Ein Symposion von Philosophinnen. Kaum eine der mir bis jetzt persönlich bekannten Frauen interessiert sich für Philosophie, geschweige denn Logik. Philosophinnen sind mir bis auf kurze Begegnungen mit Walesca Tielsch und Eva Cassirer - unbekannte Wesen.[1] Auf meinen Streifzügen durch die Logikliteratur sind mir kaum Autorinnen begegnet; nur an Marcus Barcan, Barth und Anscombe kann ich mich erinnern. Unter frauenbewegten Frauen scheint eine Ablehnung theoretischer Arbeit verbreitet zu sein,[2] zumindest, wenn sich diese mit abstrakteren Problemen befaßt, bei denen viele keine unmittelbare "Betroffenheit" spüren.[3] Dennoch wage ich mich mit dem Thema "Logik und Psychologie" hervor: Es ist zum einen zentral für meine bisherige Denkentwicklung; es berührt die Mängel beider Disziplinen; Konzeptionen der Logik wirken sich auf alle weiteren Wissenschaften und vermutlich auch auf das Denken ganz allgemein in der Gesellschaft aus. Die bisherige philosophisch-wissenschaftliche Entwicklung verdankt sich ganz überwiegend männlichen Sichtweisen und ist damit, zumindest in Teilen auch Ideologieproduktion. Deshalb bedarf die sich als Gegengewicht entwickelnde interdisziplinäre Frauenforschung auch der Reflexion ihrer logischen Mittel und der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Logikkonzeptionen, will sie nicht in ihren Grundlagen in möglicherweise patriarchalen Denkweisen verbleiben.
Das sage ich jetzt. In Berührung mit Problemen der Logik geriet ich dadurch, daß ich mich als Studentin der Soziologie nach einigen Semestern fragte: Wie kann ich überhaupt die Theorien, die mir hier vermittelt werden, beurteilen? Wie kann ich Zusammenhänge zwischen den mir separat nahegebrachten Gebieten meines Studiums erkennen? Wie kann ich eigene Gedanken und Theorien entwickeln? Damit bin ich am Beginn der Geschichte der Entwicklung meines philosophischen Denkens. Und die möchte ich hier in Grundzügen darstellen. Aus dem Bedürfnis des Rückblicks heraus, weil ich denke, daß diese Art der Darstellung anderen, denen das Thema »Logik und Psychologie« bisher ferner war, den Zugang erleichtert, und vielleicht auch ermutigt, eigene Denk-Wege zu gehen.
Meine Fragen bedrückten mich immer mehr. Ich zweifelte am Sinn des Studiums für mich; wollte auf ein rigides Fach umsatteln; wußte zunächst nicht, wie zu Lösungen zu kommen sei; systematisch danach suchen konnte ich nicht. Ein übernommenes Referat zur Sozialstruktur des Mittelalters brachte mich auf die Spur. Ich las zur mittelalterlichen Geschichte, hielt ein und fragte mich: Was ist überhaupt unter "Sozialstruktur" zu verstehen? Die Literatur, die ich dazu fand, erschien mir unbefriedigend; denn ich wünschte mir einen Begriff von Sozialstruktur, mit dem sich alles Soziale erfassen ließe. Ich fragte weiter: Was ist überhaupt Struktur? Über das Buch von E. Kambartel »Erfahrung und Struktur« stieß ich auf Rudolf Carnap's »Der logische Aufbau der Welt«.[4] Carnap's Konzept der »strukturellen Kennzeichnung« faszinierte mich. Danach ist ein Gegenstand nur durch Angabe des Relationengeflechts zu charakterisieren, in dem er steht, so wie Orte auf einer Eisenbahnkarte. Wahrscheinlich war es das Versprechen, die ganze Welt in all ihren Zusammenhängen mit einem Netz auseinander hervorgehender Begriffe einzufangen, das mich an »Der Logische Aufbau ...« so beeindruckte. An dem Wunsch nach einer theoretischen Konzeption, die dies zumindest der Möglichkeit nach leistet, habe ich festgehalten, nicht jedoch an den von Carnap verwendeten theoretischen Mitteln, insbesondere der "Symbolischen Logik".
Zurück zum Mittelalter, zu dem ich erst einmal nicht mehr fand. Aber ich hatte nun für mich einen Gedankenweg erschlossen: Ich wollte mir über mögliche theoretische Mittel wissenschaftlichen Denkens Klarheit verschaffen als Voraussetzung für sozialwissenschaftliche Theoriebildung. Dies konkretisierend entschied ich mich für die Fragenkomplexe: Was sind Urteile? Was ist Handeln? Was ist Kausatität? Denn ich ging davon aus, daß Theorien aus Urteilen bestehen, daß Urteile selbst Ergebnis von Handeln sind und selbst zum Handeln nötig sind, daß Handeln ein kreiskausaler Vorgang ist und daß der Kausalbegriff generell für die Weiterfassung grundlegend sei. Den Gedanken des Handlungskreises hatte mir Werner Loh nahe gebracht, der sich mit ähnlichen Problemen auf ähnliche Art herumschlug und mit dem ich in einen freundschaftlichen Gedankenaustausch trat.
