Gegenwärtige Richtungen

Einleitung

Im zwanzigsten Jahrhundert beteiligen sich Frauen mit Liebe, Lust und Leidenschaft an Kommune-Experimenten, sozialen Bewegungen und der Transformation der Gesellschaft. Oft nehmen sie dabei sogar leitende Stellungen ein. Wie die Aufsätze in diesem Abschnitt zeigen, erfanden Frauen eine Reihe von Strategien, um ihre Situation zu verbessern, vor allem in den USA, Spanien, Dänemark und Schottland. Sich der Beziehungen zwischen ihrer Befreiung und der Bedrohung unseres Planeten bewußt, haben Frauen auf örtlicher, nationaler und internationaler Ebene sinnvolle Alternativen zu den kränkelnden Patriarchaten der kapitalistischen und der sozialistischen Nationen entwickelt.
»Die feministische Kritik an Industrialismus, Sozialismus und Kapitalismus stellt zur Zeit die einzig wirklich neue Analyse dar«, sagt der französische Marxist Roger Garaudy (nach einem Zitat der Futuristin Hazel Henderson[1]): Henderson weist darauf hin, daß der Feminismus »libertäre, anarchistische, utopische Traditionen« integriert habe und so eine Synthese hervorbrachte, die »anthropologische und archäologische Studien matrilinearer, matriarchaler und polyandrischer Kulturen einschloß«. Dies führte zu »innovativen Konzepten sozialer Organisation mit der Androgynie als hervorstechendem Merkmal — das heißt Mann wie Frau werden von ihren derzeitigen Rollen im Gefängnis ihres Geschlechts befreit«.[2] Linguistik wie Alltagssprache werden durch feministische Sprachanalysen revolutioniert: Frauen entdecken einerseits die Sprache als Herrschaftsinstrument und benutzen sie andererseits als Verjüngungsbrunnen. Die Poesie der Frauen mit ihren Ängsten und Sorgen, ihren Stärken und Visionen bestätigt die Auffassung: »Das Persönliche ist politisch.« In ihrem Wunsch nach einem erfüllten Leben verbinden sich Frauen manchmal mit Männern, doch immer häufiger heutzutage auch mit Frauen. Jeder Weg ist mit Widersprüchen und Entbehrungen, Erfolgen und Niederlagen gepflastert. So ist Utopia nun einmal.
Eine Strategie, die die Aufmerksamkeit feministischer Wissenschaftlerinnen mehr und mehr auf sich zieht, ist das Einbringen weiblicher Kulturformen. Separatistische Gruppen gewinnen damit politischen Einfluß und Autonomie, wie die Beispiele von Sozialarbeiterinnen in den USA und spanischer Anarchistinnen im frühen zwanzigsten Jahrhundert zeigen. Später, in den sechziger und siebziger Jahren, sind die zielgerichteten Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten und Dänemark beispielhaft.
Blanche Cook schreibt in »Ein Netzwerk zur Unterstützung einer weiblichen Utopie«: »Frauen, die sich ihre eigenen Institutionen schaffen, haben bei weitem den größten Einfluß auf unsere Gesellschaft. Das wird zunehmend klarer.« Die Gemeinschaft aus Sozialarbeiterinnen und Krankenschwestern aus der Siedlungsbewegung in der Henrystraße beispielsweise konnte die emotionale Kraft und Stärke hervorbringen, die zur Überwindung von »Armut und Elend« in der Lower East Side von New York nötig war. Damit konnten sie auch in einer bestechlichen und brutalen Öffentlichkeit »Wunder« wirken. In den Vereinigten Staaten ermöglichte gemeinsames Arbeiten, Leben und Reisen der ersten Feministinnen-Generation, »ihre Beziehungen zu einer Gesellschaft, die Frauen nur als Gattinnen und Mütter akzeptierte«, zu verändern und Beleidigungen und Belästigungen abzuwehren, die ihre Stimmrechtsbewegungen und ihr Anti-Imperialismus hervorriefen. Verschrien als »asexuelle, einsame Jungfern« haßten diese frauen-liebenden Frauen Ungerechtigkeiten in jeder Form.
»Mujeres Libres« (freie Frauen) entstand ebenso wie die Siedlungsbewegung in New York und Chicago vor der Jahrhundertwende. Die Gruppe innerhalb der spanischen Anarchistenbewegung hatte um 1938 rund 20 000 Mitglieder im gesamten republikanischen Spanien.[3] Spaniens Anarchistinnen blicken auf eine kämpferische Geschichte in Stadt und Land zurück. Trotz des Widerstands der Anarchisten waren »Mujeres Libres« überzeugt, daß nur in ihren autonomen Gruppen »die dreifache Versklavung der Frauen durch Unwissenheit, Kapital und Männer« beendet werden kann, wie Ackelsberg ausführt. »Ironischerweise gingen die Frauen in >Mujeres Libres< und anderen Frauengewerkschaften und Verbänden in der Durchsetzung anarchistischer Ideale viel weiter als die meisten gemischten Anarchistengruppen.«[4] Hier fanden die spanischen Frauen eine Gemeinschaft, die wirtschaftlich und emotional ihnen mindestens so viel Rückhalt bot wie die Kirche - »wenn auch nur für kurze Zeit«.[5] Die Zerschlagung von »Mujeres Libres« war eine der größten Tragödien bei der Niederlage der spanischen Republik im Jahre 1939.
