Zum Phänomen der »nouvelle philosophie«

Inzwischen sind es etliche Jahre her seit die-Neuen Philosophen sich selber diesen Namen gaben. Eine Handvoll junger Leute zählte sich dazu. Bald wurden sie Zielscheiben positiver wie auch negativer Angriffe. Aber gerade diese tägliche Auseinandersetzung ließ aus ihnen ein "Phänomen" werden. Ihre ablehnende Haltung der Politik gegenüber - in einer Zeit, in der in Paris "Intellektueller" nur sein konnte, wer sich "links" engagierte; in der Frankreich sich auf die Wahlen (März 1978) vorbereitete-machte ihr Auftreten zu etwas höchst Brisantem. Die Unzufriedenheit mit dem üblichen politischen Gebaren trugen sie nicht nur still in ihren Köpfen herum, sondern gaben ihr laut Ausdruck. Und sie wurden von vielen verstanden. Weil die Neuen Philosophen das ausdrückten, woran viele Menschen heimlich litten, wurden sie buchstäblich über Nacht bekannt. Um in Paris nicht nur im kleinen Freundeskreis einen Namen zu haben, braucht es etwas, das unter die Haut geht, das existenzielt betrifft. Bei den Neuen Philosophen war dies der Fall. Entsprechend erhitzte sich die Tages-Diskussion um sie monatelang.
Das Phänomen "nouvelle philosophie" blieb nicht auf Frankreich beschränkt. Man wurde auf sie aufmerksam, in den unmittelbaren Nachbarländern Frankreichs, aber auch über dem Ozean. Die Neuen Philosophen brachten ja Probleme und Fragen neu zur Sprache, die von allgemein menschlichem Interesse sind: Macht, Schuld, Menschenrechte, Politik, etc. Der französische Hintergrund beeinträchtigte den universalen Gehalt nicht, im Gegenteil. Das französische Kolorit ließ deutlich werden, daß andere Kulturkreise ihre Antwort, aber aus einem gemeinsamen menschlichen Geist heraus, finden müssen.
Inzwischen ist die Neue Philosophie bereits in ein zweites Stadium getreten. Die Wahlen sind vorbei und damit auch die Tages-Aktualität. Wer aber die Pariser Zeitungen und Magazine verfolgt, stellt fest, daß die Nouvelle Philosophie immer noch präsent, ja tonangebend ist. Die Sprache ist zwar ruhiger geworden, die Themen werden umsichtiger angegangen, aber es wird mit dem alten Elan um philosophische Einsichten gerungen.

1. Französische Geistesart

Die Neue Pilosophie ist immer noch mehr eine neue Tendenz im Philosophieren als ein neues philosophisches System. Ausgelöst durch einige junge Männer und einer Frau, signalisierte sie für Frankreich nicht nur eine eigentliche Tendenzwende dem Marxismus gegenüber, sondern auch gegenüber dem traditionellen Wissenschaftsverständnis, der Rolle des Intellektuellen, der üblichen Auffassung von Geschichte und Moral. Vorläufig ist die Neue Philosophie aber noch ein mehr oder weniger typisch französisches Phänomen, eingebettet in französischen Geist, genährt von französischem Lebensgefühl, getragen von französischen Intellektuellen. Deswegen sei zuerst kurz dazu etwas gesagt.
Wenn der Franzose kritisch nach sich selbst und nach seiner Geschichte fragt, spricht er u. a. von der Qual, von der Trauer, sogar von der Schande, aber nicht zuletzt auch vom Ruhm, Franzose zu sein. Das alles zusammen sich vorzustellen oder gar im Gefühl nachzuvollziehen, ist nicht leicht, wenn man es nicht schon selber erlebt hat. Französische Kultur ist pulsierendes Leben, das immer weiter treibt, oft befreiend, ständig neue Horizonte eröffnend. Obwohl das Leben bis in feinste Äußerungen hinaus durchgeistigt erscheint, hat es doch nicht an Vitalität verloren. Feiner Humor, Freude am Neuen, spontanes Reagieren auf Ideen und Strömungen sind Ausdruck französischer Lebensart. Modeströmungen kommen und gehen ohne Bleibendes zu zerstören. So kommt eine große Vielfalt zustande, verbunden mit einer erstaunlichen Fähigkeit, all dem auch Ausdruck geben zu können, und zwar in einer clartö, die so nur dem Franzosen eigen sein dürfte. Auguste Rodins Gestalten, deren Formen mit Licht und Schatten spielen, können dafür Symbole sein.
Französisches Lebensgefühl vereinigt viele Seiten in sich, von denen das Revolutionäre und die gestaltende Kraft besonders zu erwähnen sind. Beide stehen im Dienste der Freiheit. Der Franzose erlebt Freiheit nicht nur innerlich, er kann sie buchstäblich sehen, erleben, vor allem in den geistigen Produkten. Natürlich gibt es auch in Frankreich Gesetze, Verwaltung, Bürokratie, mit den entsprechenden Apparaten. Aber im Grunde möchte sich der Franzose immer davon befreien. Er ist gegen alles, was das Leben einengt oder gar mechanisiert. Er begeistert sich immer noch an der "großen Revolution" von 1789 und ist stolz auf die verschiedenen kleineren auf den verschiedensten Gebieten. Das schließt den Hang zu klaren Verhältnissen nicht aus. Freiheit will immer neu errungen sein, und so braucht es auch immer von neuem deren Begrenzung. »Schöpferische Entwicklung« lautet der Titel eines Buches Henri Bergsons. Schöpferische Entwicklung ist auch das Lebensprinzip sehr vieler Franzosen. Deshalb konnte Jules Michelet "gest. 1874" schreiben: »On n'en a jamais fini avec la France.«
Das Prestige des Intellektuellen, insbesondere des Schriftstellers und Philosophen, ist in Frankreich einzigartig und mit anderen Ländern kaum vergleichbar. Heinrich Mann meinte einmal: »Sie haben es leicht gehabt, die Literaten Frankreichs, die, von Rousseau bis Zola, der bestehenden Macht entgegentraten: sie hatten ein Volk. Ein Volk mit literarischen Instinkten, das die Macht bezweifelt.« Bis vor kurzem galten die Schriftsteller fast als tabu. Ihnen wird noch heute vieles zugute gehalten, Irrtümer verzeiht man. Als sich z. B. Sartre im Algerien-Krieg mit den Befreiungskämpfen solidarisierte, hütete sich de Gaulle, ihn vor ein Gericht zu stellen. »Man verfolgt nicht Voltaire«, soll er bloß gesagt haben.
Eine solche Stellung bleibt natürlich nicht immer unangefochten. Der Intellektuelle steht ja auch nicht isoliert da. Er steht mitten im gesellschaftlichen Prozeß. Sein Denken und Diskutieren wird da bald zu einem "besonderen" Geschäft. Die "Ware", die er produziert, wird zur Marktware, die gekauft und verkauft wird. Zu Beginn des 19. Jhdts. bereits gab es Klagen über die Macht der Literatur, die in Wahrheit die Macht der "Nicht-Intellektuellen" über die "Intellektuellen" sei. Und dies wiederum zwang dann die wahren Intellektuellen, sich zu distanzieren, sich von Markt und Publikum abzusetzen. Sie verstanden sich als sozial ungebunden, klassenjenseitig, freischwebend, als "geistige" Menschen.
Diese Ambivalenz im Bild des Intellektuellen ist mit geschichtlichen, psychologischen oder auch soziologischen Kategorien wohl nur zum Teil zu fassen. Tatsache ist aber, daß der Franzose den Intellektuellen fast grenzenlos bewundert, was nicht bedeutet, daß er ihm ganz geheuer ist. Intellektuelle haben etwas Zwielichtiges, heute noch. Sie werden leicht zu Störenfrieden, die für Sünden und Mißgeschicke der Gesellschaft verantwortlich sind. Ihr alle Werte und Bindungen zersetzender Intellekt ist daran schuld, nicht nur an Revolutionen, sondern auch an Diktaturen.
Als Prototyp des Intellektuellen gilt vielen immer noch Jean-Paul Sartre. Er selber hat viel über den Intellektuellen nachgedacht und auch darüber geschrieben. Nach ihm besteht die Hauptbetätigung eines Intellektuellen im Reden und Schreiben. Er versteht dies als ein Praxis eröffnendes Tun. Da dieses von einem Widerspruch bestimmt ist, wirkt der Intellektuelle notwendig kritisch. Der Widerspruch entsteht unmittelbar aus der Allgemeingültigkeit, die einem wahren Wissen eignet, und dem besonderen politisch-sozialen Rahmen, in dem er dieses Wissen anzuwenden hat. Das heißt im Klartext: der Intellektuelle erhält im Rahmen einer besonderen - der bürgerlichen Gesellschaft, die besondere Interessen besitzt, seine Bildung; er wird dadurch gleichsam ihr Produkt. Dennoch hat er das Allgemein-Gültige, d. h. allgemein Menschliche, zu seinem eigentlichen Gegenstande gemacht. Deshalb muß sich der Intellektuelle als widersprüchlich erfahren und auch nach außen so scheinen. Sobald ein Mensch diesen Widerspruch sieht und beginnt im Namen des Allgemeinen, das Besondere in ihm selbst und überall zu bekämpfen, ist er nach Sartre ein Intellektueller. Seine Macht ist allerdings nur die der Wörter. Wenn diese Wörter auf einen aufnahmebereiten Boden fallen, kann diese Macht freilich sprengen und befreiend wirken.

