I.
Durch die Jahrtausende hindurch bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Materie-Geist-Problematik vornehmlich Gegenstand der Geisteswissenschaften, neben den Religionen vor allem die der Philosophie. Sie suchte Antworten zu geben auf die großen Fragen des Daseins: nach der Entstehung des Lebens selbst, nach dessen Sinn hier auf der Erde und im Kosmos, nach der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt, nach der Herkunft und Entwicklung des Menschen, nach der Entstehung des Bewußtseins, der Kausalität und Freiheit, um nur einige wesentliche Problemkreise zu skizzieren. Bis ins 19. Jahrhundert war es kaum denkbar, daß noch aus einer anderen Richtung mit anderen Ansätzen Antworten auf diese Fragen gegeben werden könnten, gemeint sind die Naturwissenschaften. Zwar war es auch erklärte Absicht der Physik, Chemie und Biologie, die Entstehung der Weit und des Lebens zu enträtseln, aber es war nur schwer vorstellbar, daß eine empirische Naturwissenschaft, deren Erkenntnis zum Verständnis der Weit begrenzt war auf materielle, empirische Versuchsanordnungen, ernsthaft Aussagen machen konnte zu Fragen, wie sie bis dahin nur von den Geisteswissenschaften angegangen wurden.
Die Unüberbrückbarkeit im Verhältnis von Geist und Materie blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein im Grunde genau so groß, wie sie schon zu Zeiten Platons war. Wenngleich auch die Physik und Astronomie etwa durch die Forschung von Giordano Bruno, Kopernikus und Kepler das Weltbild revolutioniert hatten, so hatte sich doch grundsätzlich nichts an der Auffassung geändert, daß Philosophie da anfängt, wo naturwissenschaftliche Fragestellung aufhört.
Dies hat sich in diesem Jahrhundert grundlegend geändert. Die Philosophie muß sich mit dieser auch für sie veränderten Situation, die sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einer bisher nie gekannten Herausforderung entwickelt hat, befassen. Gemeint ist die Tatsache, daß die Naturwissenschaften im Zusammenspiel, vor allem aber auch die Biologie, zum Verständnis von Leben und Weit Einsichten erreicht haben, die fundamental auch die Fragestellung der Philosophie berühren. Hier muß die Philosophie Stellung nehmen, denn es ergeben sich möglicherweise auch für sie ganz neue Perspektiven.
Unter den herausragenden Entdeckungen der Naturwissenschaften der letzten drei Jahrzehnte wären einmal zu nennen Grick und Watsons, die Entdeckung des genetischen Codes. Von der Urzelle über die Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen verwenden alle Lebensformen der Erde ein einheitliches Alphabet des Lebens, was auf einen gemeinsamen Ursprung aller noch so verschiedenartigen Lebensformen hinweist.
Dann wäre zu nennen die jüngste und wahrscheinlichste Hypothese über den Ursprung der materiellen Organisation zum Leben, die bekannt wurde unter dem Namen Hyperzyklus und zurückgeht auf die Arbeiten von Eigen und Schuster, weiterhin die Arbeiten von Glansdorff und Prigogine über die Thermodynamik irreversibler Prozesse in offenen Systemen, die erklärt, wie es zur spontanen Entstehung neuer räumlicher Strukturen und zeitlich geordneter Reaktionsfolgen der Materie kommen muß, und die neuesten Ergebnisse der Gehirnforschung verbunden mit Namen wie dem von Sir John Eccles, der, wie die Vorhergenannten, für seine Arbeit mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Alle diese Theorien werden später erläutert werden, soweit das in diesem Rahmen möglich ist.
Die von der Philosophie formulierten uralten Probleme der menschlichen Erkenntnis sollten auch die Ergebnisse der biologisch-naturwissenschaftlichen Forschung berücksichtigen. Möglicherweise kommen wir dann der Lösung der Probleme der heutigen Menschheit näher, wenn der Mensch sich in einer neuen Stufe der Reflexion der Gesetze seines Denkens bewußt wird und dahin kommt zu lernen, individuelle und kollektive Fehlleistungen zu vermeiden, die ihn in eine Katastrophe zu führen drohen.
Bergson versuchte einige Antworten auf dieses Problem in seinem letzten Hauptwerk »Die beiden Quellen der Moral und der Religion« zu geben. Eine Erklärung für viele Fehlleistungen seiner Epoche suchte er darin zu finden, daß der Geist nicht so erforscht worden sei, wie es hätte sein müssen. Denn die Wissenschaft habe sich zunächst der Materie zugewandt und in den letzten dreihundert Jahren kein anderes Objekt gehabt. Andererseits vertrat er die Auffassung, daß es nicht gut gewesen wäre, wenn man zunächst mit der Wissenschaft vom Geist begonnen hätte; denn dieser wäre dann nicht zu der Präzision, der Strenge und der Sorgfalt in der Nachprüfung gelangt, die von der Geometrie auf die Physik und von der Chemie auf die Biologie übergegangen seien, um erst dann auf die Wissenschaft vom Geiste zurückzustrahlen.
Weitere Fragen, die sich stellen: Hat der Geist, hat Bewußtsein einen Anfang? Unterliegt es einem Entwicklungsprozeß, oder war es schon immer existent? Ist es materieller Natur oder ist es immateriell, immanent oder transzendent? und schließlich, gibt es eine Grenze zwischen Geist und Materie? In welcher Weise passen unsere Erkenntnisstrukturen und die Strukturen der Realität aufeinander?
Es läßt sich nicht mehr von der Hand weisen, daß die Naturwissenschaften, insbesondere die Biowissenschaften, begonnen haben, auf ihre Fragen eine eigene "Philosophie der Erkenntnis" zu entwickeln. Wir können dieser Entwicklung nicht gleichgültig gegenüberstehen. Wir müssen uns der Mühe unterziehen, diese Konzepte zu prüfen, um ihren eventuellen Wert auch im Bereich der Philosophie zum Problem der Erkenntnis beurteilen zu können. Schließlich kann es keine zwei Philosophien der Erkenntnis geben, sondern es kann sich nur um zwei Formen erkenntnistheoretischer Suche mit verschiedenen Ansätzen handeln.