Die spirituelle New-Age-Gemeinschaft Findhorn — 1962 in Schottland gegründet — hat kaum etwas mit irgendeiner orthodoxen Religion gemein. Die vielen Tochterkommunen in Europa und den Vereinigten Staaten bezeugen die wachsende Anziehungskraft. Findhorn sucht den Einklang mit der Natur und erlangte Berühmtheit durch seine großen Salatköpfe auf unwirtlicher Erde (wie auch der Film »Mein Essen mit Andre« anmerkt). Findhorn finanziert sich selbst durch eine Druckerei, eine Gärtnerei, zahlende Gäste und die Einnahmen aus New-Age-Konfe-renzen. Wie in Twin Oaks auch drücken die Mitglieder ihre Zuneigung zueinander »in vielen herzlichen Umarmungen« aus. Arbeit spielt in Findhorn eine große Rolle: Sie wird als »Liebe in Aktion« gesehen und bringt den »Geist in die Materie«. Frauen und Männer machen Dreckarbeiten, arbeiten in der Küche, führen Installationsarbeiten aus — es gibt keine Rollenverteilung nach Geschlecht. Die meisten Frauen sind Feministinnen, die jeglichen Ausdruck männlichen Chauvinismus scharf zurückweisen, vor allem in der Sprache. Doch, wie Sheer herausfand, ist der Sexismus noch nicht ganz abgeschafft: Ältere Frauen sind das unsichtbare Geschlecht. Nur wenige Utopisten, wie Noyes und Fourier, haben sich überhaupt mit den Bedürfnissen älterer Frauen auseinandergesetzt.
Das 1966 nahe bei Louisa in Virginia gegründete Twin Oaks ging ursprünglich auf Skinners »Waiden II« zurück, hat sich aber inzwischen längst vom Behaviorismus abgewandt. »Gleichberechtigung der Geschlechter und soziale Gerechtigkeit sind der Kommune höchste Werte« und »mit dem Aufkommen der Frauenbewegung wurde in der Kommune auf Abschaffung jeglicher Diskriminierung geachtet«.[6] In Twin Oaks wie auch in Findhorn wird jede Arbeit gleich bewertet, eine Stunde Waschen zählt genausoviel wie eine Stunde Auto reparieren oder Kühe schlachten. Somit schwindet nach Weinbaum die unbezahlte Arbeit der Frauen. Auch hier spielt die Arbeit eine wesentliche Rolle, doch gibt es keine Vollzeitbeschäftigungen. Das gemeinsame Arbeiten läßt genügend Raum für Freizeitvergnügen. Die Kommune trägt sich selbst, hauptsächlich durch den Versand selbstgewebter Hängematten.
In Twin Oaks gibt es hetero-, bisexuelle und lesbische Frauen. Mutterschaft und Kindheit betreffen die gesamte Gemeinschaft. Die Gemeinschaft entscheidet, wie viele Geburten pro Jahr tragbar sind, und bezahlt auch eine künstliche Befruchtung, wenn das gewünscht wird. Während der Schwangerschaft erhält die Frau ihre Arbeitsentschädigung weiter. Väter suchen den Kontakt mit den Kindern genau wie die Mütter, und das Kind kann sich Zuneigung und Wärme bei allen Erwachsenen holen. Da es nicht dieses Urbild »der Mutter zu Hause und dem außerhäuslich arbeitenden Vater« gibt, entsteht auch keine »Abhängigkeit von nur einer Quelle von Liebe/Haß/Bestrafung/Belohnung«, schreibt Weinbaum.
Die Mitglieder befassen sich mit der Geschichte utopischer Gesellschaften und verbünden sich mit anderen zielgerichteten Gemeinschaften durch Netzwerke, Veröffentlichungen und Konferenzen. Twin Oaks entfaltet »eine eigene Kultur mit eigenen Institutionen in einem langsamen und schmerzvollen Prozeß durch Experimente und Wachstumsmöglichkeiten... und nimmt an dem utopischen Ideal des sozialen Wiederaufbaus teil«.[7]
Frauenkollektive im zwanzigsten Jahrhundert entstammen direkt der gegenwärtigen Frauenbewegung in Stadt und Land. Viele Gründungsfrauen dieser Kollektive lebten zunächst in gemischten Gemeinschaften, empfanden diese aber bald als zu männerbestimmt. Die Kollektive, die Weinbaum in ihrer einjährigen Suche nach Frauenutopien in den Vereinigten Staaten besuchte, waren Landkommunen, die sich durch Tauschhandel und den Vertrieb handwerklicher Erzeugnisse kümmerlich am Leben erhielten. Sozialisierung und wirtschaftliche Diskriminierung hinderten die Frauen am Erwerb fachlicher Qualifikationen und finanzieller Quellen, die sie zur Schaffung einer tragfähigen Wirtschaft brauchten. Auch in Findhorn »hat kein weibliches Mitglied den finanziellen Hintergrund und die Fähigkeiten«, die zu Führungsaufgaben benötigt werden. Die wenigen Frauen, die sich heute diese Kenntnisse im Bankwesen und in der Industrie aneignen, sind kaum jene, die Kollektive gründen. Die spirituell ausgerichteten Landkommunen, die sich mit psychischen Phänomenen befassen, leisten unschätzbare Dienste: Sie fungieren, laut Weinbaum, als Rückzugsorte, wo »ausgebrannte« Frauen sich wieder heilen und gemeinsam mit anderen Frauen neue Fähigkeiten entwickeln können.
In »Utopia im Prüffeld« fordert Zimmerman uns auf, die neuen Technologien daran zu messen, ob sie den Status der Frau verbessern oder verschlechtern - sei es zu Hause oder auf dem Arbeitsmarkt. Sie warnt vor der bereits eingetretenen Degradierung der Sekretärinnenarbeit. Je mehr Computer in Haushalten installiert werden, desto mehr werden Frauen zu Hause Arbeiten umsonst leisten, für die früher Frauen bezahlt wurden. In der Folge werden sie noch mehr ans Haus gefesselt. Außerdem ermöglichen die neuen biologischen Industrien den Männern noch bessere Kontrollen der Fortpflanzung. Deshalb sollten Mädchen und Frauen technische Berufe ergreifen, und wir sollten öffentliche Anhörungen zur Wirkung von Technologien auf Umwelt und Gesundheit verlangen.
Immer mehr Frauen befassen sich nun auch mit Architektur und Stadtplanung. Bei der Konferenz »Das Haus der Frau: Kunst und Kultur in den achtziger Jahren« (in der California State Uniyersity in Long Beach, November 1983) entwickelte die sozialistische und feministische Stadtplanerin Dolores Hayden in ihrem Grundsatzpapier »Die Zukunft von Haus, Arbeit und Familie« folgendes Diagramm:

 

* Dem »Equal Rights Amendment« in den USA — ein Zusatz zur Verfassung, der die Gleichberechtigung zum Gesetz erhebt - dürften bei uns teilweise die Gleichstellungsstellen oder Frauenbeauftragten entsprechen. (Anm. d. Übers.)

Die Bedeutung der Sprache als Sozialisierungselement wurde in den letzten beiden Jahrzehnten von der Frauenbewegung zunehmend thematisiert: Mit Hilfe der Sprache wird die Unterdrük-kung der Frau fortgeschrieben, wie die Papiere von Thorne, Kramarae und Henley beweisen. In diesen Studien analysieren sie, wie Wissenschaftlerinnen die Sprache benutzen, um gleichberechtigte und kooperative Institutionen durchzusetzen. Thorne, Kramarae und Henley weisen darauf hin, daß Feministinnen »Macht« neu definieren. Statt Macht nur als Herrschaft zu sehen, erkennen wir nun darin: »Energie, wirkungsvolle Handlungen und Ermächtigung.« Wie Gershuny anmerkt, mixen feministische Autorinnen »Poesie und Philosophie, Geschichte und Mythen, Psychologie und Religion und das Persönliche mit dem Politischen«, transzendieren dadurch »Dualismus, Gegensatz, Unterschied und Herrschaft«, die »patriarchale Mythen und Metaphern charakterisieren«. Tatsächlich ist diese Mischung verschiedener Disziplinen ein wesentliches Merkmal von Frauenforschung im Gegensatz zu den bruchstückhaften Curricula, die wir mittlerweile »Männerforschung« nennen.
In »From the Legend of Biel« (Besprechung von Pearson, Teil IV) zeigt Mary Staton, wie Sprache Zweifel und Furcht in die Menschenherzen sät:

  • Tief verborgen im Klang ihrer Wörter waren Furcht und Verzweiflung. Der wiederholte Gebrauch der Worte und Sätze verstärkte nur diese Gefühle. Die Waffen ihrer Sprache waren Kontrolle und Besitz (von Ländereien, Tieren, Gefährten, Nachkommen, Gefühlen, Ideen), wo Kontrolle und Besitz gar nicht möglich waren.

Monique Wittig in »Die Verschwörung der Balkis — Les Guerilleres« (siehe Farley, Teil IV) besteht darauf, daß Frauen die Kraft der Sprache zum Aufbrechen der männlichen Kultur nutzen und eine eigene Kultur erschaffen:

  • Sie sagen, daß es keine Realität gibt, bevor nicht die Wörter die Regeln die Bestimmungen ihr eine Form gegeben haben. Sie sagen, daß in dem, was sie betrifft, alles im Keim neu angelegt werden muß. Sie sagen, daß an erster Stelle der Wortschatz aller Sprachen untersucht, verändert, von Grund auf umgestoßen werden muß, daß jedes Wort durch ein Sieb gegossen werden muß. (S. 138)

Schriftstellerinnen erschaffen utopische Erzählungen, die uns eine reiche Auswahl an Alternativen zur patriarchalen Gesellschaft bieten.

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