Ein Netzwerk zur Unterstützung einer weiblichen Utopie

Die Siedlungsbewegung in der Henry Street

Wenn wir im Lexikon unter »Utopie« nachschlagen, finden wir verschiedene Definitionen: ein Ort des Rückzugs oder der idealen Perfektion oder unpraktikable soziale Verbesserungspläne. Zwei dieser Deutungen treffen auf ein Lebensexperiment progressiver Frauen zu Beginn unseres Jahrhunderts zu. Die Siedlungsbewegung, in Chicago von Jane Addams und in New York von Lillian Wald gegründet, mag heute wie ein »unpraktischer sozialer Verbesserungsvorschlag« erscheinen, war aber damals für die betroffenen Frauen in ihrer Arbeitssituation ein Ort der idealen Vollkommenheit. Unter welchen Bedingungen und für wen erscheinen diese Siedlungen der Jahrhundertwende als originäre Zentren utopischen Lebens?
Wenn wir die Beziehungen von Frauen zu Macht und Öffentlichkeit analysieren, wird klar, daß Frauen dann großen Einfluß auf die Gesellschaft nehmen konnten, wenn sie sich zusammentaten und ihre eigenen Institutionen ins Leben riefen. Einige Historiker haben die Siedlungsbewegung als soziale Hauswirtschaft klassifiziert. Ich halte es aber für zutreffender, den weitreichenden Einfluß dieser Zentren auf die Gesellschaft und ihre Macht anzuerkennen. Schließlich propagieren sie eine völlig neue Art, soziale Beziehungen zu organisieren.
Wann immer wir an Utopien denken, kommen uns Gemeinschaften in den Sinn, in denen Menschen Gedanken und Gefühle austauschen, zusammen leben und arbeiten. Das 1889 in Chicago gegründete Hull-Haus und die Siedlung in der Henry Street von 1895 legen Zeugnis von einer Bewegung ab, die der ersten Generation der Feministinnen des zwanzigsten Jahrhunderts Möglichkeiten zur Veränderung gab. Und das in einer Zeit, in der Frauen lediglich als Gattinnen und Mütter respektiert wurden. Als Töchter einer Gesellschaft, die ihnen Abhängigkeit und Unterwürfigkeit diktierte, gab das Frauennetzwerk der Siedlungsbewegung aktiven Frauen die Chance, mit Kraft, Energie und Erfolg aufzutreten. In jener Zeit dominierten in der Öffentlichkeit wie im Privatleben Bestechung und Brutalität großer Konzerne, ein Laissez-faire-Kapitalismus und eine frauenfeindliche Politik, die Frauen Stimmrecht, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit verwehrten.
Frauen in der Öffentlichkeit, die mit Politikern, Finanziers, Humanisten und Interessengruppen verkehren, brauchen Unterstützung und Rückhalt von anderen. Die tiefe Freundschaft, die Lillian Wald mit Jacob Schiff verband, garantierte die finanzielle Grundlage für ihre öffentliche Aufgabe. Deshalb schloß sie manchmal auch Kompromisse. Es war keine gleichberechtigte Freundschaft. Er gab das Geld, sie konnte dafür der Gemeinschaft dienen — sofern er zustimmte. In dem Maß, wie er ihre Arbeit guthieß und ihre Ansichten und ihre Vorstellungen von sozialem Wandel teilte, unterstützte er sie auch. Für emotionalen Rückhalt und eine wahre Interessengemeinschaft gab es ein Netzwerk von Verbündeten, deren Zentrum in der Henry Street lag.
Zu dieser Gruppe der Bewohnerinnen der Henry Street, die Wald hauptsächlich unterstützten, zählten Ysabella Waters, Annie Goodrich, Florence Kelley, Helene MacDowell und Lavinia L. Dock. Die Sozialreformerin Kelley wurde durch ihre Arbeit mit dem nationalen Verbraucherverband sehr bekannt. Die anderen waren Krankenschwestern, mit denen Wald eine Bewegung für öffentliche Gesundheit und Professionalisierung der Pflegeberufe gründete. Sie waren ihre ständige Begleitung, und was auch immer in Walds Leben sonst passieren mochte — sie waren stets da, bestimmten den Tagesablauf und erweiterten beständig den Blickwinkel ihrer sozialen Verpflichtungen. Jeden Morgen beim Frühstück lasen sie die Zeitungen, besprachen neue Aktionen. Ihre Pläne waren ehrgeizig und ihre Erfolge beträchtlich.
Sie gründeten Utopia im Herzen einer unwirtlichen Umgebung der Armut und des Elends mit dem Ziel, sie vollkommen zu verändern. Als Lillian Wald zur Lower East Side zog, war es dort so dicht besiedelt wie in den dichtbesiedeltsten Städten Indiens. Fast tausend Personen lebten auf einem Morgen Grund. Jede Wohnung hatte ihre herzzerreißende Problematik, die nach der Arbeit der Siedlungsfrauen förmlich schrie. Wald bemerkt:

  • Wenn die Straßen schon schlecht waren, so befanden sich die Häuser in einem noch übleren Zustand: Dreck und Schmutz im Treppenhaus, mangelhafte Sanitäranlagen, kaum ein Bad. Von den Hinterhäusern, in denen es kein fließendes Wasser gab, schaute man hinab auf Hinterhöfe voller Abfälle. Die Kinder spielten in dem Schmutz. In einem Raum lebten manchmal bis zu sechsköpfige Familien...

Der Kreis um Lillian Wald beschloß, dieser Schande ein Ende zu bereiten. Ihre Arbeit bestand nicht aus Wohltätigkeit, die in ihren Augen Armut und bedrückende Umstände nur festschrieb, sondern aus der Veränderung der Zustände durch öffentlichen Druck. Mit jedem neuen Spielplatz, öffentlichem Gesundheitsprogramm oder Kinderhilfebüro forderten sie die Übernahme ihrer Bemühungen und Einrichtungen durch den Staat. Sie bestanden darauf, daß der Staat für die Sozialfürsorge zuständig sei. Am Vorabend ihres Todes 1940 kommentierte Wald ganz zufrieden die Erfolge ihrer Arbeit: Sie habe ihr doch nicht nur Vergnügen bereitet und sie mit Liebe erfüllt, sondern sei jetzt auch durch die Politik des New Deal abgesichert. Die Regierung Roosevelt hatte ihre Vision einer utopischen Gemeinschaft in der Zeit der Depression erfüllt. Heute, da diese Programme beschnitten oder abgeschafft werden, ist es wichtig, sich dieser Siege zu erinnern.
1897 hatten die Schwestern und Reformerinnen der Henry Street das Gesundheitsamt von New York dazu gebracht, ein Team von 150 Ärzten zu bestallen, die pro Tag eine Stunde in New Yorks öffentlichen Schulen Dienst taten. Die Krankenschwester Lina Rogers besuchte in Walds Auftrag regelmäßig die Schulen und errichtete ein Schulschwesternprogramm. Schließlich wurde das Büro für Kinderhygiene gegründet, das diesen Schulschwesterndienst übernahm. Damals wurden auch die billigen, warmen Mittagsmahlzeiten für die Kinder der öffentlichen Schulen eingeführt. (Heute steht dieses Programm unter schwerem Beschuß. Gesundheit und Wohlbefinden der Kinder mißachtend, rief Präsident Ronald Reagan das Ende subventionierter Mahlzeiten für Schulkinder aus und erklärte gleichzeitig Ketchup zum »Gemüse«.) Da sie auch das seelische Befindender jungen Menschen in ihrer Nachbarschaft ernst nahmen, schufen die Sozialarbeiterinnen der Henry Street den Verband der Gemeinschaftshäuser und errichteten Auditorien für öffentliche Lesungen, Konzerte, politische Versammlungen, denen Speisesäle, Spielräume und Sozialzentren wie auch Studierstuben für Kinder ohne eigene Lernräumlichkeiten angeschlossen waren. Das ganze Sonderschullehrerprogramm entwickelte sich ursprünglich unter dem Vorsitz von Lillian Wald und Elizabeth Farrell in der Henry Street. Der erste öffentliche Kinderspielplatz New Yorks entstand in einem Hinterhof in der Henry Street mit Blumen, Sandkästen, Hängematten, Leitergerüsten und Barren. Die Forderung nach öffentlichen Spielplätzen fand ihr Sprachrohr in dem von Wald und ihren Mitarbeiterinnen gegründeten Nationalen Spielplatz-Verband und der Freizeitstätten-Liga von 1898.
Lillian Walds bewährtester Beitrag zum Gesundheitswesen der Stadt New York und der Nation war die Schaffung des Schwestern-Besuchsdienstes. 1932 besorgte dieser Dienst über 600 000 Hausbesuche jährlich. Mehr als 250 Krankenschwestern bereisten die Stadt, von Stadtteil zu Stadtteil, mit der Fähre oder dem Bus; sie besuchten die Kranken und Bedürftigen, die vor diesem Notdienst der Krankenschwestern mit geringer Bezahlung ihre Krankheiten erleiden mußten oder gar daran starben. Dieser Hausbesuchsdienst der Krankenschwestern bleibt eine Herausforderung für das Gesundheitswesen der Vereinigten Staaten, die als einziges Industrieland neben Südafrika noch immer keine gesetzlich abgesicherte öffentliche Gesundheitsfürsorge haben.
Diese Krankenschwestern, die vor achtzig Jahren ihre Besuchsdienste von der Henry Street aus starteten, waren radikal praxisbezogen und radikal politisch. Sie berieten in Ernährungsfragen und Krankheitsvorbeugung. Ihr Ansatz war ganzheitlich und ähnelte in keiner Weise dem technischen Ansatz unserer heutigen westlichen Medizin.
Lavinia Dock erläuterte 1907 in einer Rede über »die großen, dringenden, pochenden und bedrückenden Sozialfragen unserer Zeit und unserer Generation«:

  • Früher hatten sich die Krankenschwestern der religiösen Orden, in den Fesseln ihrer geistigen Unterdrückung gefangen, bewußt von allem Weltlichen zurückgezogen. Nach Reformen stand nicht ihr Sinn, noch hegten sie irgendwelche radikalen Hoffnungen zu Gesellschaftsveränderungen — sie stellten ihr Leben in den Dienst nicht hinterfragter Verbesserungen und Wiederherstellungsfürsorge... Wir haben ihre Fesseln abgelegt, denn wir wollen nicht von der Welt abgeschnitten sein. Unsere Prinzipien entstammen anderen Grundlagen als ihren. In unserer Zeit glaubt man nicht mehr an die Unvermeidbarkeit von Krankheit und Elend. Vorsorge tritt an die Stelle von Verbesserung. Dies ist die Antwort auf die Entdeckung, daß die menschliche Rasse genau wie rohe Materie sich unendlich verbessern und entwickeln kann, daß die menschliche Gesellschaft fähig ist zur Umwandlung in gerechtere Strukturen als die vergangenen...

Wer waren diese Frauen, und wie lebten sie? Nach ihren eigenen Worten führten sie ein gutes und erfülltes Leben. Sie lebten, reisten und arbeiteten zusammen. In gegenseitiger Unterstützung und Liebe fanden sie Kraft und Stärke für ihre Arbeit. Ihre Lebensgestaltung war eine positive Entscheidung in einer Gesellschaft, die Frauen wenig Freiheit oder wirtschaftliche Unabhängigkeit zugestand. Diese in Freundschaft verbundenen Frauen, die ihr ganzes Erwachsenenleben miteinander verbrachten, wurden von den Historikern - aus keinem ersichtlichen Grund — als »einsame, asexuelle Jungfern« verschrien. Homophobie, eine Engstirnigkeit, die gleichgeschlechtliche Freundschaften als Todsünde oder Geisteskrankheit oder beides geißelt, verschweigt weiterhin die sexuellen Anteile der Beziehungen zwischen einigen dieser Frauen. Das in der Geschichte über sie verbreitete Bild, das sie als gewöhnlich und tugendhaft, wenn nicht beispielhaft und außergewöhnlich beschreibt, ließ die Grundelemente ihres Lebens außer acht oder banalisierte sie. Eine Frau als asexuell zu bezeichnen klingt dabei weniger »gefährlich« als lesbisch. Noch 1977 richtete sich die von Anita Bryant gestartete Kampagne »Rettet unsere Kinder« gegen Homosexuelle in der Öffentlichkeit — Sozialarbeiter/innen, Lehrer/innen, Krankenschwestern, Rechtsanwälte/innen —, die sich für die gleichgeschlechtliche Liebe und das Zusammenleben entschieden hatten.
Die Bewohnerinnen dieser Siedlungsutopien mußten zeitlebens Kritik und Böswilligkeit hinnehmen. Während der Wahlrechtsbewegung wurden sie belästigt und ins Gefängnis gesteckt. Ihre anti-imperialistische und anti-militaristische Haltung im Ersten Weltkrieg rief Schmähschriften gegen sie hervor und ließ ihnen Drohbriefe voller Haß ins Haus flattern. Die Unterstützung, die sie so dringend zur Fortsetzung ihrer Öffentlichkeitsarbeit brauchten, wurde eingeschränkt. Als 1920-30 die »Rote Gefahr« an die Wand gemalt wurde, waren sie als »Rote« verschrien. Lil-lian Wald und Jane Addams sowie die meisten ihrer Mitarbeiterinnen wurden dem roten Verräternetz zugeordnet, das angeblich Amerika subversiv unterwandern und zur Revolution führen sollte. Selbsternannte »Patrioten« erklärten Jane Addams im Jahr ihres Todes, 1935, zur gefährlichsten Frau der USA.