2. Der Mai 1968

Diese verschiedenen Momente verdichteten sich im Mai 1968 zu einer explosiven Mischung. Ausgehend von den Studenten ergriff eine fiebrige Unruhe die Jugend Frankreichs. In Paris kam es zu den großen Demonstrationen. Barrikaden wurden errichtet. Wahre Schlachten fanden zwischen den jungen Revolutionären und den die Autorität repräsentierenden "Flics" statt. Die meisten Neuen Philosophen waren damals gerade frisch auf die Universität gekommen. Der Mai 1968 wurde für sie zu einem Schlüsselerlebnis.
Die Erfahrungen vom Mai 1968 haben die Gedanken der Neuen Philosophen nicht nur beeinflußt, sondern ihren Sinn für Kritik ganz allgemein geschärft. Daß diese Kritik schließlich auch und gerade den in Frankreich und anderswo herrschenden Marxismus nicht verschonte, hat sie bekannt, ja weltberühmt gemacht. Das will nicht heißen, daß sie als erste die Probleme der marxistischen Weltauffassung gesehen hätten. Die Kritik am Marxismus hat in Frankreich gewissermaßen Tradition. Schon 1956 ist z. B. eine Zeitschrift, "Arguments", gegründet worden, die als Antwort auf das Durcheinander der Linken Frankreichs in jenen Jahren galt. Der Stalinismus hatte zu einem massiven Auszug der Intellektuellen aus der Kommunistischen Partei geführt. Die kommunistische Orthodoxie reagierte sofort darauf und machte die Anti-Stalinisten zu Anti-Kommunisten. Das aber ließen sich viele französische Kommunisten nicht mehr gefallen. Sie lehnten sich gegen die Allgemeingültigkeit des sowjetischen Modells auf. Vor allem wurde die Bürokratie, die die Sowjetunion beherrscht, aufs Korn genommen. Trotzdem wollte man Marxist bleiben; an eine Ablösung des Marxismus als Avant-Garde des Fortschrittes dachte man nicht. Aber man bemühte sich Marx wieder "unverfälscht" zu zeigen und darzustellen. Der "neue Mensch" freilich, der aus den veränderten ökonomischen Situationen entspringt, ließ in Rußland immer noch auf sich warten. Und so begann man andere Modelle zu suchen. Man entdeckte den Kommunismus Chinas, Kubas und Lateinamerikas. Konnte man wenigstens hier Spuren des neuen Menschen entdecken?
Dieses Ringen und Suchen innerhalb des Marxismus hat nicht unwesentlich den Aufbruch im Mai 68 möglich gemacht. Es half nämlich mit, den traditionellen Marxismus aufzulösen. Aber andererseits ist nicht zu übersehen, daß die genannte Kritik am Marxismus die vollständige Explosion im Mai 68 auch verhindert hat. Denn der "Marxismus" war und blieb das Dogma, Neues war nicht in Sicht. Zweifelte man am Marxismus, mußte das hemmend auf die Revolution wirken. Die nachfolgende Theorie-Diskussion führte nicht weiter, sondern zu einer Aufsplitterung, die revolutionierende Taten bremste bzw. verhinderte. Diese nun entstandenen zersplitterten Gruppen waren unfähig, die Massen in Bewegung zu halten und auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören. Der einflußreichste Theoretiker des Marxismus und geschätzter Lehrer aller Neuen Philosophen, der kommunistische Strukturalist Louis Althusser, hat die Kritik später weiter getrieben. Er sprach davon in Seminarien, und verfaßte Bücher darüber. Er stellte u. a. die brenzlige Frage: Ist der Marxismus ein Humanismus? Die Antwort lautet nein, insofern nämlich der Marxismus Wissenschaft sein wolle, "Humanismus" aber eine "nichtwissenschaftliche" Forderung einer bestimmten Gesellschaft, der bürgerlichen nämlich, sei. Das sollten alle Marxisten endlich einsehen und nicht mehr beanspruchen, Humanisten zu sein. Aber auch mit Marx selber geht Althusser in manchem nicht einig. Nach ihm sind die eigentlichen Subjekte der wirtschaftlichen Tätigkeit nicht die Menschen, die Arbeitsplätze innehaben, wie Marx meint; die eigentlichen Subjekte derselben sind die Verbraucher und Verteiler. Entsprechend sind deren Probleme die eigentlichen Probleme. Deren Bedingungen sind dem Menschen zunächst zwar äußerlich, bestimmen aber auch sein Inneres. Allerdings entscheidet letzten Endes das Äußerliche den Lauf der Dinge. Der Mensch steht nämlich nicht im Zentrum der Welt, wie Marx meint, nicht einmal im Zentrum seiner selbst, weil es ein solches Zentrum gar nicht gibt.
Die Kritik des Marxismus, die Althusser seinen Schülern vermittelte, prägte die Neuen Philosophen entscheidend. Für sie war Marx sehr früh bereits nicht mehr eine unantastbare Größe. Und so konnten sie sich auch schnell daran machen, den Marxismus unbefangen zu analysieren. Das Neue an ihnen ist aber nicht so sehr die Marxismus-Kritik, sondern das Wie und das Wann dieser Kritik. Daß sie sich im Vorfeld der Wahlen vor 1978 zu Worte meldeten, gab ihren Überlegungen politische Brisanz. Manche betrachteten ihre Kritik am Marxismus als "lebensgefährlich" für die Kommunistische Partei und deren Ziele.

