Frauen in den Utopien der Männer

Von meinem Besuch im Land der Männerutopien habe ich Enttäuschendes zu berichten: Bis auf wenige Ausnahmen sind Frauen dort nicht besser dran als anderswo. Die herausragendste Ausnahme ist vielleicht die älteste Utopie, nämlich Platos »Der Staat«. Fast alle anderen sind problematisch, und selbst Platos hat ein paar Schönheitsfehler.
Die Niederlage Athens, die es von seinem angeblich weniger zivilisierten Nachbarn Sparta (für die liberale Haltung Frauen gegenüber bekannt) im Peloponnesischen Krieg einstecken mußte, führte zu Debatten über die »Natur« der Frau, die noch heute andauern. In dieser Atmosphäre des Umbruchs schrieb Plato seinen »Staat«.[1] Plato war einer der ersten und ironischerweise auch einer der letzten (zumindest bis in dieses Jahrhundert) Denker, der in der Biologie keinen ausreichenden Grund für die Rollenverteilung sah. Er gehört zu den wenigen Autoren in der westlichen Tradition, der positive Vergleiche aus der Tierwelt heranzog. In Buch V des »Staats« schlägt er den Menschen vor, sich ein Beispiel an den Hunden zu nehmen: Hündinnen gebären und nähren nicht nur die kleinen Hundebabys, sondern beteiligen sich ebenso an der Jagd und an Wächterfunktionen. Plato folgert daraus, daß beide Geschlechter gleichermaßen für gleiche Rollen erzogen werden sollten, bestünde der Unterschied in der Biologie doch lediglich darin, daß Frauen Kinder gebären und Männer sie zeugen. Plato vertritt die volle politische und sexuelle Gleichberechtigung der Frauen und setzt sich für ihren Eintritt in seine höchste Klasse ein: Sie sollten zu den Wächtern gehören, zu den Herrschenden und Kämpfenden, also sich Tätigkeiten zuwenden, die noch immer als männlich gelten. Seine Theorie untermauert er mit der Einführung der Kinderbetreuung, die es Frauen ermöglicht, Philosophinnen und Soldatinnen zu werden.
Soweit könnte also keine Feministin Plato irgendeinen Fehler nachweisen. Aber sein Plan hat nichts mit dem Individuum und alles mit dem Staat im Sinn, entfaltet sich aus einer Vergesellschaftung von Frauen, Kindern und Besitz, ganz zu schweigen von dem eugenischen Kontrollsystem, das sich zu einem Hauptthema der Dystopien des 20. Jahrhunderts ausgewachsen hat. Und zumindest an einer Stelle sagt Plato einmal, daß die Frauen zwar alles tun können, doch würden sie immer noch von den Männern übertroffen.
Das von Plato beeinflußte »Utopia« des Thomas Morus ist noch weit konservativer. Trotz Arbeitsteilung und gleicher Chancen — für Männer — bleibt es bei einer fest in der patriarchalen Familie begründeten Hierarchie. Mikrokosmisch die hierarchische Struktur der Renaissance spiegelnd, untersteht die Familie bei Morus dem ältesten Mann. Die Frauen unterstehen ihren Männern ebenso wie die Kinder ihren Vätern. Bei der Heirat zieht eine Frau in das Haus ihres Mannes. Voreheliche Beziehungen sind streng untersagt, weil bei solcher Zügellosigkeit sonst niemand mehr heiraten würde. Braut und Bräutigam stehen sich vor der Hochzeit nackt gegenüber, um unliebsame Überraschungen in der Hochzeitsnacht auszuschließen. Damit sind aber mehr die unangenehmen Überraschungen für den Mann gemeint. Ein klein wenig emanzipierter klingt die Idee, die Scheidung aufgrund gegenseitiger Ablehnung zu erlauben. Kein Mann darf sich von seiner Frau nur aufgrund ihres Älterwerdens scheiden lassen.