II.
Im folgenden will ich den Versuch unternehmen, soweit dies hier möglich ist, im weiteren einige der wichtigsten wissenschaftstheoretischen Denkansätze der Geist-Materie-Problematik zu skizzieren.
Nach unserem heutigen Wissen begann die Evolution des Lebendigen vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es auf der Erde, folgt man dem naturwissenschaftlichen Szenario, noch keine Lebensspuren. Geht man in jene unvorstellbar langen Zeiträume zurück, so konzentrierten sich zu diesem Zeitpunkt alle für die heutigen Lebensformen wichtigen Moleküle in einem präbiotischen "Urozean". Schon in den fünfziger Jahren gelang es amerikanischen Wissenschaftlern zu zeigen, daß unter den damals vorhandenen Bedingungen molekulare Bausteine entstehen konnten, ohne die die heutigen Lebensformen nicht denkbar wären, nämlich Nukleinsäuren und Eiweiße. So war die Entdeckung des genetischen Code ein Meilenstein biologischer Forschung. Dieser Code besagt, daß die Erbinformationen in allen Lebewesen nach dem gleichen Prinzip verschlüsselt werden. Dies bedeutet, daß alle Organismen über eine gemeinsame molekulare Grundlage verfügen, die auf einen gemeinsamen Ursprung aller irdischen Lebensformen hindeutet.
Die jüngste und wahrscheinlichste Hypothese über den Ursprung der materiellen Organisation zum Leben wurde von Eigen und Schuster ausgearbeitet. Ihre Theorie wurde bekannt unter dem Namen »Hyperzyklus«. Eigens Konzept geht dahin darzustellen, daß die verschiedensten Moleküle im Urozean, die dort im Laufe der Jahrmilliarden entstanden und im Wechsel auch wieder zerstört wurden, so lange in ihrer Wirkungsweise voneinander unabhängig blieben, bis es zu einem Zusammenschluß solch wichtiger Moleküle wie Nukleinsäuren und Eiweiße kam. Es entstanden eigenständige Systeme, die Hyperzyklen. Mit diesen Hyperzyklen hatten sich regelrechte Regelkreise entwickelt. Zum erstenmal trat ein Organisationsprinzip molekular auf, mit in sich vorhandener Rückkopplung. Verschiedenste Komponenten wurden zu einem Ganzen gekoppelt und durch Rückwirkung jeder Struktur auf alle anderen entstand ein System, das sich selbst organisierte.
Was Eigens Theorie so auszeichnet, ist die Erkenntnis, daß die Evolution neben Mutation und Selektion noch ein weiteres Prinzip vorantreibt, nämlich die Fähigkeit der Materie, sich selbst organisieren zu können, ein Prinzip, das Eigen im molekularen Bereich in seiner Theorie sichtbar gemacht hat.
An diesem Punkt kommen wir auf ein weiteres Konzept, das des Wiener Wissenschaftstheoretikers Rupert Riedel zu sprechen. Riedel wandte das Prinzip der Selbstorganisation, wie es Eigen im molekularen Bereich tat, auf die Organisation der Organismen an. Dieses auch allgemeiner als "Evolutionäre Erkenntnistheorie" beschriebene Konzept betrachtet die traditionelle Beschränkung des Erkenntnishorizonts als willkürlich. In Riedels Theorie werden erstmals alle Prozesse einbezogen, die zum Gewinn von Erkenntnis führen, gleich ob sie sich auf psychischer oder biologischer Ebene abspielen. Das bedeutet aber nichts geringeres, als daß gebrochen wird mit der Vorstellung von einem bewußten Erkennen unserer Psyche und einem vorbewußten, ratiomorphen Erkenntnisvermögen aller belebten Natur.
Was konkret bedeutet das? Betrachten wir hier zum Beispiel ein Organ wie das Auge, welches eine höchst komplexe Struktur darstellt, oder den Körperbau eines Meerestieres. Betrachten wir hier etwa die Flossen eines Fisches, so fällt auf, daß solche Organe wie Augen oder Flossen irgendwie auch die physikalischen Eigenschaften des umgebenden Milieus z. B. des Wassers, "abbilden".
Konrad Lorenz war der erste, der in dieser Richtung dachte, als er sagte, daß »Evolution Gesetzlichkeit aus der Welt extrahiert«. Mit anderen Worten: durch evolutionäre Anpassung einerseits entstehen höchst komplexe Strukturen, die optimal in ihr Milieu passen, die aber andererseits offenbar nur dann entstehen können, wenn sie irgendwie die gesetzlich festliegenden Eigenschaften in ihrer realen Umwelt "erkennen". Wie soll aber solch ein Erkennen vor sich gehen? Es ist, wie Riedel zeigen kann, nur möglich, wenn man abermals das Prinzip der Rückkopplung mit Funktionskreisen der Informationsübertragung verwirklicht. Konkret biologisch bedeutet das auf der Ebene der Organismen: einerseits bringen die Gene eines Organismus eine bestimmte Struktur hervor. Andererseits aber bestimmt diese Struktur immer auch selbst über die Wahrscheinlichkeit des Erfolges weiterer Mutationen und damit letztlich über das Überleben des gesamten Organismus.
Diese Einsicht führt zu der erstaunlichen Tatsache, daß Leben ein in sich selbst erkenntnisgewinnender Prozeß ist. Eigens Theorie auf molekularer so wie Riedels Konzept auf organismischer Ebene zeigen, daß die Materie über die Fähigkeit verfügt, sich selbst organisieren zu können, komplexere Strukturen aufzubauen und daß solche immer komplexeren Formen bis hinauf in den Bereich der Lebewesen über Rückkopplungsmechanismen, unter den Bedingungen von Mutation und Selektion in der Lage sind, auch ohne eine solche komplexe Struktur wie das Gehirn, Informationen aus ihrer Umwelt zu extrahieren und zu verarbeiten.