3. "nouvelle philosophie" - ein Phänomen

3.1 Entstehung

Das Wort Neuer Philosoph ist mehr oder weniger zufällig entstanden, wie übrigens auch die Gruppe der Neuen Philosophen. Bernard-Henri Lévy, der Verlagsleiter von drei Buchreihen im Verlag Grasset, Paris, hat den Namen "1976) lanciert. Für die Neuen Philosophen, die z. T. miteinander studiert haben, ist ihr Kollege und Verlagsleiter Lévy der integrierende Bezugspunkt. Sie bilden aber keine Schule, sondern eine lose Gruppe, die in ganz bestimmten Fragen eine ähnliche Grundhaltung hat. Das gilt vor allem bezüglich des Politischen. Zudem erschien mindestens eine ihrer Veröffentlichungen in den erwähnten Buchreihen. Daß ihre Bücher gleichen Geistes und zum Teil wenigstens im gleichen Verlag erschienen sind, macht aus ihnen "Neue Philosophen".
Die Neue Philosophie machte bald Schlagzeilen. Ende 1977 gab es wohl keinen Tag, an dem in Paris nicht irgendein Artikel für oder gegen diese "Erben des Mai 68", diese "neuen Metaphysiker", diese "Gurus" usw. erschienen wäre. Sie waren Stadtgespräch. Was sie interessant machte, war ihre Einstellung zum Marxismus: der Marxismus ist eine Barbarei, Karl Marx ist an allem Schuld, usw., usw. Aber nicht nur Marx haben sie im Visier, sondern Politik überhaupt. Denn Politik ist wesentlich ein Kampf um Macht; Macht aber nimmt keine Rücksicht auf den Einzelnen. Aufgabe des Philosophen ist es, die Menschen dafür wieder sensibel zu machen.

3.2 Eine neue Mode?
Die Neue Philosophie war fast über Nacht in Paris in aller Munde; wie sehr, läßt sich daran ermessen, daß bereits wenige Wochen nach der Lancierung der Neuen Philosophen ein Buch gegen die Neuen Philosophen erschien. Bald waren sie über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Woher dieser Erfolg? Hunderttausende ihrer Bücher wurden innerhalb kürzester Zeit verkauft. Man wußte nicht, was sich da anbahnte. Sollte die Philosophie vielleicht eine konsumierbare Ware werden, die man im Shopping Center billig erhält? Oder hatte man am Ende mit einer Kulturrevolution zu rechnen? War die Neue Philosophie das erste Anzeichen eines Zusammenbruchs des marxistischen Denkens, das seit 15 Jahren das Credo der französischen Intellektuellen war?
Es gab natürlich auch zurückhaltende Stimmen. Ist es denn nicht so, daß es in Paris in fast regelmäßigen Abständen zu Polemiken und passionierten Diskussionen, um irgendeine Bewegung, eine Gruppe, eine neue Richtung kommt? Es braucht dazu nur ein paar starke Ideen, einige markante Texte, eine intelligente Theorie. Das war mit Sartre so, mit Lévi-Strauss, mit Michel Foucault usw. Also, nichts Neues unter der Sonne!
Und doch war man sich nicht so sicher, daß es einfach wieder eine neue Mode sei, die bald genug vergessen sein wird. Denn diese neue "Mode" hatte doch etwas Beängstigendes, und zugleich Befreiendes an sich. Die Menschen begannen, im Vorfeld der Wahlen, wie aus einem Schlafe oder Trauma aufzuwachen. Auf einmal gab es nicht mehr bloß den homo politicus, der entweder links oder rechts steht. Es gab wieder den Menschen, der Politik auch als notwendiges Übel betrachten oder sich von ihr distanzieren kann. Ob es in der Neuen Philosophie um ein streng systematisches Philosophieren geht oder nicht, war dabei nicht entscheidend. Die Botschaft ließ sich auch in Essays, Interviews, etc. vermitteln. Die Neuen Philosophen verfügten über eine gute Mitteilungsgabe, und das genügte. Sie stehen damit in Frankreich in guter Gesellschaft, das hatte Tradition, das kam an.