Sklaven verrichten die schweren Arbeiten in der Küche, Frauen sind die Köchinnen. Frauen sitzen an der Außenseite der Tische, damit sie bei Bedarf schnell ihre Säuglinge stillen können. Gemeinschaftliche Kindergärten wie bei Plato gibt es nicht. Führungspositionen dürfen Frauen bei Morus nicht einnehmen, doch können ältere Witwen Priesterinnen werden. Obgleich das zahlenmäßig nur wenige sein dürften, schien es für Morus' Zeitgenossen doch recht schockierend. Die Protestanten waren später gegenüber dieser Idee aufgeschlossener, doch Morus selbst keineswegs.[2] Anders als bei Platos »Staat« und auch im Gegensatz zur Erziehung der eigenen Töchter schien Morus die Frauen in Utopia nicht befreien zu wollen. Sie blieben trotz außerhäuslicher Arbeit in traditionellen Rollen befangen, gebaren und sorgten für die Kinder, versorgten Mann und Familie.
Christliche Utopien (und ich denke, Morus zählt dazu) treten für die Abschaffung der Erbsünde ein, die von Theologen als Ursache männlicher Herrschaft gesehen wird. Aber anders als die frühen Gnostiker, von denen einige ja noch voll für Gleichberechtigung waren (siehe Einleitung zu Teil II), läßt Morus die Erbsünde durchgehen. Innerhalb der Mauern seiner Utopia sind Frauen untergeordnet: Genau wie in der Wirklichkeit scheint auch hier die Gleichberechtigung ein Recht der Männer zusein.[3]
Die meisten Utopien postulieren Gemeinschaftsbesitz als Teil des Paradieses. »Das neue Atlantis« von Bacon [4] (1627) allerdings nicht. Schon die richtige Methode, so heißt es darin, könne den vor-steinzeitalterlichen Status zurückführen, als der Mensch die Natur beherrschte. Bacons Wissenschaftsgesellschaft besteht nur aus Männern, und wenn er über die Bedeutung der Wissenschaft für den Menschen spricht, stellt sich die Frage, ob er dabei überhaupt eine Frau im Sinn hat. Die Herrschaft der Männer über die Frauen im »Neuen Atlantis« ist ungebrochen — vielleicht um den Verlust der Herrschaft über die Natur wettzumachen?
Wie bei Morus ist auch bei Bacon die Familienstruktur ausgesprochen patriarchal. Das Familienfest eines Tirsan (ein Vater vieler Nachkommen) wird vom Staat bezahlt. »Aufgrund der natürlichen Ordnung« schuldet man ihm Gehorsam. Die Mutter all dieser Kinder sitzt — hinter einer Tür verborgen — rechts vom thronähnlichen Sessel des Vaters.
Gleichberechtigung ist bei Bacon nie ein Thema. Gleichsam im Vorgriff auf Freuds These von der Unterdrückung der Instinkte im Dienste der Zivilisation ist die wissenschaftliche Utopie des »Neuen Atlantis« sexuell enthaltsam. Zweifelsohne spürte Bacon, daß Fortschritt ein männliches Unterfangen sei, dem Frauen im Weg stünden.
Nur wenige Jahre vor Bacons Schrift erschien eine andere wissenschaftliche Utopie, die, von Plato beeinflußt, fast so etwas wie gleiche Erziehung und Bildung für Frauen vorsah. »Der Sonnenstaat« von Thomas Campanella. Darin gehen viele Frauen den gleichen Beschäftigungen wie Männer nach, werden zu militärischen Übungen herangezogen und sind daher groß und stark gebaut. Das Tragen von Make-up oder Stöckelschuhen wird hier mit dem Tode bestraft, es gilt als Falschheit. Campanella hält solche Tricks für überflüssig, dennoch erscheint die Bestrafung dieses Verbrechens recht hoch und weist auf die großen Dystopien hin wie Zamyatins »Wir« und Orwells »1984«.[6] Dort werden Kosmetik und hohe Absätze schon als Auflehnung gegen den Staat betrachtet.
Ironischerweise enthüllen Utopien oft mehr über ihre Entstehungszeit als über die Zukunft, mit der sie sich ja vorgeblich befassen. Während bei Plato Liebe zwischen den Geschlechtern nicht vorkommt und bei Morus auch nur indirekt, befassen sich viktorianische Utopien mit Liebe und Sex in der Zukunft. Was dem einen Geschlecht fehlt, wird gewissermaßen vom Partner ergänzt. Obgleich sie die Polarität der Geschlechter mit der Unterdrückung der Frau aufheben wollen, sind sie doch noch weit davon entfernt. In Bellamy's »Rückblick aus dem Jahr 2000«[7] (1889), einer viktorianischen Projektion ins 21. Jahrhundert, gibt die Heldin ihre Liebesgelüste weit offener zu, als es je die Damen der damaligen Zeit taten. Das Viktorianische kommt aber dann doch durch: Sie errötet leicht, liebt das Einkaufen und zieht sich früh zurück, wenn die Männer noch über Politik und Wirtschaft reden.
