehendes Interesse an ihr, als ich da nicht mitmachen möchte, wo Rationalität, oder die "aufgeklärte" Welt, wie sie heute besteht, ohne weiteres mit Vernunft gleichgesetzt wird. Dies geschieht allenthalben. Aber zwischen Rationalität und Vernunft gibt es einen himmelweiten Unterschied. Angesichts dessen, daß wir aufzeigen können, wie groß die Unvernunft des mit Rationalität identifizierten Vernünftigen eigentlich ist, wäre an Vernunft zu erinnern und Vernunft neu zu entwickeln.
M: Zu erinnern ist ein sehr gutes Wort. Wir kamen im Vorgespräch darauf, und daß es einen Ausdruck gibt, der das Erinnern als etwas Unbewegtes wiedergibt. Wenn man gar nicht mehr weiß, daß man es tut, und doch ein Geschehen in diese Richtung »illustrieren« will - zum Eingeständnis eines Unbegreifbaren ist man ja nicht bereit - dann sagt man dazu: »rekonstruieren«. Wir haben uns gesagt, was wir auf keinen Fall wollen ist, »Vernunft rekonstruieren«. Sie sehen, es ist wirklich sehr schwierig, sich hier vorwärts zu bewegen, durch diese Vernunft-Geschichte. Erinnern heißt, setzt voraus, daß etwas vergessen worden ist. Wir gehen jetzt Schritt für Schritt zurück, und zwar auf sehr vielen Wegen: philosophiegeschichtlich, in der weiblichen Identität, und auch auf denen des wirklich vollkommenen Einfalls -, was einem gerade im Gespräch so kommt, ja, auch da entlang. Brigitte, kann ich noch einmal zu dieser Philosophie-Geschichte zurückkommen? Dahin, wo wir die Hegelsche Vernunft exponiert hatten. Neben Hegel würde ich gern, so als Szenarium, einen anderen Philosophen stellen, dem es auch sehr um Vernunft ging. Und zwar in seinem berühmt-bekannten Werk "Kritik der reinen Vernunft". Wir könnten das einfach mal als zwei unterschiedliche Pole nehmen, auch als eine gewisse Strecke, die zurückgelegt worden ist, innerhalb dieser Systemversuche. Also, im Absoluten hat die Vernunft, wie vorhin schon gesagt, fast das Unvernünftige, überhaupt das Unvernünftige betreten; bei Kant hieß das: Halt! Nicht weiter mit der Vernunft, mit der reinen Vernunft natürlich! Worauf wir uns stützen müssen ist die und die Erfahrung, oder überhaupt Erfahrung. Jetzt kann man sagen: sehr merkwürdig! Bei der einen Vorstellung sollte man irgendwohin gehen, dessen Ort nach normalen Maßstäben eigentlich gar nicht mehr aufzufinden ist. Bei der anderen heißt es: auf keinen Fall dahin gehen, die »Grenzpolizei« paßt auf. Und das ist nun auch eine Möglichkeit, einmal zu erforschen, was denn hinter dieser Grenze ist, wo die Erkenntnis nicht hingehen soll, was das für ein Ort ist. Sicher, wir wissen, daß dieser Bereich, in den man geschickt wird, auf jeden Fall - sonst kann man nichts erkennen - mit Erfahrung zu tun hat. Und das Andere? Hat wohl nichts mit Erfahrung zu tun? Gibt es denn wirklich nur eine Erfahrung?