3.3 Großerfolg im Ausland
Aber bald war die Neue Philosophie nicht nur in Paris bekannt, sondern auch in New York, London, Rom, Bonn, Madrid, usw. Sie ist also keine rein Pariserische Angelegenheit geblieben. Das zeigten schon bald die vielen Übersetzungen, vor allem des Buches von Bernard-Henri Lévy »Die Barbarei mit menschlichem Angesicht« (1977), und zwar innerhalb kürzester Zeit. Aber nicht nur Bernard-Henri Lévy hatte Erfolg. André Gluckmanns Buch, »Die Meisterdenker«, das im März 1977 erschien, überstieg im Oktober bereits die 100 000-Grenze bei weitem. Ähnliches erlebte auch Jean-Paul Dollé. Die Auflage seiner Bücher stieg innerhalb drei Monaten um das Zehnfache an. Wenn auch weniger spektakulär, so sind doch die Verkaufszahlen auch der übrigen Neuen Philosophen, Christian Jambets und Guy Lardreaus, eine Sensation.
In Italien wurden die Neuen Philosophen während Monaten zum Angriffsziel der Linken. Die These Lévys, der Terrorismus reproduziere nichts anderes als das Ideal des Staates, löste eine heftige Diskussion aus. Für ein Buch Gluckmanns, »Köchin und Menschenfresser« (1976), fand sich kein italienischer Verlag mehr. Mehr positive Aufmerksamkeit fanden die Neuen Philosophen in Spanien. Auch Lateinamerika interessierte sich. Auf einer Tournee durch Mexiko erhielten sie begeisterte Zustimmung, mußten aber auch herbe Kritik und sogar verleumderische Anschuldigungen einstecken. Man stellte sie u. a. als Verbündete des CIA hin. In den USA dagegen gab es viel positive und kaum negative Reaktionen auf das Phänomen aus Frankreich. Lévy wurde z. B. als regelmäßiger Leitartikel-Schreiber für die New Republic angefragt. Eine Sensation bedeutete es, daß das Time-Magazin eine Nummer der Neuen Philosophie widmete. Die Titelseite verkündete: »"Marx ist tot." Frankreichs Philosophen sprechen sich aus.« Man hat in Frankreich diese Time-Auszeichnung sehr wohl zu schätzen gewußt.

3.4 Kritik der Macht
Für die Neuen Philosophen war diese Auseinandersetzung auf internationaler Ebene eine Bestätigung dafür, daß ihre Thesen und Angriffe nicht weltfremd waren, sondern einen "Sitz im Leben" hatten und folglich spontan verstanden werden konnten. Gewiß, es war zunächst der Anti-Marxismus, der in die Augen stach, der Freunde und Gegner auf den Plan rief. Aber der Anti-Marxismus ist in einem gewissen Sinne nur das Vordergründige. Die Neuen Philosophen sind nicht Anti-Marxisten um des "Anti" willen, sondern weil sie auch im Marxismus eine Gefahr sehen, die sich im Abendlande schon lange angekündigt hat und heute zur weltweiten Bedrohung geworden ist: das Buhlen und Kämpfen um Macht, und zwar totale Macht! Der Kommunismus versteht sich selber als fortgeschrittenste Gesellschaftsform, und ist es auch, nur nicht in dem Sinne, wie die Marxisten meinen. Trotz allem Reden von Befreiung ist das totale Machtbewußtsein nirgends weiter entwickelt und praktischer geworden als in kommunistischen Systemen. Zu glauben, daß die Vergesellschaftung des Menschen und damit die Macht über den Einzelnen einmal jede Entfremdung überwunden haben werde, ist eine Illusion (Bernard-Henri Lévy). Macht mag in gewisser Hinsicht wichtig und sogar notwendig sein, aber an sie wie an eine gute Fee zu glauben ist irrational und zieht die totale Entmenschlichung nach sich.
Neben Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann hat sich vor allem Jean-Marie Benoist mit dem Marxismus auseinandergesetzt. In seinem bekannten Buch, »Marx ist tot« (1970), sucht er darzulegen, wie der Kommunismus überhaupt keinen Platz mehr läßt für Spontaneität, Mannigfaltigkeit und Individualität. Die Menschen sind da nur noch wie Karton, ohne Seele, ohne Gedächtnis. Deshalb muß Widerstand geleistet werden, Widerstand, wie ihn die Dissidenten im Osten vorleben. Die Dissidenten, allen voran Solschenizyn, spielen im Denken und Schreiben aller Neuen Philosophen eine wesentliche Rolle. Solschenizyns Auftreten im französischen Fernsehen, aber auch seine Bücher wirkten für die Neuen Philosophen wie ein Fanal. Wir müssen uns weigern, ein Spielball der heute regierenden Mächte zu sein. Jede Revolution bringt immer wieder neue Machtstrukturen hervor. Und so gibt es nur eins für den Menschen: immer wieder zur Rebellion bereit zu sein.
Es gibt denn auch eine Tradition der Rebellion. In dieser Tradition sehen sich die Neuen Philosophen. Im Grunde ist es nichts anderes als die Tradition der revolutionären Bewegungen, nur aus einem anderen Gesichtswinkel als bisher üblich gesehen. Ihre Hoffnung besteht nicht in einer noch größeren Vergesellschaftung, Verstaatlichung und Vermassung sondern im Widerstand des Individuums, in dessen Weigerung, durch Staatsapparate "verschluckt" zu werden. Die Geschichte zeigt, daß etwas in den Individuen lebt, das den Fängen der Macht entgleitet, das eine gegenläufige Kraft bildet. Es existiert im Proletariat so gut wie im Bürgertum. Es reagiert auf jedes Voranschreiten der Macht durch eine Bewegung der Verweigerung. In bestimmten Sternstunden der Menschheit, wie z. B. im Mai 1968, leuchtet dieses Gegenläufige der Macht unübersehbar auf.
Positiv gesehen heißt das, der Mensch soll ermuntert werden, seinen eigenen Weg zu gehen. Der Mensch soll wieder ins Zentrum gerückt werden. Er soll sich weigern, nur Mittel zu sein. Seine Bedürfnisse, seine Wünsche und Ängste sind ernstzunehmen. Der Mensch als lebendiges Individuum ist wiederum das Problem Nummer eins.

