Ich bin zum XII. Deutschen Kongreß für Philosophie gereist, der vom 29. 9.-3.10. 1981 in Innsbruck stattfand. »Was machen Sie denn hier«, begrüßte mich überrascht ein durchaus wohlmeinender Ordinarius der Philosophie, »wollen Sie ein bißchen Atmosphäre schnuppern?«. Ja, was mache ich hier. Ich verschaffe mir einen Überblick über das Programm. Es gibt eine Fülle von Vorträgen innerhalb von Sektionen und Kolloquien und auch Rundgespräche: 21 Männer haben bei diesen Veranstaltungen die Diskussionsleitung inne, nur eine einzige Frau ist dabei, die zusammen mit einem Mann ein Rundgespräch leitet, zum Thema »Ethikunterricht in der Schule«. So eingestimmt, wundere ich mich nicht mehr, daß 75 Vorträge von Männern angekündigt sind und ganze 3 von Frauen[1]. Im Publikum allerdings waren Frauen sehr viel zahlreicher, Zahlen liegen mir aber nicht dazu vor.
Vielleicht scheuen die Philosophinnen den Kongreßrummel und sind in ihren philosophischen Instituten geblieben? Die Fachserie des Statistischen Bundesamtes, Reihe 4.4 Personal an Hochschulen gibt darüber für die Bundesrepublik Deutschland Auskunft. Unter den 128 C4-Professoren der Philosophie weist sie für 1981 2 Frauen aus, 1,56%. Deutlich ist der Fortschritt hin zu größerer Gleichstellung der Frauen im Vergleich zu 1980 zu erkennen. Da gab es noch 3 C4-Professorinnen oder 2,17% von insgesamt 138 C4-Professoren der Philosophie. Alle Professorinnen der Philosophie in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin des Jahres 1981 haben bequem in einem Wohnzimmer Platz, 13 sind geladen, das sind 5,37% der insgesamt 242 Philosophieprofessoren. 1980 waren es noch 16 Professorinnen, 6,08% der insgesamt 263 Kollegen.
Wie sehen die Zahlenverhältnisse beim philosophischen Nachwuchs aus? Unter den insgesamt 42 Privatdozenten und Außerplanmäßigen Professoren des Jahres 1981 gab es 3 Frauen, 7,14%. 1980 war es nur eine einzige Frau unter 29 männlichen Kollegen, Gruppenbild mit Dame. Im Mittelbau, unter den 300 Akademischen Räten, Hochschulassistenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern fanden sich 1981 40 Frauen, 13,33%. 1980 waren es 46 unter 350, das sind 13,14%. Prozentual recht gut vertreten sind Frauen allein unter den Tutoren und noch mehr unter den Wissenschaftlichen Hilfskräften mit Abschlußprüfung. 1981 waren von insgesamt 15 Tutoren 5 Frauen, also 33,33%, 1980 waren es 5 von insgesamt 17, also 29,41%. Als Wissenschaftliche Hilfskräfte mit Abschlußprüfung betätigten sich 1981 43,9 Frauen, die damit 39,87% der insgesamt 110,1 "Wasserträger" ausmachten.
Diese Zahlen bedeuten, daß viele der Studentinnen und Studenten der Philosophie während ihres Studiums überhaupt keine weibliche Dozentin der Philosophie zu Gesicht bekommen. An welchen philosophischen Instituten läßt sich überhaupt Dozentinnen[2] begegnen? Meines Wissens gibt es keine Veröffentlichung, in der dies für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin zusammengetragen ist. Ich habe 1982 einen Großteil der Universitäten angeschrieben und um Auskunft über diese und auch noch andere Fragen gebeten. Geantwortet haben mir, leider nicht immer vollständig, Aachen, Bielefeld, Bochum, Erlangen, Nürnberg, Frankfurt, Gießen, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, Kassel, Kiel, Konstanz, Mainz, Marburg, Oldenburg, Regensburg und Saarbrücken. Die Verhältnisse an der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität sind mir bekannt, ebenso wie die von Paderborn. Die in dieser Auswahl von Universitäten beiden größten philosophischen Institute gibt es an der Freien Universität Berlin und in Bochum. An der FUB hatten Studierende der Philosophie 1982 die Möglichkeit, Veranstaltungen bei 12 männlichen Professoren und einer Professorin zu besuchen, sowie bei 10 männlichen und einer weiblichen Angehörigen des Mittelbaus. Professorinnen gibt es an den genannten Universitäten sonst nur noch je eine in Frankfurt und Kiel. In Bochum standen 1982 Veranstaltungen bei 13 männlichen Professoren, sowie bei 17 männlichen und 2 weiblichen Angehörigen des Mittelbaus zur Wahl. An den genannten Universitäten findet sich darüberhinaus nur noch in Hamburg eine Frau im Mittelbau, sowie 2 Frauen in Saarbrücken. Überhaupt keine Frauen sowohl unter den Professoren als auch im Mittelbau philosophischer Institute gab es 1982 an den folgenden Universitäten: Technische Universität Berlin, Erlangen-Nürnberg, Gießen, Göttingen (dort aber eine Privatdozentin), Heidelberg (eine Privatdozentin), Kassel, Konstanz, Mainz, Marburg, Oldenburg, Paderborn und Regensburg. »Mit den männlichen Mitgliedern der Universität redete sie nicht oder fast nicht, sie sah sie nur an; sie spürte sie. Aber vor allem mußte sie die Männer ja hören. Damals fiel ihr daran nichts auf«, schrieb Heide Schlüpmann[3] über ihr Philosophiestudium an der Universität Frankfurt Ende der 60er Jahre. »Die Männer hören« - viel anders kann es heute auch nicht sein.