Die unterstützende Liebe und Treue der Gemeinschaft trug zur Standfestigkeit der Sozialarbeiterinnen der Siedlungshäuser bei. Dadurch konnten sie über Jahrzehnte voller Kritik und Schmach ihre Visionen aufrechterhalten. Sie taten, was getan werden mußte — schlössen, wenn nötig, Kompromisse und propagierten kühn den Fortschritt, wo möglich. Ihre Interessen schlössen die ganze Welt ein, und voller Leidenschaft traten sie für Gerechtigkeit und sozialen Wandel ein. Sie waren bei der Gründung der nationalen Frauengewerkschaftsliga dabei, um sichere und gesunde Arbeitsplätze zu fordern. Sie traten für den Acht-Stunden-Tag ein und verlangten angemessene Löhne. Gegen Kinderarbeit schufen sie das staatliche Kinderbüro, das sich auch den wirtschaftlichen Bedürfnissen und der Bildung der Kinder widmete. Die ersten Treffen der Nationalen Vereinigung zur Förderung der Farbigen (NAACP = National Association for the Advancement of Colored People) fanden in der Henry Street statt, weil dies der einzige Ort in ganz New York war, an dem gemischtrassige Zusammenkünfte möglich waren. Sie gründeten die Frauenfriedenspartei, die Amerikanische Vereinigung gegen den Militarismus und verschiedene andere Anti-Kriegs-Organisationen. Weltweit wollten sie die Bedingungen für eine sozial-politische Wirtschaftsordnung schaffen, die international Frieden und Sicherheit garantieren könnte.
1937 erfuhr Lillian Wald große Ehrungen anläßlich ihres 70. Geburtstags. Ihre Antwort darauf lautete:

  • Unsere Siedlungsbewegung zeigt deutlich, was in relativ kurzer Zeit von Menschen, die einander vertrauen, erreicht werden kann. Sie haben in harter und guter Zusammenarbeit voneinander gelernt. Dies Ziel erreicht zu haben ist unser größtes Geschenk...

Für Lillian Wald war das alles erst der Anfang. Ihr Ziel — Kriege zu beenden, Armut und Arbeitslosigkeit zu beseitigen sowie Freiheit, Sicherheit und Einigkeit zu schaffen — hing von der »organisierten Aktion« künftiger Generationen ab, die ebenso wie sie und ihre Freundinnen ihre Kraft dafür einsetzen. Für Lillian Wald und ihre Mitarbeiterinnen blieb es Utopie. Sie starbumgeben von Liebe und Zufriedenheit — im Glauben daran, daß die Zukunft die Insignien erfüllen würde, die sie bei ihrem Besuch in Japan 1910 für die Schwestern der Henry Street entworfen hatte: »Wir sind alle eine Familie.«

Anmerkungen

  • Eine genauere Lebensbeschreibung von Lillian Wald, Jane Addams und der Siedlungsbewegung findet sich in B. W. Cook: »Female Support Networks and Political Activism«, Chrysalis 3, Nachdruck von Out and Out Books (1979), und in Linda Kerber und Jane DeHart Matthews (Hg.): Women's America, Oxford University Press, New York 1982.
    Mein Dank geht an Clare Cross für ihren Aufsatz über Lillian Wald und Teresa E. Christy für ihre Serie über Krankenschwestern: »Portrait of a Leader«, in: Nursing Outlook. Siehe auch andere Nummern von Nursing Outlook.
    Andere Zitate in diesem Beitrag stammen von S. J. Woolf: »Miss Wald at 70...«, New York Magazine, 7.3.1937; »Nation Honors Lillian Wald on 70th Birthday«, New York Herald Tribüne, 11.3.1937.