3.5 Kritik an der heutigen Wissenschaft
Macht ist nicht etwas Isoliertes. Macht stützt sich auf Theorie. Die Nöte, Leiden und Ängste der Menschheit, die aus drückenden Machtverhältnissen resultieren, hängen mit Theorien zusammen. Weil der Zusammenhang von Theorie, Macht und Unterdrückung unübersehbar ist, ist auch der heutigen Wissenschaft, ihren Theorien, zu mißtrauen. Ja, es findet sich bei den Neuen Philosophen sogar eine umfassende Kritik des Wissens überhaupt. Die marxistische Theorie und deren Kritik ist nur ein Spezialfall.
Ein viel diskutierter und von allen Neuen Philosophen sehr verehrter Kritiker der Wissenschaft ist Michel Foucault. Auch Foucaults theoretisches Schaffen kreist immer wieder um Wissen, Macht und Wahrheit. Der bekannte Satz: Wissen ist Macht, bekommt in Foucaults Mund einen außergewöhnlich harten Tonfall. Wissen ist nach ihm Macht, aber nicht befreiende, sondern böse, unterdrückende Macht. In Foucaults Schriften über die Macht ist Solschenizyns »Archipel Gulag« überall präsent, wirft das Schicksal der von Solschenizyn beschriebenen Durchschnittsgefangenen düstere Schatten. Die subtilen Unterdrückungsmechanismen, aber auch die nicht weniger subtilen Überlebens- und Widerstandsformen werden aufgedeckt und analysiert. Für Foucault ist das Gefängnis ein Spiegel der Machtstrukturen. Ja, das Gefängnis ist nach ihm der repräsentative Ausdruck einer Herrschaftsordnung.
Foucault, aber auch der »Archipel Gulag«, prägten die Neuen Philosophen entscheidend. Wenn Glucksmann sagt, daß wir auf dem Wege sind zu begreifen, daß die größte Erfindung des 20. Jhdts. das Konzentrationslager sein könnte, dieser verallgemeinerte Mörder für Staatszwecke, ist Foucaults Einfluß unverkennbar. Hinter Konzentrationslagern stehen aber Theorien, und hinter diesen Philosophien. Will man verstehen, warum es zu solchen unmenschlichen Erfindungen kam, muß man die Philosophiegeschichte nach Theorie-Gefängnissen absuchen, d. h. nach Theorien, die zunächst Denkgefängnisse bilden, dann aber zu realen Gefängnissen führen. Und man findet solche Theorie-Gefängnisse gerade auch und vor allem bei den Meister-Denkern, d. h. bei den Großen der Philosophie. Die Meister-Denker bereiteten mit ihren Theorien einen soliden Grund, auf dem Macht gedeihen und sich entfalten konnte. Die Meister-Denker waren die Wegbereiter der Macht.

4. Ein neuer Irrationalismus?

Daß die Neuen Philosophen auch des Irrationalismus bezichtigt werden, kann nach dem Bisherigen nicht verwundern. Es darf aber dabei nicht übersehen werden, daß ihr "Irrationalismus" nicht Feindschaft schlechthin gegen die Ratio "Vernunft" bedeutet, sondern nur gegen eine in die Irre gegangene Ratio. Der Kampf gegen einen solchen Rationalismus hat übrigens gerade in Frankreich Tradition. Es sind denn auch kaum die einzelnen Thesen, die am Anti-Rationalismus der Neuen Philosophen neu sind, denn schon früher erklärten Wissenschaftler, daß sie nicht mehr an die Wissenschaft als etwas Absolutes glaubten. Neu ist der Hintergrund, auf dem er sich manifestiert, dem Marxismus.
Der Marxismus beansprucht, die Aufhebung aller bisherigen Ismen, d. h. aller bisherigen Philosophien und Theorien, zu sein. Unter "Aufheben" versteht er: sie zu überwinden, aber auch sie weiterzuführen und auf einer höheren Ebene das Wertvolle an ihnen zu bewahren. Auf diesem Hintergrund philosophischer Anti-Rationalist zu sein kann nicht heißen, einfach eine überwundene Position einzunehmen. Das würde kaum einem Marxisten Eindruck machen. Im Anschluß an Michel Foucault versuchen die Neuen Philosophen eine ganz neue Art von Anti-Rationalismus. Dieser muß z. B. auf die politische Funktion verzichten, d. h. auf den Anspruch, zu sagen, was hier und jetzt zu tun, was gut und was schlecht sei. Die Philosophen müssen vom sicheren Standort, von dem her sie bisher gesprochen und geschrieben haben, abtreten. Sie sind nicht mehr die "weisen Griechen", die "jüdischen Propheten" oder die "römischen Rechtssprecher". Sie haben im Gegenteil das, was allein als das Normale eingetrichtert wird, aufzubrechen. Sie haben "Instrumente" bereitzustellen, die eine wirkliche Analyse der Macht ermöglichen; die Bücher der Philosophen haben wie Werkzeugkisten zu sein, in denen man u. a. Schraubenzieher findet, um Machtsysteme notfalls auch stillzulegen. Daneben haben sie sich um eine neue Moral zu bemühen, um eine Neuordnung der Werte usw. Es muß Widerstand geleistet werden. Eine Machtposition können sie nicht mehr einnehmen, sind sie doch keine Olympier mehr, keine Ratgeber der Fürsten, keine Diener des Volkes. Was sie möchten ist, dem Menschen in seinem innersten Kern zu einer Veränderung zu verhelfen. Der Neue Philosoph wird damit zum neuen Moralisten. Außerhalb der Bahnen eines fertigen Denkens versuchen sie eine neue Art von Revolution in Gang zu setzen.