Dies ist aber nicht die eigentliche Einsicht einer solchen evolutionären Erkenntnistheorie, sondern ihre Konsequenzen gehen weit darüber hinaus.
Besinnen wir uns noch einmal auf den Umstand, daß die Organismen in ihrer Struktur irgendwie die sie umgebende reale Welt abzubilden vermögen, so setzt dies auch eine gewisse Stabilität des äußeren Milieus voraus. Dies ist ein entscheidender Punkt für die evolutionäre Erkenntnistheorie. Was ist gemeint?
Wie bisher beschrieben wurde, entsteht in lebenden Systemen durch den Vorgang der Anpassung mehr Information über das umgebende Milieu. Das bedeutet, daß sich Evolution auch als Lern- und Erkenntnisvorgang beschreiben läßt. Solche Lern- und Erkenntnisvorgänge sind an Regelmäßigkeiten in der Umweltgeknüpft. M.a.W., selbst die einfachsten Organismen bis hin zur Urzelle benötigten in einem gewissen Grad vorhersagbare Bedingungen in ihrer Umwelt, ohne die sie keine noch so einfachen Verhaltens- und Reaktionsprogramme hätten entwickeln können.
Nach Riedels Konzept schlüssig erklärt, zeigt die Ausbildung sowohl morphologischer Strukturen, als auch die Entwicklung von Reaktionsprogrammen im Nervensystem, daß darin Gesetzmäßigkeiten aus der Umwelt abgebildet sind. Diese im Laufe der Evolution erworbenen Programme sind nach Popper nichts anderes als "angeborene Hypothesen" über die Welt. Das Ziel der biologischen Erkenntnisforschung ist, die Evolution der informationsverarbeitenden Mechanismen bis zu deren Einfluß auf das menschliche Denken zu untersuchen. Wenn die Evolution die Lebewesen bereits vor Jahrmilliarden mit Programmen ausgerüstet hat und wenn man den Menschen und auch das Gehirn als ein Entwicklungsprodukt dieser Evolution versteht, dann führt das zu schwerwiegenden Konsequenzen, u.a. zu der Frage: Was erkennt unser Bewußtsein wirklich? Wenn das Bewußtsein, wie es die Naturwissenschaftler tun, als ein Phänomen gedeutet wird, das eng an die Struktur und Entwicklung des Gehirns geknüpft ist, so hat auch das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution "Hypothesen über die Welt" entwickelt. Diese Hypothesen in bezug auf die reale Welt sind aber, das kann die heutige Naturwissenschaft beweisen, eindeutig falsch. Wir wissen heute, um nur zwei Beispiele zu nennen, aufgrund der Einsteinschen Relativitätstheorie, daß unsere Weit nicht nur dreidimensional ist und ebenso, daß die Hypothese von einem linear kausalen Ablauf der Welt nicht stimmt. Wenn dies aber unser Bewußtsein dennoch so sieht, so kann das nach der evolutionären Erkenntnistheorie nur eins bedeuten: auch wir haben Programme über die Welt im Gehirn gespeichert, die mit der realen Welt nichts zu tun haben. Das Gehirn war ursprünglich nicht dazu gedacht, die Welt so zu verstehen, wie sie wirklich ist, sondern die Evolution hat die Lebewesen daraufhin entwickelt, die Welt optimal zu überleben. Das bedeutet nach Hoimar v. Ditfurth, daß »das Apriori der Philosophen sich dem evolutionären Erkenntnistheoretiker enthüllt als das Aposteriori der Stammesgeschichte«.
Mit dem Auftreten des reflektierenden Bewußtseins entstand für den Menschen eine gefährliche Situation. Bis zu jenem Augenblick lebte er als Naturwesen wie alle anderen Wesen auch unter der Anleitung seiner »angeborenen Lehrmeister«, wie sie Konrad Lorenz nennt. Bei dem Versuch, mit Hilfe seines Bewußtseins die wirkliche Welt zu verstehen, setzt sich der Mensch nun über seine angeborenen Hypothesen über die Welt hinweg. Die Gefahr - so eine der Folgerungen aus der evolutionären Erkenntnistheorie besteht darin, daß der Mensch noch nicht weit genug entwickelt ist, die Welt ohne seine angeborenen Lehrmeister zu meistern. Das Paradoxon ist, daß er mit seinen angeborenen Programmen, so von Ditfurth, »die Wahrheit über die Welt verfehlt, ohne sie aber die Orientierung verliert.«
Fassen wir an dieser Stelle einige der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen:
- Die uns umgebende materielle Welt ist befähigt, aufgrund ihrer physikalischchemischen Eigenschaften, sich aus sich selbst heraus zu komplexeren Formen zusammenschließen zu können und sich weiter zu entwickeln.
- Die Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur ist gleitend.
- Leben selbst ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß.
- Auch der Mensch unterlag und unterliegt noch immer dem Prozeß der Evolution.
- Das menschliche Bewußtsein entstand in einem evolutiven Prozeß. Es ist geknüpft an die materielle Struktur des Gehirns, das nicht geschaffen wurde, die Welt zu begreifen, wie sie wirklich ist, sondern es entstand, um den es besitzenden Lebewesen das Überleben in der Welt optimal zu sichern.
- Mit dem Besitz reflektierenden Bewußtseins wurde der Spezies Homo sapiens erstmals im Verlauf der biologischen Evolution des Lebens auf der Erde die Möglichkeit eröffnet, sich gegen die bis dahin allumfassenden Prozesse der Evolution zu entscheiden.
- Die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Bewußtseins wird eingeschränkt von archaischen, lernunfähigen Gehirnteilen.
- Der Mensch läuft Gefahr, obwohl oder gerade weil er über ein Großhirn verfügt, das ihn zu rationaler Einsicht befähigt, bei Nichtbeachtung seiner angeborenen Hypothesen über die Weit, die Orientierung zu verlieren. (Das menschliche Gehirn hat im Laufe der Evolution "Hypothesen über die Welt" entwickelt.) (Siehe S. 167)
III.
Die entscheidende Frage, die sich uns nun stellt, ist die Beziehung zwischen Gehirn und Geist.