B: Da sind wir, glaube ich, einer Meinung: Mit der Kantischen Reduktion aller Erfahrungen auf die raum-zeitlichen und kategorialen Bedingungen ihrer Möglichkeit sind wir nicht einverstanden; aber auch nicht mit der spezifischen Hegelschen Erweiterung des Erfahrungsbereichs in Richtung Absolutes. Da wird doch in beiden Fällen ein - wenn auch unterschiedlicher Schein von Erfahrung erzeugt. Was wir aber doch beachten und aufnehmen sollten ist, daß hier von einem Tun, von einer Tätigkeit der Vernunft die Rede ist. Das sollten wir der Vernunft lassen, oder ihr zurückgeben, dieses Sich- Erweitern, diese Selbsterweiterung über Grenzen hinaus. Zwar nicht die Konstruktion eines Absoluten, da verblieben wir wieder im Hegelschen Schema, aber eine Ausweitung des Erfahrungsbereichs dahin, wo alles Platz hat, was wir geistig erfahren. Also die Grenzen müßten anders gezogen werden. Hier geht es vielleicht um eine neue Art von Spekulation und um einen neuen Erfahrungsbereich.
M: Und das hat ja wieder zu tun mit dem, was du vorhin mit der Abwesenheit angesprochen hast, -
B: Ja. Wir gewahren eine Abwesenheit von Vernunft in der heutigen durch Rationalität, durch eingeschränkte, begrenzte Vernunft geprägten Wirklichkeit.
Was die Grenze betrifft, nehmen wir an, daß das Tun der Vernunft diese Grenze doch zu überschreiten vermag. Wir entnehmen dies unserer eigenen Erfahrung und unserem Umgang damit. Diese Erfahrung bewußt zu machen und auszudrücken, wären erste Schritte auf einem neuen Weg, den wir suchen und gehen müssen.
Gegenüber der anderen von uns diskutierten Sicht der Vernunft als absoluter sollten wir eher zurückgehen zum Einzelnen, zu den Phänomenen; diese müssen wir aufzeigen und beschreiben. Das heißt, wir müssen quasi eine neue Phänomenologie erstellen. Dies ist die umgekehrte Richtung zu der Meinung, daß Vernunft das Jenseits der Grenze ist. Wir sagen nun, daß Vernunft ebensosehr das Diesseits der Grenze ist. Ein neuer vernünftiger Weg muß uns zu dem Einzelnen führen, das wir lassen, und auf das wir uns einlassen wollen.
M: Also: Man kann vielleicht zusammenfassend sagen: beide Positionen (Kant, Hegel) erfüllen nicht die Vorstellungen, die wir uns davon machen wollten. Sie bringen uns irgendwohin; ihnen zu folgen ist wirklich interessant: auf Erkundung gehen. Aber wenn wir uns ausschließlich an sie halten, haften sie uns fest, binden unser Denken an, und nichts anderes fällt uns mehr ein. Was verstehbar ist, will frei für jede neue Einsicht sein.
B: Vielleicht könnten wir sagen: wir kommen zu einer neuen Selbsterfahrung der Vernunft. Das bedeutet nun nicht die Erfahrung eines Ist-Zustandes; sondern in der jeweiligen Erfahrung der Vernunft mit sich selber kommt diese auch jeweils über sich hinaus, über ihre jeweilige Position. Sie erfährt im Erfahren ihrer selbst eine Selbsterweiterung. Dieser Prozeß ist anders als unabschließbar nicht zu denken.
M: Ja, ich überlege jetzt gerade, ob mir diese Vorstellung so paßt, mit dieser Selbsterweiterung der Vernunft. Man gerät da wieder in Unendlichkeiten, exzessive -
B: Aber wieso? Wir sind endliche Wesen! Dadurch ist Selbsterweiterung gebunden. Warum also in Unendlichkeiten -? und gar exzessive? Wenn, und nur solange die Vernunft Erfahrungen mit sich selber macht, wird sie sich nicht versteigen.