Nun besteht Studieren nicht nur im Hören, sondern auch im Lesen. Klassikerlektüre: Plato, Aristoteles, Hume, Kant, Hegel, Marx, Husserl, Sartre ... Wo werden im Rahmen philosophischer Seminare schon die Schriften von Wollstonecraft, Tristan, Leporin, Else Wentscher oder de Beauvoir studiert. Ich bitte um Hinweise. Eine Studentin der Philosophie hat sich vorgenommen, sich einen Überblick über die letzten Jahrgänge einiger der renommierten philosophischen deutschen Zeitschriften zu verschaffen. Sie beginnt mit Ratio. »Ratio wendet sich entschieden gegen Skeptizismus und Irrationalismus und dient dem immerwährenden Anliegen der rationalen Philosophie«, indem unter den 13 Artikeln der beiden Hefte des Jahrgangs 1982 einer dabei ist, den eine Frau geschrieben hat; 1981 und 1980 ist ebenfalls jeweils nur ein Aufsatz von einer Frau auszumachen.[4] Die Studentin wendet sich der Zeitschrift für philosophische Forschung, Jahrgang 1982, zu. In Heft 1 finden sich 11 von Männern geschriebene Texte, einer stammt von einer Frau; in Heft 2 sind 2 Texte von Frauen, 6 von Männern; Heft 3 ist »abhanden«; in Heft 4 gibt es nur 10 Artikel von männlichen Autoren.[5] Der Jahrgang 1982 der Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie weist 16 von Männern geschriebene Artikel auf, einzig ein längerer Tagungsbericht wurde von einer Frau verfaßt. Vielleicht arbeiten Frauen lieber rein philosophiehistorisch? Fehlanzeige: Im Archiv für die Geschichte der Philosophie sind 16 Artikel veröffentlicht, keiner ist erkennbar von einer Frau.[6] Dann nimmt die Studentin Rätsel No 2, Zeitschrift für saitische Philosophie, zur Hand. In der zweiten Ausgabe, Herbst 1981, »Die Geheimnisse der Psychoanalyse« sind 4 Artikel von einer einzigen Frau, keiner von einem Mann; nicht anders ist es bei der ersten Ausgabe, Herbst 1979 »Abschied von der Wissenschaft«, 7 Artikel sind von einer Frau, die auch die Zeitschrift herausgibt und vertreibt. Rätsel bekam die Studentin allerdings erst im Frauenbuchladen zu Gesicht, in den sie sich nach der deprimierenden Durchsicht der Zeitschriften in der Bibliothek des philosophischen Instituts der Technischen Universität Berlin zur Erfrauung zurückgezogen hatte.