Von der Hausarbeit sind die Frauen im »Rückblick« befreit, sie wurde vergesellschaftet. Sie hängen nicht von der Unterstützung ihrer Männer ab, da die Gesellschaft all ihren Mitgliedern gleiche wirtschaftliche Voraussetzungen bietet, die sich bis auf die Kinder erstrecken. Die Frauen können sich frei für den Beruf entscheiden, sind aber weiterhin an Rollenklischees gebunden. Damit die Frauen nicht mit den Männern konkurrieren, was Bellamy »ungewöhnliche Rivalität« nennt, wird ihnen eine große, doch abgetrennte wirtschaftliche Macht auf dem Arbeitsmarkt zugestanden. Nur Frauen, die bereits Ehegattinnen und Mütter waren, dürfen in die Spitzenpositionen. Alle Frauen unterstehen der Führung einer Generalsekretärin, die im Präsidentenkabinett ein Vetorecht bei Frauenfragen hat. Während bei den Shakern die Führung allen offenstand, werden Arbeit und Arbeitszeit der Frauen bei Bellamy durch die Männer eingeschränkt, damit sie »schön und anmutig« bleiben. Biologische Unterschiede interpretiert Bellamy als weibliche Schwächen und schafft sich so einen guten Grund für die Herrschaft der Männer, die auch noch als Ritterlichkeit deklariert wird.
Die Abschaffung der vornehmlich männlichen Welt der Industrialisierung hat auch einen Einfluß auf die Gleichberechtigung. William Morris' Antwort auf Bellamy war »Kunde von Nirgendwo« (1891).[8] In diesem anti-intellektuellen Paradies, wo das Handwerk an die Stelle der Technik tritt und das Vergnügen den Wettbewerb aus dem Rennen wirft, haben Frauen einen hohen Stellenwert. In Zukunft, sagt Morris, werden Frauen sich wie Frauen anziehen und nicht wie Polstersessel. Ihre Haut wird gesund gebräunt sein und  ihre Schönheit vor Energie strotzen, denn sie werden ohne Scheu ihre Muskeln benutzen. Darüber hinaus werden sie sich am Körper des Mannes erfreuen — was bei den viktorianischen Damen ganz und gar nicht der Fall war. Die Frauen bei Morris können jederzeit ihren Mann verlassen, wenn sie ihn nicht mehr mögen. In seiner Utopie kann kein Gericht einen Vertrag, der auf Liebe oder Leidenschaft beruht, zur Dauer verpflichten. Scheidung entfällt, weil es in dieser kommunistischen Gesellschaft keinen Privatbesitz gibt.
Obgleich die Frauen in »Nirgendwo« sexuelle Freiheiten genießen, sind sie doch nicht von der Hausarbeit befreit. Daß Hausarbeit in unserer Gesellschaft unterbewertet wird, mögen wir ja noch hinnehmen, doch daß sie, wie Morris meint, den Frauen von Natur aus leichter falle als den Männern, erscheint uns zweifelhaft.
Wie zu erwarten, wird Mutterschaft in Morris' Utopie hoch angesehen (wie auch bei Bellamy). Die Vorstellung des 19. Jahrhunderts, überlegene Frauen von Schwangerschaft und Geburt zu befreien, wird als »merkwürdige Dummheit« abgetan, da sie auf Klassentyrannei beruhe. Ebenso wird der Wunsch nach Abschaffung der Schmerzen bei der Geburt eingeschätzt:

  • Natürlich stellen die naturgegebenen und notwendigen Schmerzen, die eine Frau bei der Geburt erleidet, ein Band der Einheit zwischen Mann und Frau her; ein besonderer Anreiz zur Liebe und Zuneigung. Das ist allgemein anerkannt.[9]

Morris verlegt seine Romanze in ein künftiges Arkadien, doch sind seine Frauen — was die Biologie anbelangt — noch immer gefallene Evas.