M: Also, diese Selbsterweiterung, dieses Voranschreiten, das hat für mich zu sehr die Schwere der Systementfaltung. Und im Moment kann ich mich einfach nicht mit diesem Gedanken anfreunden, mit dieser »Selbsterweiterung«, sondern - ich weiß nicht - ja es ist vielleicht das, daß mir dieses Ausdehnen nicht gefällt an dieser Vorstellung. Ich möchte weniger etwas ausdehnen, als daß ich ganz Bestimmtes, Vieles nebeneinander sehen und gleichzeitig, als ein Zugleich existieren lassen will. Das wäre also dann nicht die Vernunft, die sich ausdehnt und weiter wird, sondern: eine andere Vernunft. Jene Vernunft dort, oder diese hier - so vielleicht. Daß Erfahrung mit Vernunft zu tun haben soll, möchte ich nicht so verstehen, die erstere noch auszuweiten und zu sagen: da gehört das noch hinein, immer reinstopfen oder sowas, sondern ich möchte von vielen Erfahrungen sprechen und von sehr unterschiedlichen, die auch auf den ersten Blick gar nichts gemeinsam haben, sich nirgendwo berühren und sich nicht gegenseitig kennen - auf den ersten Blick wie gesagt.
Und das ist leider eine bittere, wohl mit einiger Bitterkeit behaftete Vorstellung, daß es eben außer dem, was wir sehen, oder erkennen, oder wissen können, unmittelbar daneben etwas gibt, was wir nicht wahrnehmen, und was genauso existiert.
B: Dem würde ich überhaupt nicht widersprechen. Ich glaube auch nicht, daß ich mit meinem Votum vorhin so einen Widerspruch vorweggenommen habe. Unter Selbsterweiterung verstehe ich gar nicht dieses Fortschreiten in mehr Vernunft. Es kann auch ein Zurückschreiten sein aus dem, was angegeben ist, wieder in engere Bereiche, oder in bestimmte Erfahrungen. Du sprichst von unterschiedlichen Erfahrungen. Die könnten wir mal durchaus nebeneinander stehen lassen, zunächst noch unverbunden. Es ergibt sich dann vielleicht eine Art neuer Topologie, die aber längst kein System ist. Das würde ich auch so gar nicht wollen. Es war nur eine Andeutung in dem Sinne, daß Vernunft, wenn sie tätig ist, über sich hinauskommt. Das heißt nicht, daß sie sich verabsolutiert, oder daß sie nicht sieht, daß dann hinter ihrem Rücken sozusagen, dasjenige wieder anwächst, was wir nicht begreifen; denn die Vielfalt der Erfahrungen des Begreifens wird gewissermaßen ergänzt durch eine Vielfalt der Erfahrungen des Nicht-Begreifens, und wir achten wieder mehr auf das, was wir nicht begreifen, wenn wir uns auf Selbsterfahrung der Vernunft einlassen. Wieder einmal mit einem Blick auf Sokrates zurück, könnte man hier von Modifikation des sokratischen Nichtwissens sprechen.
Also ich will da gar nicht den Fortschritt immer vollständiger machen im Sinne, irgendwann soll die Welt vollkommen nur vernünftig sein, nämlich vernünftig in diesem engen Sinne. Das ist sie ja heute. Sie sei, sagt man, ganz und gar rational und sie werde immer rationaler. Dabei starrt sie vor drohender Irrationalität, nein, nicht vor Irrationalität -: vor drohendem Unvernünftigen.
M: Wir hatten auch in dem Vorgespräch uns eine Formulierung ausgedacht, die der Sinn dieses Gesprächs sein sollte. Wir hatten uns tatsächlich überlegt zu sagen, das Gespräch sollte eine Wiedergeburt der Vernunft sein. Und das ist natürlich irgendwie eine furchtbare Aufgabe, angesichts dessen, daß die ganze Welt vernünftig ist. Also, was soll da wiedergeboren werden? Die Voraussetzung wäre dann, daß wir angenommen haben, daß etwas gestorben ist, daß diese Vernunft, die viel zitierte, nicht lebt. Obwohl die ganze Welt behauptet, sie sei vernünftig, existiert Vernunft nicht mehr. Sonst wären wir nicht auf diesen Gedanken gekommen.