Es gibt sicher keinen Zweifel mehr daran, daß das Gehirn die materielle Basis unserer Persönlichkeit bildet. Unser Bewußtsein ist an die Existenz unseres Nervensystems gebunden. Generell wird davon ausgegangen, daß unser Bewußtsein im Großhirn lokalisiert ist.
Woher kommt nun der Geist, von dessen allmählichem Auftauchen in der Dimension der Materie so ausführlich die Rede war? Wie ist es möglich gewesen, daß die Materie im Verlauf ihrer evolutionären Entfaltung Individuen hervorbrachte, die an einer geistigen Dimension teilhaben? Sind die Fähigkeiten des Erinnerns, des Wahrnehmens und des Bewußtseins noch Leistungen einer sich zu immer höherer Ordnung entfaltenden Materie oder weisen sie über sie hinaus?
Wir sind hier an einen Punkt der Diskussion gelangt, der stets charakteristisch war für die Unüberbrückbarkeit naturwissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnislehren. Ebenso ist nicht zu übersehen, daß die Theorien über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist heute sehr häufig beherrscht werden von rein materialistisch orientierten Philosophen und Gehirnforschern, die dem Gehirn den absoluten Vorrang einräumen.
Danach funktioniert die komplizierte Nervenmaschinerie des Gehirns in ihrer bestimmten materiellen Art und Weise ohne Rücksicht auf irgendein Bewußtsein, das möglicherweise beteiligt ist. Dem ichbewußten Geist wird an sich jede wirksame Kausalität abgesprochen.
Eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Hirnforschung, Sir John Eccles, der sich heftig gegen solcherlei Denkweise wehrt, bemerkt dazu: »Wie komplex auch ein elektrisches, chemisches oder biologisches System je sein mag: die "Naturgesetze" enthalten keinen Hinweis auf jenen seltsamen, immateriellen Komplex Bewußtsein oder Geist. Damit soll nicht behauptet werden, daß das Bewußtsein im Evolutionsverlauf nicht auftreten kann, sondern nur festgestellt werden, daß seine Entstehung nicht mit den Naturgesetzen, wie wir sie heute verstehen, sich vereinbaren läßt.
Ohne etwas verwischen zu wollen, scheint mir, daß wir uns in unserer Überzeugung bestärkt sehen können, daß die Welt nicht dort aufhört, wo unser Wissen am Ende ist. Und diese Erkenntnis, gerade aufgrund der neuesten naturwissenschaftlichen Theorien, scheint auch in den Naturwissenschaften selbst immer breiteren Raum einzunehmen.
Erinnern wir uns nochmals der Riedelschen Theorie der evolutionären Erkenntnisiehre. Hier wurde u. a. festgestellt, daß die Organismen doch irgendwie in ihren Strukturen, etwa der Struktur des Auges oder der Struktur einer Flosse, etwas aus der realen Welt abzubilden scheinen. Was bedeutet das dann aber z.B. für die Struktur des Gehirns?
Es sollte bedeuten, daß nicht das Gehirn das Denken erfunden hat, ebensowenig wie das Auge das Sehen oder die Fischflosse das Schwimmen.
Der Tatbestand ist vielmehr umgekehrt. Die Evolution schuf die Augen als Reaktion darauf, daß unsere Welt erfüllt ist von den Strahlen der Sonne, und die Flossen eines Fisches sind die Reaktion darauf, einem Fisch die Fortbewegung im Wasser zu ermöglichen.
So gesehen sind die Augen der Beweis für die Existenz der Sonne und die Flossen eines Fisches für das Vorhandensein von Wasser. Folgt man diesem Gedankengang weiter, dann kann man vermuten, daß unser Gehirn ein Beweis ist für die reale Existenz einer von der materiellen Ebene unabhängigen Dimension des Geistes.
Möglicherweise zeigen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, daß wir eine Selbsttäuschung aufgeben müssen. Das Phänomen des Geistes erschiene damit nicht erst mit uns in der Weit, sondern es existiert universell im Kosmos. Konsequenz der evolutionären Erkenntnislehre wäre, wie v. Ditfurth bemerkt, »daß Geist nicht deshalb in der Welt ist, weil wir ein Gehirn besitzen. Die Evolution hat vielmehr unser Gehirn und unser Bewußtsein allein deshalb hervorbringen können, weil ihr die reale Existenz dessen, was wir mit dem Wort Geist meinen, die Möglichkeit gegeben hat, in unserem Kopf ein Organ entstehen zu lassen, das über die Fähigkeit verfügt, die materielle mit dieser geistigen Dimension zu verknüpfen.«
Mir scheint, die naturwissenschaftlichen Theorien sind bedeutsam genug, um auch in die Philosophie Eingang zu finden, um ihr möglicherweise ganz neue Impulse zu verleihen.
Was bedeutet es z. B. aus philosophischer Sicht, wenn unser Bewußtsein einem evolutiven Prozeß unterlag und noch immer unterliegt? Wie stehen wir zu der naturwissenschaftlichen These, daß unser Bewußtsein aufgrund immer noch wirkender Hypothesen über die Weit in seiner Erkenntnisfähigkeit der realen Weit eingeschränkt wird; daß unser Gehirn nicht konzipiert wurde, die Welt zu verstehen wie sie wirklich ist? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus hinsichtlich unseres Verständnisses von Ursache und Wirkung? Gibt es wirklich ein Kausalitätsprinzip? Wie können wir uns andererseits die Dimension des Geistes vorstellen, die es schon (immer?) vor uns universell im Kosmos gab, auf deren Existenz wir, trotz unseres eingeschränkten Erkenntnisvermögens über die Welt, Hinweise haben? Stellt sich die Frage nach einem Leben nach unserem Tod neu?
Viele Fragen werden nicht neu sein, aber sie könnten sich für uns aus einer ganz neuen Perspektive her stellen.
IV:
Zum Abschluß meiner Ausführung will ich auf den letzten, mir sehr wichtig erscheinenden Punkt zu sprechen kommen, der mich veranlaßt zu appellieren, daß natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen in einen intensiven Dialog treten müssen.