Wenn Utopien für Männer oft als Dystopien für Frauen erscheinen, könnte es dann sein, daß Dystopien für Männer Utopien für Frauen darstellen? Mit dieser Frage im Kopf befaßte ich mich mit den berühmten Anti-Utopien unseres Jahrhunderts. Zunächst scheint Huxley sich bitter über das Verschwinden von Heim, Ehe und Mutterschaft zu beklagen, die in seiner künftigen Gesellschaft durch die Gemeinschaft, sexuelle Permissivität und künstliche Fortpflanzung ersetzt werden. Bei der wiederholten Lektüre seiner Utopie erscheint eher der Autor als die Bewohner seiner »Schönen Neuen Welt« naiv. Eins der radikalsten Bücher der Frauenbewegung »Frauenbefreiung und sexuelle Revolution« von Shulamith Firestone [10] liest sich dagegen fünfunddreißig Jahre später wie eine Neubewertung von Huxley. Beide beschreiben Retortenschwangerschaften, doch während Huxley auf die Absurdität hinweist, die ein Verleugnen unserer Biologie bedeutet, will Firestone eher die Notwendigkeit solchen Tuns hervorheben, damit wahre Gleichberechtigung erreicht werden kann.
Trotz  ihrer vorgeblichen Versuche, die Gleichberechtigung der Geschlechter zu betreiben, benutzen Zamyatin, Huxley und Orwell die Frauen ganz konventionell: als Symbole für die Sexualität der Männer. Diesen Autoren erscheint bereits die moderne Wirklichkeit als Utopie. In ihren Augen macht uns Sex in Verbindung mit Phantasie zu Menschen und unterscheidet uns von Maschinen. Da müssen wir doch fragen, ob der sexuelle Akt (mit seinen Institutionen von Ehe und Familie) für Frauen in unserer Kultur das gleiche bedeutet wie für Männer. Was Männer befreit,  kann Frauen versklaven. Orwells Heldin von »1984«, die keinen Nachnamen hat und nur Julia heißt, die »den animalischen Instinkt verkörpert« und Frau und Erdmutter ist, mag dem Helden gefallen, aber vielleicht nicht den Leserinnen Orwells. Das gilt auch für ihre Beschreibung als eine Person, die Themen nur soweit versteht, als sie mit ihrer Sexualität zu tun haben. Es ist gut möglich, daß Julia lediglich eine Versklavung gegen die andere eintauschte, als sie ihren roten Keuschheitsgürtel wegwarf und mit Winston ins Bett ging, einem Mann, der Tötungsphantasien hatte, wenn er nur daran dachte, daß er sie nicht bekommen könnte. Es mag auch sein, daß Huxleys Frauen in seiner »Schönen Neuen Welt« noch immer besser dran sind, als jene, die in den Randkulturen leben, die Huxley als Domäne der Freiheit ansieht.[11]
Obgleich Skinners »Walden II« als Utopie geschrieben wurde, erscheint es vielen Leserinnen als Dystopia.[12] Das liegt an den Verhaltenstechnologien und den Bewegungs- und räumlichen Einschränkungen, die die Bewohner hinnehmen müssen. Angeblich schrieb Skinner seinen Roman, weil er mit dem Wehklagen seiner Frau über das Hausfrauenlos sympathisierte; dann erstaunt es aber, daß diese Diskussionen darüber in seinem Buch nur unter Männern stattfinden — genau wie bei Huxley und Orwell. Eine Ausnahme ist Zamyatin, bei dem eine Heldin sowohl herausragende Intellektuelle wie auch sexuelle Rebellin ist. Sie und nicht der politisch naive Held kämpft gegen den Einheitsstaat. Zamyatins großer Einfluß auf Orwell erstreckte sich nicht auf die Beschreibungen seiner Heldin, Julia, deren Geist eindeutig dem Winston Smiths unterlegen ist.[13]
Ein Großteil von »Walden II« hat mit Ehe und Kindererziehung zu tun, was nicht verwundert, entstand es doch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Möglichkeit, nicht zu heiraten, fehlt hier genauso wie in »Rückblick«. Der exzentrische Frazier, überlegener Geist der Kommune, scheint der einzige Junggeselle zu sein, und natürlich wurde er nicht den Verhaltenstechnologien unterworfen. Im Durchschnitt ist die Mutter in »Walden II« bei der Geburt ihres ersten Kindes 18, damit das Kinderkriegen so schnell wie möglich erledigt wird. Mit 23 hat die Mutter dann »ihren Beitrag zur Gesellschaft geleistet, der als Pflicht oder Privileg der Frau gesehen werden kann. Dann wird sie ihren Platz einnehmen, unabhängig von ihrem Geschlecht.« Kinder werden in der Gemeinschaft großgezogen, denn »das Heim ist nicht der Ort, Kinder zu erziehen«. Das scheint die Frauen für ihren Platz in der Welt zu befreien. Ob das allerdings der Fall ist, erscheint fraglich, besonders weil es da kaum die Welt draußen gibt, in die sie gehen könnten.