Ich begann mit der Urteils- und Handlungsproblematik. Lange probierte ich herum, wechselte zwischen reflexionsempirischen Analyseversuchen und Lektüre. Ich versuchte, einzelne Urteile und Handlungen zu analysieren, versuchte meine Analysen von Urteilen und Handlungen zu analysieren: stieß auf das Problem des philosophischen Anfangs. Voraussetzungslosigkeit, die von fehlerhaften Annahmen reinigt und absolute Sicherheit verbürgt, war das möglich? Etwa als »Ergreifung des Wirklichen« (Dingler), als »intellectuelle Anschauung«, in der Subjekt und Objekt Eins sind (Fichte), als große Klarheit und Deutlichkeit von Vorstellungen, die auf die Existenz des Vorgestellten verweisen (Descartes) oder als dialektischer Prozeß, der im »absoluten Wissen« mündet (Hegel)? Angesichts meiner Schwierigkeiten, durch Reflexion von Reflexion zu irgendwelchen "Fixpunkten" zu gelangen; angesichts dessen, daß die eben aufgeführten Philosophen zu nichts weniger als mir gewiß erscheinenden Resultaten gekommen waren; angesichts der Kritik von Hans Albert an derartigem "Fundamentalismus", der am Münchhausen-Trilemma scheitere, nämlich entweder dem infiniten Regreß, dem logischen Zirkel oder dem Abbruch des Begründungsverfahrens:[5] entsagte ich dem Bestreben nach absoluten und absolut gewissen Fixpunkten der Erkenntnis. Stattdessen ging ich davon aus, daß ich mit Hilfe der gegenwärtig mir zur Verfügung stehenden, mir sozialisierten Begriffe, Urteile und Fähigkeiten zu Klärungen und Verbesserungen dieser Begriffe, Urteile und Fähigkeiten gelangen könne; so ähnlich wie die Maus im Milchtopf, die solange gespaddelt haben soll, bis sie auf Butter saß.
Am deutlichsten erschien mir das sinnlich Wahrgenommene; wollte ich vom "Gegebenen" ausgehen, von dem, was ich wahrnehme? Aber dann war da für mich dieser Schrank, diese Gardine ... So kam ich nicht zum Urteil. Dann das Kartoffelerlebnis. Ich sah von weitem etwas Dunkles, Rundes am Straßenrand liegen, ein Ball, dachte ich, aber im Näherkommen erkannte ich es als Kartoffel. Oder: Es klingelt an der Tür. Ich erwarte meine Freundin. Die Erwartung selbst ist nicht so sinnlich da, wie etwa das wahrgenommene Dunkle, Runde auf der Straße oder aber meine Freundin. Dennoch ist sie da: Ich kann mich über sie äußern, ich bin in ihr bestätigt oder aber enttäuscht der erwartete Ball entpuppt sich als Kartoffel; statt der von mir erwarteten Freundin steht ein Mädchen mit einer Sammelbüchse fürs Müttergenesungswerk vor der Tür.
Reflexion und Diskussion derartiger Erlebnisse brachten mich zu der alten Auffassung: Ich erkenne Etwas mit Hilfe von Etwas. Das zu erkennende Etwas mochte der "Außen- oder der Innenwelt" angehören. Ich ging von seiner selbständigen Existenz unabhängig vom Erkenntnisakt aus. Wie kam ich dazu, gab es doch Philosophen, beispielsweise G. Berkeley,[6] die der Meinung waren, daß eine vom Wahrnehmen und Denken unabhängige Außenwelt nicht existiere. Dagegen schien mir zu sprechen: die Härte und Widerständigkeit der Außenwelt, die sich nicht meinen Gedanken über das, was sein sollte, fügt; die Tatsache, daß, wenn ich meine Wahrnehmung von einem Gegenstand abwende, dieser für einen anderen, ihm zugewandten Menschen da ist, der mir auch darüber berichten kann; und der Findling dort wird meinen Tod überdauern. Ob die Dinge Vorstellungen im Geiste Gottes sind, wie Berkeley schließlich meinte, schien mir ebenso unentscheidbar zu sein wie die Annahme der Existenz Gottes. Weiter ging ich davon aus, daß Erkenntnisse in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Gegenständen stehen, die sich zwar nicht direkt "haben" lassen, deren Unterschiede aber unterschiedliche Erkenntnisse bedingen.
Ich fragte mich nun, wie sich dieses Etwas, mit dessen Hilfe ich ein anderes Etwas erkenne, charakterisieren lassen möge: zum einen durch Analyse in seine möglichen Bestandteile und zum anderen durch Untersuchung seiner möglichen Relationen zu anderem und insbesondere zu dem zu erkennenden Etwas. Für meine weitere Problementwicklung traf ich die Vorentscheidung, daß an der Erkenntnis der Außenwelt die sinnliche Wahrnehmung und an der der Innenwelt analog eine innere Wahrnehmung beteiligt seien, und daß ich deren Funktionieren nicht differenziert untersuchen wollte, sondern eben Urteile. Auch das Problem, ob nicht Wahrnehmen selbst ein Urteilen sei, jedenfalls aber eng verbunden mit Urteilen auftritt, wollte ich zunächst offen lassen.br "Es wird regnen", "das ist blau", "hier war ein Haus", das schienen mir intuitiv einfache Urteile zu sein. Doch was daran: das Sprachliche, der Satz als das zunächst Auffälligste? Das konnte nicht sein: Meine Erwartung, daß eine bestimmte Person an der Tür geklingelt habe, empfinde ich als bestätigt oder enttäuscht, unabhängig davon, ob ich sie verbalisiert habe. Auch "höhere" Tiere und Kleinkinder können vermutlich urteilen ohne sprechen zu können: Etwas identifizieren und erwarten. Auch wird viel mehr erkannt als verbalisiert.