B: Ja. Wahrscheinlich ist es die Wahrnehmung, daß unsere Welt, die an ihrer blinden Rationalität zugrunde zu gehen droht, uns nötigt, Vernunft wieder erinnern zu wollen, uns eine Geburt der Vernunft zu wünschen. Natürlich können wir sie jetzt nicht schnell im Gespräch herbeiführen und meinen, daß sie diese Monster, die die Rationalität geboren hat und, ähnlich wie im Mythos, weiter gebiert, einfach bannt. - Da müssen wir wohl erst eine neue Ethik einführen, eine behutsame Weise, mit den Dingen umzugehen, eben eine anders vernünftige Weise, in unserem Sinne von Vernunft. Dieser Sinn muß auch erst langsam entwickelt werden. Mit der Rationalität stehen wir am Ende, mit der Vernunft am Anfang.
M: Ja, kann ich kurz - mir ist etwas eingefallen, als du das gesagt hast. Also: bannt, diese wirklich monströse Welt zu bannen, wir müssen uns etwas einfallen lassen, das das bannt, dieses Gespenst. Und tatsächlich gehen wir mit diesem Wort »bannen« - die Brigitte sagte es eben - fast zum Mythos zurück, zu einer Vorgeschichte der Vernunft, zu einer sogenannten unvernünftigen Geschichte. Sie sehen ja an unserer ganzen Redeweise, wir können nichts anderes als beschwören, und das aber natürlich im Sinne der Vernunft. Wir beschwören wirklich, wir sind vernünftig genug, zu beschwören. Es ist so schwierig. Wir müssen wirklich ein Mosaik hier zusammensetzen. Ein ganz zerbrochenes, kaputtes Etwas stückchenweise zusammentragen. Also verzeihen Sie bitte, wenn es manchmal, wenn wir's nebeneinandergelegt haben, erst nicht stimmt, und wir rücken das wieder hin und her. - A propos Mythos: etwas anderes. Der Mythos ist auch eine andere Wirklichkeit, jenseits der Vernunft, nein, nicht jenseits: eine andere Vernunft. Und noch eine andere ist die Krankheit um im Nennen endlich das Abwesende und das Negative zu bannen. Innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, Philosophiegeschichte, erschien uns auch am Beispiel der Psychoanalyse etwas sehr, ja sehr Erstaunliches passiert zu sein: daß inmitten der Wissenschaft, die ja wirklich die Rationalität und die Vernunft, usw., als ihre Methode, als ihre Erkenntnisform gewählt hat, etwas entdeckt wurde, das per se unvernünftig ist: das Unbewußte, die Neurose, usw. usw.
B: Vielleicht könnte man dazu sagen - ich will gleich auf das Unvernünftige zurückkommen , daß Vernunft, die sich entfernt hat von dem, was das Un-Vernünftige ist, oder das Unbewußte (ES), sich ja auch mißversteht. Sie mißversteht sowohl ihre genetische Vorgeschichte, als auch ihre ständige Bedingtheit durch das Unbewußte. Hier sind wir von Freud auf einen Weg gebracht worden, auf dem die Vernunft nicht einfach losgelöst werden kann. Wir machen ganz im Gegenteil die Erfahrung, daß sie gebunden ist an die Ebenen oder Schichten des Unbewußten, von dem wir mehr dominiert sind, als wir ahnen. Und was die kranke Vernunft betrifft, so hat sie als solche ihre Vorgeschichte vergessen oder verdrängt. Das benennt dasselbe, was du sagtest. Vernunft erscheint gar nicht mehr als Vernunft, sondern als Neurose. Aber ist das gleich »unvernünftig« zu nennen? Ist eine Neurose unvernünftig in einer Welt, die so viele Momente des Unvernünftigen aufweist? Ist die Neurose nicht eine vernünftige Konstellation der Person in einer Umwelt, in der sie sich als Vernunft nicht mehr zurechtfindet? Die Weise, wie die Person auf unsere irremachende Welt reagiert, wird als »krank« bezeichnet. Aber vermutlich ist diese Weise eher eine "gesunde( Reaktion, die nur der vorherrschenden Norm nach als verrückt und neurotisch bezeichnet wird ...