Wie wir heute sehen, steht die Menschheit an einem Punkt in ihrer Entwicklung, der es ihr ermöglicht, die Evolution des Lebendigen, die sich über Jahrmilliarden Zeiträume erstreckt hat, in wenigen Sekunden restlos von diesem Planeten zu tilgen. Die Spezies Mensch ist davon nicht ausgenommen. Das menschliche Bewußtsein, der menschliche Verstand, sein schöpferisches Denken haben es zuwege gebracht, in die Geheimnisse der Natur einzudringen und nichts wird den Menschen davon abhalten, das auch in Zukunft zu tun. Es darf allerdings mit Fug und Recht spekuliert werden, ob es noch eine Zukunft gibt und ob die Entwicklung eines reflektierenden Bewußtseins sich nicht als Fluch, als Existenzbedrohung sogar der gesamten Evolution des Lebendigen auf der Erde erweisen wird. Daß der atomare Holocaust noch nicht passiert ist, grenzt an ein Wunder. Ein Buch, das gerade in diesen Tagen Gegenstand weltweiter Diskussion und Betroffenheit ist, Jonathan Shells Vision über »Das Schicksal der Erde«, läßt auch nicht mehr den geringsten Zweifel über den Hergang des Undenkbaren, das doch jeden Augenblick denkbar ist. Aber es bedurfte nicht erst dieses Buches oder der Studien des "Club of Rome", um zu erkennen, daß die Menschheit in eine globale Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes steuert.
Es geht um die technologische Vernichtung der lebenden Natur, um die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, um Hungerkatastrophen aufgrund der Mißachtung ökologischer Grenzen der Natur, um die schleichende Zersetzung der menschlichen Beziehungen in den unmenschlichen Betonmeilern unserer Großstädte.
Viele Bereiche unseres Lebens, so der Soziologe Peter Berger, werden höchst kundig von Narren unter Kontrolle gehalten.
Es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die westliche technologische Kultur, denn von ihr im besonderen geht die technologische Zerstörung der Erde aus, radikal umdenken muß. Unsere Kultur ist krank. Wir müssen wieder zu einer Zivilisation des Seins und nicht länger des Habens oder Habenwollens zurückfinden, wie es Erich Fromm formuliert.
Die Existenzweise des Habens steht seiner Meinung nach für die Übel der gegenwärtigen Zivilisation, die des Seins aber für die Möglichkeit eines erfüllten, nicht länger entfremdeten Lebens. Die heutige Gesellschaft ist vom Modus des Habens oder Habenwollens bestimmt. Der Modus des Seins aber führt zu Unabhängigkeit, Freiheit und kritischer Vernunft. Der Mensch, der nicht länger vom Haben, sondern vom Sein bestimmt wird, kommt wieder zu sich selbst, entfaltet wieder innere Aktivität und Kreativität, die nicht mit purer Geschäftigkeit zu verwechseln ist, sondern er kann seine menschliche Fähigkeit wirklich produktiv einsetzen. Diesem Menschen gilt Besitz nichts, Liebe jedoch alles.
Ich bin überzeugt, daß wir an einem kulturellen Wendepunkt der westlichen Zivilisation stehen, wo ein neuer Typus von Mensch gefordert ist, vielleicht sich sogar schon entwickelt. Es gibt optimistische Anzeichen dafür. Nicht Irrationalität und Haß, sondern Vernunft und eine leidenschaftliche Liebe zum Leben in all seinen Erscheinungsformen sind die neuen Voraussetzungen für diesen Typus Mensch, an den sich hoffentlich eine friedlichere Welt knüpft.
Besonders wir Frauen sehen heute, daß die patriarchale Kultur, wie sie sich in den Jahrtausenden entwickelte, versagt hat und in die totale Vernichtung führt. Die heutige Krise der westlichen Zivilisation ist auch die Krise und das Versagen des Patriarchats. Da sich so offen die Schwäche zeigt, sollten wir den heutigen Zustand als den entscheidenden Ausgangspunkt und die entscheidende Wende begreifen, die Jahrtausende alte Mißachtung der Persönlichkeit der Frau zu lockern und wieder zurecht zu rücken.
Wenn, wie ich glaube, eine neue Qualität unseres Bewußtseins gefordert ist, indem wir wieder lernen müssen, in Harmonie und Respekt zu leben mit der uns umgebenden Schöpfung, so umfaßt und fordert dies auch eine neue Qualität im Respekt und Zusammenleben der Geschlechter.
Es ist an der Zeit, eine Kultur zu entwickeln, die ebenso stark von weiblichen Vorstellungen geprägt wird. Vielleicht sähe unsere Weit friedlicher und weniger zerstörerisch aus, wenn sie sich nicht unter einem Patriarchat hätte entwickeln müssen.
Feminismus sollte sich erweisen in der Befreiung aller Menschen von den Beschränkungen ihrer kulturspezifischen Geschlechtsrollen. Diese neue Art wieder denken, leben und lieben zu lernen ist die einzige Möglichkeit, eine menschliche und technologische Katastrophe zu verhindern und die Technik wieder in den Dienst des Menschen zu stellen. Es geht nicht darum, unsere Technologien und die naturwissenschaftliche Forschung zu verdammen oder aufzugeben. Aber unsere neue Art denken zu lernen, erfordert mehr Einsicht, etwa ob all das, was wir heute im Stande sind, machen zu können, auch tatsächlich immer gemacht werden sollte. Eine profitorientierte Gesellschaftsordnung wird uns eine solche Wahl der Selbstbeschränkung allerdings nicht gewähren.
Aber es stellt sich auch die Frage, ob wir als Spezies biologisch schon weit genug entwickelt sind, einsichtig zu handeln. Wenn es sich als richtig erweisen sollte, und diese Theorie muß genau geprüft werden, daß unser Bewußtsein beeinflußt wird durch angeborene Hypothesen über die Welt, daß also unser Gehirn konzipiert wurde, die Welt nicht zu verstehen, wie sie wirklich ist, dann können hier auch auf biologischer Ebene ganz konkret triftige Gründe für viele Formen menschlichen Versagens liegen. Dies müßte dann auch Eingang finden in politische Entscheidungen wie auch in eine künftige Friedensforschung.