Teilweise erscheint Skinners Utopia wie ein israelisches Kibbuz, wenn es sich zur Anwendung der Prinzipien der »Schönen Neuen Welt« entschlösse und das Verhalten technisch kontrollierte und veränderte, wenn auch mit Hilfe der Psychologie und nicht durch Drogen. Nach der Auffassung des Autors werden wir alle von der Gesellschaft kontrolliert, es fragt sich nur, was für eine Art Kontrolle wir haben wollen. Verwirrend bei Skinner ist die Tatsache, daß Frauen trotz seines Bekenntnisses zur Gleichberechtigung weiterhin die traditionellen Rollen des Sorgens und Sich-Kümmerns erfüllen.
Uns bleibt die Frage: Warum wird Frauen in den meisten der von Männern geschriebenen Utopien so schlecht mitgespielt? Selbst wenn ein Autor ihnen wie in »Walden II« volle Gleichberechtigung gewähren will, scheitert er wahrscheinlich an seiner eigenen Sozialisation. Vielleicht ist die Utopie der Männer auch eher ein Land repressiver Zivilisation als erotischer Freuden. Frauen wurden zudem traditionell von den größten Fortschritten der Kultur ferngehalten. Bei den utopistischen Denkern, die den Instinkt aus seiner Unterdrückung befreien wollen, von Fourier über Marcuse bis Norman O. Brown kommen Frauen besser weg. Wie eine Art umgekehrter Freud wollte Fourier die Leidenschaften zur Erreichung sozialer Harmonie frei walten lassen. In »Harmony« ist alles erlaubt: Vielfalt, Rivalität, Intrigen, freie Wahl, Luxus, Gaumenfreuden und körperliche Vergnügen. Während andere Utopien von Männern den Beigeschmack des Militaristischen haben, erinnert Fouriers Vision an eine Kreuzfahrt. Fünf Mahlzeiten und vier Häppchen werden täglich in »Harmony« serviert, und sich der Liebe zu widmen gilt als Hauptbeschäftigung.[14]
Fourier strebt eine Transzendierung der herkömmlichen Trennung von Körper, Geist und Seele an. Wie die Feministinnen des 20. Jahrhunderts möchte er die Sprache aus der Tyrannei konventioneller Hierarchie lösen. Wie Roland Barthes anmerkt,[15] sucht er eher die Einheit als die Einfalt, assoziatives statt abstrahierendes Denken, die Verschmelzung von Wunder und Wirklichkeit.
Fourier behauptet (obgleich einige Feministinnen das traurigerweise unrichtig empfinden): »Sozialer Wandel vollzieht sich gleichzeitig mit zunehmender Emanzipation der Frau, je weniger Freiheiten den Frauen zugestanden werden, um so mehr zerfällt die Gesellschaft.«[16] Er hat aber keine literarische Utopie entworfen. In den meisten utopischen Phantasien der Männer ist der weibliche Körper ein natürliches Gefängnis, ein Konzentrationslager innerhalb der Gesellschaft. Da wundert man/frau sich, ob das noch etwas mit Biologie zu tun hat oder nicht vielmehr mit der Wahrnehmung der Männer, die diese Biologie für ihre Zwecke ausbeuten wollen. Genau um diese Frage geht es in den gegenwärtigen feministischen Utopien.