Vielleicht, daß Frauen nur ungern an der meist zu Karrierezwecken produzierten Langeweile philosophischer Fachzeitschriften mitwirken oder aber ihre Artikel durch das Bewertungsnetz der männlichen Herausgebergremien hindurchgefallen sind.[7] Haben sie stattdessen vielleicht 1982 in größerer Zahl philosophische Monographien auf den Markt gebracht? 19 Neuerscheinungen weist der Prospekt des Alber Verlags für das 1. Halbjahr 1982 aus, keine ist von einer Frau. Bei Vittorio Klostermann sind in den philosophischen Neuerscheinungen des Frühjahrs 1982 2 Bücher von Frauen dabei, 12 sind von Männern. Von den 5 philosophischen Neuerscheinungen des Frühjahrs 1982 der Verlagsgruppe Athenäum, Hain, Skriptor, Hanstein ist eine von einer Frau; im Gesamtverzeichnis dieser Verlagsgruppe von 1980/81 fand ich 23 von Frauen verfaßte philosophische Bücher neben 307 von Männern verfaßten.[8] Felix Meiner hat - abgesehen von seinen Klassikerveröffentlichungen - unter der Rubrik »Texte und Abhandlungen« 38 philosophische Titel in seinem Gesamtprogramm von 1981-82, keiner darunter ist von einer Frau.[9]
Während ich all dies niedergeschrieben habe, ist mir immer beklommener zumute geworden. Es ist ja bekannt, daß es wenig Philosophinnen und überhaupt relativ wenige an den Hochschulen beschäftigte Wissenschaftlerinnen gibt. Dennoch. Es sind erschütternd wenige. Mit empirischer Regelmäßigkeit sind alle Raben schwarz. Wo sind die 273 Frauen, die laut Statistik von 1977 eine Promotion in Philosophie angestrebt haben? Was wird aus den 479 Frauen, die dies 1981/82 als ihr Ziel angaben?[10] Ist »das Weib als spezieller Gefühlsträger nicht zu philosophischer Produktion berufen« bzw. befähigt, wie K. Joel[11] 1896 behauptete? Oder werden Frauen von den männlichen Entscheidungsträgern nicht berufen? Oder sind Frauen während ihres Studiums universitären und anderen gesellschaftlichen Bedingungen, sowie auch Folgen ihrer früheren Sozialisation ausgesetzt, die eine Philosophinnenkarriere behindern?
Es gibt einige, allerdings keineswegs ausreichende, Untersuchungen zur geringen Vertretung von Frauen in den Wissenschaften generell.[12] Demnach sind Studentinnen zu Beginn des Studiums zwar selbstbewußter als ihre männlichen Kommilitonen, gegen Ende des Studiums hat sich dies umgekehrt. Studentinnen kommen schlechter mit unklaren Leistungsanforderungen zurecht, wie sie an den Universitäten vielfach bestehen, sowie mit den die Person reduzierenden, konkurrierenden Verkehrsformen. Studentinnen und Wissenschaftlerinnen erleben, daß sie nicht ohne weiteres wissenschaftlich ernst genommen werden; daß sie nicht in die informellen Netze der Kommunikation einbezogen sind; daß sie weniger gefördert werden und daß wissenschaftlicher Erfolg und die dazu erforderliche Lebensweise in Konflikt sowohl mit eigenen Weiblichkeitsvorstellungen als auch denen der Männer, Freunde und Freundinnen treten und zu einem Leben mit Kindern. Haben Frauen sich dennoch qualifiziert, so machen sie oftmals die Erfahrung, daß ihnen der Zugang insbesondere zu Professorenstellen durch die männlich dominierten Einstellungskommissionen und Kultusministerien erschwert oder sogar versperrt wird.[13]
Untersuchungen, die speziell Philosophinnen gelten, gibt es meines Wissens nicht, obwohl hier spezielle Behinderungen zu vermuten sind. »Daß ich als Frau so einfach Philosophie betreiben wollte - darin mußte ich scheitern«, schreibt Heide Schlüpmann;[14] Erkenntnissuche und Liebe standen für sie in Konflikt - vermutlich nicht nur für Philosophinnenkarrieren ein Hindernis. Erschwerend speziell für Philosophinnen mag etwa sein, daß die Werke der philosophischen Tradition voll frauenfeindlicher Äußerungen sind und die Frauen insbesondere auch als zum Philosophieren ungeeignet erklärt werden. Männliche Interessen- und Bewußtseinslagen durchdringen aber auch weniger offenkundig philosophische Problemstellungen und Positionen. So entsprechen etwa nicht-empirische, absolut sichere Wahrheiten postulierende Konzeptionen in Logik und Erkenntnistheorie herrschaftlichen Verhältnissen; das gegenwärtige kalkülorientierte Paradigma in Logik und Wissenschaftstheorie verdankt sich der Ausgrenzung des Subjektiven und damit einer traditionell den Frauen angedienten Domäne. Die durchaus vorhandenen Werke von Philosophinnen und gerade auch derjenigen, die Ansätze weiblichen Selbstbewußtseins in die Philosophie eingebracht haben, werden kaum tradiert. All dies