Ohne dies damals noch recht abschätzen zu können, trennten mich diese Überlegungen und ihre Konsequenzen vom herrschenden linguistischen Paradigma in der Logik mit seiner Parallelerscheinung in der Psychologie, dem Behaviorismus, dem Denken leises Sprechen ist.[7] Die Psychologie hat seit den 60er Jahren eine »kognitive Wende« vollzogen," deren theoretische Grundlagen jedoch mangelhaft bleiben werden, solange die Logik nicht nachzieht und Grundbegriffe der kognitiven Psychologie, wie eben den des Urteils, klären und entfalten hilft.
Von diesem Vorgriff wieder zum Urteil. Primär sprachlich war es meiner Auffassung nach also nicht, nur sprachlich ausdrückbar. Was aber war es dann? "Gedanklich"; im Erkenntnisvollzug kaum bewußt; hier war der Abzweig zur Suche nach der "Gedankensubstanz", zum psychophysischen Problem und den theoretischen Positionen, die sich zu ihm artikuliert haben. Am plausibeisten erschierl mir die folgende Konzeption: »Was wir vom Standpunkt der sinnlichen Wahrnehmung als einen Inbegriff von Bewegungen in bestimmten Teilen unseres Nervensystems erschließen, eben das ist uns in der Selbstwahrnehmung als ein Inbegriff von Bewußtseinsvorgängen (...) gegeben.«[9] Wenn beide Betrachtungsweisen zu relationalen Charakterisierungen ihrer Gegenstände führen, so sind zwischen ihnen Entsprechungen zu vermuten; die selbstreflexive relationale Charakterisierung wird dabei vermutlich "großflächiger" ausfallen; nur introspektive, reflexive Selbsterkenntnis ermöglicht auch Selbstgestaltung; es bedarf reflexiver Untersuchungen des Denkens, um überhaupt etwas zu haben, zu dem neurophysiologische Untersuchungen ins Verhältnis gesetzt werden können. Mit diesen Arbeitshypothesen beruhigte ich mich erst einmal und konzentrierte mich zunächst auf die Analyse von Urteilen und Handlungen.
"Es regnet", "es regnet nicht", "die Blüte des Veilchens wird blau sein", "Birgit und Martin haben sich getrennt", "wenn ich zur Leibnizstraße will, fahre ich am besten mit dem 94er Bus": Die Vielfalt möglicher Urteile schien uferlos. Wie sich da hindurch finden.
Wenn komplexere Urteile spezielle Kombinationen aus einfacheren Urteilen wären, und wenn einfachere Urteile wiederum Kombinationen aus einfacheren Bestandteilen und unterschiedlichen Beziehungen zu anderem wären: So ließe sich Mut fassen.
Oben habe ich als zwei Aspekte der Analyse eines Etwas unterschieden: die möglichen Bestandteile des Etwas und seine Relationen zu anderem. Nun ist beides vermutlich nicht unabhängig voneinander. Urteile stehen in Beziehung zu Gegenständen, die Wahrnehmung (mit)bedingen. Während die Wahrnehmung an die aktuelle Einwirkung von Gegenständen gebunden ist - sonst wird sie zur Halluzination oder zum Traum - sind Urteile auch in Abwesenheit der Gegenstände möglich, auf die sie dennoch bezogen sind. Urteile können in verschiedenen Stadien Gegenstände erwarten, sie vorwegnehmen, sie können in Anwesenheit des Gegenstandes zu einem Gefühl von Bestätigung oder Widerlegung führen und - wieder abgelöst von ihrem Gegenstand - der Erinnerung zugänglich sein. Alle diese Stadien, die ein Urteil insgesamt oder auch nur teilweise durchlaufen kann, können von Gefühlen unterschiedlicher Gewißheit begleitet sein. Welche Bestandteile des Urteils oder auch des Urteilsprozesses leisten diese verschiedenen möglichen Stadien des Gegenstandsbezugs?
Dann: Es gibt eine große Vielfalt möglicher Gegenstände von Urteilen: Dinge, Lebewesen, Merkmale von Dingen und Lebewesen, Relationen, alles in unterschiedlichster Komplexität. Wenn Lebewesen sich urteilend auf Gegenstände beziehen, so bedarf es dazu ebenfalls besonderer Urteilsbestandteile, die die Gegenstände erfassen lassen. Je mehr solcher Bestandteile ein Individuum (oder auch ein Kulturkreis) zur Verfügung hat, desto größer ist seine Urteilskapazität. Diese Etwasse, mit denen ein Urteil Gegenstände erfassen läßt, die etwa in den Beispielen als "regnet", "Wetter" oder "Birgit" zur Sprache kommen, nenne ich "Inhalte". Vermutlich können sie selbst einfach oder aber aus anderen Inhalten oder auch Urteilsverknüpfungen kombiniert sein. Mit Hilfe welcher anderer Etwasse lassen sich nun Inhalte auf Gegenstände beziehen? Ich bedachte folgendes Beispiel: Eines meiner Usambaraveilchen hat eine Blütenknospe angesetzt. Ich nehme an, die Blüte wird blau sein. Eines morgens komme ich ins Zimmer, mit Erstaunen sehe ich, die Blüte ist rosa, nicht blau.
In vielen Urteilstheorien wird davon ausgegangen, daß zu einem Urteil mindestens ein Subjekt und ein Prädikat gehören, wie in "die Blüte ist rosa".[10] Ich gelangte jedoch zu der Auffassung, daß in diesem Satz zwei Urteile zur Sprache kommen, die sich sprachlich unvollkommen ausdrücken ließen als "Blüte ist" und "rosa ist" und die in spezifischer Weise miteinander verknüpft sind.