5. Eine neue Betrachtung der Geschichte

Die Frage, ob eine Kulturrevolution überhaupt möglich sei, beschäftigt neben den Neuen Philosophen auch einen ihrer Lehrer, Jacques Lacan. Lacan, ein sehr bekannter Psychoanalytiker, fasziniert die jungen Intellektuellen vor allem dadurch, daß er nichts als die Wahrheit sagen will. Und da dieses Sagen der Wahrheit auch die tiefenpsychologische Dimension miteinbeziehen muß, wird das Reden darüber schwierig, für Nicht-Eingeweihte oft unverständlich. Lacan freut es nicht, wenn seine Schriften in andere Sprachen übersetzt werden, denn seine Sprache möchte immer die Situation im Auge behalten, in die hinein sie sich artikuliert. Die volle Wirkung des Wortes ist nur in der konkreten Situation zu haben. Die Neuen Philosophen sind Bewunderer Lacans, suchen doch auch sie Wahrheit, und zwar auf eine neue Weise, zur Sprache zu bringen. Da Lacans Reden oft um das Wie einer Revolution der Kultur kreist, fühlen sich ihm die Neuen Philosophen verwandt.
Für Lacan steht fest, daß erst die Welt der Worte, also die Sprache, die Welt der "Dinge" schafft. Der Mensch wird in die Sprache hinein geboren. Er ist von Anfang an von Sprache umfangen; bevor er selber sprechen kann, ist er von ihr "gesprochen". Es gibt nun Kulturen, in denen die Sprache so ist, daß der Mensch krank werden muß. Das ist auch in unserer Kulturder Fall. Lacan sieht das vor allem bei seinen Patienten, die über sich selber sprechen. Und wo liegt nun die Wahrheit, die Gesundheit für den heutigen Menschen bedeuten würde? Das ist nicht ohne weiteres zu sagen, ja kann in einer kranken Sprache gar nicht zureichend gesagt werden. Als wichtigstes muß deshalb Abstand von unserer Art zu sprechen - und damit Dinge und Verhältnisse zu beurteilen und zu bewerten - gewonnen werden. Es gilt sodann eine Änderung unserer Sprache herbeizuführen. Erst dann wird auch die Kultur revolutioniert werden. Die übliche Sprache muß langsam verändert werden. Das ist u. a. auch der Grund, warum Lacan nichts dabei findet, unverständlich zu sprechen. Ähnliche Ansichten finden sich übrigens auch bei Roland Barthes. Er als Schriftsteller fühlt sich geradezu berufen, Sprache zu verändern.
Die Anliegen Lacans fielen bei den Neuen Philosophen auf fruchtbaren Boden. Vor allem Christian Jambet und Guy Lardreau glauben unerschütterlich an die Möglichkeit einer Revolution der Kultur. Sie gehen dabei allerdings nicht abstrakt von der Sprache aus, sondern suchen der "Sprache der Geschichte" nachzuspüren. Sie durchsuchen die Geschichte auf revolutionäre Denkfiguren und Verhaltensmuster hin ab. Bisher entdeckten sie zwei grundverschiedene Arten von Geschichte: eine Geschichte in der nur das Sichtbare und Meßbare zählt; und eine andere Geschichte, die nicht eigentlich mehr Geschichte ist, sondern vielmehr "Ewigkeit". Die letztere ist naturgemäß viel schwieriger zu fassen als die erstere. Im Grunde ist sie in Sprache (bzw. in Begriffen, Systemen usw.) überhaupt nicht zu fassen, selbst wenn sie spürbar präsent ist und die sicht- und meßbare Geschichte bestimmt. Jambet und Lardreau suchen ihr nahe zu kommen, indem sie sich mit "Texten", d. h. Lebensmöglichkeiten, befassen, die dem "Ewigen" nahe sind. Unter anderem fanden sie solche "Texte" auch und bisher sogar vor allem in der spirituellen Tradition des Christentums. Die Sprache der Kirchenlehrer z. B. verrät nach ihnen, daß sich im jungen Christentum eine echte Kulturrevolution vollzogen hatte. Wer nach der ewigen Geschichte sucht, die zugleich eine Kulturrevolution einleiten und der kranken Menschheit Hoffnung geben könnte, kann bei ihnen in die Lehre gehen.
Der übliche Begriff der Kulturrevolution greift für die Neuen Philosophen zu kurz. Der Begriff, aus Maos China in den Westen gelangt, ist nicht in der Lage, die Revolution, die das Christentum einst in die Kultur hineintrug, auch nur annähernd abzudecken, sowenig übrigens wie die Erfahrungen des Mai 68. Sie suchen deshalb die Kulturrevolution des Christentums und die Hoffnungen des Mai 68 parallel zu sehen und mit neuen Mitteln zu durchleuchten. Sie entdeckten dabei, daß eine Revolution der Kultur nur durch eine Polarisierung innerhalb des Ganzen möglich ist. Der Totalität des Römerreiches z. B. setzte das Christentum ein neues Reich entgegen, ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. Ähnliches muß heute geschehen. Obwohl Kapitalismus und Marxismus sich als antagonistisch verstehen, sind sie doch nicht wirkliche Gegenpole. Beide gehören nämlich der sicht- und meßbaren Geschichte an und sind deshalb, bei allem Gegensatz, auf denselben Pol fixiert. Ihnen muß eine Gegenwelt entgegengesetzt werden, die die jetzige Kultur revolutioniert. Man darf sich nicht mit der herrschenden Kultur identifizieren; man muß den Willen zur Reinheit, zu einer neuen Moral haben. Dieser Wille ist von entscheidender Bedeutung für Idee und Durchführung einer Revolution der heutigen Kultur.
Das kann natürlich nicht heißen, den einen Pol, das Sicht- und Meßbare, aufzugeben, wie das z. T. weltflüchtige Mönche versuchten. Es muß die Zwei- Poligkeit im Leben durchgehalten werden, was bereits einen radikalen Bruch mit der gegenwärtigen Kultur bedeutet. Dieser Weit ist eine andere Welt entgegenzustellen; aber diese Welt muß als Gegenpol auch bejaht werden. In dieser Hinsicht ist für die Neuen Philosophen Lacan zu wenig differenziert. Lacan sucht eine neue Sprache; die Neuen Philosophen suchen das Neue jenseits aller Sprache, das aber doch, als Gegenpol, Sprache nicht in der sicht- und meßbaren Geschichte aufgehen läßt. M.a.W die Kulturrevolution kann nicht nur in einer neuen Sprache bestehen. Denn jede Sprache hat in sich den Trend, sich absolut zu setzen und sicht- und meßbare Geschichte zu werden. Es braucht zur wirklichen Revolution das Andere, den Gegenpol, den "Engel", der uns vor dieser Tendenz bewahrt. In diesem Zusammenhang besinnen sich Jambet und Lardreau auch auf Platon.
Wenn die Neuen Philosophen am Anfang ihrer schriftstellerischen Tätigkeit vor allem die Verstrickung in Machtstrukturen angegriffen haben, so war dies nur der Anfang. Radikale Kritik war der erste Schritt, der sie berühmt gemacht hat. Aber nun suchen sie weiter. Wo dieses Suchen hinführt, ist noch nicht in allen Teilen klar. Eines wissen sie jedoch: der Marxismus hilft nicht weiter. Man muß ihn durch eine Neubesinnung auf das, was wirklich Geschichte ermöglicht, überwinden. Da sich Geschichte nicht auf sicht- und meßbare Geschichte reduzieren läßt, kann sie sich auch nicht in determinierten Gesetzen erschöpfen. Der unfaßliche Gegenpol, der "Engel", bricht einseitige Geschichtsverständnisse immer wieder auf. Geschichte wirklich leben kann einer nur, wenn er auf diese Zweipoligkeit eingeht, d. h. moralisch in der sicht- und meßbaren Geschichte zu leben versucht.