mag die Möglichkeiten, sich mit Philosophie zu identifizieren, für Frauen beeinträchtigen, ohne daß ihnen die Gründe bewußt sein müssen. Wollen Frauen nicht partiell entfremdet innerhalb männlich geprägter Traditionen philosophieren, so bleibt ihnen nichts weiter übrig, als eigenständige weibliche Perspektiven zu entwickeln. Das kostet mehr Zeit und Kraft als das Männern eher mögliche Sich-Einfügen in philosophische Traditionen, und es bringt ein erhöhtes Risiko des Scheiterns mit sich. Dann der "Mythos" des Philosophen. Zu später Stunde sehen wir ihn sitzen, unablässig aus innerem Drange um Wahrheit ringend, während die Haare ausfallen und die Kollegen aus den Einzelwissenschaften schon ihr professionelles Tagewerk hinter sich beim Bier klatschen. Eine teils lächerliche, teils als genial geachtete Gestalt, im Männermythos des Faust verherrlicht. Gretchens Schicksal ist bekannt. Auch wenn die Realität unserer Philosophieverwalter diesem Bild nicht entspricht, so mag es doch ein wenig Glanz auf diese werfen. Die Philosophin. Zu später Stunde sehen wir sie sitzen, unablässig aus innerem Drange um Wahrheit ringend, während ihre Haare zwar nicht ausfallen, aber ergrauen und die Kolleginnen aus den Einzelwissenschaften schon ihr professionelles Tagewerk hinter sich beim Bier klatschen. Weckt dieses Bild die gleichen Assoziationen wie das des Philosophen? Wäre es für Frauen verlockend, wenn der Abglanz eines solchen Mythos auf sie fiele? Wäre für Männer eine solche Frau verlockend? Wo finden sich literarische Verherrlichungen weiblichen Erkenntnisstrebens? Die »neue frau« ringt sich allenfalls mühsam eine Examensarbeit ab, während ihre Gedanken um den sich entfernenden Geliebten kreisen.[15] Gisela Breitling[16] scheint mir recht zu haben mit ihrer Klage, daß auch in der neuen Frauenliteratur Herz und Schmerz dominieren und die Darstellung intellektueller Arbeit von Frauen zu kurz kommt.
Die Spuren der Philosophinnen verlieren sich in der Bundesrepublik Deutschland also fast unter den Vortragenden eines philosophischen Kongresses, an den philosophischen Instituten, in renommierten philosophischen Zeitschriften und in den Philosophieprogrammen bekannter Verlage. »PHILOSOPHINNEN. VON WEGEN INS DRITTE JAHRTAUSEND«, so heißt das Jahrbuch 1 der Internationalen Assoziation von Philosophinnen, 1982 in Mainz erschienen. Sollte es doch noch andere Wege für die Spurensuche geben?
Eine Assoziation von Philosophinnen. Philosophinnen werden zunächst füreinander, allmählich aber auch für die Öffentlichkeit als Personen mit ihren Gedanken und Schriften erkennbar. Dabei sind auch welche, die den Statistiken entschlüpft sind: Frauen, die philosophisch tätig sind, aber nicht an philosophischen Instituten der Universitäten dafür bezahlt werden, sondern etwa an anderen Universitätsinstituten arbeiten, oder aber in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, in philosophischen Projekten oder aber als freie Autorinnen. Daß Philosophinnen gemeinsam stark sind, mag zwar noch übertrieben sein. Doch das Wissen um andere Philosophinnen ermutigt. Zusammenkünfte auf Symposien der Internationalen Assoziation von Philosophinnen haben Philosophische Frauenforschung und gegenseitige Auseinandersetzung stimuliert. Die Assoziation hat Veröffentlichungsmöglichkeiten erschlossen und ermöglicht philosophiepolitisches Handeln.
Nach jahrtausende alter Tradition patriarchalischen Denkens, das sich vampirhaft von weiblicher Arbeit und Liebe nährte, haben Frauen nun, wo dies verbreitet als Unrecht erkannt ist, mehr als einen historischen Anspruch, ihr eigenes Denken zu entwickeln und dafür auch Ressourcen von der Gesellschaft zu erhalten, auch in einer Zeit knapper werdender Mittel. Im Vergleich zur Vergangenheit allerdings haben Frauen heute weitaus bessere Möglichkeiten zu philosophieren; Liebe muß heute in Deutschland nicht mehr mit einem Hausfrauendasein bezahlt werden oder mit Schattenarbeit im Dienste der Karriere eines Mannes zum Schaden der mit diesem konkurrierenden Frauen; keine Frau muß wie im 19. Jahrhundert unverheiratet in der Gewalt des Vaters oder der Väter verbleiben.
»Ich bin demnach denen, die meines Geschlechts sind, zu zeigen willens, daß sie keinesweges entschuldiget sind, wenn sie (...) ihr Gemüth durch Gelehrsamkeit in bessere Verfassung zu setzen, sich abhalten lassen«, schrieb Dorothea Leporin[17] 1742. Keine Selbstbescheidung, keine Bescheidenheit, Philosophieren.