Zunächst möchte ich nur die Urteilstransformationen untersuchen, die von "blau wird sein" zu "rosa ist", "blau ist nicht" reichen. "Blau wird sein", in diesem Stadium ist das Urteil noch nicht mit einer Farbwahrnehmung der Blüte in Zusammenhang gebracht worden; das geschieht dann im zweiten Stadium mit dem Ergebnis "rosa ist", "blau ist nicht", in dem, begleitet von einem Gefühl des Erstaunens, sich das ursprüngliche Urteil verändert. Es hätte auch anders kommen können: Die Blüte hätte in der Tat blau sein können, ich hätte mich bestätigt gefühlt; oder ich hätte erwartet, die Blüte "wird nicht blau sein" und dabei an rosa oder weiß[11] gedacht, in diesem Fall hätte mich eine blaue Blüte erstaunt, eine nicht blaue Blüte aber bestätigt.
Wie mag dies nun zu modellieren sein: Zunächst bin ich davon ausgegangen, es besteht ein Inhalt, "blau", dann wird er mit dem Eindruck des gemeinten Gegenstandes, hier der Farbe, verbunden und je nachdem, wie der Gegenstand beschaffen ist, fällt das Ergebnis der Verbindung positiv aus, ich fühle mich bestätigt, der Inhalt läßt den Gegenstand, auf den er bezogen worden ist, erfassen; oder aber das Ergebnis fällt negativ aus, ich bin erstaunt, fühle mich widerlegt, was dann zur Negation des ursprünglichen Inhalts und zu einem Urteil neuen Inhalts, etwa "rosa ist" führen mag. Dieses Konzept wird aber den folgenden Überlegungen noch nicht gerecht: Zum einen kann mein antizipierendes Urteil auch negativ sein; mein Ergebnis der Bestätigung oder Widerlegung wird dann nicht nur von der Verbindung zwischen Inhalt und Wahrnehmung des Gegenstands abhängig sein, sondern dazu auch von der Negation. Ich würde mich dann bestätigt fühlen, wenn das Ergebnis der Verbindung zwischen Inhalt und Form negativ wäre. Zum anderen vermute ich, daß auch bei positiven Urteilen Bestätigung und Widerlegung nicht allein als Resultate der Verbindung von Inhalt und Wahrnehmung des Gegenstands aufzufassen sind, sondern daß hier analog der Negation des negativen Urteils eine "Position" mitverknüpft wird; mit Hilfe dieser Position könnte ebenso wie mit der Negation - eine Antizipation des zu erwartenden Verbindungsergebnisses von Inhalt und Wahrnehmung des Gegenstands geleistet werden; damit ließe sich auch ein Urteil von einem bloßen Inhalt unterscheiden. Das folgende graphische Modell mag die bisherigen Überlegungen veranschaulichen:
Die Ergebnisse von Bestätigung oder Widerlegung eines Urteils nenne ich Wahrheit bzw. Unwahrheit; sie können richtig oder falsch zustande gekommen sein. All die Etwasse im Denkprozeß, die zwei Zustände annehmen können, Position und Negation, und die je nach Stellung im Relationengeflecht beispielsweise Unwahrheit oder Urteilsnegation sein können, bezeichne ich als Formen.
Diese Konzeption eines einfachen Urteils führt nun zu zahlreichen Folgeproblemen. Wie unterscheidet sich ein Urteil von einer Zielsetzung, die ein Etwas ist, durch das ich ein anderes Etwas verwirklichen möchte? Wie hängen Urteils- und Zielsetzungsprozesse zusammen? Ich kam zu dem Ergebnis, daß sich Urteile und Zielsetzungen nicht durch ihre Bestandteile Inhalt und dazugehörige Form unterscheiden lassen, sondern durch die Beziehungen, in denen sie zu anderem stehen; den beide umfassenden Oberbegriff nenne ich "Intention". Bei Nichtentsprechen von Urteil und Gegenstand wird das Urteil geändert, bei Nichtentsprechen von Zielsetzung und Gegenstand hingegen wird versucht, auf den Gegenstand einzuwirken, zu handeln, bis er der Zielsetzung entspricht. Vergleichbar der Wahrheit und Unwahrheit beim Urteil kommt es hier zu Ergebnissen von Richtigkeit und Falschheit. Dazu ist, wie beim Urteil, Wahrnehmung des Gegenstands erforderlich und vermutlich auch deren Weiterverarbeitung in Urteilen; der Urteilsprozeß und insbesondere das Wahrheitsergebnis werden selbst Gegenstand von reflexiven Zielsetzungen sein, nämlich Wahrheit zu wollen. Damit hatte ich auch mein zweites Problem, was Handeln sei, im Grundzug für mich geklärt.
Im folgenden Schaubild ist ein Handlungskreis skizziert:
Weitere Folgeprobleme der Urteilskonzeption beschäftigten mich: Die Stadien der Verbindung von Intention und Gegenstand - ich spreche hier auch von Modalitäten - sind zu benennen und in ihren möglichen Bedingtheitenzu erkennen. Existiert eine Intention, so ist sie vor einer Verbindung mit ihrem Gegenstand in Möglichkeit, während der Verbindung in Evidenz,[12] hernach, solange das Ergebnis erinnert wird, ist sie perfekt. Möglichkeit und Perfektheit können - bei gegebenem, der Wahrnehmung zugänglichem Gegenstand - durch meine Einstellung auf den Gegenstand bedingt sein oder aber, bei gegebener Einstellung dadurch, daß der Gegenstand noch nicht erschienen bzw. wieder verschwunden ist. Von welchen Bedingungen kann das Zustandekommen der Urteilsevidierung abhängen? Wie kann ein Urteilsgegenstand aufgefunden werden? Von welchen Bedingungen kann ein Wahrheitsergebnis abhängig sein? Alle diese Bedingungen zusammen habe ich "Geltungsbedingungen" eines Urteils genannt. Diese können in weiteren Urteilen bestehen. So ist im Beispiel "die Blüte des Veilchens wird blau sein" die Evidierung der Urteile "Veilchen ist" und "Blüte ist" Bedingung sowohl des Auffindens des Gegenstands als auch der Evidierung des Urteils "blau wird sein". Wie weiß die urteilende Person, an weichem Gegenstand ein Urteil zu evidieren ist? Was ist als Gegenstand negativer oder unwahrer positiver Urteile anzusehen? Ich erspare es mir und meinen Leserinnen und Lesern, hier ausführlicher zu werden und komme nun zu meinem dritten Problem, dem der Kausalität, auf das ich hier nur sehr verkürzt eingehen kann.