M: Durch diese Überlegungen wandert der Vernunftbegriff schon ein bißchen weiter weg, und woandershin, und nähert sich eigentlich dem, wovon er ja immer geschieden werden wollte. Damit wandelt sich aber auch der Vernunftbegriff. Ja, ist es überhaupt noch ein Begriff?
B: Du sagst, das ist jetzt anders, der Vernunftbegriff hat sich dahin gewandelt, wovon er sich freihalten wollte. Ich habe gesagt: Vernunft ist eine Konstellation des Lebendigen, das auf etwas zutiefst Bedrohendes reagiert. Und jetzt fragen wir, ist Vernunft überhaupt noch ein Begriff? Vielleicht können wir sagen, für das, was sich da konstelliert hat, nehmen wir dennoch Vernunft in Anspruch. Aber wir sagen, sie ist kein Begriff mehr - war sie denn je nur ein Begriff? -, sondern vielleicht macht sie den Gesamtausdruck des menschlich lebenwollenden Lebens aus. Provisorisch formuliert. Das zu entfalten wäre nun Aufgabe einer philosophischen Vernunft.
M:Ja.-Ich möchte, daß die Vernunft einfach da ist. - Wie lange sprechen wir eigentlich noch?
B: Wir sprechen wahrscheinlich schon viel zu lange. Aber wir haben ja noch den Punkt: Vernunft im Dienste der Frau, oder Vernunft bei den Frauen. Vielleicht sollten wir mit einigen kurzen Bemerkungen dazu für dieses Mal schließen. Ich möchte nochmal darauf hinweisen, daß Vernunft den Frauen abgesprochen wurde. Die Frau als das unvernünftige Wesen; das können wir im Ernst ja nicht akzeptieren.
M: Also es kommt darauf an, was man unter Vernunft versteht, Brigitte.
B: Ja, ja, eben. Aber dennoch flüchtete sich da Vernunft- oder wie immer wir es bezeichnen wollen - in Gegengestalten zu dem, was eben Vernunft genannt wurde, in die sogenannte Unmündigkeit der Frauen, in eine Unmündigkeit, die nun weiß Gott nicht mehr selbstverschuldet ist, in Dummheit. - Übrigens zu Dummheit fällt mir eine Wendung von Adorno ein: »Dummheit ist nichts Privatives, nicht die einfache Abwesenheit von Denkkraft, sondern die Narbe von deren Verstümmelung«. Das sagt Adorno, ein nicht so männlicher Denker, behaupte ich, ...
M: Naja, jetzt müßten wir über Adorno anfangen ...
B: Das wollte ich jetzt allerdings nicht beschwören.
M: Nein, weißt du, was wir beschwören, das können wir auch wieder bannen. Also weiter.
B: Also, die Vernunft flüchtete sich, wie erwähnt, in Gegengestalten, in Dummheit, Unmündigkeit, Träumerei und Wahnsinn. Sie flüchtete sich aber auch, ganz pragmatisch, in Tätigkeiten, in eine weibliche Praxis. Warum als unvernünftig bezeichnet wurde und wird, daß Frauen einen Haushalt führen, Kinder kriegen und sehr sensibel aufziehen können, usw., ist auch bemerkenswert. Warum soll das eigentlich nichts mit Vernunft zu tun haben? Das ist eine weibliche praktische Vernunft in höchstem Grade. Das soll mal "jemand" nachmachen, das alles miteinander verbinden, und dann noch Philosophie studieren und Philosophie dozieren und ein Gespräch über Vernunft führen ...
(Lachen, Applaus)
M: - Brigitte, das ist wirklich die erweiterte Vernunft, in dem Sinne, wie ich dich verstehe, also, dieses Sich-Ausdehnen ...
B: Wollen wir damit schließen?
M: Ja.
(Lachen, Applaus)
M: (murmelt) Geburt, Geburt ...