Wenn unser menschliches Bewußtsein noch nicht weit genug entwickelt ist, uns zu befähigen, ohne unsere angeborenen Lehrmeister auszukommen, dann dürfen wir nicht so töricht sein, diese Erkenntnis abzulehnen und uns in unserer menschlichen Würde verletzt zu sehen. Es könnte sonst vielmehr sein, daß uns diese Eitelkeit zum tödlichen Irrtum wird.
Wir sehen heute, daß das schöpferische Bewußtsein sowohl unendliche Möglichkeiten in der Zukunft entfalten kann; andererseits ist es eben das schöpferische Bewußtsein, das jegliche Weiterentwicklung der Evolution und der Spezies »Homo sapiens« als unmöglich erscheinen läßt!
Die kulturelle Entwicklung der Spezies »Homo sapiens« steht auf des Messers Schneide. Vielleicht ist diese Krise in der Entwicklung des Wesens Mensch aber auch natürlich und dem Verlauf der Evolution gerecht?! Wir wissen es nicht! Prigogines Theorie, daß neue, höhere Ordnungszustände entstehen, wenn ein stationärer Zustand instabil wird, läßt sich auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die kulturelle Evolution des Menschen anwenden. Seine Theorie erklärt nicht nur, wie sich natürliche, sondern auch gesellschaftliche Systeme transformieren. Können wir mit dieser naturwissenschaftlichen Theorie, die nicht mehr auf den Bereich der Naturwissenschaften beschränkt ist, etwas über eine mögliche gesetzmäßige Entwicklung unseres Werdens aussagen? Dies Problem wird allseits im Augenblick sehr intensiv diskutiert.
Alle diese Beispiele verdeutlichen, daß es keine dogmatische Abgrenzung mehr zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wie es auch aus naturwissenschaftlicher Sicht keine wirkliche Grenze zwischen materieller und geistiger Weit geben kann. Eine künftige Philosophie muß eine integrierende Funktion ausüben! Sie muß uns die Augen öffnen, daß es ökologische und biologische Grenzen für das menschliche Handeln gibt. Wir leben heute in einer global miteinander verknüpften Welt, in der biologische, psychologische, gesellschaftliche und Umweltphänomene alle voneinander abhängig sind. Um diese Welt zu begreifen, benötigen wir eine neue Perspektive.
Das neue Paradigma, das jetzt in verschiedenen Bereichen auftaucht, ist von einer holistischen und ökologischen Sicht der Realität geprägt. Es umfaßt neue, aus der subatomaren Physik stammende Konzepte von Raum, Zeit und Materie (Prigogine); die entstehenden Systeme der Lebensanschauung, des Geistes, des Bewußtseins und der Evolution; es umfaßt den entsprechend ganzheitlichen Zugang zu Gesundheit und Heilen; die Integration westlicher und östlicher Methoden der Psychologie und Psychotherapie; ein neues Begriffsmuster für Wirtschaft und Technologie und eine in ihrer wahren Natur spirituelle, ökologische und feministische Betrachtungsweise. Gefordert ist eine ganzheitliche Umorientierung des Menschen - die Umwelt und seine Innenwelt betreffend.
Vertreter dieser neuen philosophischen Bewegung sind z.B. der österreichische Philosoph Arnold Keyserling, die Amerikanerin Jean Houston und ihr Landsmann Baird Callicott, der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn sowie die Amerikanerin Marilyn Ferguson und der Philosoph Fritjof Capra, um nur einige Namen zu nennen.
Sicher ist auch, daß wir wieder lernen müssen, bescheidener zu sein, das gilt für die Natur- und Geisteswissenschaften im allgemeinen, wie für Philosophie und Biologie im besonderen.
Erinnern wir uns zum Schluß der Gedanken des Philosophen und Mathematikers Alfred North Whithead, der einmal bemerkte:
Es ist unmöglich über die Zeit und das Geheimnis des schöpferischen Wandels der Natur zu meditieren, ohne zutiefst die Grenzen menschlicher Intelligenz zu empfinden.«
Fügen wir hinzu, daß wirkliche geistige Freiheit erst dort beginnen kann, wo wir gelernt haben, unsere Grenzen zu erkennen, sie zu akzeptieren und uns dann daran zu orientieren.
Diskussionsnachtrag zu »Materie und Geist: Die Entwicklung der Bewegung zum schöpferischen Denken«
Ich freue mich über das lebhafte und erwartungsgemäß auch kritische Echo, das mein Vortrag bei den Zuhörerinnen ausgelöst hat. Da im Anschluß an das Referat nur wenig Zeit zur Diskussion bestand, bin ich dankbar, hier noch einmal Gelegenheit zur Stellungnahme zu haben.