Etwasse entstehen, verbleiben in Zuständen und Beziehungen, ändern diese und vergehen durch Einflüsse anderer Etwasse. Ich habe mit dem Begriff der Kausalität zunächst all dies, dies Knäuel von Abhängigkeitsbeziehungen, gemeint, das unsere Welt ausmacht und auch zu einer großen Vielfalt von Kausalbegriffen geführt hat. Auf zwei Weisen ließe sich dem Verständnis von Kausalität näher kommen. Eine Möglichkeit besteht in "direkter" Analyse und Verallgemeinerungen von intuitiv als kausal eingeschätzten Sachverhalten; auf dieser Ebene liegen Urteile derart, daß es Ereignisse seien, die in Kausalbeziehungen stehen würden, die dabei einander zeitlich abfolgten usw. Als andere Möglichkeit läßt sich Kausalität "indirekt" charakterisieren, nämlich durch Reflexionsurteile darauf, wie Kausatität gedanklich erfaßt werden mag.[13] Auf dieser Ebene liegt beispielsweise die Äußerung Humes, daß es sich bei der Kausalvorstellung um »eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung im Denken oder der Einbildung zwischen einem Gegenstand und seiner üblichen Begleitung«[14] handele. Beide Vorgehensweisen scheinen mir auf einander angewiesen zu sein. Ich habe mich stärker auf die Problematik der gedanklichen Erfassung von Kausalität konzentriert.
Eine Billardkugel K1 ist in Ruhe. Eine zweite Billardkugel K2 bewegt sich auf die erste zu, berührt sie und nun ist K1 in Bewegung und K2 in Ruhe. Dies schien mir Beispiel eines Kausalprozesses zu sein. Die Änderung von Ruhe zu Bewegung der K1 führte ich als Ursache auf die Bewegung von K2 als Wirkung zurück - bestimmte Randbedingungen vorausgesetzt. Das jeweils verursachte Etwas wäre nicht ohne das jeweils wirkende Etwas gewesen. Das läßt sich nur aufgrund einer Unterstellung der Gesetzmäßigkeit von Kausalbeziehungen überprüfen, die mir von bisherigen Erfahrungen und wohl auch bedingt durch die Deutungsmuster unserer Kultur nahegelegt schien.
Im Erkennen von Kausalität werden verursachendes und verursachtes Etwas vermutlich jeweils durch mindestens ein Urteil erfaßt. Wie mag nun aber die kausale Beziehung selbst urteilend erfaßt werden? Mit Hilfe einer spezifischen Beziehung zwischen den Urteilen, die diese Etwasse zum Gegenstand haben, so nahm ich an. Hoffnungsfroh wandte ich mich an die Aussagenlogik, in der es um die Verknüpfung von Aussagen gehen soll. Doch in vieler Hinsicht wurde ich zunächst enttäuscht. Ich stellte fest, daß die Aussagenlogik gar nicht von Urteilen handelte, daß sie sich mit äußerst dürftigen Angaben zu Fragen wie denen, was Wahrheit sei, was eine Aussage sei, was eine Verknüpfung zwischen Aussagen sei, inwiefern zwei verknüpfte Aussagen wieder eine Aussage, die selbst wahr sein könne, ergeben usw., ja, daß es ihr eigentlich nur auf den Formalismus ankommt,[15] daß sie zur Charakterisierung von Gesetzlichkeit und Kausalität teils fälschlich benutzt, teils - zu Recht - als unbrauchbar galt. Gut gefiel mir aber, daß die Aussagenlogik auf der Kombinatorik zweier Etwasse beruht, wie dies die Wahrheitstafeln darstellen.[16]
Dennoch hielt ich an meiner Hypothese fest, daß Kausalität mit Hilfe von miteinander verknüpften Urteilen erfaßt und über diese charakterisiert werden kann. In Auseinandersetzung mit der Aussagenlogik erweiterte ich meine Konzeption einfacher Urteile und ihrer Bewahrheitung zu einer Konzeption von Verknüpfungsurteilen. Die Wahrheitsergebnisse von Einzelurteilen können miteinander verknüpft werden, dabei bestehen die auch in der üblichen Aussagenlogik angenommenen sechzehn Möglichkeiten, das Verknüpfungsergebnis von den Wahrheitsergebnissen der Einzelurteile abhängen zu lassen; dies wird vermutlich aufgrund einer jeweiligen Verknüpfungszielsetzung, wie "oder", "wenn - dann", "und" usw. erhandelt; dieses Verknüpfungsergebnis wird durch eine zu den beiden Einzelurteilen hinzukommende Urteilsform antizipiert - analog der zum Inhalt gehörenden Form beim einfachen Urteil - die mit dem Verknüpfungsergebnis zum Wahrheitsergebnis des Verknüpfungsurteils verknüpft wird. Gemäß der Aussagenlogik ist eine Aussageverknüpfung mit mehreren Wahrheitsmöglichkeiten dann wahr, wenn eine dieser Wahrheitsmöglichkeiten realisiert ist. Darum kann auch die "wenn dann"- Beziehung, die Implikation, Gesetzlichkeit oder Kausalität nicht erfassen. »Wenn der Mond blau ist, so ist mein Schreibtisch schwarz«;[17] das ist nach der Aussagenlogik eine wahre Implikation. Eine lmplikation ist dann wahr, wenn 1. beide der zu verknüpfenden Aussagen wahr sind, wenn 2. die erste Aussage unwahr und die zweite Aussage wahr sind, und wenn 3. beide Aussagen unwahr sind; sie ist unwahr, wenn die erste Aussage wahr und die zweite unwahr sind. Da der Mond nun einmal nicht blau ist, entfällt für diese Implikation die Möglichkeit, daß sich die Fälle 1. und 4. realisieren.