Persönliche Überlegungen zum Phänomen "nouvelle philosophie"

Die Nouvelle Philosophie geht weiter. Sie breitet sich aus. Ihre Überlegungen und Argumentationen fassen im Alltag mehr und mehr Fuß. Im Frühjahr letzten Jahres tagten die Intellektuellen Frankreichs in Paris und beschäftigten sich u. a. mit der Aufgabe der Intellektuellen, vor allem der Philosophen unter ihnen. Die Neuen Philosophen hielten darüber Referate und fanden mit ihren Auffassungen, neben Kritikern, neue Anhänger. Ihre Art und Weise die Dinge zu sehen, Wirklichkeit zu beleuchten und sich darüber zu äußern macht Schule, nicht zuletzt weil es etwas Jugendlich-Neues an sich hat. Nicht daß ihre Gedanken alle neu wären, oder wenigstens ihre Art sie auszusprechen, im Gegenteil. Daß sich z. B. ein Intellektueller vorab kritisch-negativ äußert, wie es die Neuen Philosophen tun, hat Tradition - seit der hegelschen Linken, dem Historismus, Nietzsche, usw. Ob dahinter ein blanker Nihilismus steckt, ein Wille zum Zertrümmern, Freude am Untergang, wie man den Neuen Philosophen schon vorgeworfen hat, ist damit allerdings noch nicht entschieden. Es kommt eben darauf an, was negiert und kritisiert wird. In diesem Zusammenhang sei zum Schluß auf ein paar philosophiegeschichtliche Zusammenhänge aufmerksam gemacht.
Im Gespräch mit den Neuen Philosophen, aber auch z. T. in ihren Schriften, ist immer wieder Friedrich Nietzsche präsent. Seine scharfsichtigen Analysen der geistig kulturellen Entwicklungen hatten es ihnen angetan, aber auch die beißende Ironie, mit der er die philisterhafte Betriebsamkeit und den auf kollektiver Mittelmäßigkeit fußenden Dünkel der Kulturbeflissenen überschüttet. Für die Neuen Philosophen ist Nietzsche ein großer, tiefer Denker, der - fast - "alles" gesagt hat über sein und unser Jahrhundert. Dazu kommt Nietzsches Redlichkeit und Ehrlichkeit, die die Dinge beim Namen nennt, ohne Verschleierung, sein philosophisches Engagement, seine denkerische Dringlichkeit.
Eine Persönlichkeit wie Nietzsche macht von Fesseln frei; sie gibt die Stimme zurück, "die höheren Wirklichkeiten" zur Sprache zu bringen. Für Glucksmann beginnt Nietzsche, der beste Dichter unter den Meisterdenkern, der klarste und der redlichste, außerhalb der Herrschaft zu denken, Sprache und Gang dem Abenteuer zu überlassen. Ein bißchen wie Abenteurer kommen sich auch die Neuen Philosophen vor, sie, die die herrschende Sprache, die herrschende Wissenschaft, die herrschende Intellektuellen-Ideologie (Marxismus) in die Kritik nehmen. Gewiß, sie haben nicht den "Übermenschen" (Nietzsche) vor Augen, aber ihr denkerischer Aufbruch ist doch zu vergleichen mit Nietzsches Abwendung vom Apollinischen und Zuwendung zum Dionysischen.
Auch der Stil der Neuen Philosophen hat in Nietzsches Stil eine gewisse Parallele. Die Dringlichkeit des Denkens erlaubt nicht, sich lange bei historischen Richtigkeiten aufzuhalten. Daten der Vergangenheit begründen nicht die Wahrheit des Denkens; sie geben Anlaß, dieses in Gang und schließlich Schwung zu bringen, aber die Wucht stammt aus ihm selber. Deshalb hat ihr Denken oft etwas Prophetisches, das sich der allgemeinen Ausweisbarkeit und Legitimierung enthoben meint. Zwar drücken sich die Neuen Philosophen bisher nicht, wie Nietzsche häufig, in Aphorismen aus, aber sie verstehen sich doch auch nicht nur als Philosophen, sondern, wenigstens die einen, auch als Poeten, als Schriftsteller, als Leute die unerschrocken, nichts als die Wahrheit sagen möchten.
Neo- Nietzscheaner sind die Neuen Philosophen allerdings nicht. Er ist für sie nicht der unkritisierbare Meister. Für Nietzsche gilt was für die übrigen Meisterdenker (Fichte, Hegel, Marx): sie »schließen alles in dem Ring ihrer Herrschaft ein, ihre Art alles zu umfangen, ist elliptisch, denn sie hat immer zwei Mittelpunkte: Wille zur Macht und Ewige Wiederkunft, Kapital und Arbeit, Bourgeoisie und Revolution, An-sich und Für-sich, Geist und Natur, Ich und Nicht-Ich. Gegensätze treten paarweise auf, sie polarisieren Schlachten und Paradoxa, mehr noch bedingen sie das Denken des Ganzen. Herrschaft über das Ganze: Wille zur Macht. Das Ganze der Beherrschung: Ewige Wiederkunft. Das Ganze der Herrschaft: das Kapital, Herrschaft des Ganzen: Revolution, Klassenkampf als Motorder Geschichte, usw.« (Glucksmann). Nach dem letzten Buch Lévys soll Nietzsche gar "vernichtet" werden. Wenn Gott auch tot ist (Nietzsche), so bleibt doch Gottes Testament zu vollziehen und Gott ist wenn nicht "Wesen", so doch unverzichtbare Instanz und "notwendige Vorstellung". In diesem Sinne lebt für ihn Gott weiter. Dennoch bleibt wahr, daß die Neuen Philosophen nicht nur sehr viel Anregung in der Lektüre Nietzsches gefunden haben, sondern daß ihre Philosophie wesentlich durch seinen Einfluß mitgeprägt ist.
Nietzsche hat die Neuen Philosophen nicht nur beeinflußt, die Wahrheit unverschleiert auszusprechen, sondern auch sie zu "praktizieren". Sie reihen sich damit unter die moralisch engagierten Philosophen ein. Es gibt verschiedene Orte, an denen sich die Wahrheit heute konkret verwirklichen muß. Für die einen ist vor allem das Denken ein Mittel, sich von der Unterdrückung zu befreien, denn dadurch wird das neue Morgen - das Poesie heißt - angekündigt. Dabei sollen das Herz, die Gefühle und die schöpferischen Kräfte zu ihrem Recht kommen und so Wahrheit konkret werden. Für Andere ist das Dulden, aber auch das Sich-Wehren der kleinen Leute Ausdruck des inneren Drängens. Kein System, und wäre es noch so perfekt, kann dieses letztlich vernichten. Es bricht immer und überall wieder durch. Deshalb soll jeder scheinbar noch so unwichtige Widerstand gefördert und nach Möglichkeit unterstützt werden. Denn er ist Ausdruck dafür, daß der Mensch das Recht hat, Rechte zu haben. Alle Neuen Philosophen sind auf ihre Art Kämpfer für die Menschenrechte. Ihre Abwendung von den herrschenden Geschichts- und Naturphilosophien lebt aus diesem Hintergrund.