- Zunächst zum Begriff der sog. Evolutionären Erkenntnistheorie. In einer ganzen Reihe von Fragen zu diesem Punkt habe ich doch ein starkes Unbehagen bis hin zum Mißverständnis gespürt. Ich habe versucht zu verdeutlichen, was hier in jüngster Zeit von Seiten der positiven Wissenschaften entwickelt worden ist. Die Verfechter der Evolutionären Erkenntnistheorie gehen davon aus: Wenn es eine genetische Evolution der Organismen gegeben hat, dann waren auch das Denken des Menschen, sein Erkenntnisvermögen, seine kognitiven Strukturen Teil dieses Evolutionsprozesses. Geradezu unausweichliche Folge war, daß sich unser Denken an die Strukturen der realen Welt anpaßte. Die Selektion hat für uns die der Natur gemäßen Reaktionsmuster ausgelesen. Ein Abweichen von diesen Vorstellungen über die WeLt, ein falsches Denken, war ein gravierender Selektionsnachteil. Die Fähigkeit zum richtigen Denken, die der Welt angemessenen Anschauungsformen und Erkenntniskategorien wurden in den Genen der Organismen verankert. Dieser Prozeß der Hypothesenbildung über die Welt begann schon lange vor der Entwicklung des "Homo sapiens". »Als unser Bewußtsein schließlich erwachte und die Welt wahrzunehmen begann, war längst darüber entschieden, wie es diese Welt interpretieren, was an ihr es für wahr halten würde, und was nicht« (v. Ditfurth). Unsere Fähigkeit, a priori Aussagen über die Welt zu machen, sind vom Standpunkt der Evolutionären Erkenntnistheorie, phylogenetisch, durch Lernen erworbenes Wissen a posteriori. Unser Problem heute besteht darin, daß die Evolution die Organismen und somit auch uns, nicht derart entwickelte, die reale Welt vollständig zu verstehen, sondern die angeborenen Hypothesen dienten einzig dazu, die Lebewesen jeweils optimal an ihre Umwelt anzupassen. Die Folge: Wir müssen einsehen, daß unser Erkenntnisvermögen begrenzt ist (z. B. kann sich niemand mehr als drei Dimensionen räumlich vorstellen).
Die Einsicht in diese Begrenzung unseres Erkenntnisvermögens könnte zum Beispiel von großer Wichtigkeit sein in bezug darauf, wie wir in Zukunft gedenken wollen, unsere Probleme anzugehen und zu lösen. - Woher kommt der Geist, unser Bewußtsein?
Eine These der evolutionären Erkenntnistheorie: Unser Bewußtsein, unser Geist ist nicht das Produkt der lebenden Materie, des Gehirns (er ist nur an dessen Strukturen geknüpft), sondern unser Gehirn ist nur ein Organ, ein Spiegel, in dem eine jenseitige Wirklichkeit aufzuleuchten scheint.
Ich habe diese Hypothesen nicht vorgetragen, um den positiven Wissenschaften das Wort zu reden oder aus unreflektierter Wissenschaftsgläubigkeit. Ich bin mir voll der Zweifelhaftigkeit moderner Naturwissenschaft bewußt, welche Machtstrukturen und wieviel physische und psychische Gewalt, zum Beispiel gegen uns Frauen, sich damit verbindet. Darauf noch weiter einzugehen, wäre Sache eines weiteren Referates gewesen und hätte bei weitem den Rahmen meines Vortrags gesprengt. Weiterhin wollte ich auch nicht den Eindruck erwecken, diese Theorien seien unumstößliche Lehrsätze innerhalb der Naturwissenschaften. Im Gegenteil, sie werden heftig diskutiert. Aber, und allein darauf kam es mir an, diese Gedanken, die ohne Zweifel auch große Tragweite haben könnten für die Philosophie, zum Gegenstand der Diskussion zu machen! Ich sehe kein Argument darin, daß eine Auseinandersetzung mit diesen Thesen nichts bringen soll. Ohne Zweifel kommen sie für uns aus einer ungewohnten Ecke und ohne Zweifel sind sie das Ergebnis einer vornehmlich von Männern entwickelten und beherrschten Welt, mit der uns wohl mehr negative Erfahrung verbindet. Diese Tatsache bleibt, Gedanken und Hypothesen dieser Art existieren und ziehen Kreise. Wir Philosophinnen stehen vor einem Dilemma: Vom Standpunkt der Philosophie müßte uns an einer Auseinandersetzung mit solchen Ideen sehr gelegen sein. Von unserem Standpunkt als Frauen spüren wir große Ablehnung, uns noch weiter mit einer männerorientierten Wissenschaft auseinanderzusetzen und uns weiterhin einzulassen auf ein solches System und uns seinen Spielregeln, sofern sie uns überhaupt berücksichtigen, zu unterwerfen. Dennoch, ich kann mir nur schlecht vorstellen, daß wir etwas verändern werden, wenn wir uns nicht auseinandersetzen mit dieser wichtigen Domäne männlicher Arroganz. Totschweigen oder verdrängen scheint mir keine Lösung, weibliche Vorstellungen zu vertreten.
Wie heute für jeden spürbar wird, steckt die westliche Zivilisation in einer tiefen, umfassenden Krise. Diese Krise äußert sich unter anderem darin, daß menschliche Beziehungen in einer sich mehr und mehr entfremdeten Umwelt verloren zu gehen drohen, daß die ökonomische Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird und daß die ökologischen Grenzen der Natur aufgrund einer Existenzweise des "immer mehr haben Wollens" längst überschritten sind.
Dies alles geschieht im Namen der Vernunft, basiert im wesentlichen auf einer immer weiter einseitig technologisch ausgerichteten Gesellschaftsform. Das hat uns dahin gebracht, daß ein jahrmilliarden währender, evolutiver Prozeß des Lebens heute mit technologischen Mitteln auf diesem Planeten zum Auslöschen gebracht werden kann. Dies ist die Erblast einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft, die Realität, mit der wir als Frauen konfrontiert sind. Diese Realität und diese patriarchalische Gesellschaftsordnung gilt es zu verändern.