Nun drückt diese Implikation keinen gesetzmäßigen Zusammenhang, keine Abhängigkeit zwischen der Bläue des Mondes und der Schwärze des Schreibtisches aus, wie es üblicherweise mit "wenn-dann" - Formulierungen beabsichtigt wird. Die aussagenlogische Implikation läßt nicht zwischen "wenn-dann"-Aussagen, die Abhängigkeiten zwischen Etwassen behaupten, und solchen konstruierten Aussagen, die das nicht tun, unterscheiden. Doch die übliche Aussagenlogik schöpft nicht alle Kombinationsmöglichkeiten aus. Indem für sie eine Verknüpfungsaussage mit mehreren Wahrheitsmöglichkeiten bereits dann wahr ist, wenn nur eine dieser Wahrheitsmöglichkeiten verwirklicht ist, hat sie keine der Möglichkeiten genutzt, die vier möglichen Wahrheitsergebnisse des Verknüpfungsurteils untereinander noch einmal zu verknüpfen. Hingegen ist es auch etwa denkbar, daß Verknüpfungsurteile nur dann als wahr gelten, wenn alle ihre Wahrheitsmöglichkeiten realisiert worden sind und keiner der Fälle aufgetreten ist, in denen einzelne Wahr-/Unwahrheitskombinationen der zu verknüpfenden Urteile zur Unwahrheit führen. Danach lassen sich bei einer Verknüpfungsaussage Einzelfall und Gesamtwahrheitsergebnisse unterscheiden. In der Literatur kaum beachtet, fand ich die Grundgedanken dieser Konzeption bei Hans Reichenbach, der ebenfalls davon ausging, daß diese, von ihm »connective« genannte Interpretation von Aussageverknüpfungen im Gegensatz zur üblichen, von ihm als »adjunctive« bezeichneten, Grundlage einer angemessenen Rekonstruktion von Aussagen über gesetzmäßige Zusammenhänge sei.[18] Die Leserinnen und Leser mögen selbst probieren, ob sich; »wenn der Mond blau ist, so ist mein Schreibtisch schwarz« auch als konnektive Implikation auffassen läßt. Auf Grundlage der Konzeption konnektiver Verknüpfungsurteile und der hier nur angedeuteten Konzeption von Geltungsbedingungen von Urteilen bin ich zu Ansätzen der Charakterisierung von Gesetzlichkeit und Kausalität gelangt, die mich erst einmal befriedigten; dabei muß ich es hier belassen.
Die Begegnung mit der Aussagenlogik hatte mir deutlich gemacht, daß ich mich mit meiner Problementwicklung aus herrschender Sicht in ein großes Fettnäpfchen[19] begeben hatte. Trotz der rituellen Warnungen in einem Großteil der Logikliteratur war ich anscheinend »in einen Psychologismus (...) verfallen«,[20] obwohl »die psychologische Auffassung oder vielmehr Fehldeutung der Logik (...) nach Frege und Husserl als abgetan gelten«[21] darf. Bei mir ist die Rede von Urteilen; Wahrheit wird als Ergebnis eines Urteilsprozesses angesehen, statt in ein "objektives" Reich verlegt.; Logik betrachte ich als reflexionsempirische, nicht als apriorische Wissenschaft.
Als ich den eben dargestellten Denkweg in Grundzügen durchlaufen hatte, fragte ich mich, was ich damit "anfangen" könnte. Ich entschied mich, ein Buch zu schreiben. Es wurde schließlich auch meine Dissertation daraus.[22] Da meine Gedanken mir vom herrschenden Logikverständnis ziemlich abzuweichen schienen, hielt ich es für erforderlich, das gegenwärtige Paradigma in der Logik und geschichtliche Bedingungen seiner Durchsetzung genauer zu untersuchen, allein schon, um überhaupt verstanden zu werden und mich nicht kampflos unter dem Etikett des Psychologismus aus der Logik aussortieren zu lassen.