Die Frage nach dem Menschen ist das Anliegen ihres Philosophierens. Unter diesem Anspruch stehen die Neuen Philosophen und sprechen es in letzter Zeit mehr und klarer aus. Deshalb ist auch die Frage von rechts oder links, von Sprache oder Kultur, von Konfession oder Farbe nicht mehr das Entscheidende. Hauptsache ist, daß der Mensch nicht nur ein Brennpunkt von Determiniertheiten ist, daß er nie nur als Mittel zu irgendwelchen Zwecken gebraucht wird (Kant).
Im "Ich-Sagen" wird deshalb die Relativität des sozialen Geschehens ausgesprochen. Der 1979 verstorbene "Onkel" der Neuen Philosophen Maurice Clavel - war ihnen dabei Leitbild. Das zeigten ihre Nachrufe auf seinen Tod durchgehend. Ihr "Ich" ist nicht einfach das sich selbstbehauptende Ich des Existenzdenkers, sondern das Ich, das, allem zum Trotze, seine Ansprüche anmeldet und diese wahrzunehmen vermag, das sich gegen bloße Fremdbestimmung zur Wehr zu setzen weiß.
Vor allem die zwei Philosophen in Auxerre, Jambet und Lardreau, berufen sich dabei auf die philosophische Tradition, in der die Praktische Vernunft den Vorrang hat. Vor allem Kant ist ihnen maßgebend. Seit Nietzsche ist es ja nicht mehr möglich, bloße "Kollektiv-Sammlungen" von moralischen Imperativen ernst zu nehmen, deren einzige Quelle die Tradition ist. Und wenn heutiges Philosophieren unfähig wäre, eine moralische Haltung zu begründen, würde sie zu einem unverzeihbaren Bankrott ja sagen. Kants »handle so, daß die Maxime deines Handelns eine allgemeine Maxime werden könnte«, hat nach ihnen moralische Individualität zu bestimmen.[1] Moralisch verantwortbarem Tun hat letzlich alles Philosophieren zu dienen, auch Wissenschaftskritik, Ideologiekritik, Sprachkritik usw.
Hier werden die Neuen Philosophen m.E. zu "Geistern", die scheiden, die, wiesieselbersagen, entzweien wollen. Ihnen gehtes um den Menschen; sie geben dabei der Freiheit und Liebe den Vorrang vor Wissenschaft und Technik. Ebenso reiativieren sie die gesellschaftlich politische Organisation. Sie ist weder Selbstzweck noch die zentrale Vorbedingung alles Menschseins. Sie ist durch den Menschen geschaffen und hat dem Menschen zu dienen. Wenn die letzten Bücher der Neuen Philosophen eine "Neu"-Begründung von Moralität suchen, verstehen sie sich im Dienste des Menschen, der die Wahrheit tun soll. Es gibt bei ihnen keine subjektlose Prozeßhaftigkeit der Geschichte, kein Geschehen bei dem der Mensch Zuschauer ist. Ihr Engagement im Denken und Tun gilt dem Menschen, der das Zentrum dieses Geschehens ist. Ihr Retour zu Kant ist ein Retour zum Menschen als Träger von Pflichten und Rechten.
Der Mensch ist aber nicht nur Träger von Rechten und Pflichten, sondern auch von Sinn. Dies steckt dahinter, wenn die Neuen Philosophen auf die religiöse Tradition - die christlichen Väter und jüngst auch auf die Bibel zurückgreifen. Die Frage nach dem Sinn ist nämlich ein zentrales Thema der geistlichen Schriften. Die Neuen Philosophen sprechen allerdings weniger vom "Sinn" als von der "Wahrheit". Es geht ihnen dabei aber um dasselbe: »Wir haben die Wahrheit gewählt. Es geht nur darum zu wissen was sie ist und sie mit unseren Möglichkeiten zu sagen. Deshalb mußten wir sie befreien von all dem was als Wahrheit ausgegeben wurde und doch nur Lüge war« (Jambet und Lardreau). Um diese Wahrheit ging es den Neuen Philosophen bereits im Mai 68, nur suchten sie sie damals in einem anderen Kontext als heute.
Bei der Frage nach dem letztlich "Sinn-Gebenden" bewegen sich die einen in Richtung des Transzendenten (Platon) und des Unaussprechbaren, andere glauben in einem atheistischen Spiritualismus oder in der Kunst die Antwort finden zu können. Alle aber sind mehr oder weniger deutlich von einer Hoffnung erfüllt. Diese Hoffnung treibt z. B. Benoist zurück zu Heraklit, Platon und Leibniz, Dollé zu dem, was hinter dem Schein ist, zum Sein, zur Metaphysik. Sein Wunsch ist das zu finden, was am nächsten ist und doch am schwersten gefunden wird. Für Nemo ist der Mensch ein Mitgenosse der Transzendenz; er ist "Sohn Gottes". Letzteres ist freilich weniger im Sinne der christlichen Tradition zu verstehen als Heideggers, nach welchem der Mensch "Hirte des Seins" ist.
Die Neuen Philosophen möchten ihr Philosophieren als "Wächteramt" verstanden wissen. Wachen aber ist Verteidigung, Abwehr, wie auch Hinweis, Aufzeigen, wo Sinn gesucht werden muß. Es soll den Menschen an seine menschliche Aufgabe erinnern. Wenn die Neue Philosophie in ihren Anfängen eher eine Tendenz als eine bestimmte Philosophie war, so zeichnet sich letzteres immer klarer und ausgesprochener als ihre Richtung ab: nicht mehr nur das Wissen in die Kritik nehmen, sondern auch Sorge tragen für das Tun damit so gehandelt werde, daß die Hoffnung nie in Gefahr kommt, unterzugehen. In der Neuen Philosophie sind die drei großen Fragen Kants wieder wachgeworden!

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