Zwei Gründe für die existenzbedrohende Entwicklung, wie sie vornehmlich von der westlichen Kultur ausgeht, zeichnen sich ab: ein allgemein biologischer und ein spezifisch gesellschaftlicher. Biologisch könnte die Spezies "Homo sapiens", wie die "Evolutionäre Erkenntnistheorie" zu erhellen sucht, bei weitem nicht so vernunftbegabt sein, wie der "Homo sapiens" als reflektierendes, vernunftbegabtes Wesen sich gern gesehen hätte. Der zweite, gesellschaftliche Grund, liegt in einer verkrusteten männlich, patriarchalisch strukturierten Gesellschaftsordnung, in der Vernunft zum rein männlichen Attribut erklärt wurde, und in der Folge zum Handlanger verkümmerte für eine einseitig technologisch-naturwissenschaftliche Denkweise. Hier muß unser Widerstand einsetzen, wie dies schon in der Diskussion zum Ausdruck kam:
Voten
Diskussionsleitung: Simone Zurbuchen
A.: »... Mir fällt es schwer, mich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Männern zu stützen, weil ich einfach erfahre, und je mehr ich das erfahre, desto klarer wird mir das, daß meine Welterfahrung eine andere ist. Ich empfinde meine Welterfahrung als weiter. Deswegen bin ich auf der Suche, das ist für mich keine weibliche Ideologie, sondern ich bin einfach auf der Suche nach Erfahrungen, die wir als Geschlechtswesen machen. Ich bin nun mal kein neutraler Mensch, und das ist etwas, was einfach in die Forschung einfließen muß, ich als forschendes Subjekt. Ich mache zum Beispiel Erfahrungen mit anderen Erkenntnisweisen als mit den rationalen, intellektuellen. In dem Moment, wo ich erkannt habe, wie begrenzt die herkömmliche Forschungsart ist, habe ich angefangen, in Anlehnung an östliche Philosophie zu meditieren. Ich kann nur sehr wenig darüber sagen, weil es ein sehr mühsamer Weg ist, aber ich habe erkannt, daß das ein Weg ist, der vollkommen in unserer Erkenntnis der Welt mit einzufließen hat.
B.: »... worunter wir alle leiden, resultiert doch daraus, daß die Naturwissenschaften, und zwar ohne zu fragen, ohne zu rechtfertigen, einzig mit der Begründung, Erkenntnisse ansammeln zu müssen, sich leiten lassen. Ich denke mir, daß gerade diese Sache von Frauen und von Seiten der Philosophie her sehr stark reflektiert werden müßte. So hat es mich schon erstaunt, wie positiv in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Molekularbiologie beurteilt wurden, ebenso wenn von "Meilensteinen der Wissenschaft" die Rede war.
C.: »... dazu möchte ich sagen, daß gerade in der letzten Zeit, da ich mich mit Frauenproblematik befasse, mir fundamentale Zweifel gekommen sind, ob uns diese Dinge wirklich weiter helfen. Die These, daß die Fragen, die den menschlichen Geist betreffen, sozusagen immer schon im Bereich der Geisteswissenschaften gelegen hätten, im Bereich des philosophisch-theologischen Denkens etc., ist richtig, mit einer notwendigen Präzisierung.
Geht man historisch gesehen rückwärts, so erreicht man den Punkt, an dem das Erkenntnis- und Wissensideal von Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht getrennt waren. Der Grund dieser Trennung war, wie ich meine, ein politischer. Die Wissenschaftler zur Zeit des aufsteigenden politischen Absolutismus gingen mehr und mehr einen historischen Kompromiß mit den tradtionellen Institutionen ein, d. h. sie verzichteten freiwillig und erklärtermaßen darauf, Fragen der Religion, der Politik, des menschlichen Lebens weiter (ganzheitlich) zu behandeln. Dies hat zu verheerenden Folgen für unser modernes Wissenschaftsverständnis geführt. Ein weiteres kommt hinzu: Es ist das Paradigma der "Galileischen Wissenschaft", wie es Husserl nannte. Dieses Paradigma geht zurück einmal auf das kopernikanische Axiom von der mathematischen Struktur des Universums, wie auch daran anknüpfend die Lehre Galileis von den primären und sekundären Qualitäten. Es besagt, daß die Wirklichkeit nur erkannt werden kann, insofern sie mathematisch beschreibbar ist. Alles Subjektive wird von da an aus der Reflexion der Naturwissenschaften hinausgedrängt. Hierin liegt meiner Meinung nach das eigentliche Verhängnis: der institutionelle Kompromiß mit den damaligen sozialen Verhältnissen und die dogmatische Installierung von bestimmten Denkformen, durch die andere Denkformen verdrängt worden sind.
Was die "Evolutionäre Erkenntnistheorie" betrifft, so besteht ihre besondere Qualität für mich vor allem darin, daß es die Naturwissenschaftler jetzt geschafft haben, den Bereich des Denkens, der im 17. Jahrhundert noch der Theologie vorbehalten war, auch noch mit ihren technologischen Phantasien zu besetzen.
D.: »... Was wir erfahren ist doch, daß die Subjektivität gefährdet ist in der Realität der technischen Strukturen, nicht nur im Denken, sondern auch die Körper, die eigentliche Lebenssubstanz der einzelnen Individuen ist unmittelbar bedroht. Der Richtung nach stimme ich mit dem Vortrag voll überein, aber ich kann nicht sehen, wie das, was z.B. E. Fromm will, zu bewältigen wäre mit Theorien von Eccles oder Popper.
E.: »... mich hat gefreut, daß hier versucht wurde, wieder eine Verbindung zwischen Naturwissenschaften und Philosophie herzustellen, ebenso bin ich vollkommen einverstanden mit dem Teil des Vortrages, daß wir Abschied nehmen müssen von unserer Vorstellung eines anthropozentrischen Weltbildes, das die Natur, wie auch das gesamte Universum, betrifft.
F.: »... zum Abschluß möchte ich sagen, daß mir ein neuer Materiebegriff für unser Denken und für die Infragestellung unseres herkömmlichen Denkens und Suchens nach neuen Denkformen sehr wesentlich zu sein scheint. Er müßte umfassender sein. Unser Denken ist absolut gesehen begrenzt, begrenzt darin, daß wir uns immer vorstellen, wenn wir auf der Suche nach neuen Formen (z. B. neuen weiblichen Kategorien) sind, sie müßten auch in Zukunft auftreten. Wir glauben daran, weil wir glauben, in der Lage zu sein, sie aufgrund unserer Reflexion linear entwickeln zu können, Schritt für Schritt. Ich glaube, daß das so nicht geht. Wir sollten vielmehr versuchen, von einem Materiebegriff auszugehen, der relativ ist, und der uns beibringt, daß Raum und Zeit nicht nur in unserer festgelegten Form existieren, daß es also nicht nur unsere Wirklichkeit gibt, sondern deren viele mehr. Dies könnte uns inspirieren, wenn wir uns jetzt daran machen, nach neuen, spezifisch weiblichen Denkformen zu suchen.