E. Husserl schrieb 1900: Es »hat von den drei Hauptrichtungen, die wir in der Logik finden, der psychologischen, der formalen und der metaphysischen, die erstgenannte in Beziehung auf Zahl und Bedeutung ihrer Vertreter ein entschiedenes Übergewicht erlangt«.[23] Mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und dem Erscheinen von Husserl's »Logischen Untersuchungen, Bd. 1« ebbten psychologisch orientierte Logikansätze in Deutschland allmählich ab[24] doch taucht bis heute immer wieder einmal ein Buch, ein Aufsatz auf, die explizit oder häufiger noch implizit in dieser Tradition stehen. Es gab unterschiedliche psychologisch orientierte Logikverständnisse. Einmal wurde Logik als Lehre vom Denken und damit als Teilgebiet einer auf innere Erfahrung gegründeten Psychologie aufgefaßt.[25] Andere Autoren bestimmten Logik als Wissenschaft vom richtigen Denken, von den Normen des Denkens, vom wissenschaftlichen Denken u. ä., und wollten sie zumindest auf Psychologie als der Untersuchung tatsächlichen Denkens gründen.[26] Diese Logiken hatten typischerweise einen Einleitungsteil, in dem grundlegende Bestimmungen der Logik und ihres Verhältnisses zu anderen Wissenschaften, wie Psychologie und Sprachwissenschaft erörtert wurden; Hauptgegenstände waren Begriffe und vor allem Urteile und Schlüsse. Husserl glaubte, mit seinen »Logischen Untersuchungen« die »Unhaltbarkeit einer jeden, wie immer gearteten Form von empiristischer oder psychologistischer Logik (...) dargetan zu haben«.[27] Psychologie sei eine empirische Realwissenschaft, ihre Gesetze würden durch Induktion begründet, seien nur wahrscheinlich und entbehrten der Exaktheit, der Psychologismus sei ein skeptischer-Relativismus. Der Psychologismus sei haltlos, weil Logik keine Real-, sondern eine apriorische Idealwissenschaft sei, ihre Gesetze »nicht durch Induktion, sondern durch apodiktische Evidenz (...) Begründung und Rechtfertigung« finden[28] »gerechtfertigtsind nicht bloße Wahrscheinlichkeiten ihrer Geltung, sondern ihre Geltung oder Wahrheit selbst«,[29] auch seien die »logischen Gesetze (...) von absoluter Exaktheit«;[30] dem Relativismus entgegnete Husserl: »Was wahr ist, ist absolut, ist "an sich" wahr; die Wahrheit ist identisch Eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.«[31]
Am Schluß des ersten Bandes der »Logischen Untersuchungen« entwickelte Husserl dann programmatisch die Konzeption einer "reinen Logik", die auf der Arbeitsteilung zwischen Mathematiker und Philosoph beruhen solle, und propagierte damit implizit das Bündnis von formaler und metaphysischer[32] Logik im Kampf gegen die psychologische Logik.
Eine Fülle von Schriften nahm in den folgenden Jahren auf die »Logischen Untersuchungen« Bezug. Es wurde zum liebsten Geselischaftsspiel deutscher Philosophen der Jahrhundertwende, sich selbst vom "Psychologismus" zu distanzieren und andere des "Psychologismus" zu zeihen. Der Psychologismus bröckelte.
Es kam zu Konversionen dezidierter Psychologisten. Th. Lipps, der in seinen »Grundzügen der Logik« 1893 Logik zu einer »Sonderdisziplin der Psychologie« erklärt hatte, hat sich in Schriften von 1905 und 1906 auf Husserls Platonismus zubewegt; 1906 findet die »Psychologie als reine (...) Geisteswissenschaft (...) auf dem Wege des Denkens ein transzendentes Ich, das Ich an sich, das allen individuellen Ichen gegenübersteht, und für alle und zugleich, soweit es in ihnen ist, in allen eines und dasselbe ist«.[33] In seinen »Grundtatsachen des Seelenlebens« von 1883 etwa oder in den »Grundzügen der Logik« von 1893 ward ein solches Ich noch nicht gefunden.
Andere hervorragende Vertreter psychologisch orientierter Logikauffassungen bekehrten sich zwar nicht zum Platonismus, verteidigten den Psychologismus aber auch kaum explizit; sie definierten ihn um, um sich von ihm zu distanzieren, verhielten sich den »Logischen Untersuchungen« gegenüber widersprüchlich, lavierten. So schrieb der einflußreiche, als Hauptbegründer der experimentellen Psychologie geltende W. Wundt 1910: »In der Tat muß man wohl den Einwänden Husserls gegen den Psychologismus in der Logik in allem wesentlichen beistimmen.«[34] Andererseits meinte Wundt: »So ist denn Husserls Unternehmen einer "reinen Logik" zweifellos als gescheitert zu betrachten. (...) Denn die Grundlegung der Logik, die hier versucht wird, ist im Prinzip verfehlt.«[35] W. Jerusalem schätzte 1905 Husserls Argumentation in den »Logischen Untersuchungen« wie folgt ein: »Husserl (...) widerlegt alle anderen Auffassungen (...) einfach damit, daß jede Ansicht, die sein Dogma leugnet oder mit diesem sich unvereinbar zeigt, eben deshalb falsch sein muß. Alles, was Husserl auf ungefähr 200 Seiten gegen den Psychologismus vorbringt, ließe sich etwa in folgendem Syllogismus zusammenfassen: Die Theorie, welche die logischen Gesetze für Wahrheiten erklärt, die a priori mit Evidenz erkannt werden, ist richtig. Die psychologistischen Theorien erklären die logischen Gesetze nicht für solche Wahrheiten. Also: Die psychologistischen Theorien sind nicht richtig. (...) Seine ganze Polemik gipfelt in diesem Syllogismus, dessen Übersatz nirgends begründet, sondern für ihn dogmatisch feststeht.«[36] Gemäß dieser Charakterisierung von Husserls Argumentation, die ich für zutreffend halte, ist Wundts - übrigens von W Stegmüller[37] wiederholte - Entkopplung der Wertschätzung für Husserls Kritik am Psychologismus und seiner Konzeption von Logik widersprüchlich.[38]
Ein harter Kern psychologisch orientierter Logiker griff Husserl offensiv an, so der schon erwähnte W. Jerusalem, der der Kritik absolutistischer Logikkonzeptionen und insbesondere Husserl ein ganzes Buch als »Ruf im Streite« widmete. C. Sigwart, dessen normativ orientierte »Logik« von Husserl als »das führende Werk der neueren logischen Bewegung« apostrophiert worden war, schrieb in der Neuauflage u. a.: »Wahr oder falsch im ursprünglichen Sinne des Wortes kann immer nur eine Behauptung, eine Meinung sein; eine Meinung, eine Behauptung aber setzt doch notwendig ein denkendes Subject voraus, das diese Meinung hegt und diese Behauptung ausspricht. "Sätze" zu selbständigen Wesenheiten hypostasieren ist Mythologie.«[39] Kurz nach Erscheinen dieser Neuauflage 1904 ist Sigwart schon gestorben. B. Erdmann, ein weiterer herausragender Vertreter eines psychologisch orientierten normativen Logikverständnisses entzog sich in der Neuauflage seiner »Logik« von 1907 - aus Resignation oder aber aus Oberzeugung von der Güte des eigenen Logikverständnisses? - einer Auseinandersetzung mit den Worten: »ich finde, daßeine Einzelkritik auf der Grundlage so verschiedenartiger Voraussetzungen fruchtlos ist. Die Entscheidung liegt in solchen Fällen nicht in den Streitenden, sondern in den Unbeteiligten der jüngeren Generation.«[40]
Die nachfolgenden Generationen machten die formalistische - oder wie ich es nennen möchte die kalkülistische Logik zur vorherrschenden. Die Logik sollte, so R. Carnap 1934, »aus dem Chaos der subjektivistischen philosophischen Probleme auf den festen Boden der exakten syntaktischen Probleme gestellt werden«.[41] Als "kalkülistisch" bezeichne ich die Logik der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit deshalb, weil ihr die Aufstellung oder auch Untersuchung von Kalkülen Zweck ist. Ein Kalkül gilt als »ein System von Zeichen mit dazugehörigen Operationsregeln«.[42] Für manche Autoren hat die Logik nur von Kalkülen, ohne alle Deutungsbezüge, zu handeln, das ist reiner Kalkülismus; für andere ist ein Kalkül nur dann ein Logikkalkül, wenn er in bestimmter Weise logisch deutbar ist, sei es etwa als platonistisches Gedankenreich, oder aber auch als Umgangssprache; das ist gedeuteter Kalkülismus.
Warum riß die Tradition theoretisch-empirisch-psychologisch orientierter Richtungen in der Logik ab; warum setzte sich der Kalkülismus durch? An der wissenschaftlichen Güte der Argumente Husserls lag es jedenfalls nicht. Viel eher schon an dem Ende des 19. Jahrhunderts sich vollziehenden Prozeß der Trennung der Psychologie von der Philosophie und umgekehrt, sowie den damit verbundenen Problemen der Identitätsfindung von Disziplinen und Forschern, die bisher beides betrieben hatten und nun in die Situation kamen, sich stärker für das eine oder aber das andere entscheiden zu müssen. Die Philosophie wollte die Logik der Psychologie nicht als Mitgift überlassen; die Psychologie, die primär über das Experiment ihre Identität zu gewinnen suchte, wollte sie schließlich auch gar nicht.[44] Waren Gegenstände der Psychologie ursprünglich Kernbereiche der Philosophie, so mußte diese durch die Ausdifferenzierung der Psychologie sich bedroht, in ihrer Existenzberechtigung getroffen fühlen.[45] Da kamen Konzeptionen wie die der Idealen Welten und der apriorischen Erkenntnis gerade recht, um wieder an die Besonderheit der Philosophie glauben zu können. Der Kalkülismus konnte über den gedeuteten Kalkülismus nicht nur alle möglichen Konzeptionen "inhaltlicher" Logiken integrieren, aber auch schwächen, weil er Kalküle zum Ersatz für Theorien über Logisches machte - allein die psychologisch orientierte blieb weitgehend, aber auch nicht völlig ausgeschlossen -, er brachte es auch zu einer beeindruckenden Fülle von Formelfriedhöfen, seit dem 2. Weltkrieg noch durch ihre Nützlichkeit für die Computerherstellung legitimiert. In der neopositivistischen Philosophie war der "modernen symbolischen Logik" die Funktion eines Korsetts für die anderen Wissenschaften zugedacht, die dadurch zur "Einheitswissenschaft" werden sollten; auch wenn da immer noch viel Fett übersteht, so scheint mir dieses Programm nicht ohne Wirkungen geblieben zu sein. Eine wissenschaftlich-philosophische Richtung, die gegen Selbstreflexion angetreten ist, ist antiemanzipatorisch, wenn denn Erkennen und bewußtes Verändernwollen des eigenen Denkens und Handelns und des Denkens und Handelns anderer Komponenten von Emanzipation als der Zunahme von Freiheit sind. Ich plädiere dafür, kritisch an die verschüttete Tradition psychologisch orientierter Logik anzuknüpfen, die theoretische, ref lexionsempirische Erforschung des Denkens, der intentionalen Prozesse in ihren Abhängigkeitsverhältnissen, zum Zweck der Logik zu machen als Grundlage für ein reflexionsbegleitetes, umfassendes und empirisch orientiertes kombinatorisches Philosophieren, das kombinatorische Frauenforschung einschließt.[46]